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Mörderjagd im Lautersdörfle

Mord auf Schwäbisch
von

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Wanderung zur Klippe des Todes

Teil 6: Wanderung zur Klippe des Todes
 

Würde ich mich wieder durch meine Ermittlungen in Gefahr bringen, wie schon vor ein paar Jahren? Ich hatte schon ein unangenehmes Gefühl in der Bauchgegend, wenn ich nur daran dachte, alleine mit Frau Kornmann eine Wanderung zu der Klippe des Todes zu unternehmen, und das auch noch ausgerechnet kurz nach Sonnenaufgang. Vielleicht war das ja alles eine Falle...

Dennoch war ich neugierig, was mich denn nun an der Klippe erwarten würde. Vielleicht würde ich tatsächlich eine Spur finden, die den Fall der Klippenspringerin in ein anderes Licht stellte. Oder verfolgte Frau Kornmann mit der Wanderung etwa andere Absichten?

Inzwischen war es 17.00 Uhr geworden, als ich auf der Suche nach weiteren Indizien im Lautersdörfle eine Runde drehte, die insgesamt zwei Stunden des Tages vereinnahmte. Doch die Suche blieb leider erfolglos. Also schloss ich den Tag nach einem Essen in unserer Blockhütte ab. Schließlich musste ich am nächsten Tag schon zu Sonnenaufgang am Parkplatz des Lautersdörfles stehen.

Ich legte mich an diesem Tag schon um 21.20 Uhr ins Bett und schlief, weil ich in der vorigen Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte, auch sofort ein.
 

Ich wachte durch einen grellen Sonnenstrahl auf. Ein Blick auf die Wanduhr verriet mit, dass es gerade genau 7.40 Uhr war. Ich hatte in der Nacht die Gardinen offen gelassen, damit mich die Sonnenstrahlen wecken würden. Ich duschte mich geschwind unter der Dusche, aus der schon wieder nur kaltes Wasser kam. Scheinbar hatte Herr Gessmann wieder das gesamte warme Wasser aufgebraucht. Am Anfang war er mir ja noch unsympathisch, aber jetzt fand ich ihn unausstehlich. Wahrscheinlich hatte er sich für meine Behauptungen am Vortag gerächt, als ich ihn fragte, ob er die Tatwaffe, den Prügel, mit sich herumgetragen hatte... Auf Gutschwäbisch nennt man einen solchen Menschen auch Grasdackel! Einen Grasdackel! Genau als solchen empfand ich auch Herrn Gessmann.

Nachdem ich mich geduscht hatte, aß ich noch eine Kleinigkeit, ein Marmeladenbrot. Dann zog ich mir meinen schwarzen Pullover über und meinen Mantel an und verließ die Blockhütte. Es war sehr windig, kein gutes Wetter also für eine Wanderung in den Bergen. Aber was Frau Kornmann sich vorgenommen hatte, würde sie auch nicht allzu schnell aufgeben. Sie war sowieso eine merkwürdige Persönlichkeit. Ihr Auftreten war vollkommen normal, aber hinter dieser Fassade steckte eine launische Frau, die in gewisser Hinsicht auch als mysteriös bezeichnet werden konnte.

Ich kam mir vor wie in einem Kriminalroman, als ich darüber nachdachte, was sich in den letzten zwei Tagen alles ereignet hatte: Zunächst wurde ich von Frau Kornmann inoffiziell mit dem Fall der Klippenspringerin beauftragt, die in betäubtem Zustand, aber vollkommen alleine, eine Klippe herunterstürzte. Dann wurde Herr Esserle, der Mörder in der inszenierten Mörderjagd, tot am Dachbalken von Hütte 57 hängend aufgefunden. Als wir kurz darauf auch noch feststellten, dass Herr Orlow, das Opfer in der Inszenierung, verschwunden war, mussten wir davon ausgehen, dass er Herrn Esserles Mörder war und somit Mörder und Opfer in der Mörderjagd die Rollen getauscht hatten. Später kamen bei den Verhören noch einige interessante Geschichten heraus: Als ich die depressive Frau Griebert befragte, fand ich heraus, dass ihr Mann vor zwei Jahren mit seinem Auto betrunken die Klippe abgestürzt ist. Und bei der Befragung von Herrn Huber erfuhr ich, dass Herr Orlow eigentlich gar nicht Kostja Orlow hieß, sondern Pjotr Sorokin, ein korrupter russischer Politiker, der auf der Flucht vor der Russenmafia war, die ihm seine wütenden Parteigenossen auf den Hals gehetzt hatten. Und zuletzt auch noch die Sache mit dem Full House ...

