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Außerhalb des Feuers

von

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"We call them fools

Who have to dance within the flame

Who chance the sorrow and the shame

That always comes with getting burned.

But you got to be tough when consumed by desire.

'Cause it's not enough just to stand outside the fire!"

Garth Brooks
 

Die eigentliche Bedeutung des Liedes "Standing Outside The Fire" ist eine

andere, aber ich denke, der Inhalt ist auch auf meine Geschichte übertragbar.

Denn es gibt neben geistig- und körperlich Behinderten auch andere Menschen, die

es sich nicht getrauen, so zu sein wie sie sind, weil sie Angst vor der

Gesellschaft haben. Vor einer Gesellschaft, die sie als abnormal hinstellt ohne

sich darüber im klaren zu sein, wie -normal- ihre eigenen Moralvorstellungen

überhaupt noch sind.

Mein besonderer Dank gilt Markus, der mir mit Begriffen wie "Tunten",

"Schwuchteln" und "Schlampen" gezeigt hat, wie die meisten Menschen über andere

denken, die nicht der aktuellen Norm entsprechen. Ohne ihn hätte ich wohl nie

über das Thema nachgedacht.

Vielleicht merkst Du ja auch einmal, was es bedeutet, außerhalb des Lebens, des

eigentlichen Feuers, zu stehen. Vielleicht begreifst Du eines Tages, daß alles

was zählt, die Gefühle sind. Gefühle und keine großen Sprüche. Denn die bringen

niemanden weiter.
 

Außerhalb des Feuers

By April Eagle

Prolog

Ganz langsam entstand unter seinen geduldigen Händen ein Bild.

Der junge Mann hielt kurz inne, betrachtete mit seinen blauen Augen die Frau

eine Zeit lang ganz in Gedanken versunken, rückte seine silberne Brille zurecht.

Die Frau war alt, schon weit über die Siebzig. Was sie trug, entsprach schon

lange nicht mehr der aktuellen Morde, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das

dunkle Kleid mochte ihr bereits seit vielen Jahren gute Dienste leisten.

Vermutlich seit dem Tod ihres Mannes. Das graue Haar hatte sie im Nacken zu

einem Knoten aufgesteckt. Sie sah bemitleidenswert aus - auf den ersten Blick.

Denn wer sich die Zeit nahm und genauer hinsah, der konnte das Leuchten in ihren

Augen sehen. Sie wirkten nicht leer, wie man das erwartet hatte, sondern waren

voller Leben. Was immer diese Frau auch durchlitten haben mochte, welche

Entbehrungen sie im Laufe des zweiten Weltkrieges auch hatte hinnehmen müssen,

sie hatte nicht aufgegeben. Fröhlich lachte sie dem Schicksal ins Gesicht.

An einem kleinen Stand hatte sie sich eine Roster gekauft und teilte diese mit

einem Hund, der brav vor ihr Sitz gemacht hatte und erwartungsvoll zu ihr

aufsah. Es war ein sehr großer Hund. Einer von den Zotteligen mit den großen,

treuen Augen. Sein Fell war von heller Farbe, fast so hell wie ihre Haare. Er

reichte ihr beinahe bis zur Hüfte, wenn er saß.

Wie ungleich sie doch wirkten! Die alte, kleine Frau mit dem jungen, großen

Hund! Einige Passanten sahen die beiden kurz an, gingen dann kopfschüttelnd

weiter. Für sie war klar, daß sich die alte Frau besser einen Pudel angeschafft

hätte.

Der Hund war doch viel zu gefährlich für sie! Sie konnte ihn doch niemals

halten, wenn er ausbrach oder sie gar anfallen sollte! Dieses Tier war doch viel

zu temperamentvoll für eine solch gebrechliche Frau! Es würde sie zu Tode

schleifen, wenn es den Drang verspürte, hinter einer Katze her zu jagen, und sie

die Leine nicht rechtzeitig los ließ! Wie konnte es diese Frau sich nur

erlauben, so ein Riesenvieh zu halten! Wo schlief das Monster überhaupt?! Doch

nicht etwa in der Wohnung?! Diese Tierquälerin!!!

Der junge Mann lächelte, warmer Frühsommerwind fuhr durch seine hellblonden

Haare, die im sanften Sonnenlicht rötlich schimmerten. Er bemerkte die Passanten

nicht. Weder ihre abfälligen Bemerkungen noch die abschätzenden Blicke wurden

ihm bewußt. Alles, was er sah, war die Liebe, die zwischen der alten Frau und

dem großen Hund bestand. Bedingungslose Liebe.

Die beiden wußten, was sie aneinander hatten. Jeder brauchte den anderen. Würde

die alte Frau eines abends einschlafen und nicht mehr aufwachen, so würde der

Hund ihr folgen. Und sollte der Hund von einem Auto überfahren werden, so würden

die Nachbarn sie am nächsten Morgen tot in ihrem Bett finden.

Wie seltsam sie äußerlich auch wirkten, sie waren glücklich miteinander. Sie

brauchten sonst niemanden auf dieser Welt. Nur sich selbst. Bindungslose

Liebe...

Der junge Mann seufzte leise, dann sah er zurück auf den Zeichenblock auf seinen

Knien. Geduldig fuhr er fort in seiner Arbeit. Er wollte diesen Moment

festhalten. Einen Moment der Ewigkeit, der so rasch vergangen sein würde wie ein

Wimpernschlag. Wie eine Kerze im Wind erlosch...

Der junge Mann konzentrierte sich wieder auf seine Zeichnung und bald fuhr der

Bleistift mit einer Leichtigkeit über das Papier, daß es wirkte, als wolle er es

streicheln. Der Zeichner hatte sanfte, fast weiche Gesichtszüge, die immer ernst

waren. Nun wirkten sie entspannt, fast fröhlich. Er war klein für sein Alter,

hatte sich aber damit abgefunden, daß er nicht mehr wachsen würde. Mit nicht

einmal einem Meter achtzig waren seine Mitstudenten immer größer als er.

Insgesamt war er zierlich gebaut, was seine Dürre unterstrich. Seine Schwester

ermahnte ihn schon viel zu oft, daß er nicht genügend aß, aber er vergaß es

schlicht. Viele Menschen, die ihn nicht kannten, verwechselten ihn häufig mit

einem Schüler, obwohl er bereits seit einigen Semestern studierte. Letzten

Winter war er 21 geworden, aber immer wurde er jünger geschätzt. Gut, er konnte

meist verbilligt Straßenbahn fahren, aber es nervte doch gewaltig, wenn er in

fast jedem Supermarkt seinen Ausweis vorzeigen mußte, nur weil er seinem

Internatsnachbarn eine Flasche Bier mitnahm.

Viele Menschen eilten an ihm vorbei, aber er nahm sie nicht wahr. Es waren junge

Menschen, die das Universitätsgebäude betraten oder es verließen. Der Zeichner

saß davor auf den hellen Stufen. Seine Lippen bewegten sich stumm zu der Musik

in seinen Ohren. Unbewußt sang er die Worte seines Lieblingssängers.

Er hörte weder den Lärm der nahen Straße noch das Rauschen der Bäume des Parks,

der das alte, weiße Gebäude umgab. Hell schien die Frühsommersonne durch die

grünen Wipfel, Schatten tanzten auf der Treppe und den Wiesen rings um ihn

herum. Anders als die anderen Studenten seines Jahrganges trug er legere

Kleidung: Eine ausgewaschene Jeans, ein weißes Kapuzensweatshirt und bequeme

Turnschuhe. Sein dunkelblaues Fahrrad war gegen das Geländer gelehnt, daneben

stand sein schwarzer Rucksack, der fast alles enthielt, was ihm wichtig war.

Die alte Frau gab dem Hund ein weiteres Stück Wurst und der Schwanz des Tieres

wedelte um so freudiger.

Es ist schön, daß es auch noch solche Wesen gibt. Ohne Neid. Ohne Haß. Ohne

Zwang...

Der junge Mann seufzte, unbewußt, schob die Brille zurecht, begann dann, das

faltige Gesicht der Frau zu straffieren.

Ja, es war voller Falten. Aber es war auch voller Freude.

Beneidenswert...

Erneut versank er in seiner Zeichnung, vergaß die Welt um sich herum, als er in

seine eigene eintauchte, die viel friedvolle war. Viel wärmer als die kalte

Realität. Viel stiller. Viel verständnisvoller...

Ja, hier konnte er derjenige sein, der er wirklich war: Ein junger Mann voller

Hoffnungen und Träume. Hier konnte er Dinge sehen, die andere Menschen schon

längst vergessen hatten. Das Gähnen einer erwachenden Blume, die sich im

Frühjahr dem warmen Himmel entgegenstreckte. Die neckischen Sonnenstrahlen des

Sommers, die das grüne Gras kitzelten. Das Lachen des fröhlichen Laubes, wenn

der Herbstwind mit ihm durch die Lüfte tanzte. Der leise Atem der Flüsse, wenn

sie im Winter unter dicken Eisdecken schliefen. In dieser Welt. Konnte er den

Regen weinen, den Sturm toben und die Schneeflocken leise säuseln hören. Wenn

Wattewolken am Himmel entlang zogen, konnte er ihre Worte verstehen. Sie riefen

ihn, wollten ihn in all die fremden Länder mitnehmen, die er noch nie gesehen

hatte, die ihnen jedoch so vertraut waren. Wenn er ihren Erzählungen lauschte,

sah er die schönsten Landschaften vor sich. Er mußte sie auf Papier festhalten.

Deshalb trug er den Block stets bei sich. Die Zeichnungen waren seine

Erinnerungen an ein andres, an ein besseres Leben. An ein freieres.

Es waren nur wenige Bleistiftstriche, aber sie gaben ihm Hoffnung, wenn er in

die kalte Realität zurückkehren mußte. Sie gaben ihm das Gefühl, daß er nicht

allein war.

Der junge Mann wirkte äußerlich wie viele andere Studenten auch. Aber in seinem

inneren war er etwas Besonderes. Denn er hatte sich ein Talent behalten, das die

meisten Menschen abstießen, wenn sie erwachsen wurde. Das Talent zu träumen.

Ein dunkler Sportwagen fuhr vor, stellte sich direkt vor den Eingang der

Universität. Der Fahrer musterte kurz das Parkverbotsschild, tat es mit einem

Achselzucken ab. Es surrte, als das Verdeck geschlossen wurde. Einige Studenten

drehten sich nach dem teuren Auto um. Manche von ihnen nickten anerkennend,

andere wandten ihren Blick neidisch ab.

Ein junger Mann Mitte zwanzig stieg aus. Er trug einen dunklen Anzug, der

vermutlich maßgeschneidert war. Kurz lehnte er sich gegen die geschlossene Tür

des Wagens, schob die Sonnenbrille in das pechschwarze Haar, das bis auf seine

Schultern langte und das er im Nacken zusammengebunden hatte. Seine braunen

Augen betrachtete das alte Universitätsgebäude, das noch aus den düsteren

Jahrhunderten des Mittelalters stammte, skeptisch. Ein resignierender Ausdruck

schlich sich in sein sonnengebräuntes Gesicht und er schürzte seine Lippen. Es

würde ihm hier nicht besser ergehen als an den anderen Universitäten auch, die

er bereits besucht hatte. Die Menschen waren überall gleich. Auch hier. Das

wußte er. Und daß sich in dieser Stadt etwas ändern würde, daran glaubte er

nicht mehr. Diese verrückte Hoffnung gab er auf, als er die zweite Hochschule

verlassen mußte.

Der junge Mann ergriff seinen dunklen Lederrucksack, der neu in der Sonne

glänzte und schloß seinen Wagen mit einem leichten Knopfdruck auf seinen

Schlüsselbund ab. Es piepte kurz und die Warnblinker erhellten sich für einige

Augenblicke. Dann schulterte er seinen Rucksack, drehte sich zu dem alten

Gebäude um und eilte die Treppe hinauf. Seine Augen funkelten nun in wilder

Entschlossenheit.

Er kannte sein Ziel. Und er würde alles tun, um dieses zu erreichen. Welche

Steine ihm auch dieses Mal in den Weg gelegt werden würden, er würde sich nicht

unterkriegen lassen.

Mit einer entschiedenen Bewegung schob er die Brille wieder auf die Nase,

verbarg somit seine Gefühle vor den Blicken anderer. Gefühle waren ihm kaum

anzusehen, außer wenn man ihm direkt in die Augen sah. Deshalb trug er beinahe

immer seine Sonnenbrille. Sonst war er ein guter Schauspieler. Sein Vater einmal

gemeint, er solle doch zum Film gehen. Wütend hatte er es ihm bei einem Streit

an den Kopf geworfen. Daraufhin hatte der junge Mann das Haus seiner Familie

verlassen und war seit jenem Abend nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Aber er

brach den Kontakt nicht völlig ab. Nein, so einfach machte er es ihnen nicht!

Der junge Mann strich sich mit einer unbewußten Bewegung eine Strähne seines

glatten, aber dennoch widerspenstigen Haares hinter die Ohren. Sein Vater war

auch nicht begeistert von seiner Idee gewesen. Aber seit er ein kleines Kind

war, besaß er diesen Traum tief in seinem Herzen. Und wer würde ihn sich

erfüllen, dessen war er sich sicher. Nein, er würde sich nicht den Meinungen

anderer beugen.

Er hatte schon genug Leute gesehen, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, sich

durch den Alltagstrott zu schleppen. Ohne Freude, ohne Glück. Viele opferten

sich für andere Menschen auf, die ihrer Mühen gar nicht wert waren. Viele

rannten hinter Illusionen her, die wie Seifenblasen zerplatzten, wenn sie sie

endlich erreichten. Viele gaben ihre Träume, ihre Hoffnungen für falsche

Wertvorstellungen auf. Sie alle standen außerhalb des ewigen Stromes, nahmen

nicht am wahren Leben teil. Aus Angst vor dem Fall. Aus Angst, daß niemand sie

auffing. Aus Angst, zu nah an das wahre Leben heranzutreten. Aus Angst, sich an

dem Feuer der Leidenschaft zu verbrennen. Der Leidenschaft, frei und glücklich

zu sein.

Also blieben sie auf ihren beschränkten Plätzen, sahen von außen neidisch in die

Flammen. Unzufrieden bis zu ihrem Tod.

Der junge Mann wollte nicht zu jenen armseligen Menschen gehören. Niemals!

Eine Windböe fuhr durch den Park. Schatten tanzten auf dem leuchtenden Grün der

Wiese, leise rauschten die dichten Wipfel der alten Eichen. Vögel zwitscherten

freudig um die Wette. Die Passanten schlenderten durch die nahe Einkaufspassage.

Hier und da hupte ein ungeduldiger Autofahrer. Die Stadt war voller Leben. Junge

Studenten eilten die Treppe hinauf, saßen rings im Park. Sie lachten, erzählten

aufgeregt oder lernten aus abgegriffenen Büchern oder losen Heftern. Ab und an

bellte ein Hund.

Der junge Mann nahm den Trubel nur flüchtig wahr. Der Wind fuhr durch sein

schwarzes Haar und erneut strich er die widerspenstige Haarsträhne hinter seine

Ohren, blieb dann mitten in der Bewegung stehen.

Beinahe wäre er über den Jungen gestolpert, der still auf den Stufen saß,

scheinbar ausdruckslos vor sich hin starrte. Gerade wollte er ihn anfahren, er

solle doch woanders herum hängen, als er die Stöpsel in den Ohren sah. Der Junge

hörte ihn nicht, nahm sonst auch nichts wahr.

"He..." Er beugte sich leicht über den Jungen, sah auf die Zeichnung auf dessen

Knien. Auf dem weißen Papier konnte er eine alte Frau erkennen. Ihr Gesicht war

runzelig, sie bedachte einen großen Hund zu ihren Füßen mit einem faltigen

Lächeln.

Anerkennend hob der junge Mann eine Augenbraue, sah auf, als er das fröhliche

Bellen gegenüber hörte. Dort stand die alte Frau, warf gerade eine Servierte

weg, kraulte die Ohren des großen Hundes und verließ den Park. Sie brauchte

keine Leine. Das Tier würde ihr folgen - wo immer sie auch hin ging.

Leicht runzelte der junge Mann die Stirn, blickte zurück auf das weiße Papier,

das wie durch Zauberhand zu leben begonnen hatte. Die dunklen Augen der Frau

leuchteten und er vermeinte regelrecht, das aufgeregte Hecheln des Hundes hören

zu können. Ihr Blick strahlte noch etwas aus außer purer Lebensfreude. Ein

Gefühl, das der junge Mann gar nicht gesehen hatte, als sie den Park verließ.

Aber auf dem Papier war es offensichtlich. Ja, diese alte, gebeugte Frau, deren

Haar ergraut und deren Gesicht mit Falten übersät war, liebte dieses Hund. Und

das große Tier verehrte sie ebenso. Keiner von ihnen könnte ohne den anderen

existieren...

Der junge Mann blinzelte, sah dann in das bleiche Gesicht des Zeichners, der

konzentriert auf das Bild starrte. Seine Hände glitten geschickt über das

eintönige Weiß, formten mit Hilfe des Bleistiftes ein Bild, das Außenstehenden

vermutlich für immer verborgen geblieben war. Die blauen Augen funkelten im

Eifer. Er schien nichts um sich zu bemerken, war völlig in seine Arbeit

vertieft. Kurz hob er seine freie Hand, um die silberne Brille zurecht zu

rücken, sah aber nicht auf. Der Wind fuhr durch seine kurzen Haare und er

blinzelte geblendet, als die Sonne durch die Wipfel brach. Aber er hörte nicht

auf zu zeichnen. Das Bild schien das einzige zu sein, das für ihn existierte.

Ein Lächeln erschien auf dem jugendlich Gesicht, die Wangen färbten sich

rötlich, während er die Augen des Hundes straffierte. Große, treue Augen, die

nicht lügen konnten...

Unbewußt schob der junge Mann seine Sonnenbrille zurück auf die Nase, denn er

hatte sich zu tief hinab gebeugt, sie beinahe verloren. Einige Momente überlegte

er, ob er den Jungen stören sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Der

Zeichner könnte sonst seine schönen Gedanken an die alte Frau verlieren, das

Bild nicht beenden. Das wollte der junge Mann nicht.

Auch, was hätte er ihm sagen sollen? Sich vorstellen? Als Neuling, der nicht

wußte, wo er hin sollte?

Unsinn!

Dennoch fand er es irgendwie schade, daß der Zeichner ihn nicht bemerkte. Aus

irgendeinem Grund hätte er ihn gern kennengelernt.

Komm! Sie auf! Sieh mich an!

Aber der Junge sah nicht auf, zeichnete unbeirrt weiter, formte stumm ungehörte

Worte irgendeines Sängers.

Der junge Mann seufzte, fragte sich verwirrt, warum er sich mit einem Mal so

traurig fühlte. Warum erinnerte ihn gerade dieser Junge, daß er allein war?

Wieso spürte er in seiner Nähe die Einsamkeit, die er immer so gut verneinen

konnte? Sonst konnte er sich selbst sehr gut belügen.

Daß ihn all die haßerfüllten Blicke seiner Mitmenschen nicht interessierten. Daß

er sich nicht weiter um seine konservative Familie scherte. Daß er mit seinem

Leben so zufrieden war, wie die alte Frau auf dem Papier...

Der junge Mann schulterte seinen Rucksack erneut, sah ein letztes Mal in das

entspannte Gesicht des Zeichners.

Egal, Hauptsache, er stand nicht außerhalb des Stromes.

Alles, was zählt, ist mein Traum!

Mit energischen Schritten eilte er die Stufen empor, verschwand in dem dunklen

Inneren des großen Gebäudes.

Sein Traum war das Wichtigste in seinem Leben. Wegen ihm würde er sich niemanden

unterordnen. Nein, nie würde er sich deswegen ändern, sich selbst verleugnen.

Belügen ja, aufgeben nein! Was blieb noch, wenn er selbst nicht mehr im Spiegel

erkannte? Er würde seinen Traum verwirklichen, trotz all der haßerfüllten

Blicke, trotz all des Mißtrauens. Trotz all der Unverständnis.

Es gab bereits genug Menschen, die außerhalb des Feuers standen...

Die große Uhr der nahen Kirche schlug laut und kräftig. Einige Vögel flogen

erschrocken in den wolkenlosen Himmel, zwei blaue Augen blinzelten verwirrt.

Der junge Mann legte den Stift beiseite, zog die Stöpsel aus seinen Ohren,

lauschte dem dumpfen Klingen der Glocken einige Momente, sah verwundert auf

seine Armbanduhr und fluchte erschrocken. In Windeseile schlug er den Block zu

und sprang die Stufen zu seinem Fahrrad hinunter.

Trotz aller Eile steckte er das Papier mit äußerster Sorgfalt in den Rucksack.

Es durfte nicht knicken.

Kurz überprüfte er, ob sein Fahrrad auch abgeschlossen war, rannte dann die

Treppe empor.

Verdammt, warum muß ich immer zu spät kommen?

Er fluchte erneut, als er strauchelte und die letzten drei Stufen die Treppe

hinauf flog.

"Jonas, du alter Dussel!" rief ihm ein anderer Student zu, grinste breit.

"Kommst du wieder einmal zu spät?"

"Klar, genauso wie du, Michael. Oder hast du heute kein Bio?" Jonas lächelte,

als der andere Student erbleichte und nun ebenfalls zu rennen begann.

"Viel Glück beim Prof!"

"Danke." Jonas wischte sich die dreckigen Hände geistesabwesend am weißen

Sweatshirt ab, verschwand dann ebenfalls im Inneren der Universität.

Als sich die Tür hinter ihm schloß, verstummten die Glocken der evangelischen

Kirche und die Tauben kehrten auf die Zinnen des gotisch gebauten Gotteshauses

zurück. Leise gurrten sie und beobachteten, wie eine alte Frau glücklich

lächelnd durch die engen Gassen unter ihnen schlenderte. Ein großer, hellgrauer

Hund wich nicht von ihrer Seite.
 

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"Guten Morgen, Herr Hauser. Es ist wirklich nett von Ihnen, daß Sie uns mit

Ihrer Anwesenheit beehren." Der Professor drehte sich nicht um, schrieb

seelenruhig weiter an die schwarze Tafel.

Jonas zuckte bei dem spöttischen Ton leicht zusammen, zog leise die Tür hinter

sich ins Schloß.

Ich..." versuchte er zu erklären, rückte nervös seine Brille zurecht, sah sich

kurz in dem verhältnismäßig kleinen Raum um. Dieses Seminar wurde von nur etwa

20 Studenten seiner Studienrichtung besucht. Alle anderen hielten es für

langweilig oder schlicht für überflüssig. Nur ein harter Kern, der die angeblich

tote Sprache mochte oder sie für seinen Abschluß als notwendig erachtete, hielt

durch. Die meisten Jugendlichen waren nach den Grundsemestern gegangen.

Jonas kannte die wenigen Studenten beim Namen, trafen sie sich doch jede Woche

einmal. Und das seit über zwei Jahren.

Gerade wollte er sich unter weiteren Ausflüchen zu seinem Platz begeben, als er

das fremde Gesicht unter den vertrauten sah.

Seine Stumme wurde immer leiser, bis sie in unverständliches Murmeln überging.

Wie hypnotisiert starrte er in haselnußbraune Augen in einem von der Sonne

gebräunten Gesicht. Er konnte sich nicht mehr bewegen, war wie erstarrt. Es

schien ihm, als würden sie ihn durchbohren, bis in das Innerste seiner Seele

schauen. Der Blick beinhaltete etwas, das Jonas nicht bestimmen konnte, das ihn

aber berührte.

Sonnenlicht schien durch das offene Fenster, verfing sich in den pechschwarzen

Haaren. Eine Strähne löste sich aus dem Zopf, fiel in ein nun sanft lächelndes

Gesicht. Der junge Mann hob in Gedanken versunken seine feingliedrige Hand und

strich sie in einer unbewußten Geste hinter die Ohren.

Jonas Finger zuckten und er verspürte den Wunsch, seinen Block hervorzuholen und

dieses Bild festzuhalten. Gleichzeitig wußte er, daß er diesen Moment nie

vergessen würde. Er hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt. Die Zeichnung

konnte er auch in seinem Zimmer anfertigen. Wenn er Zeit und Ruhe hatte. Wenn

ihn keine neugierigen Blicke beobachteten. Wenn er das zeichnen konnte, was er

sah, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen.

Wenn er seine Gedanken frei umherstreifen lassen konnte auf der Suche nach

Antworten. Auf Fragen, die er sich selbst nie gestellt hatte. Die er nicht

kannte. Nicht kennen wollte.

Der junge Mann runzelte leicht seine Stirn, ein fragender Blick mischte sich in

die haselnußbraunen Augen.

Jonas blinzelte, tauchte langsam aus seiner Welt auf, die ihn so plötzlich

umgeben hatte. Das geschah ihm immer. Mit einem Schlag vergaß er alles um sich

herum, nahm nur noch das Bild vor sich wahr. Alles war unwichtig, nur seine

Gefühle zählten noch. Instinktiv zeichnete er, was er sah, blühte in dieser

Tätigkeit auf.

In ihr konnte er frei sein.

"Ihre Ausflüche will ich gar nicht hören, Herr Hauser." Sagte der Professor,

holte ihn mit seinen strengen Worten endgültig i die Realität zurück. Jonas

blinzelte ein weiteres Mal und erst jetzt konnte er den Blick von den tiefen

Augen lösen. Verwirrt sah er seinen Professor an. Waren wirklich nur wenige

Sekunden vergangen? Ihm waren diese Momente wie eine Ewigkeit erschienen. War

die Zeit nicht stehen geblieben? War er nicht in den haselnußbraunen Augen

ertrunken?

Wer bist du?

Jonas konnte die Frage hören. Sie war lauter als die Stimme des Professors, als

das Lachen der Schüler. Als das Rauschen der Blätter vor dem offenem Fenster.

"Na, Jonas. Du willst wohl einen neuen Rekord im Zuspätkommen aufstellen!"

spöttelte ein blondes Mädchen mit langem Pferdeschwanz in der ersten Reihe.

"Ja, klar!" Jonas grinste, war froh, daß sich sein Kopf langsam wieder klärte.

Zeichnen war sein Leben, er zog sich gern in seine eigene Welt zurück. Aber das

tat er immer allein.

Was tust du?

Erneut diese Stimme. Sie war voller Zärtlichkeit. Voller Liebe. Bedingungsloser

Liebe...

Jonas schulterte seien Rucksack stärker, nun war es an ihm, die Stirn leicht zu

runzeln.

Ich sollte mehr schlafen.

Er unterdrückte en Gähnen und ging langsam zu seinem Platz. Der Professor tat

zwar empört, aber er war nicht nachtragend. Nie würde er ihn seines Unterrichtes

verweisen oder ihn für sein ständiges Zuspätkommen bestrafen. Schließlich war er

sein bester Schüler.

"Setzen sie sich bitte neben Herrn Kajä, Herr Hauser. Herr Kajä ist seit heute

an dieser Universität und wird unseren Kursus hoffentlich genauso begeistert wie

Sie verfolgen. Die passenden Bücher wird er sich wohl erst noch kaufen müssen."

Der Professor musterte den leeren Platz des jungen Mannes, wartete, bis Ruhe in

das kleine Zimmer eingekehrt war und wandte sich wieder der Tafel zu, während er

zu sprechen begann.

"Don Cayé!" hörte Jonas den neuen Studenten neben sich gereizt flüstern. Die

Stimme war rauh und der Zeichner vermeinte, einen leichten Akzent zu hören.,

Leise seufzte er und holte seine Kursnotizen sowie seine Bücher heraus. Diese

schlug er auf und legte sie in die Mitte der Bank.

Die Blondine mit dem langen Zopf war aufgestanden und las selbstsicher den Text

vor. Die Sprache mochte seltsam klingen, aber Jonas war sie vertraut. Er hörte

sie gern. Zwar behaupteten viele, daß sie tot sei, aber in jeder Kirche, in

jeder Burg, an jedem älteren Gebäude konnte er sie entdeckten. Aus ihr waren

viele andere Sprachen entstanden. Sie mochte tot sein, aber in den Worten

anderer Völker lebte sie weiter.

Der Neue neben ihm öffnete langsam seinen Hefter, der völlig durcheinander zu

sein schien, aus vielen losen Blättern bestand, die nur teilweise beschrieben

waren. Ein Blatt fischte er heraus und machte sich einige Notizen mit einem

Kugelschreiber, der golden glänzte und sehr teuer wirkte.

Welche Verschwendung!

Jonas schob seine Brille zurecht, konzentrierte sich auf den Text. Er versuchte

es zumindest, aber in Gedanken war er bereits bei dem Bild, das er noch heute

zeichnen mußte. Unterdrückt seufzte er.

Das war's dann wohl mit dem Schlaf!

Der sonst so lockere Unterricht zog sich heute in die Länge. Mit jeder Minute

wurde Jonas unruhiger, sah mehr als nötig auf seine Armbanduhr. Sein neuer

Banknachbar schien auch keine große Hilfe zu sein, die Zeit zu überstehen. Stumm

saß er neben ihm, starrte mit ausdruckslosem Gesicht i das Buch, verfolgte

kommentarlos den Erläuterungen des Professors an der Tafel. Entweder hatte der

Neuling keine Lust oder er war restlos überfordert.

Jonas sah von seinen Notizen auf, als der Professor seinen Banknachbarn eine

Frage stellte und dieser mit einem lässigen Achselzucken antwortete. Der

Professor musterte den jungen Mann in dem schwarzen Maßanzug kurz, wandte sich

dann zu einem anderen Studenten um, der mehr wußte.

Jonas betrachtete den Neuling von er Seite. Das Gesicht war noch immer

ausdruckslos, die Augen seltsam leer. Wo war der starke Ausdruck in ihnen

geblieben, den der Zeichner so deutlich gesehen hatte, als der den Raum betreten

hatte.

"Machst du überhaupt mit?" fragte er seinen Banknachbarn leise, sah dem

Professor zu, wie er an die Tafel zurückkehrte, um weiter Vokabeln

anzuschreiben. "Oder läßt du dich nur akustisch berieseln?"

"Urteilst du immer so schnell?" De rauhe Stimme war ebenso leise wie seine und

Jonas heute den Akzent nun deutlich heraus. Er klang südländisch. Spanisch?

Italienisch? Griechisch? Jonas hörte die unterbewußte Warnung in den Worten. Der

Zeichner sah kurz den jungen Mann neben sich an, konnte jedoch dem

eindringlichen Blick der nun kalt wirkenden Augen nicht standhalten.

"Du kennst die Bücher nicht?" fragte er, obwohl ihn in Wirklichkeit andere

Gedanken beschäftigten.

War er wirklich so oberflächlich geworden? Beurteilte er die Menschen wirklich

so rasch? Vielleicht... Aber der erste Eindruck hatte ihn noch nie getäuscht.

Ein Blick in die Augen des anderen Menschen, ein Wort seiner tiefen oder hohen

Stimme und Jonas wußte instinktiv, ob dieser Mensch gut oder böse war.

Der neue Student jedoch durchbrach dieses Konzept, das Jonas besaß, seit er den

ersten Bleistift hatte halten können.

Jeder Mensch besaß seine eigene Aura. Diese konnte Jonas spüren. Er zeichnete

sie zusammen mit all den anderen Dingen, die er sah. Die nur er sah.

Der Neuling besaß auch eine Aura. Eine sehr starke. Die dunklen Augen schienen

so viel sagen zu wollen, was der Mund wohl nie ausgesprochen hätte. Trotzdem

konnte Jonas den jungen Mann nicht richtig einschätzen. Die Aura war zu dicht,

als daß der Zeichner sie hätte durchdringen können. Er konnte die feste Hülle

nicht zur Seite schieben, sehen, was sich dahinter verbarg. Ein gutmütiges oder

ein erbarmungsloses Herz? War dieser Mensch gütig oder grausam? Oder war ihm

einfach alles egal?

Jonas wußte es nicht. Er wußte nur, daß er dem jungen Mann vertrauen konnte. Das

tat der Künstler sonst nur bei einem einzigen Menschen. Ja, der Zeichner war

beliebt, aber er ließ niemanden nahe genug an sich heran. Denn er wollte nicht

verletzt werden. Nicht noch einmal. Nie mehr!

Es gab so viele Menschen, denen er einmal blind vertraut und die ihn verstoßen

hatten, weil er nicht mehr n ihr Leben paßte. Weil er nicht mehr in das Bild zu

gehören schien, das ihnen ihre Gesellschaft diktierte. Von heute auf morgen

hatten sie ihn nicht mehr gewollt. Alle wandten sich von ihm ab. Alle - außer

Lisette. Als jeder ihn abschob, sich nicht mehr um ihn kümmern wollte, nahm sie

ihn auf, zeigte, daß es auch für Menschen wie ihn noch Liebe gab. Daß auch er

Trost und Geborgenheit verdient hatte. Und Glück.

Oh, Lisette...

Was immer der Neuling auch für ein Mensch war, Jonas ahnte, daß er seiner

Schwester ähnlicher war als seinem Vater. Und aus einem unerklärbaren Grund war

der Zeichner sehr froh darüber.

"Hm..." antwortete der junge Mann neben ihm und sie beide ernteten einen

strengen Blick des Professors.

Schweigend brachten sie die Vorlesung hinter sich. Kaum daß die alte Uhr des

Universitätsgebäudes schrillte, fuhren die andern Studenten auf, ergriffen ihre

Sachen und waren bereits zur Tür hinaus. Die Sonne schien wunderbar warm und

keiner von ihnen wollte länger als nötig in dem alten Gebäude sitzen.

Jonas packte langsam seine Hefter en, sah auf die Uhr und rechnete in Gedanken

seinen Tagesablauf durch. Genervt seufzte er.

Da komm' ich heute wieder vor um acht nicht heim!

Jonas schnappte sich seine Bücher und steuerte zielsicher auf den Neuling zu,

der sich noch kurz mit dem Professor unterhielt. Sein Herz schlug ihm plötzlich

bis zum Hals und er ärgerte sich darüber.

Warum führe ich mich auf wie ein Kleinkind?

Er fand keine Antwort.

""Nun gut, Herr Kajä, aber bis zu den Prüfungen müssen Sie Leistung zeigen,

sonst sind Sie fehl in diesem Kurs. Die Schonfrist beträgt aber nur diesen einen

Monat!"

Der junge Mann nickte, als der Professor ging und fischte seine Sonnenbrille aus

der schwarzen Jacke, verharrte jedoch mitten in er Bewegung, als er Jonas

erwartungsvoll an der Tür stehen sah.

"Was willst du?" fragte er und seine Stimme klang einen Ton zu bellend. Der

Student, der eher wie en Schüler wirkte, zuckte leicht zusammen, hielt ihm dann

jedoch mit einem Lächeln auf dem bleichen Gesicht ein Buch entgegen.

"Hier, damit du dem Unterricht besser folgen kannst. Wir behandeln gerade die

dritte Geschichte. Falls du Probleme haben solltest, meine Handynummer steht im

Einband." Jonas rückte die Brille zurecht, das Lächeln vertiefte sich auf dem

sonst so traurigen Gesicht.

"Danke" Der junge Mann musterte den jüngeren Studenten verwirrt.

Sollte ich mich geirrt haben? Sind die Menschen hier anders?

"Wie heißt du?" forderte er ihn auf, strich sich die widerspenstige Strähne des

pechschwarzen Haares hinter die Ohren. Sein Gegenüber betrachtete ihn

fasziniert.

"Jonas Hauser." Sagte dieser nach einer Weile, die er brauchte, um die Frage

überhaupt wahrgenommen zu haben.

"Schön, dich kennenzulernen, Jonas. Ich bin Raphael don Cayé." Stellte sich der

junge Mann südländischen Typs vor und als er seinen Namen aussprach, war sein

Akzent unüberhörbar. Freundschaftlich streckte er dem Jüngeren seine Hand

entgegen, die dieser ohne zu zögern ergriff.

Er hat einen kräftigen Händedruck.

Er wirkt so zerbrechlich.

Die jungen Männer standen einander schweigend gegenüber.

Zwei äußerliche Gegensätze. Der eine in legerer, heller Kleidung, der andere im

maßgeschneiderten, dunklen Anzug. Der eine klein und scheinbar schwach, der

andere groß und scheinbar stark. Sie wirkten wie gut und böse. Aber er war wer.

Wirklich?...

Haselnußbraune Augen sahen schweigend in tiefblaue.

Die Zeit schien still zu stehen. So wie vor etwa einer Stunde, als Jonas

hektisch den Raum betrat, da das Seminar bereits begonnen hatte.

Raphael musterte das Gesicht des jungen Studenten, der einen Kopf kleiner als er

war. Der noch immer fest seine Hand hielt, als wollte er sie nie mehr los

lassen. Unbewußt?

Der Wind fuhr erst durch rabenschwarze, dann durch hellblonde Haare, die leicht

rötlich glänzten.

Ich will dir so viel sagen.

Ich will dir zuhören.

Beide blinzelten verwirrt, als das Fenster mit einem lauten Schlag zuschlug.

"Ich... ich muß dann los." Stotterte Jonas und eine zarte Röte überzog sein

bleiches Gesicht. Er ließ Raphaels Hand los, als habe er sich verbrannt. Dann

wirbelte er herum und rannte aus dem Zimmer.

Raphael strich sich die widerspenstige Strähne unbewußt hinter die Ohren, rat

hinaus auf den dunklen Gang und beobachtete den jungen Zeichner, der gerade

eilig durch die großen Portale das alte Gebäude verließ. Kurz schien das helle

Sonnenlicht in den dunklen Gang, überflutete den alten Steinfußboden. Dann

schloß sich die Tür und das Meer aus leuchtenden Strahlen verebbte langsam und

erlosch.

Raphael setzte langsam die Sonnenbrille auf und starrte auf die geschlossene

Tür. Dann senkte er seinen Blick auf seine Hände. Er spürte noch immer den

warmen Druck auf seinen Fingern. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, ohne

daß er es verhindern konnte.

"Jonas..."

Als die Uhr der Universität die nächsten Seminare einläuteten, stand Raphael

noch immer bewegungslos auf dem belebten Gang.

***

Die Sonne versank langsam hinter den Häuser am Horizont. Ihr rötlicher Schein

überzog die Wiesen des großen Parks inmitten der Stadt. Die Bäume warfen lange

Schatten, wirkten wie Gespenster, die ihre langen, knochigen Arme nach Passanten

ausstreckten.

Die Luft war noch angenehm warm, Vögel zwitscherten fröhlich und die ersten

Mücken tanzten im Licht der Laternen.

Jonas bremste erschrocken sein Fahrrad ab, aber der kleine Hund hatte es sich

anders überlegt, rannte zu seinem Herrschen zurück. Der Mann verzog ärgerlich

sein Gesicht, aber der Student hörte ihn nicht schimpfen. Laut klang die sanfte

Gitarrenmusik in seinen Ohren, während er kräftig in die Pedale trat.

Es war bereits nach acht Uhr. Endlich hatte er Feierabend.

Morgen klingelt der Wecker wieder um sechs!

Innerlich stöhnte Jonas auf, schob dann aber den Gedanken weit fort, als er den

Fahrtwind spürte, der durch seine Haare fuhr, ein wenig Kühle unter das

Sweatshirt brachte, das an seinem verschwitzten Rücken klebte. Der Rucksack war

nun wesentlich leichter und das Lied fröhlich. Unbewußt lächelte der junge

Student, trieb sein Fahrrad an, das immer schneller den Kiesweg entlang fuhr.

Dann ließ er den Lenker los, streckte weit seine Arme aus und legte den Kopf in

den Nacken. Seine blauen Augen blickten verträumt zum Abendhimmel empor, der

sich in allen Rottönen bis hin zum dunklen Violett verfärbt hatte. Die ersten

Sterne funkelten geheimnisvoll.

Jonas lachte laut auf, spürte den Wind nun überall an seinem müden Körper. Er

erfrischte ihn. Er gab ihm das wunderbare Gefühl der Freiheit zurück.

Ein Vogel brach aus dem Geäst der Bäume hervor, stieg hoch zum Himmel hinauf.

Seine Schwingen waren groß und mühelos hielt er sich in der Luft.

Der Student musterte das Tier einige Momente neidisch, dann ergriff er wieder

den Lenker des Fahrrads und fuhr schweigend weiter. Seine Schultern hingen, da

Lächeln war aus seinem Gesicht, die Glückseligkeit aus seinen Augen

verschwunden.

Es gab einige Augenblicke, in denen er sich richtig frei fühlte. Dann war er so

schnell wie der ewige Wind, so unbeugsam wie das unendliche Meer. Kein Feuer

konnte ihn je verbrennen, kein Sturm ihn brechen.

Jonas seufzte leise, als der Vogel einen lauten Schrei ausstieß und aus seinem

Blick verschwand.

Ja, er konnte sich manchmal frei fühlen.

Aber er wußte zugleich, daß er es niemals sein würde.

***

Jede Lampe brannte in dem kleinen Zimmer. Es war nur spärlich eingerichtet. Am

gekippten Fenster stand ein enges Bett, dessen graue Decken wild durcheinander

lagen. Mehrere Bücher zierten das Regal darüber. Ein Kühlschrank brummte

zwischen der Tür und einem alten Kleiderschrank dumpf vor sich hin. Die

verblichene Tapete war mit mehreren Landschaftsbildern überhangen, die der

Bewohner des Zimmers wohl selbst gezeichnet hatte. Eine große Staffelei stand in

der Mitte neben dem Bett. Es gab weder Stühle noch einen Tisch, dafür aber viele

Öl- und Wasserfarben in den verschiedensten Gefäßen, die rings um die Staffelei

auf dem mit Zeitungspapier ausgelegten Fußboden standen.

Es brannte die Lampe an der Decke, die über dem zerknüllten Kopfkissen sowie die

Beleuchtung der Abzugshaube. Einen Herd gab es nicht, dafür eine einzelne

Kochplatte, die jedoch unbenutzt wirkte.

"Jonas?" Ein junger Mann mit knallroten Haaren und dicker Nickelbrille stürmte

durch eine andere Tür neben dem Kleiderschrank in das kleine Zimmer. Er trug ein

T-Shirt, auf dem mit großen, roten Buchstaben stand:>ICH BIN GUT ZU VÖGELN<. Es

spannte leicht über seinen gut genährten Bauch. In seinen Händen hielt er

mehrere CDs, sah sich kurz in dem Raum seines Zimmernachbarn um.

"Du hast Besuch." Er trat zu dem Kühlschrank und drehte das kleine

Kassettenradio aus, war froh, die Gitarrenklänge nicht länger erdulden zu

müssen. Country mochte er nicht besonders, aber Jonas akzeptierte dafür seine

Verrücktheiten.

"Besuch?" Der blasse Student, der hinter der Staffelei stand, nahm den Stiel des

Pinsels in den Mund, kaute nachdenklich auf diesem herum. Außer den verrückten

Informatik- und Mathematikstudenten, die ebenfalls auf diesem Gang des

Wohnheimes dahin vegetierten, kamen nie andere Leute in sein kleines Reich.

Da hörte er das leise Klopfen.

Und diese Leute besaßen nie die Höflichkeit zu klopfen.

"Danke, Jürgen." Jonas steckte den Pinsel in die Tasche seiner Jeans, wischte

sich die Hände an dem nun mit bunten Flecken übersäten Sweatshirt ab.

"Keine Ursache. Wenn du deine Katzenmusik etwas leiser stellen würdest..."

"Und, ist dein Dämon schon besiegt?"

"Fast." Jürgen grinste, vergaß seine Beschwerde. Schließlich wußte er ja, daß

sein Mitstudent sein Radio immer so laut laufen ließ, wenn er zeichnete. "Noch

zwei Level, dann bin ich der King."

"Viel Erfolg, du tüchtiger Krieger." Jonas sah Jürgen nach, der durch das kleine

Bad, das ihre Zimmer miteinander verband, lachend verschwand. Er würde bis zum

Morgengrauen vor seinem Computer hocken und nicht eher aufgeben, bis er das

Spiel gewonnen hatte.

Der Zeichner lächelte in Gedanken versunken vor sich hin, während er zur Tür

ging und diese öffnete.

Auch eine Art von Verrücktheit, die jedoch niemanden weh tat...

"Hallo."

Jonas blinzelte verwirrt als er die Stimme mit dem südländischen Akzent

erkannte, blickte verwundert auf den jungen Mann, der auf dem Gang stand.

Anstelle des Anzuges trug er nun eine schwarze Hose und ein dunkles Hemd. Beides

sah dennoch sündhaft teuer aus.

"Äh... hallo..." Jonas, dem jetzt erst bewußt wurde, wie dumm er Raphael

angestarrt haben mußte, trat einen Schritt zur Seite.

"Komm' rein, aber fall nicht in Ohnmacht." Erklärte er, rückte die Brille

zurecht. "Jürgen, mein Zimmernachbar, meint immer, es sehe aus wie nach der

Essenschlacht in einem Kindergarten." Jonas zuckte mit seinen Schultern. Dafür

konnte man bei Jürgen keine zwei Schritte machen, ohne nicht über eine CD,

Diskette oder sonst ein Computerteil zu stolpern.

"Es sieht interessant aus." Erwiderte Raphael, blieb vor der Staffelei stehen.

Jonas verzog sein Gesicht, verschloß die Tür und lehnte sich dagegen.

"Interessant ist ein Essen, das nicht schmeckt. Aber aus Höflichkeit zwingt man

es in sich hinein, um den Gastgeber nicht zu beleidigen." Er nahm ein feuchtes

Tuch, das neben dem Kassettenrecorder auf dem Kühlschrank lag und säuberte den

Pinsel sorgfältig.

"Dein Hobby?" fragte Raphael und betrachtete eingehend das Ölgemälde einer alten

Frau mit ihrem großen Hund. Sie standen vor einem grünen Strauch und wirkten

sehr glücklich. Koloriert wirkten sie noch lebendiger, wurden die Gefühle noch

deutlicher.

"Nein, meine Leidenschaft." Erklärte Jonas mit kühler Stimme, legte den Pinsel

behutsam zu den anderen, drehte sich zu dem jungen Mann um. "Was willst du?"

fragte er offen heraus, aber seine Stimme klang weder genervt noch ablehnend.

Raphael strich sich die widerspenstige Strähne hinter die Ohren, hielt das

Lateinbuch hoch, das ihm der kleinere Student erst am Vormittag gegeben hatte.

"Mit dem Inhalt hab' ich keine Probleme, aber die blöde Grammatik bereitet mir

so meine Sorgen." Meinte er, schob die zerwühlte Decke des Bettes ein Stück

beiseite, setzte sich auf die durchgelegene Matratze. "Für mich sehen Futur und

Präsens irgendwie gleich aus." Gab er zu, schlug das Buch auf.

"Ich weiß, der Ablativ ist das Häßlichste." Jonas zog seinen Hefter aus dem

Rucksack, nahm neben Raphael Platz, kreuzte seine Beine übereinander. "Oder das

PPP..." Bald war er in die Grammatik vertieft, erklärte sie dem älteren

Studenten anhand des Textes über Herkules, den der Professor gerade mit ihnen

behandelte.

Raphael war ein gelehriger Schüler, der schnell verstand. Jonas hatte schon

vielen Studenten Nachhilfeunterricht gegeben - wenn auch nicht in seinem eigenem

Zimmer. Das war ein Los, das ihn als Bester automatisch traf. Viele kamen dann

mit gelangweilten Mienen zu ihm, weil sie mußten. Weil sie den Kurs bestehen

wollten. Er war nur das Mittel zum Zweck.

Der junge Mann neben ihm dagegen hörte zu. Die Geschichte schien ihn zu

interessieren. Oder er war ein guter Schauspieler.

"Herkules ist ganz schön stark gewesen." Überlegte Jonas leise, zog einige

Pfeile zwischen unterstrichenen Vokabeln in seinem Hefter, um seinen Worten mehr

Nachdruck zu verleihen.

"Ja, aber glücklicher war er trotzdem nicht. Sein Vater legte ihm all die

Prüfungen auf, aber im Olymp wollte er ihn nicht haben."

"Wahrscheinlich..." Über Jonas Gesicht, das vom Erklären leicht gerötet war,

huschte ein Schatten. "Wer will schon einen Bastard?" murmelte er und eine

unangenehme Stille entstand, in der Raphael verwundert auf den kleineren

Studenten herabblickte. Sie wurde von dem lauten Knurren Jonas' Magen

unterbrochen.

Raphael sah auf seine teuer wirkende Armbanduhr, vermutlich eine Rolex.

"Schon zehn Uhr durch." Sagte er mehr zu sich als zu seinem jungen Lehrer. "Hast

du noch nichts gegessen?"

Jonas schüttelte nur seinen Kopf, dachte an die halb leere Ketchupflasche, die

angerissene Milchpackung und die drei rohen Eier, die sein Kühlschrank

beherbergte und die sich darin wohl zu Tode fürchteten. Zum einkaufen war es zu

spät und auf die Kekse und das bittere Bier Jürgens hatte er auch keinen

Appetit.

Also wieder Fastenzeit!

Raphael, der seine Gedanken erraten zu haben schien, klappte energisch das Buch

zu. "Wie wär's, wenn wir essen gehen?" Kurz musterte er das karg eingerichtete

Wohnheimzimmer. "Ich lade dich auch ein, als Dank für deine Geduld. Sonst hätte

ich den Ablativ wohl nie begriffen." Raphael sah den kleineren Studenten an, als

dieser zögerte. "Oder mußt du morgen früh raus?"

"Nein."

Warum lüge ich?"

"Ich kenn' da 'ne Pizzeria gleich um die Ecke." Jonas rutschte von der viel zu

weichen Matratze, streckte seine steifen Beine aus und zog sich dann das über

und über mit Farbflecken bekleckerte Sweatshirt über den Kopf. Er warf es mit

einer knappen Bewegung auf den Boden neben die Farben. Morgen würde er es wieder

gebrauchen können, wenn er sich erneut seiner Leidenschaft widmen würde.

Behutsam hob er ein weißes Tuch auf, hängte es über die Staffelei, nachdem er

sich vergewissert hatte, daß die Farben getrocknet waren.

"Familienrecht? Erbrecht? Wofür ist denn das?" Raphael hatte ein Buch

aufgeschlagen, das er auf dem Kopfkissen entdeckt hatte. Er sah nicht auf,

strich sich lediglich die widerspenstige Strähne hinter die roten Ohren.

"Ich studiere Jura." Jonas holte einen grauen, abgetragenen Pullover aus dem

Schrank, konnte förmlich die fragenden Blicke des jungen Mannes im Rücken

spüren. "Paßt überhaupt nicht dazu, was?" Er deutet auf die Bilder an den

Wänden. Auf die Meere, die man rauschen zu hören vermeinte. Auf die Wälder und

Wiesen, die im leichten Wind zu wiegen schienen. "Aber irgendwie muß man ja Geld

verdienen. Nichts ist umsonst." Kurz ging er ins Bad, wusch sich die mit Farbe

beschmierten Hände und sagte Jürgen Bescheid, daß er noch einmal fortgingen.

Der Rothaarige unterbrach sein Spiel, starrte ihn ungläubig an. "Du gehst aus?

Um diese Uhrzeit?"

Jonas grinste nur frech. "Besieg' du mal deine Dämonen, edler Ritter."

Kopfschüttelnd kehrte er in sein Zimmer zurück, ergriff sein Portemonnaie samt

Schlüssel.

"Kommst du?" forderte er Raphael auf, der ganz vertieft in den Rechtsgesetzen

las.

Was mach' ich eigentlich?

Jonas ignorierte seine innere Stimme. Warum sollte er nicht mit Raphael eine

Pizza essen gehen? Seine Schwester tadelte ihn viel zu häufig, daß er nicht

genug und zu unregelmäßig aß. Außerdem hatte sie recht, daß er zu wenig Freunde

hatte.

"Gemütlich haben die's hier." Raphael strich sich die widerspenstige Strähne

hinter die Ohren.

"Hm..." Jonas studierte die Karte und wurde sich bewußt, daß er den ganzen Tag

bis auf einen Apfel zum Frühstück noch nichts gegessen hatte. "Hm, Lasagne.

Lecker." Murmelte er vor sich hin, konnte sich nicht daran erinnern, wann er das

letzte Mal in einem richtigen Restaurant gegessen hatte. McDonald's und Jürgens

Pizzadienst zählten nicht.