Kam ich mir wirklich vor wie in einem Kriminalroman? Eher kam ich mir vor wie im falschen Film! Was würde jetzt noch alles geschehen? Würde dieser Fall durch die Wanderung zu der Klippe vielleicht eine überraschende Wendung nehmen? Im Grunde genommen war diese Frage der einzige Grund, der mich dazu bewegte, den Bitten von Frau Kornmann nachzugeben und zusammen mit ihr zu der Klippe zu wandern.

Ich lief in Richtung des Parkplatzes, als ich mehrfach über das alles nachdachte. Ich war neugierig. Sehr neugierig! Doch würde mich meine Neugierde unter Umständen teuer zu stehen kommen?

Nach einer Viertelstunde war ich am Parkplatz des Lautersdörfles angekommen. Doch Frau Kornmann war noch nicht da. Hatte sie nicht vor, sich zu Sonnenaufgang mit mir zu treffen? Eigentlich erwartete ich eher, dass Frau Kornmann am Parkplatz auf mich wartete. Schließlich war ich erst zu Sonnenaufgang aufgewacht, als ich schon am Parkplatz hätte stehen müssen. Frau Kornmann hätte auf jeden Fall auf mich gewartet. Sie schien nämlich beinahe besessen von dem Vorhaben, mit mir zu der Klippe zu wandern, um dort nach Indizien zu suchen.

Ich sah auf den Reisebus, das einzige Auto, das am Parkplatz stand: Die Reifen waren noch immer platt, Herr Riedling konnte den Defekt also noch nicht beheben. Ich fragte mich, ob wir überhaupt noch entkommen konnten. Eine Wanderung zum nächsten Dorf würde mindestens einen ganzen Tag dauern. Die längere Freiheit konnte in diesem Fall tödlich sein. Ich war mir auch nicht mehr sicher, ob Herr Sorokin alias Herr Orlow vielleicht doch der Täter war.

Was, wenn er sich in dem Gebiet rund um diese ominöse "Klippe des Todes" aufhielt? Was, wenn man ihn dort nicht finden sollte?

Augenblick mal! Herr Esserle hätte doch auch zu der Klippe gehen sollen. Wäre es nicht möglich gewesen, dass jemand verhindern wollte, dass er dort etwas ganz Bestimmtes findet?

Schwachsinn!, dachte ich mir. Das einzige, was dort zu finden wäre, war das versteckte Preisgeld. Ich konnte keine logische Verbindung zwischen der Klippenspringerin und Herrn Orlow erkennen, daher zog ich die Möglichkeit, Herr Orlow wollte ein Indiz von dem Fall der Klippenspringerin beseitigen, gar nicht erst in Betracht.

"Es kann losgehen! Ich bin fertig!", hörte ich eine weibliche Stimme mir zurufen.

Ich schreckte auf und sah Frau Kornmann auf mich zukommen. Sie winkte mir zu, während sie mit der anderen Hand ein Bündel aus kleinen Plastiktüten in ihrer Tasche versenkte. Sie trug einen modischen Ledermantel, der meiner Ansicht nach aber eher ungeeignet war für eine Wanderung durch den Schnee. Zu dem Mantel trug sie einfache Damenschuhe, die zwar genauso schick waren wie der Ledermantel, aber auch genauso unpassend in dieser Jahreszeit waren.

"Es tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe. Ich habe die ganze Zeit nach diesen Tütchen gesucht. Ich habe einfach nicht mehr gewusst, wo ich die Dinger hingetan habe."

"Schon gut. Ich habe mich ja auch verspätet, daher ist es nicht sonderlich schlimm. Aber warum nehmen Sie diese Tütchen mit?"

"Die Tütchen sind dazu da, um Spuren zu sichern. Einweghandschuhe habe ich der Fingerabdrücke wegen auch eingesteckt. Wir ermitteln schließlich an einem Kriminalfall."

"Sie übertreiben maßlos, Frau Kornmann! Was sollen wir nach fünf Jahren noch an der Klippe finden? Die Polizei hat doch damals sicher alle Spuren gesichert, oder etwa nicht?"