"Bist du schon lange hier in dieser wunderschönen Stadt?" fragte er Raphael, als

die Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte.

"Das klingt ja nicht sehr patriotisch."

"Na ja." Jonas mußte grinsen, denn mit Raphaels Akzent klang jedes

kompliziertere Wort irgendwie anders. Nicht lächerlich oder unverständlich. Aber

irgendwie lustig. "Mir ist es hier meist zu laut und im Winter ist es zwischen

den Betonklötzen von Häusern kaum auszuhalten. Aber im Moment blühen alle Bäume

und es läßt sich aushalten." Er zuckte mit den Schultern. "Es ist eine Großstadt

wie jede andere auch. Dreckig, voller Abgase und seltsamer Gestalten. Aber sie

ist besser als jedes Dorfnest." Der Zeichner hatte seine Servierte ergriffen,

riß sie langsam in kleine Stücke. "Hier kennt nicht jeder jeden und das zieht

wohl auch so viele Jugendliche an." Er räusperte sich, legte die Servierte

schließlich beiseite.

"Oh mann, das klingt richtig theatralisch. Jürgen meint auch immer, ich blase zu

viel Trübsal." Die Getränke kamen und Jonas nippte kurz an seiner eisgekühlten

Cola. "Eigentlich wollte ich ja dich ausfragen und nicht umgekehrt." Erklärte er

und sein Grinsen wurde noch breiter.

"Ach, soll ich dir meine Bewerbungsunterlagen und einen tabellarischen

Lebenslauf geben, damit du mich zu einem Vorstellungsgespräch einladen kannst,

um zu sehen, ob ich deines Nachhilfeunterrichtes auch würdig bin?" Raphaels

Stimme war genauso spöttisch wie die des Zeichners.

"Aber mit Paßphoto."

"Du bist ungnädig." Der ältere Student verzog spielend ärgerlich sein Gesicht.

"Wieso, bist du auf solchen Photos auch immer so grausam getroffen?"

"Ich bin nicht photogen." Raphael zuckte mit den Schultern, lächelte nun

ebenfalls.

"Laß' mal zeigen!" Jonas beugte sich leicht vor, um auf den Ausweis des jungen

Mannes zu sehen, machte eine abfällige Handbewegung. "Das nennst du versaut?"

fragte er leicht entrüstet, zog die Plastekarte aus seiner Hosentasche und hielt

sie daneben. "Das ist wirklich grausam. Auf diesem Photo sehe ich aus wie ein

Fünfzehnjähriger. Die Verkäufer schauen mich immer so komisch an, als ob der

Ausweis gefälscht sei. Einmal wollte mich der Vorführer nicht ins Kino lassen,

weil der Film ab sechzehn war und er mich für jünger hielt." Jonas schüttelte

seinen Kopf und seine kurzen, hellblonden Haare wirbelten durch die Luft. "Dabei

war es nur ein ganz einfacher Gruselfilm gewesen." Er steckte den Ausweis weg,

setzte sich zurück auf seinen Stuhl.

"Du bist in Italien geboren?" fragte er neugierig, denn er hatte den Geburtsort

Raphaels lesen können.

"Ja, aber hier bin ich zur Schule gegangen und nun studiere ich hier. Die

Universitäten in Italien sind nicht so gut." Raphael strich sich die

widerspenstige Strähne hinter die Ohren und Jonas, der gerade seine Cola trank,

hätte sich beinahe verschluckt.

"Was ist deine Studienrichtung?" fragte er, holte tief Luft, um wieder zu Atem

zu kommen.

Das ist ja wie bei einem Verhör!

"Du stellst ganz schön viele Fragen." Normalerweise hätte das Raphael sehr

gestört, aber heute machte es ihm nichts aus. Er fragte sich nicht weiter nach

dem Grund. Schon lange hatte er sich nicht mehr so amüsiert und er würde sich

den Abend nicht durch seine warnende innere Stimme verderben lassen.

"Als zukünftiger Anwalt muß ich das doch."

"Hab' ich etwas verbrochen?"

"Nö." Jonas rückte die Brille zurecht, sah erwartungsvoll die Kellnerin an, die

das Essen brachte. Es dufte köstlich und sein Magen knurrte erneut. Nach einigen

Bissen war sich der junge Zeichner auch sicher, daß es genauso gut schmeckte wie

es aussah.

"Ich studiere Medizin."

"Auch kein leichtes Studium." Jonas steckte sich eine weitere Gabel voll Pasta

in den Mund, wußte nun, warum der junge Mann ihm gegenüber den Lateinkursus

besuchte. Aber es verwunderte ihn, daß er nicht besser in der toten Sprache war.

Medizinstudenten konnten Latein doch meist besser sprechen als die alten Römer

höchstpersönlich. Bei all den seltsam klingenden Begriffen, die sie lernen

mußten. Jede Muskel, jeder Knochen besaß doch seinen eigenen lateinischen Namen.

"Das ist es wert."

Jonas sah auf und beobachtete Raphael, der sorgfältig seine Pepperonipizza in

kleine Teile zerschnitt.

"Klingt ja fast so, als würdest du das machen, weil du das willst und nicht,

weil dein Vater eine Praxis hat." Der junge Zeichner dachte an all die

Medizinstudenten, die nur studierten, weil sie mußten oder sie für eine

gesicherte Zukunft bereitwillig ihre eigenen Träumen aufgaben.

"Mein Vater war dagegen."

Halt endlich deinen Mund. Das geht ihn nichts an!

Raphael betrachtete die Pepperoni nachdenklich, schob sie sich dann in den Mund

und kaute langsam. Sie brannte höllisch, aber er ignorierte den Wunsch nach

Wasser. Wenn er jetzt trank, würde er sich zu Tode trinken und das Brennen würde

trotzdem nicht aufhören.

"Meinem Vater ist eigentlich egal, was ich mache. Also hab' ich mich für einen

Beruf entschieden, der mir noch das meiste bieten kann." Jonas blickte mit einem

Mal ganz traurig drein und die Lasagne schmeckte ihm nicht mehr. Er dachte an

Lisette, die ihn als einzige unterstützt hatte. Nun ja, eigentlich war es sogar

ihre Idee gewesen. Denn er konnte ja nicht ewig bei McDonald's oder

irgendwelchen Zeitungsaustragefirmen arbeiten. Das würde ihn eines Tages töten.

Das wußten sie beide.

"Hier ist es viel zu kalt. Bei mir zu Hause ist es um diese Jahreszeit schon

wesentlich wärmer. Das Meerwasser hat die richtige Temperatur, um baden zu gehen

und die Sonne heizt die Luft auf 30 Grad auf. Mein Vater besitzt ein großes

Landgut und die ersten Reben tragen schon ihre Früchte..." begann Raphael

plötzlich mit angenehmer Stimme zu erzählen. Jonas stützte sich auf das Gelenk

der Hand, die noch immer die Gabel in der Hand hielt, und sah ihn aufmerksam an.

Er hörte dem älteren Studenten gern zu. Er mochte den südländischen Akzent, sah

gern die Gesten, mit denen er seine Worte betonte.

Der junge Zeichner lächelte, während er vor seinem inneren Auge die fernen

Landschaften sah, die der geborene Italiener schilderte.

Warum erzähl' ich das alles?

Raphael runzelte leicht seine Stirn, fuhr dann aber fort in der Geschichte über

die Fischer, die jeden Morgen auf das unendliche Meer hinausfuhren und auf

erfolgreichen Fang hofften. Er sah das Lächeln auf Jonas Gesicht, spürte, wie

sich der jüngere Student langsam entspannte.

Hauptsache, er sieht nicht mehr so traurig aus.

"... und wenn du hinter der Uni immer gerade aus gehst, kommst du in die

Fußgängerpassage. Das große Gebäude links ist dann die Bücherei und gleich

daneben ein Supermarkt, der nicht ganz so teuer ist wie die restlichen Läden in

der Stadt." Erzählte Jonas und zeigte hinüber zu den hell erleuchteten

Hochhäusern.

Es war nun dunkle Nacht, während sie zurück zum Wohnheim schlenderten. Die

Sterne funkelten am wolkenfreien Himmel, die Straßenlaternen warfen sanftes

Licht auf die Bürgersteige unter sich. Leise rauschten die Bäume im angenehm

warmen Nachtwind. Ja, der Sommer hielt Einzug. Mit jedem Tag wurde die Luft

wärmer. Nichts konnte ihn mehr aufhalten.

Dennoch fror es den jungen Zeichner. Er ging nun schweigend neben dem

italienischen Freund her, zog die ausgeleierten Ärmel des grauen Pullovers fest

über seine eiskalten Hände. Er hatte die Woche wenig geschlafen und das rächte

sich nun. Noch morgen, dann war Wochenende. Dann konnte er wenigstens ein wenig

länger schlafen. Vorausgesetzt, seine Flurnachbarn veranstalteten keine Party,

die bis früh drei Uhr dauerte, bis der Alkohol alle und die Feiernden so

betrunken waren, daß sie einschliefen.

Wenigstens hab' ich wieder etwas vernünftiges gegessen.

"Den Fraß der Mensa würde ich dir nicht empfehlen. Davon kriegt man nur

Ausschlag oder Brechreiz." Meinte er nach einer Weile des Schweigens, erwähnte

nicht, daß ihm der Abfall, den man dort auf Marken erhielt, auch viel zu teuer

war. Er hatte den blauen Sportwagen Raphaels gesehen und ahnte, daß dieser genug

Geld hatte, jeden Tag sein Mittag im Ritz einzunehmen.

Idiotisch, daß ich die Kaufhalle erwähnt habe. Er muß denken, ich bin arm wie

eine Kirchenmaus.

Jonas dachte an seinen traurigen Kontostand und die große Leere in seinem

Portemonnaie.

Verdammt, ich bin arm wie eine Kirchenmaus!

Der junge Zeichner zog noch stärker an den Ärmeln seines Pullovers, sah auf

seine alten Turnschuhe herab. Nun, er war nicht der einzige, der am

Existenzminimum dahin kroch. Das wußte er.

Ein schwacher Trost!

Nun, es konnte schlimmer sein.

Ja, wie denn?

Jonas seufzte leise, versuchte wie immer vergeblich, die nervende Stimme in

seinem Inneren zu unterdrücken.

"Ist dir kalt?" Raphael musterte den kleineren Studenten besorgt, der nur kurz

aufsah. Seine blauen Augen waren wieder so traurig wie in dem einen Moment in

der Pizzeria. Dann senkte der junge Zeichner wieder seinen Blick und seine

Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

"Nein. Wir sind ja auch schon da." Er blieb stehen, sah auf, um sich für die

Lasagne zu bedanken und erstarrte. Wie hypnotisiert blickte er in die tiefen

haselnußbraunen Augen, die ihn fragend musterten. Dasselbe Gefühl überkam ihn,

das er auch am Morgen gespürt hatte, als er voller Eile in das Studierzimmer

gestürmt war.

Was ist hier los?

Er wollte etwas sagen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, sein Mund

seltsam trocken. Mehr als einen unverständlichen Ton hätte er wohl nicht

herausgebracht. Unverwandt starrte er den älteren Studenten an, konnte sich

nicht mehr bewegen.

Was mach' ich hier?

Raphael stand mit einer geschmeidigen Bewegung plötzlich ganz dicht vor ihm,

nahm das Gesicht des jungen Zeichners in seine warmen Hände. In so sanfte Hände.

Der italienische Student wirkte genauso verwirrt.

"Jonny..." flüsterte er, sagte noch einige Worte in seiner Muttersprache, die

Jonas nicht verstand. Die er wohl auch nicht verstanden hätte, wenn er

Italienisch beherrscht hätte. Schweigend sah er noch immer den Medizinstudenten

an, ließ zu, daß dieser ihn sanft an sich drückte, sich zu ihm herabbeugte.

Was...

Jeglicher Gedanke war ausgelöscht, als die warmen Lippen Raphaels auf den seinen

spürte. Instinktiv ließ er die Ärmel seines Pullovers los und umschlang die

Taille des älteren Freundes. Er spürte die festen Muskeln, die von weicher Haut

überspannt wurden. Jonas schloß seine Augen und erwiderte den Kuß mit all der

Sehnsucht, die er sich bisher nie eingestanden hatte. Die Sehnsucht nach Liebe.

Bedingungsloser Liebe...

Die Zeit schien still zu stehen und keiner von beiden wußte, wie lange sie dort

gestanden hatten, als sich Raphael mit einem Mal versteifte und sich plötzlich

von den kleineren Studenten löste.

Jonas sah ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Entsetzen an. Seine Beine

zitterten und vermochten nicht länger, ihn zu tragen. Er ging vor dem ganz in

Schwarz gekleideten jungen Mann, der nur noch wie ein Schatten wirkte, in die

Knie, sah auf die kalten Platten unter sich. Sein Atem ging schnell, die Welt

schien sich um ihn herum zu drehen.

"So sollte sich das nicht anfühlen..." murmelte Raphael und taumelte einige

Schritte zurück, bis er die Straßenlaterne in seinem Nacken spürte. Er sah, wie

Jonas seinen Kopf hob und ihn mit seinen großen dunkelblauen Augen fragend

ansah. Ungeweinte Tränen spiegelten sich in dem Glas der silbernen Brille, die

leicht verrückt war. Aber der junge Zeichner hob dieses Mal nicht seine Hand, um

sie zurecht zu rücken. So, wie er das sonst immer tat.

Was...

"Ich geh' dann wohl besser." Raphaels Akzent war mit einem Mal so ausgeprägt,

daß es fast gebrochen klang. Jonas sah ihn noch immer so unverwandt an und die

alte Panik stieg in dem jungen Italiener empor. Gleich würde er ihn anschreien,

wie das die anderen auch getan hatten. Raphael senkte seinen Blick und zog

seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Dann eilte er davon.

Was hab' ich getan?

Jonas blickte dem jungen Medizinstudent schweigend hinterher, hörte, wie der

Motor eines Sportwagens aufheulte.

Warum hab' ich das getan?

Der junge Zeichner saß noch lange auf dem Bürgersteig. Es gelang ihm erst, auf

seine zitternden Beine zu kommen, als der Wagen schon längst die Straße

verlassen hatte.

***

"Na, wie war's?" Ohne zu klopfen steckte Jürgen seinen Kopf zur Tür hinein,

runzelte verwundert die Stirn. Er hatte doch das Schlüsselbund und Schritte

gehört. Oder wurde er langsam paranoid? Waren zehn Stunden am Computer doch zu

viel? Nein! Niemals!

"Ach, da bist du." Meinte er, als er die Gestalt entdeckte, die auf dem

Fenstersims hockte, hinaus in den Himmel starrte. Der Rotschopf trat neben den

jungen Zeichner, sah auf den Block auf dessen Knien. Er zeichnete den hellen

Mond, der gerade am Horizont erschien, aber das Bild wirkte seltsam falsch.

Jürgen wußte jedoch nicht warum, er hatte nicht viel Ahnung von Kunst.

"Was gab' es denn?" fragte er neugierig und zog dem jungen Mann die Stöpsel aus

den Ohren, um somit seine Aufmerksamkeit zu erringen.

"Lasagne."

Jürgens Falten auf der Stirn wurden noch tiefer. Wieso klang sein Zimmernachbar

dann so deprimiert? Lasagne war doch schließlich sein Lieblingsgericht. Er sah

die dunklen Ringe um die blauen Augen, wußte, daß es schon weit nach zwölf Uhr

war und der junge Zeichner nicht so großzügig wie er ausschlafen konnte.

"Geh' ins Bett, Winzling. Du siehst müde aus." Sagte er, tätschelte die schmale

Schulter des jungen Jurastudenten.

"Ja, mach' ich dann."

Jürgen holte tief Luft, wollte aber nicht schimpfen. Es ging ihn ja eigentlich

nichts an, ob sich der junge Zeichner um seine Gesundheit scherte oder nicht.

Aber auf diesem Gang war noch keiner im Stich gelassen worden. Nun ja, wenn er

unbedingt malen mußte. Das war ja seine Sache.

"Lieb von dir, daß du jetzt den Walkman nimmst. Ich bin gerade im letzten Level

und da brauch' ich Konzentration, keine Katzenmusik." Er grinste und kehrte in

sein Zimmer zurück.

Jonas sah kurz auf, fuhr fröstelnd zusammen, als der kalte Nachtwind durch das

offene Fenster fuhr und an seiner Kleidung riß.

"Lieb..." flüsterte er mit Tränen erstickter Stimme, als er die Worte seines

Zimmernachbarn wahr nahm. Mit zitternden Händen steckte er den Stöpsel in sein

Ohr zurück, schaltete die Musik wieder ein und drehte sie auf volle Lautstärke.

Dann wandte er sich wieder seinem Bild zu. Es stellte einen weißen Vollmond dar,

der vor einem tiefroten Himmel strahlte.

Während Jonas mit einem dicken Fettstift den Himmel noch dunkler straffierte,

verschwammen die Farben vor seinen Augen. Er biß sich fest auf die bebenden

Lippen, bis sie zu bluten begannen.

Aber er konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.

***

Die Ampel schaltete auf Rot, aber der blaue Sportwagen machte keine Anstalten

anzuhalten. Links und rechts quietschten Reifen, als die Autos, denen die

Vorfahrt genommen worden war, bremsten. Hier und da ertönte eine empörte Hupe.

Raphael hörte sie nicht. Er hatte sein CD-Radio aufgedreht und die sanfte Stimme

Freddy Mercurys erfüllte das Innere des Wagens.

>The show must go on...< ertönten die Worte des Sängers, während der junge

Italiener seinen Sportwagen auf hundert Stundenkilometer beschleunigte, obwohl

in der Stadt nur sechzig erlaubt waren.

Die Show mußte weitergehen... Das hatte er damals auch geglaubt. Damals, als er

bemerkte, daß er anders war. Damals, als er es seiner Familie gestand und von

ihr verstoßen wurde. Damals, als er von den ersten zwei Universitäten flog, weil

er sich mit zu vielen Studenten geprügelt hatte, die in ihm den letzten Dreck

gesehen hatten. Er war Ungeziefer gewesen, das es zu vertreiben galt. Und sie

hatten auch Erfolg gehabt. Als einer von ihnen wegen schweren Verletzungen im

Krankenhaus landete, wurde Raphael offiziell von der Universität ausgeschlossen.

An der zweiten Hochschule war es ihm nicht anders ergangen. Und an der

dritten...

Verdammt! Ich bin, was ich bin. Wer das nicht begreifen kann, soll mich in Ruhe

lassen!

Aber sie hatten ihn nicht in Ruhe gelassen. Immer wenn sie die Wahrheit über ihn

herausgefunden hatten, wurden sie zu Monstren. Jeder einzelne von ihnen. Sie

terrorisierten ihn so lange, bis er keine andere Wahl hatte, als sich zu

verteidigen. Und wenn er sich ernsthaft verteidigte, war der Rausschmiß wegen

Körperverletzung nicht mehr weit.

Hier würde es ihm nicht besser ergehen. Jonas würde sein Mißgeschick herum

erzählen und innerhalb von ein oder zwei Monaten konnte er sich an der nächsten

Universität anmelden.

Verflucht, warum habe ich das nur getan?!

Er stellte sich die Frage zum wiederholten Mal, fand aber keine Antwort darauf.

Er hatte sich immer gut im Griff, seine Gefühle unter eiserner Kontrolle.

Trotzdem hatte er sich nicht zurückhalten können, als der junge Zeichner ihn so

einladend angesehen hatte. So einsam. So verständnisvoll...

Seit der zweiten Universität, die er hatte verlassen müssen, hatte er aufgehört,

nach Gleichgesinnten zu suchen. Denn was er fand, waren meist nur Ekel und Haß

gewesen. Alles, was zählte, was sein Traum gewesen. Aber sie hatten es trotzdem

irgendwie heraus bekommen und er war gegangen, um seinem Traum woanders ein

kleines Stückchen näher zu kommen und ihn sich eines Tages zu erfüllen.

Warum konnte ich mich heute nicht zurück halten?

Weil er die Einsamkeit satt hatte? Weil er sich bei dem kleinen Jurastudenten

wohl gefühlt hatte? Weil dessen munteres Lachen ihm gut getan hatten?

Nein, so sollte es sich nicht anfühlen. Nicht so gut!

Raphael fluchte unterdrückt, schaltete die Nebelscheinwerfer ein, um in den

engen Gassen mehr zu sehen, die er mit überhöhter Geschwindigkeit entlang raste.

Er hatte schon einige Menschen geküßt, aber es war nie so gewesen wie heute. So

voller Sehnsucht. So voller Liebe...

So durfte es einfach nicht sein! Der blasse Zeichner hatte einen Freund gesucht.

Das hatte Raphael gespürt. Die Studenten in dem Lateinkursus hatten zwar mit ihm

gesprochen und dieser Jürgen schien auch ab und an nach dem kleinen

Jurastudenten sehen, aber wirkliche Sorgen schien sich keiner um ihn zu machen.

Sonst wäre ihnen aufgefallen, wie müde Jonas wirkte. Obwohl es bereits sehr warm

war, hatte er gefroren. In seinem dicken Pullover! Raphael hatte schon beim

Hinsehen geschwitzt. Und dann diese ständige Blässe, die nur dann etwas

verschwand, wenn der Zeichner in seinem Element war oder Grammatik erklärte. In

seinem Kühlschrank befand sich bestimmt nichts Eßbares. Und dann dieses Zimmer!

Daß es chaotisch aussah, das störte Raphael nicht. Sein älterer Bruder war

genauso schlimm und wenn der junge Italiener nicht ständig umziehen müßte,

würden die meisten Räume seiner Wohnung auch so schrecklich unaufgeräumt

aussehen. Aber sein Bett besaß nicht eine so grausame Matratze. Wie konnte Jonas

nur darauf schlafen? Da mußte doch am nächsten Morgen jeder Wirbel einzeln

schmerzen!

Raphael trat noch heftiger auf das Gaspedal und schaltete einige Gänge runter.

Der Motor heulte auf wie ein wilder Wolf, der den Vollmond sah.

Der kleine Jurastudent schien nicht nur am Rande des Existenzminimums zu leben,

sondern auch am Rande des Hungertodes. Raphael war entsetzt gewesen, als er die

Rippen gesehen hatte, über denen die Haut bereits gespannt hatte. Kümmerte sich

niemand um den jungen Zeichner, daß er wenigstens einmal am Tag etwas zu essen

bekam? Dieser Jürgen hatte ziemlich gut genährt ausgesehen. Gab er nicht etwas

von seinem Abendbrot ab, wenn er bemerkte, daß Jonas nichts mehr hatte?

Andererseits, ließ der kleine Jurastudent überhaupt zu, daß jemand es bemerkte?

Vermutlich nicht. Wenn Raphael nicht darauf bestanden hätte, hätte Jonas die

Lasagne selbst bezahlt. Stolz war der junge Künstler schon. Stolz und unheimlich

dumm! Das Jurastudium war sehr hart, besonders, wenn man es eigentlich gar nicht

wollte.

>Nein, es ist meine Leidenschaft.< hörte der junge Italiener die Stimme des

kleineren Studenten noch immer in seinem Kopf. Alles, was dieser Künstler doch

wollte, war zeichnen. Und er konnte es, verdammt noch einmal, sehr gut! Es war

genauso ein schöner Traum wie der des Medizinstudenten. Warum konzentrierte er

sich nicht völlig darauf? Weshalb mußte er sich zugrunde richten mit dem

Vorsatz, Anwalt zu werden, wenn er es gar nicht wollte?

>Aber irgendwie muß man ja Geld verdienen. Nichts ist umsonst.<

So ein Unsinn! Als ob Geld jemals glücklich gemacht hätte. Raphael mußte

unweigerlich an seinen Vater denken, der im Geld geradezu schwamm. Auch er

erhielt regelmäßig höhere Zahlungen als wie er jemals in der Lage war

auszugeben. Jedenfalls nicht allein...

Nun, wenigstens sein älterer Bruder wußte etwas damit anzufangen. Er war

glücklich, aber das lag nicht an dem Geld. Es hatte ihm lediglich geholfen,

seine eigenen Ziele eher zu erreichen. Noble Ziele, um die Raphael ihn so

manches Mal beneidet hatte, bis er den Mut fand und sich gegen seinen Vater

stellte. Bis er die Courage fand und das Studium in dem fremden Land aufnahm,

das ihm bereits vertrauter war als die ferne Heimat.

Nein, eigentlich hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, daß es auch

Menschen wie Jonas gab, die vermutlich Tag für Tag lebten und hofften, in der

nächsten Woche noch genug Geld für die Wohnung aufzubringen. Denn wenn der

kleine Jurastudent mehr Geld gehabt hätte, so würde er wohl kaum in dieser

armseligen Behausung hocken. Kein Wunder, daß er immer so traurig aussah. Das

Wohnheim war ja auch deprimierend.

Raphael dachte mit einem leisen Seufzer an die leuchtenden Augen zurück, als ihm

Jonas sein Paßphoto gezeigt und so herzhaft gelacht hatte.

In dem Moment kam das Auto ins Schleudern. Der junge Italiener fluchte, trat auf

die Bremse und riß das Lenkrad herum. Der Wagen drehte sich und kam nur wenige

Meter neben einer großen Eiche zum stehen.

Raphael holte tief Luft, lehnte sich zurück und sah durch das Seitenfenster zu

dem massiven Stamm hinüber.

Warum mache ich mir überhaupt Sorgen um den Kleinen?

Er strich sich die widerspenstige Strähne hinter die Ohren, fuhr sich über die

müden Augen. Jonas würde ihn nicht mehr sehen wollen. Nicht nach dem Mißgeschick

heute abend.

War es wirklich ein Mißgeschick?

Der kleine Jurastudent wußte nun, daß er anders war. Gewiß ekelte er sich vor

ihm, würde es wohl all den anderen Jugendlichen erzählen. Vielleicht war er

derjenige, der den ersten Stein warf.

Raphael seufzte erneut, dachte an den entsetzten Blick zurück, den Jonas ihm

zugeworfen hatte, als er sich von ihm löste. Dann schaltete er die

Nebelscheinwerfer aus und fuhr die Straße zurück. Es wurde Zeit, daß er in seine

neue Wohnung kam. Einige Kartons galten ausgepackt zu werden, auch wenn es wohl

nicht viel Sinn haben würde. Bald würde er sowieso wieder gehen müssen. Wie

immer...

Der Sportwagen hielt nun die vorgeschriebene Geschwindigkeit ein, als er auf die

Hauptstraße bog, sich rasch unter den vielen anderen Autos verlor.

Ja, die Show mußte weitergehen. Das tat sie immer.

Aber mit jedem Neuanfang wurde sie schwerer. Sinnloser...

***

Dicke Wolken verhängten den Nachthimmel, kein Stern war zu sehen, geschweige

denn der Mond. Die Temperatur war gegen Abend auf fast Null Grad gefallen, Nebel

stieg aus dem nahen Park empor. Hinzu kam, daß es wie aus Eimern schüttete.

Jonas schleppte sich den glitschigen Bürgersteig entlang, spürte den kalten

Regen kaum, der hart auf seine schwarze Jacke herab prasselte. Er war bereits

naß bis auf die Knochen und die Kapuze hatte seine Haare auch nicht schützen

können. In Strähnen hingen sie in sein bleiches Gesicht. In seine Augen, die naß

glänzten, was nicht nur an dem Unwetter lag.

Der Tag hatte bereits so wunderbar angefangen. Irgendwann die Nacht war er wohl

doch eingeschlafen und hatte natürlich verschlafen. Entsetzt hatte er auf seinen

Wecker geschaut, aber dieser gab keinen Mucks mehr von sich. Im Laufe der

letzten vierundzwanzig Stunden hatte die Uhr das Zeitliche gesegnet und Jonas

hatte sich verzweifelt gefragt, wo er so auf die Schnelle einen Ersatz fand, der

nicht die Welt kostete.

Natürlich war er zu spät gekommen und der Professor für Jura hatte ihn prompt

des Seminars verwiesen. Dann verlor er auch noch die Hälfte der Werbeprospekte,

die er hatte austeilen sollen und goß einem Kunden bei McDonald's den Milkshake

über den Anzug. Wenn der Kunde nicht so verständnisvoll gewesen und nur lachend

abgewunken hätte, hätte man den ungeschickten Studenten bestimmt gefeuert.

Völlig erschöpft war er schließlich bei Dämmerung in sein Wohnheim zurückgekehrt

und bemerkt, daß er natürlich vergessen hatte einzukaufen. Traurig hatte er den

Ketchup und die Eier angestarrt, denn die Milch hatte er sich zum Frühstück

genehmigt. Noch trauriger hatte er den Inhalt seines Briefkastens angeschaut.

Werbung, Rechnungen, noch mehr Werbung, noch mehr Rechnungen. Und dann der

Brief! Eine Weile hatte er ihn schweigend angestarrt und es hatte ihn viel

Überwindung gekostet, ihn zu öffnen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er seinen

Blick von dem Scheck hatte lösen können, den er aus dem Umschlag hervor holte.

Jonas hatte Jürgen nicht Bescheid gesagt, als er seine schwarze Stoffjacke

ergriffen, den Scheck in die Innentasche gestopft und wortlos sein Zimmer

verlassen hatte. Schnurstracks war er in das ihm bereits so vertraute Viertel

gegangen. Grelle Lichter strahlten von den Schaufenstern ihm entgegen, aber er

hatte sie nicht wahrgenommen. Er war wieder in dieselbe Kneipe gegangen und

hatte dasselbe wie immer getrunken. Irgend so ein süßes Zeug, das ihm eigentlich

gar nicht schmeckte. Aber es war billig und hatte viele Prozente. Und nach dem

vierten Glas störte der gräßliche Geschmack nicht mehr. Oder war es das fünft

gewesen? Oder da sechste?

Jonas wußte es nicht mehr. Er erinnerte sich auch nicht, wie er in diese

verlassene Gasse gekommen war. Irgendwann hatte die Bar wohl schließen müssen

und er war auf die Straße gesetzt worden und einfach seiner Nase gefolgt. Links

und rechts standen hohe Linden, dahinter befanden sich hinter hohen Mauern feine

Häuser. Vermutlich war er in einen Teil der Stadt gelangt, die für besser

gestellte Menschen reserviert war. Für reichere Menschen. Nicht für arme

Schlucker wie ihn, die kein Geld hatte. Keine Würde. Keine Familie...

Der junge Zeichner schluchzte leise auf, setzte automatisch einen Fuß vor den

anderen, bis er stolperte. Die Welt drehte sich immer schneller um ihn und hörte

selbst dann nicht auf, als er gegen den großen Stamm einer Linde prallte,

langsam vor ihr auf die Knie ging und den Kopf gegen das Holz lehnte. Stumm

starrte er auf den dunklen Matsch, in dem er saß, wunderte sich darüber, warum

er nicht weiter ging.

Aber, wohin sollte er schon gehen? Ihn wollte doch sowieso niemand. Und

Lisette... Sie besaß ihre eigene Familie. Es war unfair, sich in ihr Leben zu

mischen. Sie hatte doch schon so viel für ihn getan. Er durfte ihre Gutmütigkeit

nicht länger ausnutzen. Er mußte endlich auf eigenen Füßen stehen! Der junge

Student schloß seine Augen, das Gefühl des Karussells wurde immer übermächtiger.

Worauf sollte er denn stehen, wenn sie ihm schon vor Jahren den Boden entzogen

hatten!

Jonas wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Seine Beine fühlten sich an

wie Gummi und wollten ihn nicht tragen. So wie gestern, als ihn Raphael geküßt

hatte. Als er sich von ihm abgewandt hatte und geflüchtet war. Wie so viele

andere Menschen auch. Nun, sein Auftritt war wenigstens stilvoll gewesen.

Vor mir ist noch niemand in einem blauen Sportwagen davon gerannt...

>So sollte sich das nicht anfühlen...< hörte er noch immer die rauhe Stimme in

seinem Ohr. Warum nicht? War es falsch gewesen? Hatte es sich so schlecht

angefühlt? War er dem jungen Italiener nicht gut genug gewesen? Wie seinem

eigenen Vater?...

"Nein..." schluchzte Jonas, schlug mit der Faust in den Matsch, der zur Seite

spritzte, sein heißes Gesicht ein wenig abkühlte. Er hatte getrunken, um all

diesen Mist zu vergessen. Um wenigstens einige, wenige Stunden ohne Schmerz,

ohne diese quälenden Erinnerungen leben zu können. Ohne die ständige Angst vor

dem Leben. Er hatte wohl nicht genug getrunken.

Irgendwo quietschten Reifen und eine Autotür schlug zu. Jonas hörte nicht

darauf. Vermutlich kehrte gerade ein tüchtiger Geschäftsmann zu seiner auf ihn

wartenden Familie nach Hause. Ihn empfing niemand, wenn er in das Wohnheim

zurück ging. Nicht einmal ein Hamster. Denn nachdem der letzte Nager ihm an

Altersschwäche gestorben war, hatte er sich keinen neuen mehr gekauft. Solche

Tiere hatten einfach ein besseres Heim als sein chaotisches Atelier verdient und

er wollte kein weiteres geliebtes Haustier mehr beerdigen wollen.

Atelier! Daß ich nicht lache!

Seine Gedanken waren träge, aber er konnte sie dennoch nicht zum Schweigen

bringen. Das dreckige Fenster war viel zu klein und außerdem konnte er sowieso

nie bei Tageslicht zeichnen. Die Farben wirkten immer anders, wenn er alle

Lampen aufstellte. Aber, hatte er denn eine andere Wahl? Er mußte zeichnen,

sonst konnte er sich gleich umbringen. Denn, was blieb ihm denn noch, wenn er

keine Bilder mehr erstellen konnte? Ein Jurastudium, das er haßte! Eine Familie,

zu der er nie gehen könnte! Nie, ohne diese mitleidigen, diese argwöhnischen

Blicke zu sehen! Nie, ohne die leisen, hinterhältigen Stimmen hinter seinem

Rücken zu hören! Wenn er nicht mehr zeichnen konnte, blieb ihm nichts mehr. Und

diese Erkenntnis erschreckte ihn. Die Einsamkeit tat so furchtbar weh...

"Jonas?"

Er blinzelte, als er seinen Namen vernahm, hob langsam den dröhnenden Kopf,

kniff die Augen zusammen, als sein Blick zu verschwimmen drohte. Durch den

dichten Regen hindurch konnte er die Silhouette eines jungen Mannes erkennen,

die neben ihm stand, die Hände in die Hüften gestemmt hatte.

"Geh wesch!" lallte er, als er den südländischen Akzent in der Stimme erkannte.

Mit der linken Hand machte er eine vage Geste, daß der andere Student gehen

sollte. Er brauchte keine Zuschauer. Es war schon schwer genug, der andere mußte

ihn nicht auch noch auslachen, wie er so im Matsch hockte. Er brauchte kein

Mitleid!

"Jonny..." Raphael hockte sich neben den kleinen Jurastudenten, wunderte sich,

was dieser hier tat. Er legte eine Hand auf die bebende Schulter des jüngeren

Mannes, erkannte, daß dieser bis auf die Knochen durchnäßt war.

"Was machst du hier?" Der junge Zeichner hob ein wenig seinen Kopf und Raphael

konnte den Alkohol riechen.

"Du bist ja stockbesoffen." Erklärte er verwundert, denn er hatte Jonas nicht

für einen Trinker gehalten.

"Es war noch zu wenisch." Lallte dieser und Raphael sah die Tränen in den blauen

Augen. Das Gesicht des jungen Zeichners war naß, aber der junge Italiener ahnte,

daß es nicht nur Regentropfen waren.

"Komm', ich bring' dich nach Hause." Raphael ignorierte den Protest des kleinen

Jurastudenten und packte diesen unter die Arme, zog ihn auf die Beine. Die Hose

war voller Dreck, der langsam in die ausgetretenen Turnschuhe floß. Dann öffnete

er die Seitentür seines Wagens, schob Jonas auf den Sitz und schnallte ihn an.

"Laß' misch raus." Forderte der junge Zeichner, als sich der Wagen in Bewegung

setzte.

"Ach, und du glaubst, daß du den Weg nach Hause findest?" Raphael musterte den

kleinen Jurastudenten kurz skeptisch, richtete dann seinen Blick wieder auf die

Straße vor sich.

"Ich hab' kein Zuhause!" Jonas lehnte sich vor und nahm sein heißes Gesicht in

seine eiskalten Hände, stöhnte leise. Morgen würde er einen fürchterlichen Kater

haben. Und das alles umsonst. Nichts hatte er vergessen. Nicht eine einzige,

erniedrigende Kleinigkeit! "Ich will nicht zurück ins Wohnheim!" flüsterte er

und seine Stimme klang dumpf hinter den beinahe blauen Fingern. "Das letzte Mal

hab' ich zwei Bilder kaputt getreten und Jürgen hat nur gelacht."

"Und wo soll ich dich dann abliefern?"

"Irgendwo beim Park. Oder am Friedhof..." Jonas stöhnte auf, als der Wagen durch

ein Schlagloch fuhr. Die Kopfschmerzen kündigten sich an und er fragte sich, wie

stark sie wohl erst morgen sein würden.

Raphael verzog nur stumm sein Gesicht. Er hatte nicht vor, den kleinen

Jurastudenten bei diesem Wetter auf die Straße zu setzen. Dabei konnte er sich

doch den Tod holen! Eine Lungenentzündung würde bei seiner körperlichen

Verfassung tödlich sein! Der junge Italiener wußte, wovon er sprach. Schließlich

studierte er diese Fachrichtung und er hatte während seiner Praktikumszeit viele

ähnliche Fälle gesehen. Obdachlose, die das Wetter nicht ernst genug genommen

hatten. Ja, es war Frühsommer, aber die Nächte konnten noch immer sehr

ungemütlich sein.

"Isch mache dir doch alles naß!" murmelte schließlich Jonas nach einer Weile des

Schweigens, in der Raphael gewendet hatte und nun den Weg zurück fuhr. "Ich bin

doch so dreckig!"

"Dafür gibt es Waschstraßen." Sagte Raphael nur knapp, wunderte sich selbst,

warum er plötzlich so unsagbar wütend war.

***

Jonas blinzelte geblendet, als das Licht eingeschaltet wurde. Die Wohnung war

mit heller Farbe gestrichen und nach der Anzahl der Türen, die er erkennen

konnte, schien sie recht groß zu sein. Er schwankte und wäre beinahe

hingefallen, als er seine Schuhe auszog und mit nassen Socken über das

hellbraune Parkett wankte. Er hinterließ Pfützen auf dem Holz und einen großen

Fleck an der Wand, als er sich dagegen lehnte.

"Das ischt eine schöne Wohnung." Murmelte er, als er die großen Fenster des

Zimmers sah, in das der Flur mündete. Gemütlich war der Raum eingerichtet. Mit

einem flauschigen Teppich, einer Couchgarnitur, die in der Mitte stand und einer

Wand, die nur aus Glas zu bestehen schien und zu einem Balkon hinaus führte. Ja,

es war eine sehr schöne Wohnung, die wahrscheinlich auch sehr teuer war. Aber

irgendwie wirkte sie leer. So, als fehlte ihr ein wichtiges Möbelstück.

"Hast du hier keine Bilder?" fragte er, als er die Leere der Wände bemerkte. Bei

ihm selbst gab es kaum ein freies Stückchen Tapete mehr, überall hingen seine

Gemälde.

Aber ich habe auch nicht so saubere Wände...

Er seufzte, ließ seinen Kopf hängen und starrte auf seine durchweichten Socken.

Seine Füße waren mittlerweile so kalt geworden, daß er sie kaum noch spürte. Ein

Schauer jagte über seinen Rücken und er zog sich automatisch die Ärmeln der

völlig durchnäßten, ebenfalls eiskalten Jacke über die blaugefrorenen Hände.

"Verdammt, was hast du dort draußen gemacht!?" fuhr ihn Raphael an, der die

unbewußte Geste gesehen hatte und packte den kleinen Jurastudenten am

Kapuzenansatz.

"Mich besaufen." Flüsterte Jonas, sah kurz auf und musterte das ärgerliche

Gesicht des jungen Italieners mit fiebrig glänzenden Augen. "Aber es hat nicht

geholfen. Das tut es nie. Ich erinnere mich noch immer an all den ganzen

Scheiß..." schluchzte er, presste seine Fäuste gegen die breite Brust des

Medizinstudenten und senkte den Kopf. Die Tränen rannen nun ungehindert über

sein bleiches Gesicht und der Schmerz in ihm schien ihn zerreißen zu wollen.

"Ich halt' das einfach nicht mehr länger aus..."

Raphael blickte mit traurigem Gesichtsausdruck auf den zitternden Körper des

kleinen Jurastudenten herab, legte dann seine Arme um die bebenden Schultern und

drückte ihn sanft an sich. Er wußte, daß Jonas nie so offen zu ihm gewesen wäre,

wenn er sich nicht so betrunken hätte. Aber da er ihn im Moment nicht von ihn

stieß, wollte er ihn den Trost geben, den der junge Künstler so offensichtlich

brauchte.

Es dauerte lange, bis das Schluchzen abklang, die Tränen versiegten. Aber der

Schmerz würde nicht so leicht verschwinden.

Raphael, der Jonas noch immer fest in seinen Armen hielt, spürte erst jetzt, wie

kalt der junge Zeichner wirklich war, wie sehr er in der warmen Wohnung fror.

Vorsichtig umfaßte er das Kinn des kleinen Jurastudenten, zwang ihn, den Kopf zu

heben. Er sah in zwei fiebrig glänzende Augen, fühlte die Hitze, als er seine

Stirn gegen die seines Freundes lehnte.

"Du hast Fieber." Stellte er sachlich fest, löste die Umarmung und öffnete eine

der vielen Türen. Jonas lehnte sich wieder gegen die Wand und schloß die Augen.

Er hätte sich schämen sollen für seinen Gefühlsausbruch, aber er tat es nicht.

Er fühlte sich ganz einfach ausgelaugt und furchtbar elend. Warum sollte er sich

auch noch schämen? Er besaß doch sowieso keine Würde mehr! Er hatte sie nie

besessen!

Irgendwo hörte er Wasser rauschen. Oder war es der Regen? Er wußte es nicht.

Wenn jemand ihm erzählt hätte, daß es der hauseigene Wasserfall war, so hätte er

das auch geglaubt. Im Moment war ihm alles seltsam egal, seine Gedanken so

wunderbar vernebelt. Aber nicht vernebelt genug!

"Komm!" Raphael ergriff seine Hand und zog ihn in ein Badezimmer, das doppelt so

groß war wie sein Wohnheimloch. Es war mit weißen Kacheln ausgelegt und weicher

Teppich vertrieb die Kälte des Marmors. Riesige Spiegel bedeckten die eine Seite

über mehreren Waschbecken, Fenster bildeten die andere Seitenfront. Die

Jalousien waren heruntergelassen worden, aber Jonas hörte noch immer den Regen,

der gegen die Scheiben prasselte. An einer anderen Wand stand eine Badewanne,

die größer als sein Bett war. Heißes Wasser lief gerade hinein und es dampfte.

Wie viel Wände hat dieses Zimmer eigentlich?

Jonas stolperte, als sich die Welt noch schneller zu drehen begann. Raphael war

sofort neben ihm, hielt ihn fest.

"Such' dir das nächste Mal wenigstens schönes Wetter für dein Saufgelage aus!"

forderte er ihn auf, öffnete den Reißverschluß der klatschnassen Jacke. Jonas

fischte aus einer Innentasche einen Scheck hervor, der wie gewaschen aussah,

hielt ihn dem angehenden Mediziner unter die Nase.

"Mein Vater hat sich nie darum gekümmert, ob schönes Wetter war oder nicht."

Meinte er, setzte sich auf den breiten Rand der Badewanne, weil seine Beine ihm

schlicht den Dienst versagten.

"Dein Gehaltsscheck?" fragte Raphael, als er die niedrige Summe auf dem Papier

las. Jonas schüttelte nur den Kopf und bereute diese Geste sofort, als das

Karussell einen Zahn zulegte.

"Nein, Schweigegeld." Er sah kurz in fragende, haselnußbraune Augen, senkte dann

seinen Blick und starrte auf den flauschigen Teppich. "Mein Vater war

verheiratet und Vater dreier Kinder, als er meine Mutter kennenlernte.

Vielleicht haben sie sich geliebt, vielleicht war es auch nur eine günstige

Gelegenheit. Jedenfalls entstand ich dabei. Eigentlich wäre das ja nicht weiter

wild gewesen. Mein Vater kam meine Mutter regelmäßig besuchen und kümmerte sich

auch um mich, bis sie schwer erkrankte und schließlich starb. Ich war damals

vier Jahre und da meine Mutter keine Familie mehr besessen hatte, mußte mich

mein Vater aufnehmen. Damit kam das ganze Verhältnis heraus und seine Frau

machte ihm die Hölle heiß. Natürlich wollte sie mich Bastart nicht in ihren

eigenen vier Wänden dulden, aber sie hatte keine andere Wahl. Ich bekam irgend

ein kleines Zimmer und kaum daß ich alt genug war, wurde ich weit weg auf ein

Internat geschickt. Genauso wie die anderen Kinder auch. Nur, daß ich die

fernste Universität nehmen und möglichst nie wieder heimkehren sollte." Jonas

seufzte leise, setzte die Brille ab und legte sie neben sich auf den Wannenrand.

"Zum fünfzigsten Geburtstag meines Vaters hab' ich dieses ungeschriebene Gesetz

gebrochen. Ich war damals dreizehn und dachte wohl, daß man mir verzeihen

könnte, daß ich ein Bastart war." Er zuckte leicht seine schmalen Schultern, die

hingen. "Vielleicht kannte ich die Bedeutung dieses Wortes noch nicht richtig,

aber die gesamte Verwandtschaft zeigte mir, welche Schande ich sei und daß ich

nie in diese Familie gehören würde." Jonas Stimme brach und er rang nach Luft.

"Die einzige, die anders war, war Lisette. Sie ist die älteste und einzige

Tochter meines Vaters und machte sich aus all dem Gerede nichts. Sie behandelte

mich wie einen richtigen Bruder und wenn es Probleme gibt, darf ich sie

besuchen. Sie hat immer für mich Zeit." Der junge Zeichner faltete seine Hände,

sah noch immer nicht auf.

"Sie ist der einzige Mensch, zu dem ich noch Kontakt habe. Mein Vater schickt

mir jedes viertel Jahr diesen Scheck, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen."

Jonas lachte kurz auf, es klang unendlich traurig. "Es reicht nicht einmal mehr

für das Wohnheim. Wenn ich nicht nebenbei jobben würde, könnte ich mir nicht

einmal einen Hamburger leisten." Er biß die Lippen aufeinander und sein Blick

wurde zornig. "Aber ich werde mich nicht bei meinem Vater melden, um nach mehr

zu betteln. Ich brauch' kein Blutgeld von ihm. Er gibt es mir doch nur, damit

ich ruhig bin. Das bin ich auch so. Denn, was will ich schon von einem Mann, der

mir nicht einmal eine Geburtstagskarte schickt oder sich erkundigt, ob es mir

noch gut geht?!" Jonas schluckte hart, aber er hatte keine Tränen mehr. "Wenn

ich sterben würde, würde er vielleicht durch Lisette von meinem Tod erfahren.

Aber er würde nicht zu meiner Beerdigung kommen. Nein, sie würden feiern. Diese

ganze verfluchte Familie wäre doch nur froh, daß ihr Schandfleck endlich

beseitigt wäre!"

"So darfst du nicht reden." Raphael, der ihm schweigend zugehört hatte, hockte

sich vor ihn und zog ihm die Strümpfe aus. Sie waren so naß, daß er den Teppich

unter Wasser gesetzt hätte, hätte er sie ausgewrungen.

"Ach, und wie soll ich dann reden? Soll ich fröhlich vor mich her lachen, obwohl

mir zum heulen zumute ist? Weil ich dieses verdammte Studium mache, das mich

ankotzt? Weil ich Bilder zeichne, die sowieso niemand sehen will? Die niemand

verstehen kann?" Jonas sah noch immer nicht auf, aber er ließ zu, daß der junge

Italiener ihm die nasse Jacke und das durchweichte T-Shirt auszog.

"Wenn dir dein Leben wirklich so schlecht erscheint, dann ändere es doch."

"Das kannst du so einfach sagen! Du schwimmst geradezu im Geld, wenn ich schon

allein dieses Bad sehe! Da ist das einfach, sein Leben umzukrempeln, weil man

sich keine Gedanken darum machen muß, woher man die nächsten Mahlzeit nehmen

soll! Wo man die nächste Nacht verbringen soll. Denn unter Brücken will ich

nicht schlafen."

"Das sah vorhin aber ganz anders aus, wo du da im Schlamm gehockt hast."

Erwiderte Raphael mit leicht zynischer Stimme und öffnete den Gürtel, um dem

kleinen Jurastudenten aus der völlig mit Dreck verschmierten Hose zu helfen.

"Auch siehst du viel zu dürr aus, als daß du dir große Gedanken um dein Essen

machen würdest."

"Die Ölfarben sind teuer und da muß ich mich eben manchmal entscheiden, was mir

wichtiger ist." Erklärte Jonas und riß die Augen auf, als er langsam erkannte,

daß er halb nackt auf dem Wannenrand hockte und der junge Italiener ihn langsam

entkleidete. Seine Hand schnellte vor und packte die sonnengebräunte.

"Was tust du da?" fragte er und leichte Panik schlich sich in seinen Blick, als

er endlich aufsah.

"Dich in die Badewanne stecken. Du wirst dir sonst noch eine richtige Grippe

holen." Raphael musterte kurz Jonas Gesicht, das mit einem Schlag tief rot

anlief.

"Das kann ich allein." Wehrte er ab und der junge Italiener erhob sich, drehte

ihm den Rücken zu und öffnete einen kleinen Schrank, der aus hellbraunem

Bambusholz zu bestehen schien.

"Du meinst, ohne irgendwo dagegen zu prallen und hinzufallen?"

Jonas verzog nur ärgerlich das Gesicht, schlüpfte aus seiner Hose und der

Unterwäsche und stieg in die Badewanne. Der Ärger wich aus seinen Gesichtszügen,

während er die Wärme genoß, die in seine kalten Glieder zurück kehrte.

"Was kann ich dafür, daß der Baum sich mir mitten in den Weg gestellt hat?"

murmelte er mit einem unscheinbaren Lächeln auf dem Gesicht und rutschte tiefer

in die Wanne, bis nur noch sein Kopf aus dem Wasser herausschaute. Das Karussell

verringerte das Tempo ein wenig und eine seltsame Trägheit ergriff von seinem

Körper Besitz.

"Kommst du allein zurecht?" hörte er irgendwo neben sich die rauhe Stimme mit

dem südländischen Akzent. Müde öffnete er die Augen und blinzelte.

"Ja, ich bin doch kein kleines Kind mehr." Meinte er, aber er war zu erschöpft,

um noch empört zu klingen.

"Ja, aber betrunken. Das ist fast dasselbe." Raphael strich sich die

widerspenstige Strähne hinter die Ohren, legte dunklen Stoff auf einen Stuhl

neben die Badewanne. "Das sind trockene Anziehsachen und Handtücher. Ich bin in

der Küche und schau' mal, ob ich..."

"Kein Essen!" flehte Jonas und schloß wieder seine Augen. Ihm war noch immer so

furchtbar schlecht und es hob ihn bei dem Gedanken an fettige Pommes oder süße

Milkshakes, die er jeden Tag an hungrige Kunden verteilen durfte.

"Vielleicht Tee?" Als der kleine Jurastudent nickte, betrachtete Raphael ihn

eine Weile schweigend. Dann verließ er das Bad.

"Kamille?" Jonas runzelte seine Stirn, als er sich konzentrierte, aber er konnte

das Schild nicht lesen. "In einem Beutel?" Er saß auf dem weißen Sofa, das so

wunderbar weich war und hielt einen Becher in der Hand, der dampfte. Eine warme

Decke lag um seine Schultern und er hatte die Beine gekreuzt, so daß er da saß,

wie ein tibetischer Mönch. Der dunkle Pyjama, den er trug, war ihm viel zu groß,

vermutlich gehörte er dem jungen Italiener. Aber er war trocken. Das war die

Hauptsache.

"Ich hab' nie behauptet, daß ich kochen könnte." Raphael stellte den Zucker auf

den gläsernen Tisch, nahm neben dem kleinen Jurastudenten Platz.