"Eben nicht! Die Polizei hat sich nicht sonderlich Mühe gegeben bei den Ermittlungen. Die Ermittler waren nicht besonders interessiert an dem Fall und haben ihn letztendlich als ungelöst zur Seite gelegt. Ich glaube also, dass nicht alle Beweise gesichert wurden. Ich habe die Arbeit der Spurensicherung penibel mitverfolgt. Es wurde nur unten in der Schlucht nach Spuren gesucht, den Absturzort haben sie gar nicht erst unter die Lupe genommen. Daher besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass wir dort noch etwas finden werden. Also, gehen wir los!"

"Ich weiß aber nicht, wo Sie mich hinführen. Ich bin ganz auf Sie angewiesen."

"Ja, ja, ich werde Sie schon an den richtigen Ort führen." Wir wanderten los, wobei ich mich an Frau Kornmann orientierte, da ich nicht sonderlich ortskundig in diesem Gebiet war.

"Sagen Sie mal, kennen Sie vielleicht diesen Herrn Gessmann? Ich rede von dem Anwalt, der sich mit mir eine Hütte teilt. Können Sie mir etwas über ihn erzählen?" Ich versuchte ein Gespräch mit Frau Kornmann einzufädeln, wobei ich hauptsächlich auf ihre Mimik achtete.

Sie blickte leicht verächtlich und sagte mit dieser Mine: "Herr Gessmann? Der Dackel hat vor fünf Jahren einen Streit mit mir angefangen wegen den verschollenen Firmenkonten. Er hat unsren Betrieb ständig bedrängt, wirklich abartig war das mit ihm..."

"Er hat Ihren Betrieb bedrängt? Wie habe ich das zu verstehen? Hat er Ihnen etwa Drohbriefe oder so etwas in der Art geschickt?"

"Nein, das nicht. Er hat es viel offensichtlicher gemacht. Er hat bei uns die Polizei vorbeigeschickt und den Staatsanwalt, weil er vermutete, wir hätten einen Versicherungsbetrug vor. Die haben den ganzen Betrieb auf den Kopf gestellt."

"Und was war das Ergebnis der Untersuchungen in Ihrem Betrieb?"

"Na, sie haben die gesamten Bilanzen von 1973 bis 1999 analysiert, selbstverständlich ohne jeglichen Zweck geschweige denn Erfolg. Und als sie die damals aktuellen Gelder überprüft haben - das war im Dezember 1999 - stand eindeutig fest, was Sache war."

"Was war Sache?", fragte ich interessiert, "Haben die Ermittler erst dann herausgefunden, dass Herr Esserle tatsächlich für das Verschwinden des Firmenkontos verantwortlich war?"

"Sie haben es erfasst. Herr Esserle hat zu diesem Zeitpunkt aber noch immer abgestritten, für die Sache mit dem Konto verantwortlich gewesen zu sein. Dann gab es einen Gerichtsprozess, der bis Februar 2000 ging. Gegen Ende Januar hat sich jemand aus einer Pariser Bank bei uns gemeldet. Und siehe da: das Geld wurde in eine andere Bank verschoben. Da war es jetzt natürlich nicht mehr sonderlich schwer herauszufinden, wer dahinter steckte. Herr Esserle hat mit unserem Firmenkonto herumgeschlampt und es versehentlich nach Paris verschoben. Schließlich ist er dann in einem Prozess im Februar auf dramatische Art und Weise zusammengebrochen und hat gestanden."

"Gab es während dem Prozess weitere besondere Vorkommnisse?" Ich wollte Frau Kornmann weitere Einzelheiten über diese Geschichte entlocken.

Frau Kornmann schüttelte den Kopf: "Nein. Zumindest nicht direkt. Es gab da noch etwas in den Weihnachtsferien."

"Was war da passiert? Ich meine, in den Weihnachtsferien war doch nichts los in Ihrem Betrieb, oder etwa doch?"

"Im Januar, als noch Weihnachtsferien waren, ist eine der besten Angestellten aus meiner Abteilung, Birgit Kahler, von der Klippe, zu der wir jetzt gerade wandern, heruntergestürzt. Sie war die Klippenspringerin, von der ich ihnen..." Frau Kornmann hielt kurz mit dem Sprechen an und wischte sich mit der Hand eine Träne aus dem Gesicht. Dann sprach sie weiter: "...die ganze Zeit erzähle."

Nun hatte die Klippenspringerin also einen Namen: Birgit Kahler. Ein wichtiger Fortschritt in den Ermittlungen!