"Lisette hat es mir beigebracht. Aber auf der Kochplatte sind meine

Möglichkeiten begrenzt." Jonas sah in seinen Tee und wieder erschien der

traurige Ausdruck auf seinem Gesicht. "Lisette ist wunderbar. Sie ist immer da,

wenn ich sie brauche. Oben an der See hat sie sich ihren Traum erfüllt und einen

Pferdehof eröffnet. Mit den Viechern kann sie gut umgehen und ich besuche sie

gern. Die Tiere sind gerechter als Menschen. Und treuer." Er trank einen Schluck

und verbrannte sich prompt die Zunge. "Manchmal würde ich gern zu ihr gehen und

sie fragen, ob ich nicht für immer dort bleiben könnte. Sie würde bestimmt nicht

nein sagen, denn sie kann jede helfende Hand gebrauchen. Aber es wäre nicht

fair. Lisette hat ihre eigene Familie: Einen liebevollen Mann und eine stressige

Tochter von gerade zwei Jahren. Es ist ihr gegenüber nicht fair, wenn ich

einfach so auftauche und ihr ganzes Leben durcheinander wirbele." Jonas seufzte,

stellte die Tasse auf den Glastisch und faltete die Hände in seinem Schoß. "Es

ist gut zu wissen, daß ich immer zu ihr kommen kann, wenn ich Probleme habe,

aber ich gehöre nicht zu ihrer Familie."

Raphael rückte dichter an ihn heran und legte seine Hand tröstend auf das

Geflecht der noch immer eiskalten Finger des jungen Zeichners. Eine Weile saßen

sie so schweigend da, bis Jonas schließlich die unheimliche Stille unterbrach.

"Das wegen gestern tut mir leid. Du warst so nett zu mir und ich mußte dich

wegen meines unmöglichen Verhaltens in die Flucht schlagen."

Was rede ich da? Man, ich muß wirklich stockbesoffen sein!

Raphael hob erstaunt seinen Kopf, musterte den kleinen Jurastudenten erstaunt,

der mit einem Schlag errötete.

"Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Das hab' ich noch nie gemacht."

Es schien das Schwerste zu sein, was er je gemacht hatte, als er schließlich

aufsah und in zwei haselnußbraune Augen blickte. Aber er sah nicht mehr die

Ernüchterung in ihnen, die Fassungslosigkeit. Nun wirkten sie vielmehr sanft und

wieder so unendlich tief wie gestern, als er in Eile in das Studierzimmer des

Lateinkurses gestürmt war.

"Hey, du scheinst vergessen zu haben, daß ich derjenige gewesen bin, der dich

geküßt hat." Versuchte Raphael zu scherzen, aber seine Stimme klang noch rauher

als sonst, der Akzent noch ausgeprägter.

"Aber du meintest, es habe sich falsch angefühlt..." stotterte Jonas und wurde

noch roter im Gesicht. Die Welt drehte sich wieder schneller um ihn, aber er

konnte den Blick nicht von den haselnußbraunen Augen wenden, die so tief waren

wie das Meer.

"Nicht falsch..." flüsterte Raphael, beugte sich leicht vor und nahm die

silberne Brille von Jonas Nase. Der kleine Jurastudent starrte ihn verträumt an.

Was tust du hier? Hast du nichts aus all den schmerzvollen Jahren gelernt?

Raphael ignorierte die warnende Stimme in seinem Inneren. Vergessen waren die

Studenten, die ihn so haßerfüllt angebrüllt, die ihn verprügelt und schließlich

von so vielen Universitäten verstoßen hatten. Vergessen waren die mitleidigen,

angeekelten Blicke seiner Familie. Vergessen war sein Schwur, nur noch an seinen

Traum zu denken und jegliches Gefühl tief in seinem Herzen zu verschließen.

Vergessen war all die Verzweiflung. Alles, was noch für ihn existierte, war der

kleine Student, der neben ihm saß, ihn so vertrauensvoll ansah. Der nicht vor

ihm zurück zuckte.

"Nicht falsch, sondern richtig. Und das hat mich ein wenig erschreckt." gab er

leise zu, legte sanft seine Lippen auf die des jungen Zeichners.

Warum laß' ich das zu?

Jonas löste den Knoten seiner Finger und schlang seine Arme um die Schultern des

jungen Italieners und zog ihn zu sich herab, so daß dieser halb auf ihm lag. Er

schloß seine Augen und ließ sich treiben, genoß einfach das Gefühl der

Geborgenheit und des Trostes, nach dem er sich sein ganzes Leben lang sehnte.

Das Gefühl der Liebe...

Warum... Ist das denn so wichtig?

Lange lagen sie so auf dem weichen Sofa und taten nichts weiter, als sich zu

küssen. Die Zeit schien für sie stehen geblieben zu sein. Die kalte Welt

außerhalb dieser Wohnung existierte nicht mehr. Sie hörten weder den Regen, der

gegen die großen Terassenfenster prasselte, noch das Geräusch der wenigen Autos,

die vor dem Haus auf der Straße vorbeifuhren. Alles wurde unwichtig, jegliche

Probleme verschwanden aus ihren Gedanken. Alles, was noch zählte, waren sie. Und

die Gefühle, die sie füreinander empfanden.

Jonas riß seine Augen auf, als er die warme Hand spürte, die sanft unter den

Pyjama kroch und zärtlich seinen Oberkörper streichelte. Er sah in zwei

haselnußbraune Augen, die ihn fragend musterten. Angst wuchs in ihm, aber sie

wurde von den vom Alkohol vernebelten Gedanken unterdrückt.

"Sei sanft. Ich..." Raphael unterbrach das leise Gestammel seines kleinen

Freundes mit einem entschiedenen Kuß, die Hand verschwand beinahe sofort.

Es dauerte eine Weile bis sich der Italiener von dem jungen Zeichner löste und

atemlos auf ihn herab blickte.

"Keine Bange, so eilig hab' ich's nicht." Flüsterte er, rückte ein Stück von

Jonas ab, der ihn noch immer so verträumt anstarrte, und versuchte, seine

aufgebrachten Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen.

"Du gehörst mit einem Hustenmittel ins Bett." Erklärte Raphael schließlich

entschieden und stand auf. "Sonst hast du morgen neben einem Kater auch noch

eine handfeste Erkältung." Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Jonas lehnte seinen Kopf gegen die Lehne des weichen Sofas, seufzte leise.

Was immer ich hier mache, es fühlt sich richtig an.

Leicht runzelte er die Stirn, fragte sich, wo der warnende Ton seiner inneren

Stimme geblieben war.

"Achtunddreizig Grad. Das ist mehr als erhöhte Temperatur." Raphael musterte

erst das Fieberthermometer, dann den kleinen Jurastudenten skeptisch, der auf

dem großen Bett unter kugeligen Decken lag.

"Sonst hätte ich das Zeug auch nie getrunken." Meinte dieser schläfrig,

lächelte.

"Wieso? Es hatte immerhin Alkoholzusatz. Es muß dir doch geradezu geschmeckt

haben." Der junge Italiener legte das Thermometer beiseite, grinste, als er das

unterdrückte Stöhnen des jungen Zeichners hörte.

"Erinnere mich bloß nicht an den wundervollen Kater, der mir noch bevor steht."

Flüsterte Jonas, glitt allmählich in den Schlaf über. Es war so wunderschön warm

hier und das erste Mal, seit er den offenen Haß seiner angeblichen

Verwandtschaft gespürt hatte, fühlte er sich richtig geborgen.

Wenn mir nur nicht so schlecht wäre...

Der Gedanke verflüchtigte sich und mit ihm jegliches andere Gefühl, als der

Schlaf ihn übermannte und mit sich nahm in eine friedvoller Welt. In eine

freiere...

Raphael löschte das Licht, blieb einige Augenblicke zögernd neben der

schlafenden Gestalt des Freundes sitzen. Eigentlich sollte ich in mein eigenes

Schlafzimmer gehen.

Er hatte Jonas in das Gästezimmer einquartiert, das er für seinen älteren Bruder

hergerichtet hatte. Der einzige Mensch seiner Familie, der ihn noch anschauen

konnte, ohne daß er sich gleich schlecht fühlte. Der einzige Mensch überhaupt,

der ihn zu verstehen schien. Zumindest ein wenig. Und wenn er es nicht tat, so

hatte er es akzeptiert, daß sein kleiner Bruder anders war.

Ja, Julian konnte ihm noch die Hand reichen, ohne anschließend ins Bad zu

stürzen, um sich die Hände zu waschen...

Eigentlich sollte ich... Ach, was soll's!

Raphael seufzte leise, dann schlüpfte er unter die Decke und nahm den kleinen

Jurastudenten vorsichtig in seine Arme. Jonas, der bereits tief und fest

schlief, kuschelte sich an ihn, ein Lächeln erschien auf dem sonst so traurigen

Gesicht.

"Gute Nacht, Kleiner."

Raphael flüsterte zärtlich noch einige italienische Worte, die der jüngere Mann

sowieso nicht verstanden hätte.

Sie klangen fast wie eine Liebeserklärung.

***

Es dämmerte, als Jonas erwachte. Leise stöhnte er, faßte sich an den

schmerzenden Kopf. Wenn er nicht bald ein Aspirin bekam, würde der Kater kaum

aushaltbar sein. Wieviel Gläser von dem ekeligen Zeug hatte er sich eigentlich

rein gequält? Der junge Zeichner wußte es nicht. Er hatte den Scheck seines

Vaters erhalten und war in die übliche Kneipe gegangen, um sich zu betrinken. Um

all diesen Mist zu vergessen. Aber es schien nicht geklappt zu haben, denn er

erinnerte sich nur allzu gut daran, daß er ein Bastart war, seine leibliche

Familie nichts von ihm wissen wollte.

Und was dann? Was war dann passiert? Es hatte geregnet und es war kalt gewesen.

War er wieder in sein Wohnheim zurückgekehrt? Hatte sein Körper auch ohne

geistigen Beistand des Kopfes den Weg gefunden? Hatte er wieder eines seiner

Bilder zertreten und die Hälfte der Ölfarben verschüttet?

Jonas wollte seine Augen nicht öffnen, um das ganze Elend zu sehen. Lieber

wollte er hier liegen bleiben für den Rest seines Lebens. Einfach liegen bleiben

und von der Außenwelt vergessen werden. Um irgendwann vom Tod erlöst werden.

Jonas öffnete sie dennoch und erstarrte.

Das ist nicht mein Zimmer!

Die Matratze war viel zu bequem, die wenigen Umrisse, die er im fahlen Licht des

neuen Tages erkennen konnte, wiesen auf ein wesentlich größeres Zimmer hin.

Außerdem roch es nicht nach Ölfarben. Nein, es roch vielmehr nach frischer

Tapete. Der junge Zeichner war sich sicher, daß sein Wohnheimloch seit

Jahrzehnten keine Maler mehr gesehen hatte.

Wo bin ich?

Sein Kopf wollte explodieren, als er sich aufrichtete und einige Augenblicke wie

versteinert am Bettrand hocken blieb. Seine Beine versagten ihm den Dienst, die

ganze Welt drehte sich um ihn, als ob er in einer Achterbahn säße. Er sah an

sich herab und stellte fest, daß er nur Unterhosen trug. Es waren nicht einmal

seine eigenen.

Man, ich muß wirklich besoffen gewesen sein.

Der Restalkohol in seinem Blut bewirkte, daß er nicht sofort aufsprang und

fortlief. Wo war seine Kleidung? Leicht hob er seinen Kopf, stöhnte erneut auf.

In wessen Wohnung befand er sich? Wie war er hier her gelangt?

Du wolltest doch immer vergessen!

Ja, dieses Mal war es ihm wirklich gelungen. Zwar konnte er nicht die grausamen

Bilder seiner Verwandtschaft aus den Gedanken vertreiben, dafür fehlte die

letzte Nacht völlig. Und Jonas wurde das Gefühl nicht los, daß das nicht so gut

war.

Was zum Teufel...

Er riß seine Augen auf, als er die Gestalt erkannte, die auf der anderen Seite

des Bettes lag und tief schlief. Das gleichmäßige Atmen war unter dem lauten

Geräusch der Regentropfen, die an die Fensterscheiben prasselten, zuerst

untergegangen. Nun aber hörte es der junge Zeichner überdeutlich. Einige Momente

saß er einfach nur da und starrte den jungen Italiener voller Entsetzen an.

Was hab' ich getan?

Jeglicher Gedanke verschwand aus seinem ohnehin noch stark vernebelten Gehirn,

als er sich schleppend erhob und möglichst leise das Zimmer verließ. Seine

Kleidung fand er in einem luxuriös ausgestatteten Badezimmer. Sie hingen über

dem Badewannenrand und fühlten sich noch ein wenig feucht an. Rasch zog er sie

über und ergriff die dunkle Jacke, die im Flur an einer Garderobe hing. Sie war

trocken und wunderbar warm. Aus irgendeinem Grund fror es Jonas mit einem Mal

fürchterlich. Schweigend musterte er den Flur, aber er erkannte ihn nicht

wieder. Schließlich seufzte er, warf einen letzten Blick auf die nun

verschlossene Tür und verließ geräuschlos die Wohnung.

Im Treppenhaus war es angenehm dunkel. Der junge Zeichner stolperte die Stufen

herab, aber er würde kein Licht anzünden. Keiner der Nachbarn sollte sehen, wie

er am frühen Morgen aus dem Zimmer eines Fremden floh.

Raphael ist kein Fremder...

Jonas stieß mit aller Kraft die Eingangstür auf und trat hinaus in die kalte

Dämmerung. Harter Regen trommelte auf ihn herab, aber er stülpte die Kapuze

nicht über. Die Nässe tat so gut auf seinem heißen Gesicht, brachte ein wenig

Leben in den Körper, der nicht mehr ihm zu gehören schien. Automatisch setzte er

einen Fuß vor den anderen, aber er bemerkte es nicht einmal. Die Allee war von

mächtigen Eichen bewacht. Dahinter konnte er im Morgengrauen schmucke Häuser

ausmachen. Hier wohnten nur reiche und glückliche Menschen. Nicht solch

armselige Gestalten wie er.

Der junge Zeichner schwankte den Fußweg entlang, versuchte, jeglichen Gedanken

aus seinem schmerzenden Kopf zu verbannen. Es gelang ihm nur zum Teil.

Was ist letzte Nacht nur geschehen?

Er wußte es nicht. Die letzten Stunden waren aus seinem Gedächtnis verschwunden.

Es existierte nur noch ein großes Loch in seinem vernebelten Gehirn. Nur noch

eine riesige, graue Leere.

Was hab' ich letzte Nacht gemacht, um in einem fremden Bett aufzuwachen?

Jonas hatte einen kleinen Park erreicht. Er ging hinter einem Strauch in die

Knie und würgte. Er wollte den schlechten Geschmack in seinem Mund loswerden und

die Bauchschmerzen heraus brechen. Aber sein Körper erzitterte nur, gab sonst

nichts her.

Eine Weile blieb der junge Zeichner hocken, wandte sein Gesicht dem Himmel zu

und ließ die Regentropfen auf sich fallen. Sie wirkten wie Tränen der dichten

Wolken, die gemächlich über ihn dahin zogen. Seine bebenden Hände durchsuchten

die Taschen seiner Jeans und förderten einen zerknitterten Geldschein zu tage.

Er besaß ihn schon seit vielen Jahren und hatte ihn für Notfälle aufgehoben.

Dieser Schein verkörperte seine letzte Hoffnung, sollte er sein Studium aufgeben

müssen. Sollte er es in dieser kalten Stadt nicht mehr aushalten können. Dieser

Geldschein reichte für ein Ticket, um sich Rat bei dem einzigen Menschen zu

holen, dem er vertraute. Der ihn wirklich liebte. Der ihn vor einer großen

Dummheit bewahrte.

Jonas stöhnte, die Kopfschmerzen trieben ihn zum Wahnsinn. Langsam erhob er

sich, stützte sich an einem nahen Baum ab und wankte schließlich davon.

Ja, der Schein würde für ein Ticket reichen.

Und wenn er Glück hatte auch für ein Aspirin.

Als der Zug den Bahnhof verließ, lehnte sich Jonas zurück, nahm die silberne

Brille in die rechte Hand, schloß die Augen. Die aufgehende Sonne blendete ihn

und holte die Kopfschmerzen zurück, die die Tablette so wunderschön unterdrücken

konnte.

Eigentlich hätte er froh sein sollen, endlich diese grausame Stadt zu verlassen.

Es würde nicht für immer sein, das wußte er. Denn seine Bilder befanden sich

noch in dem Wohnheim. Ohne sie würde er nirgendwo hin gehen. Wo immer es ihn

auch einmal hinziehen würde, er würde sie mitnehmen. Waren sie doch sein ganzer

Lebenszweck.

Eine halbe Stunde hatte er in dem Abteil gesessen und angstvoll auf die

Wartehalle hinaus geschaut. Aber Raphael war nicht aufgetaucht, wie er das

befürchtet hatte. Warum hätte der junge Italiener auch herkommen sollen? Er

hatte doch schließlich gehabt, was er wollte. Jonas hatte noch nie in einem

kitschigen Buch oder einem schnulzigen Film gesehen, daß Machos ihren

One-Night-Stands hinterher liefen.

Woher soll er wissen, daß du weg fährst? Und wohin?

Der junge Zeichner bedeckte sein totenbleiches Gesicht mit seinen eiskalten

Händen, holte tief Luft.

Ja, er hätte froh sein sollen.

Aber er war es nicht.

***

"Montag morgen um neun und die Woche nimmt kein Ende!" Eine junge Studentin nahm

entschieden ihre langen, blonden Haare im Nacken mit einem Band zusammen, zuckte

mit den Schultern. Ihre Freundin schulterte ihren Rucksack stärker, lachte hell

auf.

"Du alter Pessimist. Schau', die Sonne lacht so schön nach all dem Regen am

Wochenende! Du solltest dich darüber freuen."

"Amen, Mutter Theresa!"

Lachend eilten die beiden den düsteren Gang der Universität entlang, bemerkten

nicht die Gestalt eines jungen Mannes, der vor einem der vielen Studienräume

stand und zu warten schien. Die Glocke läutete, viele Studenten eilten quer

durch das Gebäude, Türen schlugen und plötzliche Stille kehrte ein. Der junge

Mann löste sich aus seiner Starre, wollte gerade die Universität verlassen, als

er die eiligen Schritte hinter sich hörte.

"Verdammt, der Prof wird mich umbringen! Dabei sind Anwälte im wirklichen Leben

auch nicht immer überpünktlich!" fluchte ein Student, strich sich nervös durch

die dunkelbraunen Haare, räusperte sich und öffnete schließlich mit

übermenschlichen Mut die Tür.

Der junge Mann, der eben noch erwartungsvoll gewirkt hatte, ließ die Schultern

hängen, trat schließlich hinaus auf die Treppe. Die Sonne strahlte mit all ihrer

Macht vom Himmel herab und automatisch setzte der junge Italiener seine

Sonnenbrille auf.

Er ist nicht gekommen.

Raphael zog die dunkle Stoffjacke aus, warf sie auf die Rücksitze seines Autos,

während er einstieg. Laut heulte der Motor auf, als er davonfuhr. Der

Strafzettel wurde vom Fahrtwind ergriffen, landete irgendwo auf der Straße und

wurde von dem nächsten Wagen überrollt.

Hast du etwas anderes erwartet?

Der junge Italiener runzelte leicht seine Stirn, schaltete das Radio ein. Aber

die Stimme des bereits verstorbenen Sängers ödete ihn plötzlich nur noch an.

>Friends will be friends...<

Raphael drehte das Radio genervt aus, fuhr über die nächste rote Ampel und

ignorierte das empörte Hupen der bremsenden Autos um ihn herum mit einem bösen

Grinsen auf dem sonnengebräunten Gesicht.

Er war allein aufgewacht. Im ersten Moment hatte er aufspringen wollen und

nachsehen, ob mit dem kleinen Jurastudenten alles in Ordnung war, aber dann

hatte er gewußt, daß Jonas gegangen war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen. Seine

Sachen hatte er aus dem Bad mitgenommen und blieb verschwunden. Er ging nicht

ans Telefon. Auch Jürgen konnte ihm nicht weiterhelfen. Der Informatikstudent

hatte nur gemeint, daß Jonas ab und an im Jahr für eine Woche verschwand und

dann einfach so wieder auftauchte, ohne auch nur einem Menschen zu erzählen, wo

er gewesen war.

Raphael könnte es sich genauso leicht machen. Einfach warten, bis der kleine

Jurastudent wieder zurück kehrte.

Aber das wollte er nicht. Insgeheim hatte der junge Italiener ja gehofft, daß

Jonas zu seinen Juraseminaren auftauchte, aber auch in der Universität ließ er

sich nicht blicken.

Machst du dir etwa Sorgen?

Ja!

Der junge Medizinstudent sah kurz zu den grauen Blöcken auf, parkte dann sein

Auto und ging mit entschlossenen Schritte zu den Eingang hin, den er am

Donnerstag abend so zögernd betreten hatte. Mit einem Buch in der Hand, das er

schon längst kannte. Er war sich selbst ein wenig dumm vorgekommen. Er, der der

beste seines Studienganges gewesen war - auch in Latein, suchte Hilfe bei einem

anderen Studenten. Aber, wäre er sonst näher an den jungen Zeichner

herangekommen? Hätte ihn Jonas überhaupt beachtet? Wären sie je Freunde

geworden?

Wäre er dann fortgelaufen?

Raphael fluchte unterdrückt, holte ein kleines Schlüsselbund hervor und betrat

den übel riechenden Hausflur. Es steckte Post in Jonas' Briefkasten. Die Werbung

vom Wochenende und andere Briefe. Also war er nicht hier gewesen. Wo konnte er

dann sein? Ein junger Mann verschwand doch nicht einfach so vom Erdboden!

Jürgen kennt ihn seit zwei Jahren und er weiß auch nichts. Jonas wollte nicht,

daß jemand seinen geheimen Zufluchtsort weiß.

Der junge Italiener sah sich kurz um und als er sich vergewissert hatte, daß ihn

niemand sah, huschte er in das kleine Zimmer des jungen Zeichners. Jonas schien

die Wohnung ziemlich rasch verlassen zu haben, denn anstelle seiner Jacke nahm

er die des Medizinstudenten mit. In der dunklen Stoffjacke fand Raphael den

Schlüssel sowie das Portemonnaie.

Er hat nicht einmal etwas Geld bei sich...

Raphael sah sich in dem kleinen Raum um, der noch genauso unordentlich wirkte

wie an dem Abend, da er hier gewesen war. Aber das Bild der alten Frau war

beendet. Es stand unverhüllt an der freien Wand hinter den Ölfarben neben

anderen Gemälden.

Was erwarte ich, hier zu finden?

Raphael legte die Briefe ungeöffnet auf den altersschwachen Kühlschrank, trat zu

dem ungemachten Bett hinüber und nahm behutsam den großen Zeichenblock in die

Hände. Unzählige Bleistifte verschiedener Größe und Stärke lagen verstreut auf

der zerwühlten Decke und es knackte, als sich der junge Italiener auf die

vollkommen durchgelegene Matratze setzte. Sorgfältig öffnete er den Block und

sah eine junge Frau Anfang dreißig, die ihn fröhlich anzulachen schien. Sie

hatte ihr langes, blondes Haar zu einem energischen Zopf zusammengebunden, trug

enge Hosen und ein kariertes Holzfällerhemd. In ihren Händen hielt sie Zügel und

ein schwarzes Pferd hatte seinen Kopf auf ihre rechte Schulter gelegt, blies mit

seinen Nüstern gegen die wenigen Strähnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst

hatten. Sie wirkte so glücklich, so voller Lebensfreude. Und sie besaß dieselben

Augen wie Jonas.

"Lisette." Flüsterte Raphael, der plötzlich wußte, um wem es sich bei dem Bild

handelte. Genauso hatte sie der junge Zeichner auch beschrieben. So voller Liebe

und Verständnis für einen Bastart. Sie war der Mensch, an den sich Jonas wenden

konnte, wenn es ihm wirklich dreckig ging. Aber der kleine Jurastudent wollte

sich nicht all zu sehr in ihr Leben mischen, denn es war nicht seine Familie,

wie er behauptete.

Ich kann dich gut verstehen.

Raphael blätterte vorsichtig um und erstarrte mitten in der Bewegung. Der junge

Mann, der ihm nachdenklich entgegen starrte, war niemand anderes als er selbst.

Licht fiel durch ein Fenster, das nicht gezeichnet worden war, und spiegelte

sich in seinen dunklen Augen. Etwas Geheimnisvolles schwang in seinem Blick, den

niemand recht deuten konnte, der ihn nicht richtig kannte. Raphael hob

überrascht seine Augenbraue, schob die Sonnenbrille langsam von der Nase. Er

kannte diesen Blick. Er drückte Traurigkeit und Sehnsucht aus.

Wie hat er das sehen können?

Jonas war wirklich ein ausgezeichneter Betrachter.

Aber er hat mich doch nicht lange genug beobachten können!

Er dachte an die wenigen Momente, die sie sich angesehen hatten, als der kleine

Jurastudent zu spät in das Lateinseminar gestürzt war. Diese wenigen Augenblicke

schienen gereicht zu haben, denn das Bild konnte nicht sehr alt sein. Vermutlich

hatte es Jonas am Freitag gemalt. Nach ihrem Kuß...

Raphael musterte sein Ebenbild, sah die widerspenstige Strähne, die ihm auch

jetzt in sein Gesicht fiel. Aber auf dem Papier hatte er sie nicht hinter seine

Ohren gestrichen, wie er das immer tat. Eine fremde Hand fuhr durch sein

schwarzes Haar, das offen auf seine Schultern fiel. Erst jetzt fiel dem jungen

Italiener der junge Mann auf, der im offenem Sonnenlicht hinter ihm stand. Die

blauen Augen leuchteten, ein Lächeln erhellte das sonst so verschlossene,

bleiche Gesicht.

Wieso hat er das getan?

Jonas hatte sich selbst in das Bild gezeichnet. Wie anders er darauf wirkte! So

unbeschwert. So glücklich. So frei. Fast konnte Raphael das Lachen des kleinen

Jurastudenten hören. Das Lachen, das er bereits jetzt so sehr mochte und das er

schrecklich vermissen würde, sollte der junge Zeichner ihn nun auch von sich

stoßen, genauso wie seine Familie.