Inzwischen waren wir in einer höher gelegenen Gegend angekommen. Der Wind war dort stärker als er es im Lautersdörfle war.

Ich fragte: "So, wie Sie immer von der Klippenspringerin... äh... Frau Kahler reden, haben Sie sich bestimmt sehr gut mit ihr verstanden. Liege ich richtig in dieser Annahme?"

"Ja, ich habe mich schon seit meiner Gymnasialzeit sehr gut mit ihr verstanden. Wir haben zusammen die Schulbank gedrückt."

"Sie kennen Frau Kahler schon seit Sie im Gymnasium waren? Dann kann ich verstehen, warum Sie unbedingt wissen wollen, was hinter ihrem Tod steckt."

"Wir waren beste Freundinnen. Und als wir dann später im Betrieb wieder aufeinander trafen, haben wir uns erst gewundert. Vielleicht wissen Sie ja, wie das ist, wenn man einen guten Freund nach Jahren wieder sieht. Aber wir verstanden uns noch sehr gut und haben daher auch ab und zu etwas unternommen. Und als sie dann tot war, wollte ich logischerweise auf jeden Fall wissen, was hinter ihrem Tod steckt. Aber die Behörden zeigten kein Interesse an dem Fall und so wurde die Akte "Klippenspringerin" schließlich als ungelöst zu den Akten gelegt. Damit habe ich mich selbstverständlich nicht zufrieden gegeben und versuche seitdem selbst Ermittlungen anzustellen."

"Was war denn Frau Kahler für ein Typ Mensch? War sie eher ruhig oder eher hektisch? Können Sie mir etwas über sie erzählen? Ich kannte Sie schließlich nicht, aber Sie müssten doch eine Menge über sie gewusst haben, sie waren ja ihre Freundin."

Frau Kornmann erzählte mir nach kurzem Überlegen: "Sie war eine sehr ruhige Person, aber keinesfalls depressiv. Sie strahlte einen wirklich bewundernswerten Optimismus aus, deshalb war sie auch sehr beliebt in ihrer Abteilung. Wenn Sie eine Aufgabe bewältigen musste, hat sie das auch immer sorgfältig gemacht. Nur hatte sie des Öfteren Schulden, was sie aber immer locker hinnahm. Ihr Optimismus war insofern bewundernswert, da alle ihre Verwandten früh gestorben sind, bis auf eine Person."

Ich wurde neugierig: "Und wer ist diese Person? Wissen Sie das vielleicht?"

"Nein, da bin ich überfragt. Ich wusste praktisch nichts über ihre Familie. Sie erzählte mir nie etwas über ihre Verwandtschaft."

"Es soll ja noch einen weiteren Zwischenfall an der Klippe gegeben haben, bevor die Klippe dann endgültig gesperrt wurde. Ein Mann ist mit seinem Auto von der Klippe gestürzt. Wissen Sie vielleicht auch etwas darüber?"

"Auch eine tragische Geschichte. Der Mann hat nämlich in unserer Firma in der Buchhaltung gearbeitet. Er hat Einnahmen, Ausgaben und das sonstige Zeugs mit den Finanzen überprüft. Herr Griebert tut mir wirklich sehr Leid. Was ich allerdings nie wirklich verstehen konnte, war das angebliche Faktum, dass er in betrunkenem Zustand Auto gefahren sein soll. Er trank fast nie Alkohol und fuhr auch immer sehr vorsichtig. Dieses Fehlverhalten hätte gar nicht zu ihm gepasst, verstehen Sie? Nach Betriebsfeiern hat er schon nach einem Glas Wein das Steuer nicht mehr in die Hand genommen, sondern hat sich stattdessen von jemandem nach Hause fahren lassen. Das war im Winter vor zwei Jahren, genauer gesagt im Januar 2003. Irgendwie kommt es mir so vor, als würden die Menschen um mich herum alle sterben. Zuerst Frau Kahler, dann Herr Griebert und jetzt auch noch Herr Esserle mit dem ich mir eine Hütte geteilt habe. Auf mir scheint ein Fluch zu liegen."

"Jetzt sagen Sie doch nicht so was! Sie sind doch nicht schuld an diesen merkwürdigen Todesfällen. Sie können überhaupt nichts dafür, wenn jemand aus Ihrem Bekanntenkreis stirbt."