Verdammt, ich vermisse ihn seit zwei Tagen!

Seit Raphael das Bild Lisettes gesehen hatte, wußte er auch, wo er seinen

kleinen Jurastudenten finden konnte, aber er war sich nicht sicher, ob das der

richtige Weg war. Ja, Jonas hatte ihm seine größten Ängste, seine dunkelsten

Seiten offenbart. Er hatte ihn geküßt und sich so vertrauensvoll an ihn

gekuschelt. Vertrauen. Das hatte der kleine Jurastudent zu ihm gehabt. Aber er

war stockbesoffen gewesen.

Bestimmt hat er gar nicht richtig mitgekriegt, was er getan hat.

Raphael seufzte laut, strich sich unbewußt die widerspenstige Haarsträhne hinter

die Ohren. Irgendwie hatte er gehofft, daß die Show nun besser wurde. Jetzt, da

er Jonas kennengelernt hatte. Da hatte er sich wohl geirrt. Oder?

Wäre er sonst weggelaufen?

Nein, wahrscheinlich nicht.

Oder?

Raphael musterte ein letztes Mal das seltsame Bild, das er nicht recht verstand.

Anders als sein gezeichnetes Spiegelbild, sah der kleine Jurastudent nicht den

Betrachter direkt an. Sein Blick war auf den jungen Italiener gerichtet. Ein

rätselhafter, undurchschaubarer Ausdruck lag auf dem fröhlich lachenden Gesicht.

Ein Blick, den nur wirkliche Freunde entschlüsseln konnten. Jürgen wäre es

bestimmt nicht aufgefallen und all den anderen Studenten, die Jonas zwar

flüchtig kannten, dennoch keine Ahnung von seinem Leben hatten, auch nicht.

Entschieden klappte Raphael den Block zu, legte ihn vorsichtig auf die zerwühlte

Decke zurück und stand langsam auf. Kurz sah er sich noch einmal in dem kleinen

Zimmer um, legte dann die Schlüssel neben die Post auf den Kühlschrank und

verließ das Wohnheimloch. Beinahe wäre er mit Jürgen zusammengeprallt.

"Ist Jonas endlich wieder da?" fragte dieser, aber seine Stimme klang weniger

voller Sorge denn voller Neugier.

"Nein." Raphael ließ den völlig verdutzt dreinblickenden Rotschopf einfach

stehen und eilte die Treppe hinab. Kurz sah er auf seine teure Armbanduhr,

entschied, daß er die heutigen Medizinseminare auch nachholen konnte. Es gab

wichtigere Sachen als das.

Wichtiger als mein Traum?

Der junge Italiener verharrte in der Bewegung, lehnte sich gegen das

Treppengeländer und schob die Sonnenbrille wieder auf seine Nase. Nachdenklich

starrte er durch die getönten Gläser auf die mit Graffiti beschmierten

Betonwände. Er dachte an den kleinen Jurastudenten, der ihn so offen angelacht

und ihm dabei sein angeblich verdorbenes Paßphoto gezeigt hatte. Verdorben hatte

Raphael es nicht empfunden. Vielmehr niedlich... Der junge Italiener konnte noch

immer die Arme spüren, die Jonas sanft um ihn gelegt hatte. Und seine Beine

wurden noch immer ganz weich, wenn er an die liebevollen Küsse zurückdachte.

Wichtiger als mein Traum?

Raphael erinnerte sich an den kleinen Jurastudenten, der so in seiner Zeichnung

versunken auf den großen Stufen der Universität gesessen und die Liebe einer

alten Frau festgehalten hatte, die niemand anderes bemerkt hatte. An jenen

ersten Moment, in dem Jonas in das Lateinseminar gestürmt und wie hypnotisiert

stehengeblieben war und ihn fasziniert angestarrt hatte. An den unsicheren

Ausdruck in dem immer blassen Gesicht, als er ihm die Bücher gegeben hatte.

Seine Hände waren zart gewesen, aber auch voller Stärke. Mit ihnen vermochte er,

solch eindrucksvolle Bilder zeichnen zu können. Raphael schloß kurz seine Augen,

sah ihr beider Porträt vor sich.

Wichtiger als mein Traum?

Verdammt, ja!

Raphael löste sich ruckartig von dem Geländer, eilte hinaus auf die Straße und

fuhr rasch in seinem Wagen davon.

Er war in das Wohnheim gekommen, ohne recht zu wissen, was er gesucht hatte.

Dennoch hatte er es gefunden. Jetzt wußte er, was es tun galt. Er konnte nicht

hierbleiben und warten. Das wäre, als würde er außerhalb des Geschehens stehen.

Und wenn es der größte Fehler seines Lebens war, dann war es ihm egal.

***

"Onkel Schonasch!" Ein kleines Mädchen von gerade zwei Jahren tapste auf ihren

kurzen Beinchen über den Hof des Bauerngutes.

"Meine kleine Babsy!" Jonas legte die Mistgabel beiseite, bückte sich zu seiner

Nichte, hob sie sanft in seine Arme und wirbelte sie durch die Luft. Das kleine

Mädchen lachte glücklich auf.

"Schneller." quietschte es vergnügt, klatschte in seine kleinen Hände. Das

hellblonde Haar, das rötlich in der Frühsommersonne schimmerte, reichte ihr bis

auf die Schultern, strich sanft um ihr pausbäckiges Gesicht, während er sich mit

ihr im Kreis drehte. Sie besaß dieselben blauen Augen wie er und Lisette

erklärte, daß sie manchmal wie er schaute, wenn sie etwas haben wollte, es aber

nicht bekam. >Ihr beide schmollt wie ein Gesicht.< erklärte sie dann immer frech

grinsend. Jonas tat dann immer, als wäre er beleidigt. Aber in Wirklichkeit war

er stolz über ihre Worte. Stolz, darauf, daß ihm seine kleine Nichte so ähnlich

war. Das bewies, das er doch ein wenig zu dieser kleinen Familie gehörte.

"Ach, hier steckst du, du Schlingel!" Eine junge Frau Anfang dreißig trat aus

einen der vielen Ställen. Sie hatte das hellblonde Haar auf ihren Rücken

geflochten, trug nun gewaschene Jeans und ein neues Holzfällerhemd. Mit offenen

Armen trat sie zu ihrem Bruder hinüber, nahm ihm ihre Tochter ab.

"Du weißt doch, daß du jetzt deinen Mittagsschlaf halten sollt." Erklärte sie

entschieden, worauf Barbara ihr kleines Gesicht verzog, weinerlich von unten

heraus betrachtete.

"Ihr beide schmollt wie ein Gesicht." Lachte Lisette, sah kurz ihren kleinen

Bruder an, der seinen Gesichtsausdruck dem seiner Nichte verblüffend ähnlich

nachahmte.

"Man, bin ich froh, schon zu alt dafür zu sein." Erklärte Jonas entschieden,

ergriff wieder die Heugabel. Es gab noch viel Arbeit für ihn diesen Pferdehof.

Arbeit gab es immer genug. Und der junge Zeichner war sehr froh darüber.

"Eines Tages wirst du wieder zu alt sein und dich darüber freuen. Omi schläft

auch jeden Mittag eine Stunde."

Jonas nickte bei ihren Worten. Omi, so durfte er auch die alte Frau nennen, die

einen Teil des Hauptgebäudes bewohnte. Sie war die Adoptivmutter von Lisettes

Ehemann und die Güte in Person. Sie hatte den jungen Zeichner mit offenen Armen

empfangen, genauso wie ihre Schwiegertochter. Und genauso wie Jonas liebte sie

Barbara abgöttisch.

"Mag sein. Hast du heute noch Reitunterricht?" Jonas betrachtete kurz die

gewaschene Kleidung, die seine Schwester trug. Normalerweise wechselte sie ihre

Sachen nicht über den Tag, weil das sinnlos war. Die Pferde knabberten gern an

ihren Hemden und die Hunde sprangen sie immer voller Freude an, wenn sie sie

sahen.

>Wer Tiere hat und nicht aussieht wie ein Schwein, der macht etwas verkehrt.<

lachte Lisette immer fröhlich, wenn einer der vier Schäferhunde, die das Gelände

vor Fremden bewachten ansprangen. Oder John, ein noch junger, verspielter Berner

Sennenhund, den Lisettes Mann aus der Praxis mit nach Hause gebracht hatte. Ein

kleines Bündel, das sich winselnd an den jungen Tierarzt gekuschelt und

hoffnungsvoll in die Runde geschaut hatte. Einstimmig hatte der Familienrat

beschlossen, den Welpen zu behalten und die Schäferhunde hatten ihn rasch in ihr

Rudel aufgenommen.

John hat riesiges Glück gehabt. So wie ich auch.

"Ja. Um zwei kommen die ersten Schüler. Wie jeden Tag." Lisette drückte ihre

Tochter, die unauffällig zu gähnen versuchte, leicht an sich, beobachtete ihren

Bruder, der nickte und zurück in den Stall ging, um ein weiteres ihrer fünfzig

Pferde zu versorgen. Seine Schultern hängten und wenn er sich unbeobachtet

fühlte, erschien immer so ein furchtbar trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht.

Vor zwei Tagen war er einfach aufgetaucht und hatte sie um Unterschlupf gebeten.

Natürlich hatte sie ihn aufgenommen. Jonas wußte, daß ihre Tür immer für ihn

offen stand, daß ein Zimmer im ersten Stock ihm gehörte.

Nachdenklich musterte Lisette den Schatten ihres kleinen Bruders, der eine

Stallbox öffnete, leise auf das Pferd einredete, während er eintrat. Jonas nahm

ihre Gastfreundschaft nur selten in Anspruch. Eigentlich hatte sie ihn ja hier

behalten wollen, als er das erste Mal aus der großen Stadt zu ihr gekommen war.

Damals war er völlig verzweifelt über das von ihm so gehaßte Studium gewesen.

Aber bleiben wollte er dennoch nicht.

>Ich muß mein Leben selbst in den Griff bekommen.< hatte er an jenem Abend zu

ihr gesagt, als sie ihm das Angebot gemacht hatte, bei ihr auf dem Pferdehof zu

bleiben. Arbeit gab es immer genug und ihr kleiner Bruder konnte sehr gut mit

Tieren umgehen. Dennoch war er zurück in das dreckige Wohnheim gegangen, hatte

von ihr nicht einmal Geld angenommen. Nur ab und an kam er vorbei. Vermutlich,

um wieder ein wenig Hoffnung zu tanken, bevor er in die kalte Großstadt zurück

kehrte.

Meist war ihm das Studium zu viel geworden. Dann hatte er sich seinen Block

geschnappt, einige Pferde und das nahe Meer gezeichnet. Das hatte ihn immer

beruhigt. Besonders zu jenen Zeiten, in denen sich ihr Vater wieder bei ihm

gemeldet hatte. Und wenn es nur in Form eines Schecks war.

Aber dieses Mal schienen weder der stressige Lebensstil noch der kalte Erzeuger

schuld an Jonas traurigen Gemütszustand zu sein. Etwas anderes schien ihn zu

bedrücken. Etwas, worüber der junge Mann nicht mit seiner großen Schwester

sprach. Das erste Mal, seit sie sich an dem 50. Geburtstag ihres gemeinsamen

Vaters das erste Mal richtig sahen.

Er hat nicht einmal sein Zeichenzeug mitgebracht...

Lisette seufzte leise, wandte sich dann ab, um ihre müde Tochter in ihr Bettchen

zu bringen. Wenn Jonas doch noch mit ihr darüber sprechen wollte, sie war immer

für ihn da. Das wußte er auch.

"Na, Rosie? Wie geht's denn meiner Lieblingsstute?" Jonas betrat die Box, lachte

auf, als der Schimmel leicht seinen Kopf drehte und spielerisch an seinem weißen

T-Shirt knabberte, das mittlerweile völlig verdreckt war. Es schlackerte um

seinen Oberkörper, die Beine der Jeans hatte er umgekrempelt. Die Anziehsachen

gehörten Lisettes Ehemann. Seine eigenen hatte Jonas in die Wäsche gegeben.

"Du bist so frech!" schimpfte er mit gespielt strenger Stimme, holte ein Stück

Zucker aus der Hosentasche und reichte es dem Pferd, der es gierig verschlang.

"Nein, mehr gibt es nicht!" Erneut mußte er lachen, als Rosie ihren großen Kopf

gegen seinen Oberkörper stemmte, ihn mit sanftem Druck gegen die Stallwand

drückte.

"Erst will ich deinen Stall saubermachen und dich auch." Kurz umarmte er den

Hals des Pferdes, seufzte leise. Er mochte diese Tiere. Sie waren treu und

hörten ohne Widerrede zu. Wenn er in die dunklen Augen sah, glaubte er manchmal,

daß sie ihn verstanden.

Sie lassen einen Freund nie im Stich...

Jonas schob Rosie entschieden von sich, ergriff die Mistgabel und begann, das

dreckige Heu in die Schubkarre zu schichten, die auf dem Gang stand. Um ihn

herum schnaubten noch andere Pferde. Einige beachtete ihn nicht weiter, andere

musterten ihn mit unverhüllter Neugier.

"Wir könnten heute nachmittag doch einen Ausritt wagen, oder, mein Schätzchen?"

erzählte Jonas zu der Stute, schob die Tür ein Stück weiter auf, um an die

Schubkarre zu gelangen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, lief seinem

Rücken herab. Es war nicht die erste Box, die er heute ausmistete.

"Hinaus zum Meer. Dort bin ich schon so lange nicht mehr gewesen." Der junge

Zeichner stellte die Gabel in das Heu, lehnte sich auf den Stiel und sah die

Schimmelstute verträumt an, die geräuschvoll ihr Heu fraß und ihn nicht aus

ihrem Blick ließ.

"Das Meer ist etwas Besonderes, mein Schätzchen. Es ist so unendlich weit, als

könnte man all seine Sorgen hinter sich lassen. Ein Schiff muß sich so richtig

frei fühlen. Ohne Ketten, die es im Hafen halten. Ohne Anker. Ohne Schranken."

Er seufzte leise, hörte das unwillige Schnauben Rosies. "Du bist natürlich auch

etwas Besonderes, mein Schätzchen." Meinte er und ein kleines Lächeln kehrte auf

seine traurigen Gesichtszüge zurück.

Ja, Rosie war wirklich ein besonderes Pferd. Sie war nicht nur geduldig und ließ

jeden Mist mit sich machen. Sie hatte ihm auch all die Jahre zugehört, kannte

fast seine gesamte Lebensgeschichte. Auf ihr hatte er reiten gelernt und wenn es

ihm richtig dreckig ging und er nachdenken mußte, ritt er mit ihr am Watt

entlang.

Jonas besann sich wieder und arbeitete eine Weile schweigend vor sich hin. Als

die Box gesäubert und frisches Heu ausgelegt war, schaffte er die Schublade fort

und ergriff das Striegelzeug. Vorsichtig fuhr er mit der Bürste über das helle

Fell der Stute, bis es in der Sonne, die durch die Stallfenster fiel, glänzte.

"Du bist eine richtige Schönheit, mein Schätzchen." Murmelte Jonas, strich ihr

sanft über die Nüstern und klopfte den Striegel an der Stallwand auf.

"Mittlerweile hast du gar keine schwarzen Flecken mehr. Eine richtige Lady bist

du während des letzten Jahres geworden."

Ist das wirklich schon so lange her?

Er hatte es sich nicht getraut, über Weihnachten seine Schwester zu besuchen.

Barbara hatte sich eine schlimme Grippe eingefangen und ihr Mann mußte

Überstunden schieben, weil zwei ihrer Springpferde ebenfalls schwer erkrankt

worden waren. Eines von ihnen starb noch vor Neujahr, das andere hatte mehr

Glück und überlebte. In all dem Chaos hatte er nicht auch noch auftauchen

wollen, obwohl Lisette mehrere einladende Briefe schrieb. Er antwortete ihr

nicht, schrieb nur eine Weihnachtskarte und verbrachte in dem Wohnheimloch das

traurigste Weihnachtsfest und das einsamste Sylvester seines Lebens.

"Gib' Fuß!" forderte er Rosie auf und kratzte vorsichtig ihre Hufe aus. Er war

so vertieft in seine Arbeit, daß er die Gestalt gar nicht kommen sah. Fröhlich

neckte er mit der Stute, achtete sorgsam darauf, sie nicht mit dem Kratzer zu

verletzen.

"Laß' das, du verrücktes Biest. Ich weiß ja, daß du stärker bist. Ich ergebe

mich ja schon!" lachte er, als Rosie ihr Bein aus seinen Händen ziehen wollte.

Es war das übliche Spiel, das sie immer spielten. Die Stute wollte einfach das

zweite Zuckerstück, das er noch in seiner Hosentasche behielt, um sie zu

belohnen, wenn die Schönheitspflege beendet war. "Rosie!" schimpfte er mit viel

zu freundschaftlicher Stimme, als sie zwei Schritte Richtung Heu trabte und ihn

mit sich zog. Jonas verlor prompt sein Gleichgewicht und landete im Stroh.

"Na, warte. Das wirst du mir büßen, du..." Der junge Zeichner, der sich

aufgerappelt hatte und das Stroh von seinem T-Shirt klopfte, verstummte mitten

im Satz. Wie hypnotisiert blieb er mitten in der Bewegung stehen, starrte

ungläubig auf die Gestalt, die an der Boxentür lehnte, ihn wohl schon die ganze

Zeit beobachtete zu haben schien.

"Hallo, Jonny." Begrüßte ihn Raphael mit seiner rauhen Stimme und nahm die

Sonnenbrille ab.

"Ja, Susanne. So machst du es richtig." Lisette stand in der großen Reiterhalle,

beobachtete ihre Schützlinge genau. Die Peitsche, die sie in ihren

behandschuhten Händen hielt, brauchte sie selten. Meist reichte eine Drohung und

die Pferde vergaßen, daß sie eigentlich bocken wollten.

"Michaela, du mußt gerade sitzen. Ja, das sieht besser aus."

Etwa fünf Mädchen ritten in Abteilung Figuren durch die große Halle. Das große

Fenster war geöffnet worden und die Sonne schien hell in das Innere herein.

Leichter Wind fuhr durch Lisettes Kleidung und sie genoß das erfrischende

Gefühl, das ihr solche ein Frühsommertag immer vermittelte. An einem solchen Tag

hatte sie ihren kleinen Bruder das erste Mal richtig kennengelernt und ihn

sogleich gemocht. An einem solchen Tag hatte sie ihren Mann zu lieben begonnen.

An einem solchen Tag war sie mit Michael getraut worden. Und vor knapp zwei

Jahren war ihre gemeinsame Tochter Barbara zur Welt gekommen.

Frühsommer ist die schönste Jahreszeit des Lebens!

Glücklich lächelte sie vor sich hin.

"Nimm die Zügel nicht so fest in die Hand, Katharina! Du willst doch nicht den

armen Barnabas erwürgen? Ich weiß ja, daß er widerspenstig ist, aber trotzdem

mußt du ihm Freiheiten lassen. Siehst du? Er gehorcht dir doch aufs Wort. Wenn

dein bockiger Wallach erst einmal dein Freund geworden ist, wird er dich nie im

Stich lassen." Sie schirmte ihre Augen vor der blendenden Sonne ab, als sie die

Gestalt eines jungen Mannes erkannte, der plötzlich vor dem Fenster aufgetaucht

war, interessiert zuschaute.

"Hallo, kann ich Ihnen helfen?" fragte sie und zu ihm hinüber. Ihr eigenes

Gesicht spiegelte sich in seiner Sonnenbrille. Es war leicht errötet und ihr

Zopf begann, sich langsam aufzulösen.

"Sind Sie Lisette Müller?" Sie runzelte leicht ihre Stirn, als sie den

südländischen Akzent hörte.

"Ja. Und wer sind Sie?" Kurz drehte sie sich um, rief ihren Schülern einige

Befehle zu und wandte sich wieder zu ihm um. Eine Strähne seines rabenschwarzen

Haares hatte sich aus seinem Zopf gelöst und er strich sie geistesabwesend

hinter seine Ohren.

"Ich bin Raphael don Cayé." Der Akzent war nun unüberhörbar. Vermutlich war

Spanisch seine Muttersprache. Oder Griechisch. Oder Italienisch.

"Angenehm Sie kennenzulernen. Wie kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie reiten

lernen?" Sie streckte ihm mit einem fröhlichen Lächeln, das Raphael schon einige

Male bei Jonas gesehen hatte, die Hand aus und schüttelte seine sonnengebräunte

energisch.

"Nein, danke." Wehrte er lachend ab. "Seit mich mal so ein Gaul, Verzeihung,

Pferd, getreten hat, halte ich lieber abstand vor großen Tieren." Er sah kurz

auf die Reitschüler, die nun in leichten Trab gefallen waren und bewunderte sie

für ihren Mut, den er nicht gehabt hatte.

"Ich suche Jonas." Sagte er schließlich gerade heraus und sah in ihre

dunkelblauen Augen, die denen des kleinen Jurastudenten so ähnelten.

Wie kann er nur behaupten, nicht zu dieser Familie zu gehören!?

"Mein Bruderherz mistet die Ställe dort drüben aus." Sie streckte ihre Hand aus,

zeigte zu dem Gebäude jenseits des Hofes. "Du dürftest ihn nicht verfehlen. Er

beschäftigt sich gerade mit Rosie. Und diese Schimmelstute treibt immer ihren

Schabernack mit ihm. Gewiß schimpft er schon so laut, daß es die Spatzen auf den

Dächern hören können." Sie lachte hell auf, dann wurde ihr Gesicht mit einem

Schlag ernst.

"Bist du ein Freund von Jonas?" Automatisch war sie bei der Erwähnung ihres

Bruders zum vertrauten >Du< übergegangen und es störte Raphael nicht. Im

Gegenteil. Langsam verstand er, warum der kleine Jurastudent mit so leuchtenden

Augen von seiner älteren Schwester erzählte. Sie war wirklich der Fels in der

Brandung.

"Ja."

Egal, was Jonas auch dazu sagt!

"Das ist gut." Das Lächeln kehrte auf ihr gerötetes Gesicht zurück, aber ein

Schatten blieb in ihren tiefen Augen. "Hat er etwas ausgefressen?" Ob das

vielleicht der Grund war, warum er ihr dieses Mal nichts über seine Ängste

erzählt hatte?

"Nein. Er ist nur einfach verschwunden und da hab' ich mir..." Raphael suchte

nach Worten, wich schließlich ihren Blick aus. Er erzählte nie fremden Menschen

seine Gefühle, auch wenn Lisette keine Fremde mehr war. Nicht, nachdem er ihren

kleinen Bruder kennengelernt hatte.

"Du hast dir Sorgen um ihn gemacht." Vollendete sie seinen Satz und der Schatten

verschwand. "Das ist schön." Erklärte sie und ihre Stimme war voller Wärme. "Die

Menschen in der großen Stadt kümmern sich viel zu wenig um ihre Mitmenschen.

Jonas kommt manchmal wochenlang hier her, aber bisher hat noch keiner nach ihn

gefragt. Kein Mitstudent, kein Professor." Ein nachdenklicher Ausdruck schlich

sich in ihre Gesichtszüge und sie verschränkte die Arme leicht vor der Brust.

"Manchmal würde ich ihn ja gern von diesem Studium abbringen, aber er ist zu

stolz dazu. Ich hab' einfach Angst um ihn, wenn er sich wochenlang nicht meldet.

Denn seine Mitstudenten würden wohl kaum mitkriegen, wenn er krank in seinem

Wohnheimzimmer liegt und es nicht mehr schafft, ans Telefon zu gehen." Sie

lächelte nun ein wenig trauriger. "Nun, vielleicht übertreibe ich ja auch, aber

ich war mein ganzes Leben mehr Mutter als Schwester für ihn. Und seit Barbara,

meine kleine Tochter, geboren ist, ist mein Mutterinstinkt noch schlimmer

geworden." Sie lehnte sich leicht vor und legte ihre rechte Hand auf seine linke

Schulter.

"Ich bin froh, daß Jonas endlich einen richtigen Freund gefunden hat. Nicht

dieser Jürgen, der ihn nur Bier holen geht oder all die anderen Mitstudenten,

die ihn als Spinner belächeln oder einfach von seinem Wissen profitieren

wollen."

Wenn mich Jonas überhaupt noch will.

Raphael erwiderte das Lächeln tapfer und Lisette runzelte leicht ihre Stirn.

"So, jetzt hab' ich dich genug aufgehalten. Meine Schülern meinen auch immer,

daß ich zu viel rede. Na ja..." sie zuckte ihre Schultern, drehte sich dann um

und widmete sich wieder voll ihrem Unterricht. Bald erschallte ihre fröhliche

Stimme quer durch die ganze Halle und fünf Pferde bewegten sich im Gleichtakt.

Raphael holte tief Luft, dann ging er über den Hof auf den ihm beschriebenen

Stall zu. Seine Gedanken waren noch immer bei Lisette. Sie war wirklich so, wie

Jonas sie auf dem Papier festgehalten hatte: Voller Fröhlichkeit, Trost und

bedingungsloser Liebe.

>Mein Bruderherz< hatte sie gesagt. Sie mußte den jungen Zeichner wirklich

lieben.

Es war düster in dem Gang, hier und da schnaubten Pferde in ihren Boxen und der

junge Italiener hielt sich fest in der Mitte, denn er wollte von keinem großen

Tier gebissen werden.

"Laß' das, du verrücktes Biest. Ich weiß ja, daß du stärker bist. Ich ergebe

mich ja schon!" hörte Raphael da die Stimme des kleinen Jurastudenten aus der

offenen Box laut rufen. Es folgte ein so glückliches Lachen, daß sich der junge

Italiener erneut fragte, warum sich der junge Zeichner das chaotische Leben in

der Großstadt überhaupt zumutete. Warum tat er nicht einfach, was ihm gefiel?

Was ihn wirklich frei machte?

Er lehnte sich an die Boxentür, sah auf die kleine Gestalt Jonas herab, der im

frischen Streu hockte, mit dem Pferd zu kämpfen schien. Er hielt in einer Hand

ein Gerät, in der anderen den Vorderfuß des Schimmels. Das Tier schnaubte

unwillig, trat einige Schritte Richtung Heu und zog den kleinen Jurastudenten

automatisch mit sich. Dieser rappelte sich auf, klopfte sich das Heu von seinem

dreckigen T-Shirt und sah schließlich auf, um das Pferd zur Rechenschaft zu

ziehen.

"Na, warte. Das wirst du mir büßen, du..." Der junge Zeichner verstummte mitten

in Satz, schien ihn erst jetzt bemerkt zu haben. Verwirrt starrte er den jungen

Italiener an, verharrte mitten in der Bewegung.

"Hallo, Jonny." Sagte Raphael leise und schluckte hart.

Wird er mich jetzt von sich stoßen?

Der junge Medizinstudent nahm seine Sonnenbrille ab, trat langsam auf den

kleinen Jurastudenten zu.

Nun, ich werde es wohl bald wissen.

"Wie hast du mich gefunden?" flüsterte Jonas schließlich nach einer schier

unendlichen Weile, in der sie sich schweigend angesehen hatte und senkte seinen

Blick. Der Hufkratzer entglitt seinen zitternden Händen und er lehnte sich gegen

die Stäbe, die das Heu beieinander hielten. Rosie schnaubte nur kurz, fuhr dann

fort in ihrem beständigen Fressen. Sie war durch die vielen Reitschüler an

Fremde gewöhnt. Auch war ihr geliebter Jonas bei ihr, der noch immer den zweiten

Zuckerwürfel in seinen Taschen hatte.

"Du hast mir so viel über Lisette erzählt, daß ich euren Pferdehof gar nicht

verfehlen konnte. Sie ist der einzige Mensch, dem du wirklich vertrauen kannst.

Du gehst zu ihr, wenn es dir schlecht geht, oder?"

Jonas nickte nur, starrte weiterhin beharrlich auf das Stroh unter seinen

abgetragenen Turnschuhen.

"Bis du deshalb fortgelaufen? Weil es dir schlecht ging?" Raphael war noch näher

an ihn heran getreten. "Ging es dir bei mir denn so schlecht?" Die rauhe Stimme

war nun voller Traurigkeit. Der junge Zeichner hob seine eisigen Hände, fuhr

sich durch die kurzen Haare und seufzte tief.

"Ich werde mich nie wieder so besaufen." Erklärte er erschienen, ging nicht auf

die Frage des jungen Italieners ein. Sein Kopf dröhnte noch immer, wenn er an

die gräßlichen Schmerzen zurückdachte, mit denen er sich das ganze Wochenende

herumgeschlagen hatte. Zwar hatte er kein Wort gesagt, von der ersten Minute an

auf dem Pferdehof mit angepackt, aber Lisette mußte es dennoch erkannt haben.

Denn abends lagen mehrere Aspirin auf seinem Nachttisch. "Dabei wollte ich doch

immer alles vergessen..." Er biß sich auf die Unterlippe, schluckte hart, als

ungeweinte Tränen in seinen Augen brannten.

"Kannst du dich nicht mehr an Freitag nacht erinnern?" Raphael hatte seine

sonnengebräunten Hände unter das Kinn seines kleinen Jurastudenten geschoben und

zwang ihn aufzusehen. Die tiefen, dunkelblauen Augen des jungen Zeichners waren

voller Verzweiflung.

"Das brauch' ich auch nicht! Du hast meine Trunkenheit schamlos ausgenutzt und

mich benutzt!" brachte Jonas wütend hervor, schlug die Arme beiseite und schritt

entschlossen an dem jungen Italiener vorbei. Wild entschlossen wollte er die Box

verlassen, als er die leise Stimme hinter sich vernahm.

"Glaubst du wirklich, ich würde dir so etwas antun?"

"Was, bitte, soll ich denn sonst glauben?" fuhr Jonas den jungen

Medizinstudenten an, wirbelte herum und musterte diesen zornig. "Ich stehe in

dem einen Moment noch im Regen und philosophiere über Gott und die Welt und im

nächsten Moment erwache ich in einer fremden Wohnung. In einem fremden Bett.

Neben einem fremden Menschen, den ich gerade mal zwei Tage kenne! Nur in

Unterhosen gekleidet, die nicht einmal meine eigenen sind! Was, zur Hölle, soll

ich denn sonst glauben? Daß du mir einen Kaffee angeboten und dann mit mir

Karten gespielt hast, bis ich vor Erschöpfung eingeschlafen bin? Das nehm' ich

dir nicht ab!" Sein blasses Gesicht war nun errötet, sein Haar stand wild von

seinem Kopf. Stroh hatte sich zwischen den hellen Strähnen verfangen, ging nun

über seine Ohren bis auf seine bebenden Schultern.

"Du standest nicht im Regen, du hast regelrecht im Schlamm gelegen!" erwiderte

Raphael mit ruhiger, sachlicher Stimme, aber seine Augen funkelten gefährlich.

"Ich hab' dich mit nach Hause genommen, weil du nicht in das Wohnheim zurück

wolltest. Ich sollte dich am Friedhof abliefern, so ein Schwachsinn! Du hattest

achtundreißig Grad Fieber und völlig durchweichte Kleidung. Und du warst

stockbesoffen. In der Verfassung hätte dich vielleicht dein feiner Jürgen zurück

auf die Straße gejagt, ich konnte das nicht. Also hab' ich dich erst in die

Badewanne und schließlich mit Hustenmitteln ins Bett meines Gästezimmers

gesteckt." Der junge Italiener holte tief Luft, stemmte seine Fäuste in die

Seiten.

"Zu Beginn der Nacht hast du einen dunklen Schlafanzug angehabt. Mit vielen

schönen, geschlossenen Knöpfen. Aber gegen früh um drei hast du dich dann dafür

entschieden, daß dein flüssiges Abendbrot wohl doch nicht so gut geschmeckt hat

und hast dich prompt über uns beide übergeben. Es hat mich eine halbe Stunde

gekostet, dich aufs Klos zu hieven, wo du weitere zehn Minuten den Pozellangott

angebetet hast. Das Bett konnte ich neu beziehen, aber Schlafanzüge besitze ich

leider nicht so viele, als daß ich dich hätte neu einkleiden können. Also

mußtest du wohl mit meiner Unterwäsche vorlieb nehmen, weil deine eigene von

deinem Schlammbaden noch vollkommen durchnäßt war!"

Jonas stand still da, starrte ihn vollkommen verwirrt an.

Kann ich ihm glauben?

Er wußte es einfach nicht. An jenem Morgen hatte sein vernebeltes Gehirn alle

Gedanken ignoriert und es war ihm bis heute nicht gelungen, sich an irgend etwas

zu erinnern. Der junge Italiener konnte die Wahrheit sagen. Er konnte aber auch

die Wahrheit sagen, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen.

Deswegen wäre er wohl kaum den langen Weg hier her gefahren!

"Und was hattest du neben mir zu suchen?"

Raphael strich sich die widerspenstige Strähne hinter seine Ohren, stand im

nächsten Moment vor ihm und ergriff sanft sein eiskalten Fäuste. Jonas, unfähig

sich zu bewegen, starrte ihn weiterhin stumm an.

"Weil ich mich in deiner Gegenwart geborgen gefühlt habe." gab der junge

Italiener leise zu und ein sanftes Lächeln erschien auf dem sonnengebräunten

Gesicht. "Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide

Ohren in dich verliebt."

Der Akzent klang nun so deutlich durch, daß die Worte gebrochen wirkten. Aber

Jonas hatte sie trotzdem verstanden. Auch wenn der junge Medizinstudent

Italienisch gesprochen hätte, so wäre dem jungen Zeichner der Sinn der Worte

nicht entgangen. So blind war er, der jede Gefühle mit einem Blick sehen und auf

leblosen Papier festhalten konnte, nicht.

Raphael drängte ihn sanft gegen die Stallwand, beugte sich zu seinem kleinen

Jurastudenten herab und küßte ihn zärtlich. Es hatte ihn ungemeine

Überwindungskraft gekostet, diese wenigen Worte zu sagen, die doch seine ganze

Welt bestimmten. Nun, da er das Geständnis überstanden hatte, fühlte er sich

besser.

Und wenn er mich doch nicht haben will?

Er verdrängte den Gedanken, als sein kleiner Jurastudent die dunkelblauen Augen

schloß und den Kuß sehnsuchtsvoll erwiderte.

Was mach' ich hier? Hat mir dieses Verhalten nicht schon genug Leid eingebracht?

Jonas riß sich von Raphael los, streckte seine Hände aus und stieß den jungen

Italiener regelrecht von sich.

Kann ich ihm überhaupt vertrauen?

Einige Augenblicke sahen sich die beiden jungen Männer schweigend an. Ihre Atem

gingen schnell. Alles, was zu hören war, war das Schnauben der Pferde und das

Rascheln, wenn sie sich in ihren Boxen bewegten.

"Verschwinde!" sagte Jonas schließlich mit kalter Stimme und drehte sich zu um,

um den fallen gelassenen Hufkratzer aufzuheben. "Verschwinde und laß' mich in

Ruhe!"

Raphael stand einige Augenblicke sprachlos da, dann stieg unbändiger Zorn in ihm

empor. So leicht würde ihn der kleine Jurastudent nicht los werden.

"Warum soll ich gehen? Weil es dein gottverdammter Stolz nicht zuläßt, mit mir

zusammen zu sein?" fuhr er ihn wütend an. "Du empfindest doch dasselbe wie ich!"

Er sah, wie Jonas zusammenzuckte, dann aber seelenruhig das Pferd zu putzen

begann. Vorsichtig striegelte er das ohnehin schon glänzende Fell.

"Woher willst du wissen..."

"Ich hab' dein Bild gesehen."

Die Bürste verharrte einige Augenblicke bewegungslos auf dem Rücken der Stute,

dann fuhr Jonas in seiner Arbeit fort.

"Seit wann bist du denn Kunstexperte?" fragte er zynisch, seine Bewegungen

wurden energischer.

"Seit ich dich auf den Stufen vor der Universität hab' sitzen sehen. Du hast

eine alte Frau gezeichnet, die ihren Hund abgöttisch liebte. Auf deinem Bild

konnte ich es ganz genau sehen, während es mir in der Realität nie aufgefallen

wäre." Raphael strich sich die widerspenstige Strähne erneut hinter die Ohren,

schüttelte leicht seinen Kopf.

"Geh', ich will dich nicht. So einfach ist das." erklärte Jonas mit gefühlloser

Stimme und Raphael erbleichte bei den gnadenlosen Worten.

Hast du es etwa anders erwartet?!

"Schon verstanden. Du willst mich genauso wenig, wie du deinen Traum

verwirklichen willst und endlich professioneller Zeichner wirst. Statt dessen

studierst du dieses lächerliche Jura, obwohl dir der Beruf als Anwalt verhaßt

ist. Du jobbst bei verschiedenen Fastfoodketten, ißt kaum etwas und Schlaf

scheinst du auch nie zu finden. Du hast keinen einzigen Freund, der sich um dich

sorgt, wenn du einfach so für ein paar Tage verschwindest. Und anstelle dich bei

deinem Vater zu melden und ihm ins Gewissen zu reden, akzeptierst du das

Schweigegeld, wie du es genannt hast, und betrinkst dich im Kummer fast bis zur

Besinnungslosigkeit!" Raphael holte tief Luft, dann dämpfte er seine

aufgebrachte Stimme ein wenig.

"Lisette ist ein wunderbarer Mensch und du scheinst glücklich zu sein, wenn du

dich um die Tiere kümmern darfst. Aber du nimmst ihr Angebot nicht an, für immer

hierzubleiben, weil du glaubst, du würdest nicht zu ihrer Familie gehören. Es

stimmt, du bist ein Bastart, aber das interessiert doch deine Schwester nicht.

Merkst du manchmal, was für Unsinn du erzählst? Hast du schon einmal in den

Spiegel geschaut? Lisette sieht dir so verdammt ähnlich - du kannst gar nicht

verleugnen, daß du zu ihr gehörst. Aber das willst du wahrscheinlich gar nicht,

oder?" Raphael steckte die zu Fäusten geballten Hände in seine Hosentaschen,

lehnte sich gegen die Boxentür und starrte an die niedrige Decke.

"Ich kann es verstehen, daß du nicht zugeben willst, daß du anders als die

anderen bist. Daß du so bist wie ich. Den Schmerz und das Leid will ich dir

gerne ersparen. Denn die meisten deiner Mitstudenten werden dich hassen, wenn

sie es erfahren. Das ist auch der Grund, warum ich schon so viele Universitäten

verlassen habe, daß ich es gar nicht mehr zählen kann. Überall schlug mir

blanker Haß entgegen und sogar meine eigene Familie ekelt sich davor, mir auch

nur die Hand zu geben. In ihren Augen hab' ich vermutlich schon AIDS oder noch

Schlimmeres." Als er seinen Blick wieder senkte, standen Tränen in den

haselnußbraunen Augen. "Wenn du mich nicht wiedersehen und jeden Kontakt zu mir

abbrechen willst, dann verstehe ich das. Das bin ich gewöhnt."

Aber es wird mehr weh tun als sonst.

Raphael holte tief Luft, schluckte hart.

Denn dieses Mal warst du das erste Mal so richtig verliebt.

"Aber ich verstehe es einfach nicht, wie du deine wunderschönen Bilder in einem

Loch wie diesem Wohnheimzimmer malen kannst! Du hast weder das Licht noch den

Platz dafür. Wie sollen die Gemälde denn trocknen? Wie willst du denn dann ein

professioneller Zeichner werden? Oder soll das auch nur einer von den Träumen

bleiben, die du dir niemals erfüllen wirst?!"

Hört er mir überhaupt zu? Egal.

"Du sagtest, das Zeichnen sei deine Leidenschaft. Aber du tust nichts dafür.

Statt dessen studierst du Jura, jobbst bei McDonald's und verbitterst immer

mehr. Merkst du denn nicht, wie das Leben an dir vorbei zieht, ohne daß du es

richtig wahrnimmst?! Ohne, daß du aktiv an ihm teilnimmst?!"

Raphael fischte seine Sonnenbrille aus der Hosentasche, spielte einige Momente

damit, klappte die Bügel nervös auf und zu.

"Ein richtiger Traum ist wie ein ewig loderndes Feuer. Tief in seinem Inneren

brennt es vor sich hin und kann nicht erlöschen, so lange man an diesen Traum

glaubt. Gewiß, es ist gefährlich, sich diesen Traum zu verwirklichen. Einige

werden dich verrückt nennen und du kannst dich richtig verbrennen, wenn die

ersten Versuche nicht funktionieren. Ich will Arzt werden, egal, wie viele

Menschen mich noch verachten werden. Es wird viel Zeit und vermutlich auch noch

weitere Schmerzen kosten, aber ich werde mir diesen Traum eines Tages erfüllen."

Der junge Italiener setzte die Sonnenbrille auf die Nase, verdeckte seinen

feucht leuchtenden Augen.

"Aber lieber verbrenne ich mich, als daß ich diesen Traum aufgebe. Was bleibt

denn noch von mir, wenn ich das Feuer in mir ersticke? Aber du wirst das wohl

nie verstehen, denn du hast ja schon, was du willst." Die rauhe Stimme klang nun

zynisch, voller Traurigkeit.

"Ich hoffe, daß du es eines Tages nicht bereut. Daß du nicht den Mut aufgebracht

hast, deinen Traum zu verwirklichen. Ich hoffe, daß du nicht als alter Mann vor

den wenigen Bildern stehen und trauern wirst, daß du nicht mehr hast zeichnen

können." Raphael drehte sich, verließ die Box.

"Vielleicht wirst du nicht zu denjenigen gehören, die erkennen, daß sie ihr

ganzes Leben außerhalb des Feuers ihres Traums gestanden haben..." Scheinbar

laut schlug die Tür des Stalles zu, als der junge Italiener ging.

Jonas, der schon lange aufgehört hatte, Rosie zu striegeln, blickte über die

Schulter zu der verschlossenen Tür. Er hörte durch das gekippte Fenster den

Motor des Sportwagens aufheulen, wußte, daß Raphael in die große Stadt zurück

kehrte, ihn nicht mehr belästigen würde.

Außerhalb des Feuers...

"Das kannst du so einfach sagen, du reicher Schnösel." schluchzte er leise,

konnte nicht länger die Tränen zurückhalten. Frei liefen sie über seine bleichen

Wangen. Fest umschlang er den Kopf des geduldigen Tieres und ließ seiner Trauer

freien Lauf.

***

Außerhalb des Feuers...

Im raschen Galopp fegte die Schimmelstute über die weiten Wiesen dahin. Fast

schien es, als würde das Pferd schweben. Der Reiter hatte sich in die Steigbügel

gestemmt, hielt die Zügel locker, um dem Tier möglichst viel Freiheit zu lassen.

Vor ihnen tat sich das Meer. Es schimmerte rötlich im Licht der untergehenden

Sonne. Laut rauschte es. Laut und beruhigend. Am Himmel über ihnen drehten Möwen

ihre Kreise, schrien laut in die abendliche Atmosphäre. Der Horizont hatte sich

in allen Rottönen verfärbt, eine glühende Sonne ging gemächlich in der unendlich

weiten See unter.

Jonas schnalzte mit der Zunge und Rosie wackelte mit ihren Ohren. Er brauchte

ihr keine Befehle zu geben. Das Tier schien ihn auch so zu verstehen. Mit

kleinen Gesten und seiner Körperhaltung. Die Stute schnaubte, verfiel dann in

langsameren Trab. Der Wind, der vom Mehr her wehte, fuhr durch die lange Mähne

des Pferdes, spielte mit den kurzen Haaren des jungen Zeichners.

Jonas lehnte sich leicht zurück, schloß die Augen. Rosie kannte den Weg. Es war

immer derselbe Pfad, den er entlang ritt, wenn er seine Schwester besuchte. Wie

friedlich es doch hier war. So wunderbar ruhig. So beruhigend still. Ja, hier

gab es keine Sorgen. Sie verschwanden mit den Wellen, die vom Strand in die

ewigen Fluten zurück kehrten. Das Wasser nahm all den Schmerz mit sich. All die

Pein. Die quälenden Erinnerungen.

Statt dessen gab es ein Gefühl der Glückseligkeit zurück.

Der junge Zeichner ließ die Zügel los und Rosie fiel sofort in gleichmäßigen

Schritt. Jonas streckte seine Hände aus und genoß die Brise, die durch seinen

ausgeleierten Pullover fuhr, ihm eine angenehme Gänsehaut über den Rücken jagte.

Ja, hier konnte er er selbst sein. Kein Bastart. Kein Tagträumer. Kein

Anderer...

Hier war er frei...

Jonas dachte an die verbitterten Worte Raphaels zurück. Es war schon lange her,

daß jemand so mit ihm gesprochen hatte. Sein Vater interessierte sich nicht für

ihn, für die Professoren war er ein Musterschüler, auch wenn er regelmäßig zu

spät kam. Jürgen musterte immer sein Zimmer abfällig, aber richtig aufgeregt

hatte er sich darüber noch nie. Die einzige Person, die ihn schon einmal so

angefahren hatte, war Lisette gewesen. Vor zwei Jahren, als sie ihn einmal in

der großen Stadt besuchen kam und entsetzt darüber war, wie er dort hauste. Sie

hatte ihn sofort mit nach Hause nehmen wollen, aber er hatte sich erfolgreich

gewehrt. Beide Geschwister hatten sich angeschrien und so laut gestritten, daß

sie das halbe Wohnheim weckten. Lisette hatte schließlich aufgegeben und war mit

den Worten gegangen, er könne immer zu ihr kommen, wenn er endlich wieder zur

Vernunft käme.

Ja, das Jurastudium war auch Lisettes Idee gewesen. Aber sie hatte sich darunter

wohl etwas anderes vorgestellt für ihren kleinen Bruder, der so gern abhängig

und frei sein wollte.

Jonas öffnete seine Augen, sah hinaus in das unendliche Glitzern, das auf den

Wellen hin und her tanzte. Er dachte an seine Nebenjobs, an die glatten

Mitstudenten. Sie würden einmal perfekte Anwälte werden. Der junge Zeichner

dachte an sein unordentliches, viel zu kleines Wohnheimzimmer, an die Staffelei,

die in der Mitte stand, an die vielen Ölfarben, die über auf dem Fußboden

verstreut standen. An das kleine Fenster, da kaum Licht spendete. Und an die

vielen Bilder, die in Papier eingehüllt an den Wänden lehnten. Fertig verpackt,

um weg geschmissen zu werden, sollte er sie nicht mehr abholen können.

Würde wirklich jemand um ihn weinen, wenn er stürbe? Würden es weder die

Professoren noch seine Mitstudenten bemerken? Würde Jürgen nach ihm sehen, wenn

er drei Tage nicht auftauchte?

Jonas schob die Brille zurecht, seufzte leise. Nein, sie würden ihn nicht

vermissen. Er war doch nur ein kleiner Student unter vielen, der nicht weiter

auffiel. Das nie gewollt hatte.

Vor seinem inneren Auge tauchte plötzlich Lisette auf, die ihn fröhlich

anstrahlte. Sie hielt ihre kleine Tochter in dem einen Arm und mehrere Briefe in

der anderen Hand. Nein, sie hatte ihm nie in vergessen. Regelmäßig schrieb sie

ihm, wenn sie ihn telefonisch nicht erreichte und lud ihn in jedem einzelnen

Brief ein, nach Hause zu kommen.

>Hast du schon einmal in den Spiegel geschaut? Lisette sieht dir so verdammt

ähnlich - du kannst gar nicht verleugnen, daß du zu ihr gehörst.< hörte er die

rauhe Stimme aufgebracht rufen. Der junge Mann schien sich richtige Sorgen um

ihn gemacht zu haben. Es war Montag und die Semester, darunter gewiß auch

Medizin, wurden an der alten Universität gehalten. Aber Raphael hatte sich in

seinen Sportwagen gesetzt und den weiten Weg hier her gefahren.

Er hat mir so gut zugehört, daß er wußte, wo er mich zu finden hat.

>Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide Ohren in

dich verliebt.< Eine Gänsehaut fuhr über Jonas' Rücken, die aber nicht von dem

angenehmen Abendwind hervorgerufen wurde. Tränen traten in seine Augen, einige

Strähnen seines Haares streichelten über seine nun leicht geröteten Wangen.

Kann ich ihm vertrauen?

Wäre er sonst hier her gekommen? Als erster. Als einziger... ?

Jonas nahm die Zügel wieder auf, trieb Rosie an und bald galoppierte er am Watt

entlang. Der nasse Sand spritzte unter den Hufen der Schimmelstute. Es tat so

verdammt gut, hier zu sein. Unabhängig, frei. Ja, das konnte er hier sein. Bei

Menschen, die ihn liebten. Bei Tieren, die ihn brauchten. In der kalten,

gefühllosen Großstadt dagegen...

Gib's zu, dort bist du nur ein Gefangener. Gefangen in deinen Wahnvorstellungen,

die du höher bewertest als deinen großen Traum.

Warum tat er all das überhaupt? Doch nur, um seinem Vater zu beweisen, daß er es

auch ohne ihn schaffte. Daß er auch ohne erbetteltes Geld im Leben zurecht kam.

Daß er keine familiäre Anerkennung brauchte. Aber, war es seinem Vater nicht

sowieso egal, was er tat? Interessierte es den alten Mann überhaupt, ob er

Anwalt oder Zeichner war? Vermutlich nicht. Aber für Jonas war dies ein riesiger

Unterschied.

Außerhalb des Feuers...

Verdammt, Raphie hat recht gehabt!

Jonas wendete Rosie und galoppierte den Weg, den er gekommen war, zurück.
 

"Ich werde morgen wieder zurück fahren."

Jonas kraulte John, der neben ihm auf dem Bett seines Zimmers lag und müde vor

sich hin blinzelte, hinter den Ohren. Lisette, die auf der anderen Seite des

Raumes auf dem Schreibtischstuhl saß, seufzte unterdrückt.

"Schade. Du bist viel zu selten hier, Bruderherz." Sagte sie ehrlich. Ihr lagen

noch so viele andere Sätze auf der Zunge, aber sie brauchte sie nicht zu sagen.

Jonas kannte ihre Meinung zu der Art, wie er sein Jurastudium durch zog.

"Keine Bange, Lissy. Ich mach' keine Dummheiten mehr. Der Job bei McDonald's

wird zwar unumgänglich sein, aber ich werde die Studienrichtung wechseln."

Lisette hob erstaunt ihren Kopf, sah ihn mit ihren dunkelblauen Augen verwirrt

an.

"Moderne Kunst?" fragte sie und ein Lächeln erschien auf ihrem gesunden Gesicht,

als sie sah, wie ihr kleiner Bruder nickte.

"Das ist eines der vielen Fächer. Trotzdem sind die zwei letzten Jahre nicht

ganz umsonst. Ich kenn' das Erb- und Familienrecht mittlerweile gut genug, um

mich zur Wehr zu setzen, sollte ich im Testament von Vater nicht erwähnt zu

sein." Ein trauriges Grinsen erschien auf seinem bleichen Gesicht und er fuhr

fort, den jungen Hund zu streicheln, der es sichtlich genoß.

"Das ist gut, Bruderherz. Sehr gut sogar. Aber du kannst jederzeit hier her

kommen." Lisette schlug die Beine übereinander und ihre Augen leuchteten

regelrecht in dem Zwielicht, das die Nachttischlampe warf.

"Ich weiß, Lissy. Und ich verspreche, dich jetzt öfter zu besuchen. Rosie

vermißt mich sonst. Genauso wie dieser Prachtkerl hier, nicht wahr, du alter

Rabauke?" Der junge Berner Sennenhund öffnete verschlafen seine Augen, schloß

sie wieder, als die Hand ihn weiter kraulte.

Eine Weile herrschte angenehmes Schweigen zwischen den Geschwistern.

"Ich hab' mich noch gar nicht für das Bild bedankt, daß du mir zu meinem letzten

Geburtstag geschickt hast. Rosie wirkt so lebendig, alle in der Reiterhalle

bewundern das Porträt. Du hast wirkliche Begabung, Bruderherz."

Jonas nickte nur, seine Hände verharrte in dem dichten Fell des Tieres.

"Würdest du mich noch mögen, wenn ich anders wäre? Ich meine..." Der junge

Zeichner holte tief Luft, suchte nach den passenden Worten.