"Da haben Sie auch wieder Recht. Ich bin seit diesem Zwischenfall mit Frau Kahler völlig durch den Wind, dass ich gar nicht mehr richtig nachdenke. In meinem Betrieb bin ich auch langsamer geworden seit dieser tragischen Sache, die mit Frau Kahler geschehen ist. Seitdem habe ich keine persönlichen Kontakte mehr. Keine Freundin, keinen Ehemann, keine Verwandten, einfach niemanden... Frau Kahler war die einzige Person, zu der ich eine Freundschaft pflegte. Und als sie dann starb,..." Frau Kornmann fing wieder zu weinen an und musste sich wieder die Tränen aus dem Gesicht wischen. "...da hatte ich niemanden mehr. Ich hatte nur noch geschäftliche Beziehungen, wie zum Beispiel die Chefs von anderen Betrieben oder die Angestellten aus meiner Abteilung. Aber das ist doch kein Leben, da werden Sie mir sicher zustimmen."

"Ja, ich kann Sie verstehen. Aber nehmen Sie sich bitte trotzdem einen Rat von mir zu Herzen: Das Leben geht immer weiter, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Eines Tages werden auch Sie wieder jemanden finden, der etwas Farbe in Ihr Leben bringt. Nehmen Sie sich diesen Rat wirklich zu Herzen. Es lohnt sich nicht, betrübt zu sein." Ich hoffte, Frau Kornmann würde durch diesen Rat wieder ein wenig fröhlicher.

"Stimmt auch wieder. Aber seit fünf verdammten Jahren ist das schon so. Schon seit fünf Jahren ist mein Leben so öde. Ich hatte zwar sehr lange ein wenig Hoffnung, aber es ist die ganze Zeit nichts passiert. Ich habe diesen ganzen Schmerz in mich hineingefressen. Mein einziges Ziel ist vorerst nur, herauszufinden, was hinter dem Tod meiner Angestellten steckt. Dann hat mein Leben zumindest einen Sinn."

Sie war irgendwie völlig anders, nachdem sie mir das alles erzählt hatte. Anfangs wirkte sie auf mich sogar ein wenig abenteuerlustig, was ich nicht verstehen konnte. Aber erst jetzt begriff ich, was wirklich in ihr vorging: Sie wollte nicht zeigen, dass sie verzweifelt war und versteckte ihre ganzen Sorgen hinter einer Maske; sie versteckte ihre ganzen Sorgen hinter der Maske einer Frau, die ein Abenteuer suchte, in der Hoffnung, dieses Abenteuer würde ihrem Leben wieder einen Sinn geben. Ich musste ihr wirklich helfen, das Rätsel um die Klippenspringerin zu lösen, damit sie sich von alldem loslösen konnte.

Wir wanderten für einige Zeit wortlos weiter, bis wir schließlich auf einer weiten Ebene mit Schnee stehen blieben. Am Ende der Ebene ging es in einer Schlucht tief hinunter, mindestens fünfundzwanzig Meter.

Ich fragte verwundert: "Ist die Frau etwa hier abgestürzt?"

"Nein, nein.", erwiderte mir Frau Kornmann, "Da oben müssen wir hin, da ist der Absturzort." Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine fünfundzwanzig Meter höher gelegene Aussichtsplattform auf der anderen Seite der Schlucht.

Ich war ein wenig irritiert: "Ich dachte, unter einer Klippe versteht man einen Felsen am Meer. Wir sind hier in den Bergen, das kann also gewiss keine Klippe sein, was Sie mir da zeigen. Aber jeder nennt diesen Ort "Klippe des Todes". Warum eigentlich?"

Frau Kornmann antwortete mir ernst: "Ich habe es zuerst auch nicht verstanden, bis man mir erzählt hatte, dass sich hinter diesem Berg ein See befand. Deshalb hat man das hier als Klippe bezeichnet, weil es wegen dem See eben aussah wie am Meer. Aber irgendwann ist der See dann umgekippt."

"Aha, jetzt verstehe ich. Und da müssen wir jetzt hoch?"

"Ja, das müssen wir. Da oben ist die Absturzstelle, wo Frau Kahler runtergestürzt ist. Die Polizei hat den Ort nicht untersucht, von daher müssten sich dort noch Spuren finden lassen."

Wir wanderten bis zu der Absturzstelle, was ungefähr eine Viertelstunde in Anspruch nahm. Als wir oben angekommen waren, fiel mir sofort ein kleines Holzkreuz auf, auf dem folgender Schriftzug eingraviert war: 23.9.1977 - 4.1.2000. In Gedenken an Birgit K., die hier ihr Leben ließ. Wir werden sie vermissen.

Irgendwie erzeugte das Kreuz eine unheimliche Atmosphäre dort oben. Ein paar Meter dahinter verlief eine Straße mit einer scharfen Kurve - kein Wunder, dass die Straße geschlossen wurde. Hier zu fahren war gemeingefährlich. Ist Herr Griebert wirklich nur wegen Trunkenheit am Steuer tödlich verunglückt oder war die Kurve der wahre Grund für seinen Tod?

Frau Kornmann trat an den Abgrund und sagte: "Hier ist sie gestanden, als es passiert ist. Hier müssen wir nach Spuren suchen."

Ich näherte mich auch dem Abgrund, aber hielt mich von diesem ungefähr einen Meter entfernt, um nicht zu stürzen. Mir fielen plötzlich weitere Schuhspuren neben unseren auf, die auf das Kreuz zugingen. Hier war also schon vor uns jemand gewesen, und das kann nicht lange her gewesen sein. Jemand war vor uns da. Könnte das jemand aus der Reisegruppe gewesen sein oder gar Frau Kornmann, die möglicherweise vor unserer Wanderung an diesem Ort war. Die Schuhspuren waren zu undeutlich als dass man noch Rückschlüsse über den Träger hätte ziehen können.

Auf einmal trat ich auf irgendetwas Hartes, was aus dem Boden herausragte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass das, worauf ich soeben getreten bin, kein Stein war, sondern etwas Anderes.

Ich beugt mich auf den Boden um zu sehen, worauf ich getreten war. Aus einer ziemlich harten Eisschicht lugte etwas Kleines aus Plastik heraus. Ich griff nach dem Gegenstand, doch er steckte in der Eisschicht fest. Ich konnte den Gegenstand also nicht herausziehen.

Daher bat ich Frau Kornmann: "Haben Sie vielleicht so etwas wie ein Taschenmesser dabei? Ich habe nämlich ein mögliches Indiz entdeckt."

Frau Kornmann zog wortlos ein Schweizer Taschenmesser aus ihrer Handtasche und reichte es mir. Ich stocherte in dem Eis um das Plastikstück herum, um es zu lockern. Nach ungefähr zwei Minuten hatte ich dieses Etwas aus dem Eis herausgelöst und gab Frau Kornmann ihr Taschenmesser zurück, welches sie wortlos wieder in ihrer Handtasche versenkte.

Ich sah mir den Gegenstand an, den ich aus dem Eis befreit hatte - Es war ein Tablettendöschen. Ich sah mir die Aufschrift genauer an und sagte zu Frau Kornmann: "Wir haben gefunden, was wir gesucht haben. Das ist ein ziemlich starkes chemisches Schlafmittel. Es handelt sich um..." Ich hielt mir das Döschen näher vor die Augen, damit ich den leicht verwischten Schriftzug lesen konnte: "Es handelt sich um Pentobarbital , ein extrem gefährliches Schlafmittel."

Frau Kornmann wurde sehr nervös und schrie in aggressivem Ton: "Zeigen Sie mir das sofort! Geben Sie mir das Tablettendöschen!"

Ich reichte Frau Kornmann das Döschen. Sie nahm es in die Hand und bemerkte: "Tatsächlich! Das ist Pentobarbital ! Aber warum liegt das hier rum?"

Ich ging ein paar Schritte näher an die Klippe, bis ich schließlich direkt an dem Abgrund stand und Frau Kornmann nicht mehr in meinem Blickfeld hatte. Ich blickte nach unten. Es ging da mindestens fünfzig Meter tief runter. Bei dem Gedanken, dass hier schon einmal eine Frau oder gar ein Mann in seinem Auto heruntergestürzt ist, wurde mir schlecht.

Doch plötzlich fühlte ich einen starken Stoß auf meinen Rücken, sodass ich das Gleichgewicht verlor und fiel. Ich wurde gestoßen. Ich konnte mich gerade noch an der Kante festhalten, aber ich merkte, dass ich das nicht lange schaffen würde. Frau Kornmann ging mit langsamen Schritten und ernstem Blick auf mich zu.

Ich hatte mir meinen Abgang eigentlich ganz anders vorgestellt...
 

Wird fortgesetzt...



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