Lisette, die ihren Bruder schon immer auch ohne viele Worte verstanden hatte,

stand langsam auf und kam auf ihn zu. Der kleine Student sah stur auf den

schlafenden Hund neben sich, wagte es nicht, sie anzuschauen.

"Du redest von dem jungen Mann, der heute nach dir gesucht hat, nicht wahr?"

fragte sie leise, setzte sich neben ihn auf das Bett, blickte ihn nachdenklich

an.

"Raphael, ja. Er ist mehr als nur ein Freund. Ich meine... ich..." Jonas

verengte seine Augen, ließ die Schultern hängen. Es fiel ihm so unsagbar schwer.

"Ich empfinde für ihn mehr als nur Freundschaft."

Beinahe erschrocken riß er seine Augen auf, als Lisette ihre Arme um ihn schlang

und ihn sanft an sich drückte.

"Und er scheint dich auch zu lieben, Bruderherz." Ein leises Lachen war zu

hören. "Man, er hat dir ganz schön den Marsch geblasen, was? Ich konnte euch

über den ganzen Hof streiten hören." Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter,

drückte ihn behutsam an sich.

"Das wurde auch langsam Zeit, daß dir jemand gehörig den Kopf wäscht. Ich hab'

das ja nicht geschafft und dein Südländer taucht hier auf, schreit kurz rum und

du bist entschlossen, dein ganzes Leben zu umzukrempeln."

"Na ja, er war mit seinen Worten nicht ganz so umgänglich wie du." Gab Jonas zu,

ergriff sanft ihre Hände und hielt sie fest. Seine Finger selbst waren eiskalt.

"Ich bin froh, daß du nicht länger allein in der großen Stadt bist." Lisettes

Stimme klang so warm. So ehrlich.

"Und es stört dich nicht, daß Raphael ein Junge ist?" Die Stimme des jungen

Zeichners war so leise, daß seine große Schwester ihn beinahe nicht verstanden

hatte. Ein zärtliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie drückte seine

eisigen Hände liebevoll.

"Warum denn? Hauptsache, du bist glücklich."

"Die Familie wird mich dafür noch mehr verachten."

"Noch mehr? Ist das denn überhaupt möglich?" scherzte sie, aber ihre Stimme

klang ein wenig traurig. "Mich haben sie auch ausgelacht, als ich diese

Pferdefarm eröffnete. Niemand, außer dir, wollte meinen Michael akzeptieren.

Und, was ist daraus geworden? Ich habe fünfzig glückliche Pferde, einen

liebevollen Ehemann und eine bezaubernde Tochter. Ich bin zufrieden mit mir und

der Welt und würde nie mit jemanden tauschen wollen. Dieses Glück wünsche ich

dir auch, Bruderherz. Um Vater mach' dir keine Gedanken. Er hat sich noch nie

besonders um dich gekümmert und es wird ihn auch jetzt nicht interessieren, wie

du lebst und mit wem." Sie befreite ihre Hände, wuselte durch sein blondes Haar.

"Hauptsache, du kommst mit dir selbst zurecht. Der Rest ist doch vollkommen

egal. Nur deine Träume und Wünsche zählen. Und unser John findet das auch, nicht

wahr, alter Schwerenöter?" Sie ließ Jonas los und spielte mit dem jungen Hund,

der vergnügt zu winseln begann, spielerisch nach ihren Händen schnappte.

"Hab' Dank." Der Zeichner sah ihr nach, wie sie zur Tür ging, diese öffnete. Auf

der Schwelle drehte sie sich um, grinste ihn frech an.

"Du bist wahrlich mein kleiner Bruder." Erklärte sie mit einem Lächeln in der

Stimme. "Du hast eindeutig Geschmack." Sie kniff verschwörerisch ihr rechtes

Auge zusammen, war auf dem Gang verschwunden, um nach ihrer Tochter zu sehen,

die schon längst im Bett liegen und schlafen müßte. Daß Barbara das nie tat, war

ihrer Mutter klar.

Jonas kraulte den jungen Hund geduldig hinter den Ohren, blicke auf das dösende

Tier herab.

"Wir haben beide mächtiges Glück gehabt. Was, John?"

Ein befreiendes Lächeln erschien auf seinem sonst so traurigen Gesicht und er

lehnte sich gegen die Wand.

Das erste Mal, seit er denken konnte, fühlte er sich glücklich.

Beinahe frei...

***

"Bis morgen bitte ich Sie, sich das Thema zehn noch einmal genau

durchzuarbeiten." Der ältere Professor packte seinen Aktenkoffer, während die

Studenten fluchtartig den großen Studiensaal verließen, der mehrere Stufen

umfaßte, bis weit unters Dach des alten Gebäudes reichte.

"Auf Wiedersehen." Meinte der Professor fröhlich, klemmte sich die Aktentasche

unter den Arm und spazierte fröhlich pfeifend aus dem Raum. Die Sonne schien

wieder mit all ihrer Kraft und es versprach, ein wundervoller Nachmittag zu

werden.

Raphael saß noch immer auf seinem Platz, starrte ausdruckslos auf die

aufgeschlagenen Bücher vor sich. Er hatte versucht, dem klugen Professor zu

folgen. Aber es vermochte ihm nicht zu gelingen. Seine Gedanken wanderten

automatisch an einen fernen Ort.

Verdammt!

Der junge Italiener klappte entschieden das Buch zu. Er hatte die Seite bereits

zum fünften Mal gelesen und nicht ein Wort war zu ihm durchgedrungen. Raphael

stützte seine Ellenbogen auf die harte Tischplatte, vergrub sein

sonnengebräuntes Gesicht in seinen eiskalten Händen.

Ich bin so müde!

Die letzte Nacht hatte er kaum geschlafen und all die fröhlichen Studenten

gingen ihm furchtbar auf den Geist. Beinahe hätte er am frühen Morgen einen

Unfall verursacht und er hatte sich gar nicht darüber aufgeregt wie sonst.

Normalerweise regte er sich über jeden Kratzer seines Sportwagens auf, aber

plötzlich war es ihm egal gewesen. Wie so vieles anderes auch.

Irgendwie hatte er gehofft, Jonas würde doch wieder zu seinem Seminaren kommen.

Den halben Vormittag hatte er vor dem Hörsaal des Jurastudiums gestanden und

gewartet. Aber der junge Zeichner war nicht aufgetaucht und Raphael war zu spät

zu seiner eigenen Vorlesung gekommen.

Hast du etwas anderes erwartet?

>Geh', ich will dich nicht. So einfach ist das.< Die Stimme hörte er immer und

immer wieder in seinem Kopf. Wie laut er auch das Radio drehte, er konnte die

gnadenlosen Worte nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Sie begleiteten ihn

ständig. Und der junge Italiener ahnte, daß es sehr lange dauern würde, bis sie

verstummte. Länger als die verachtenden Worte seines Vaters, als er das Haus

seiner Eltern für immer verließ.

Raphael stöhnte leise auf. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war angenehm.

Die Show wird immer beschissener...

Er hörte die eiligen Schritte und jemand stürzte in den Studiensaal. Vermutlich

einer der vielen Studenten, der sein Buch vergessen hatte. Der junge Italiener

achtete nicht darauf. Er hatte bewußt noch keine Freundschaften unter den

angehenden Ärzten geschlossen und niemand hatte ihn großartig beachtet. Nur ab

und an fragte ihn jemand, ob er ihm dies oder jenes erklären könne.

Die Schritte waren irgendwo in seiner Nähe verstummt. Raphael fuhr heftig

zusammen, als er plötzlich zwei Arme spürte, die sich um seinen Oberkörper

schlangen.

"Ich komme immer zu spät, was?" flüsterte eine ihm nur zu bekannte Stimme nahe

seinem Ohr.

Der junge Italiener hob seinen Kopf, sah erstaunt in das lächelnde Gesicht des

kleinen Jurastudenten, das nun gar nicht mehr bleich wirkte. Die dunkelblauen

Augen leuchteten voller Freude, als sich Jonas zu seinem Freund hinab beugte,

ihn lange nachdenklich ansah.

"Es tut mir leid, was ich gesagt habe." sagte er leise, drückte dem sprachlosen

Raphael einen Kuß auf den Mund, musterte ihn einige Augenblicke von oben bis

unten. "Du siehst leicht mitgenommen aus. Liebeskummer?" Das Lächeln wurde eine

Spur frecher.

"Jetzt nicht mehr." Raphael drehte sich auf seinem Stuhl, zog den jungen

Zeichner auf seinen Schoß und legte dessen silberne Brille auf den Tisch. Dann

küsste ihn mit all der Liebe, die er bereits verloren geglaubt hatte. Eine ganze

Weile, in denen für sie die Zeit stehen zu bleiben schien, saßen sie so da,

nahmen nur noch den anderen wahr. Die ganze Welt hatte aufgehört zu existieren.

Nichts interessierte sie mehr, außer der andere.

Das Läuten der Universitätsglocke holte sie aus ihrer eigenen, kleinen Welt

zurück. Stumm sahen sie einander in die verklärten Augen, dann stand Jonas auf

und setzte sich auf den Tisch.

"Bist du dir sicher?" wagte Raphael nach weiteren Augenblicken des Schweigens zu

fragen. Der junge Zeichner, der in dem dicken Medizinbuch geblättert hatte, hob

seinen Kopf und musterte den jungen Italiener überrascht.

"Na klar." Jonas setzte sich die Brille wieder auf die Nase und lächelte Raphael

strahlend an.

Dieses Lächeln hab' ich so schrecklich vermißt!

"Aber viele Menschen werden dich hassen. Du wirst viele Freunde verlieren." gab

der junge Medizinstudent zu bedenken. Jonas zuckte nur leicht seine Schultern.

"Dann sind das keine richtigen Freunde. Nicht alle Menschen sind so engstirnig."

Er neigte leicht seinen Kopf, rückte die Brille zurecht. Die Sonne schien durch

die großen Fenster herein, hüllte ihn ein. Das hellblonde Haar schimmerte leicht

rötlich, stand ein wenig zerzaust von dem Kopf ab. Raphael verspürte den Wunsch,

durch die wilden Strähnen zu fahren. Seinen kleinen Jurastudenten zu umarmen und

nie wieder los zu lassen.

"Lisette meint, ich hätte Geschmack, als ich ihr von dir erzählte. Sie meinte

nur, ihr wäre egal, mit wem ich zusammen sei, Hauptsache, ich bin glücklich."

erklärte er freimütig, war sehr froh darüber, eine so verständnisvolle Schwester

zu haben. Denn sie zu verlieren, das hätte er nicht ertragen.

"Willst du mich denn jetzt?" fragte Raphael und wieder war sein Akzent

unüberhörbar. Die rauhe Stimme klang nun voller Unsicherheit, die

haselnußbraunen Augen musterten den kleinen Jurastudenten beinahe ängstlich.

Jonas sah den jungen Italiener stumm an, unfähig, etwas zu sagen, ohne sinnloses

Zeug zu stammeln. Deshalb nickte er einfach nur, das Lächeln wurde eine Spur

zärtlicher.

"Jonas Hauser! Endlich tauchst du auch mal wieder auf!" ertönte eine

aufgebrachte Stimme von der Tür her. Der junge Zeichner blinzelte verwirrt, hob

seinen Kopf. Das Lächeln erlosch, als er Jürgen erkannte, der entschlossen auf

ihn zu schritt.

"Was zum Geier hast du in deinem Kühlschrank? Das verdammte Ding ist ausgefallen

und nun stinkt es furchtbar." Der rothaarige Informatikstudent lehnte sich gegen

den Kopf, ein Grinsen erschien auf dem runden Gesicht. "Warum mußt du deinen

Kühlschrank auch abschließen. Was hast du denn da so Wertvolles drin, Winzling?"

"Drei Eier und eine halbe Flasche Ketchup." antwortete ihm Jonas wahrheitsgemäß,

worauf Jürgen in Lachen ausbrach. "Und, hast du dein Spiel gewonnen?"

"Schon längst. Mindestens zweihundert Skelette hab' ich pro Level killen müssen,

aber letzten Endes hab' ich doch gesiegt."

Raphael war aufgestanden und packte die Bücher in den Lederrucksack.

"Hast du noch eine Vorlesung?" fragte Jonas und sah ihn nachdenklich an.

"Ja." antwortete der junge Italiener kurz angebunden, fischte seine Sonnenbrille

aus der Hosentasche und verbarg hinter ihnen seine haselnußbraunen Augen.

"Ich hab' auch noch einiges zu erledigen. Bis heute abend." Jonas klang, als

würde er keinen Widerspruch dulden. Raphael nickte, dann verließ er den Hörsaal.

"Gewiß hast du doch ein neues Spiel angefangen, oder?" meinte der junge

Zeichner, aber Jürgen schien ihn gar nicht zuzuhören. Still stand er hinter dem

jüngeren Mann.

"Was willst du denn von dem?" fragte Jürgen und seine Stimme klang mit einem Mal

voller Kälte. "Ich hab' mich mal kundig über den gemacht. Von insgesamt sechs

Universitäten ist er rausgeworfen worden, weil er sich ständig mit seinen

Mitstudenten prügeln mußte. Du solltest dich nicht mit jemanden wie dem abgeben,

Winzling. Der ist 'ne Schwuchtel. Die sind doch alle gleich!"

Jonas, der mit einem Schlag erbleicht war, drehte sich zu dem

Informatikstudenten um, der sein Zimmernachbar gewesen war, seit er das verhaßte

Jurastudium begonnen hatte.

"Aber keine Bange, diese Tunte wird nicht lange hier bleiben. So was wie der

wird nicht an unserer renommierten Uni geduldet."

Der junge Zeichner starrte entsetzt in das rundliche Gesicht des Rotschopfes,

von dem er immer geglaubt hatte, er sei ein Freund. Jeglicher Schalk war aus den

dunklen Augen des Informatikstudents verschwunden, als er zu der Tür hinüber

schaute, durch die Raphael eben gegangen war.

Alles, was Jonas in dem Blick Jürgens noch sehen konnte, waren Ekel und Abscheu.

Und grenzenloser Haß.

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Epilog

Es dämmerte, als Jonas sein Fahrrad gegen die helle Hauswand lehnte und es

abschloß. Behutsam nahm er den großen Beutel vom Gepäckträger, der alles

enthielt, was dem jungen Zeichner lieb und teuer war. Der Rucksack auf seinen

Schultern wog nicht viel. Er hatte nie besonders viele Kleidungsstücke besessen

und Bücher waren immer zu teuer gewesen, als daß er sich mehr als nötig gekauft

hätte. Der Walkman steckte in der dunklen Jacke, die nicht einmal seine eigene

war.

Ich bin wirklich arm wie eine Kirchenmaus.

Aber heute störte ihn dieser Gedanke nicht. Es gab Schlimmeres als arm zu sein.

Unglücklich zu sein. Außerhalb des Feuers zu stehen, wie es Raphael so treffend

gesagt hatte.

Jonas legte seinen Kopf in den Nacken, sah hinauf zu den Wipfeln der hohen

Eichen, die leicht im Abendwind rauchten. Wie friedlich diese Gegend doch war.

So ohne Straßenlärm, umgeben von dem grünen Gürtel der Stadt. Ein richtiges

Vorortflair. Fast so friedlich wie auf dem Bauernhof.

Nur ein Hund fehlt, der mich schwanzwedelnd begrüßt.

Der junge Zeichner rückte seine silberne Brille zurecht, seufzte leise und

betrat das hell erleuchtete Treppenhaus. Die drei Stufen hatte er rasch hinter

sich gebracht, aber vor der Tür blieb er stehen und zögerte. Eine unüberwindbare

Mauer schien sich vor ihm aufzutun. Er wollte den Klingelknopf drücken, aber

sein Arm war wie gelähmt, er konnte sich nicht rühren.

Das wird mein Leben für immer verändern.

Dunkelheit umgab Jonas, als das Licht im Treppenhaus erlosch. Stumm stand er vor

der Tür, starrte sie mit feuchten Augen an, dachte an die häßlichen Worte

zurück, die ihm Jürgen an den Kopf geworfen hatte.

Dann erinnerte er sich an die vielen Worte Raphaels.

Ja, es wird mein Leben für immer verändern. Aber will ich das denn nicht? Dieses

beschissene Leben ändern? Damit es endlich lebenswert wird?!

>Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide Ohren in

dich verliebt.<

Vielleicht war das Wahnwitz. Vielleicht konnte es mit ihnen gar nicht gut gehen.

Jonas runzelte seine Stirn, konnte sich noch sehr gut an Lisettes Hochzeit

erinnern. Wie glücklich sie damals gewesen war! Und wie glücklich sie jetzt noch

wirkte. Manchmal funktionierten Beziehungen einfach nicht. Aber oft genug waren

die Menschen miteinander glücklich. Egal, wie sehr sie die Gesellschaft

verurteilte. Egal, was die Familie auch von dem zukünftigen Schwiegersohn oder

Schwiegertochter hielt, das Wichtigste war doch, daß sich die Menschen liebten.

Bedingungslos liebten...

Vielleicht ist es Wahnwitz, vielleicht werde ich mit ihm glücklich.

Jonas holte tief Luft und die Sperre verschwand. Entschlossen lehnte er sich vor

und drückte den Klingelknopf. Das Ding-Dong durchriß die seltsame Stille des

Treppenhauses, ließ den jungen Zeichner zusammenfahren.

Ich werde es nie herausfinden, wenn ich weiterhin davor weglaufe.

Raphael trug einen dunklen Bademantel, seine Haare fielen in nassen Strähnen auf

seine Schultern. Die haselnußbraunen Augen musterten den kleinen Jurastudenten

erstaunt.

"Du bist ganz schön spät dran. Ich dachte schon, du hast es dir anders

überlegt." gab der junge Italiener leise zu, trat einen Schritt zur Seite, um

den jüngeren Mann herein zu lassen.

"Quatsch!" wehrte Jonas ab, stellte vorsichtig den großen Beutel in den Flur.

Als er sich wieder zu Raphael umdrehte, war sein Gesicht stark gerötet.

"Ich will dir ja nicht auf den Geist gehen, aber..."

"Du hast es Jürgen erzählt." sagte der junge Italiener, als er erkannte, daß der

Beutel die Bilder des kleinen Jurastudenten beinhalteten. Alle Bilder.

"Ja." Jonas schloß seine Augen, ließ zu, daß Raphael ihn sanft umarmte.

"Daraufhin war die Hölle los." Der junge Zeichner lachte kurz auf, es klang

traurig. "Ich hab' meine Siebensachen geschnappt und bin gegangen. Jürgen, der

immer mit mir gescherzt und von seinen neuesten Computerspielen erzählt hat,

schien mächtig froh zu sein, mich nie mehr wiedersehen zu müssen. In seinen

Augen war ich das letzte Stück Dreck." Jonas ließ seinen Kopf hängen, seine

Stimme wurde immer leiser. "Er kannte mich seit über zwei Jahren, aber zwei

Sekunden haben gereicht, um mich zu hassen."

"Es tut mir leid, Jonny. Das hätte ich dir gern erspart." Raphael drückte den

kleinen Jurastudenten sanft an sich, seufzte unterdrückt.

"Es gibt Schlimmeres." antwortete Jonas und wußte plötzlich, daß dem auch so

war. Er würde sich nicht lange über Jürgen oder all die anderen Menschen ärgern,

die ihn nicht verstanden. Nicht verstehen wollten. Es gab Wichtigeres für ihn

ihm Leben. "Zum Beispiel die quälende Frage, wo ich heute nacht hin soll." Jonas

sah auf und blickte geradewegs in die haselnußbraunen Augen des jungen

Italieners, die so unendlich tief wirkten.

"Ich will ja nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber kann ich heute auf deiner

Couch übernachten? Bis ich eine neue Bleibe gefunden habe?" fragte er und wurde

noch röter.

"Du siehst niedlich aus, wenn du errötest." flüsterte Raphael, drückte seinem

kleinen Jurastudenten einen kurzen Kuß auf den Mund. "Das Gästezimmer sei dein.

So lange, wie du es brauchst." Ein weiterer Kuß, dann ließ ihn der junge

Italiener los.

"Willst du heute etwas zu essen haben oder wieder nur Kamillentee?" fragte

Raphael, spielte bewußt auf die Nacht an, die Jonas in seiner Trunkenheit

vergessen hatte. "Keine Bange, Eier kann ich noch braten."

"Okay." Der junge Zeichner sah dem jungen Italiener nach, der das Wohnzimmer

betrat, und rückte die silberne Brille zurecht.

Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Aber ich werde nie glücklich werden, wenn

ich mein ganzes Leben lang außerhalb des Feuers stehe.

Er dachte an Jürgen. Bestimmt würde er sich noch öfter verbrennen und es würde

mehr als einmal weh tun, einen Menschen wegen der dummen Vorurteile zu

verlieren, der unter anderen Umständen vielleicht ein guter Freund geworden

wäre. Dann dachte er an Raphael und wußte, daß es das wert war.

Nein, ich will nicht zu all den anderen Menschen gehören, die eines Tages auf

ihr Leben zurück blicken und erkennen müssen, daß sie so viele Chancen versäumt

haben.

Bestimmt würde er noch viele Dummheiten machen, so manche unüberlegte Tat

bereuen.

Diese Entscheidung werde ich nie bereuen.

Dessen war er sich mit einem Mal sicher.

Jonas lächelte sanft, als er seinem Raphael folgte,
 

Ende
 


 

28.03.00 - 06.04.00

Disclaimer: Das Lied >Outside The Fire< gehört Garth Brooks und nur Garth Brooks

allein. Ich habe es mir ausgeliehen, weil es einfach so gut paßte. Ich denke, er

würde mir verzeihen. Dafür gehört diese Geschichte nur mir allein!

Ich weiß, daß ich nur ein Mädchen bin und es in meiner Kurzgeschichte mehr um

die Gefühle von Jungs geht. Aber nachdem ich das Lied gehört und einige nette

Personen schimpfen gehört hatte, hat mich die Kurzgeschichte einfach nicht mehr

losgelassen. Ich mußte sie einfach schreiben.

Wer schön, wenn mir irgendein Leser mailen würde, wie sie ihm gefallen hat:

aprileagle@freenet.de (oder wie sehr er sie gehaßt hat, ich nehme auch Kritik

entgegen).

Thanks!



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Kommentare zu diesem Kapitel (13)
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Von:  dasy
2023-03-19T21:45:10+00:00 19.03.2023 22:45
Wow. Das ist die älteste Shonen-Ai-Geschichte zum Thema "Eigene Serie". Und diese Deine Geschichte ist richtig richtig gut.
Die Perspektivwechsel, die Gefühle, das gesamte Chaos... richtig gute Geschichte!
Von: abgemeldet
2006-06-24T11:02:20+00:00 24.06.2006 13:02
hi. coole story. is schon sehr lange her, dass ich sie gelesen habe, aber ich bin irgendwie nie dazu gekommen, ein kommi zu schreiben. *schäm*
also die story is echt gut, gefällt mir super.
das is aber auch wirklich ein gutes thema.
in der story hast du alles gut beschrieben, gefühle und so kamen super rüber, und meine gefühle haben sich angepasst, ich war traurig und am ende dann voll happy.^^
Also, gefällt mir echt super.
Awis
Von: abgemeldet
2004-09-01T20:28:06+00:00 01.09.2004 22:28
*sprachlos is* super! wie du die situationen beschriebn hast, wow!auch der kerngedanke und hintergrund der story is super! ich liebe deine ff^^
cya, susui
Von:  AlitaMacabreYoko
2002-07-26T19:03:16+00:00 26.07.2002 21:03
He wolt dich auch nur mal loben. Ich muss sagen das mir der Stil deiner Geschichte gut als Vorlage dieht, und mir hilft meinen eigenen stil zu verbessern. Ich muss sagen ich habe das ganze richtig verschlungen, und voralem wie du dieses Sozialkritische Theme ausgebaut hast, wirklich fabelhaft!!!! Ganz ganz großes Lob
Von:  aprileagle
2002-02-19T10:59:16+00:00 19.02.2002 11:59
Hallo Petra,

danke schön für Deinen lieben Kommentar. Das ist einfach meine Art und Weise, mich mit Sachen auseinander zu setzen, die mich bewegen: Ich schreibe darüber ^-^. Wenn sie jemand anfängt, aber nicht weiter liest, weil er das Thema nicht gut findet, so ist das seine Sache, nicht die meine.

Hm... weitere Geschichten. Das auf jeden Fall. Zu dem Thema? Bestimmt. Auf Deutsch? Ich werde mir Mühe geben, ja?

Ich bedanke mich auf jeden Fall fürs Lesen und daß Du die Geschichte so verstanden hast, wie ich sie rüberbringen wollte. Das freut mich!

April
Von: abgemeldet
2002-02-16T22:15:35+00:00 16.02.2002 23:15
Diese Geschichte ist so schön

Vorallem die Gefühle der beiden die du so genial beschreibst wie überhaupt in vielen deiner Geschichten.

Und dabei nicht irgendwie übertrieben oder so sondern einfach gefühlvoll und mit der richtigen Masse an Humor.

Auch ist sie eine Geschichte zum Nachdenken man erwartet am Anfang wenn man den Titel liest einfach nicht so eine schöne und gefühlvolle Geschichte über ein Thema welches zur jetzigen Zeit von vielen Menschen immer noch Tod geschwiegen wird oder die solche Menschen als Abartig bezeichnen, allein durch das gewählte Thema regt sie zum Nachdenken an und ich denke auch das viele die Geschichte nicht weiterlesen können wenn sie bemerken um was sie sich dreht denn sie können und wollen es oftmals auch nicht verstehen, darum finde ich es schön das du dieses Thema aufgegriffen hast

Und es würde mich freun wenn man noch mehr solcher Geschichten von dir liest auch in Deutsch.
Petra

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"Vergiß oh Menschenseele, nicht, daß du Flügel hast."-> Emanuel Geibel
Von: abgemeldet
2001-10-12T11:06:08+00:00 12.10.2001 13:06
Das was über deine storie zu sagen ist vielleicht gesagt .
Vielleicht aber auch nicht.Du hast zwar schon angedeutet was dich inspiriert hat sie zu schreiben .aber vielleicht könntest du noch mehr über dich erzählen .Das würde sicher einige interessieren.Ich konnte irgendwie deine e mail addi nicht finden.Undzwar suche ich so talentierte schreiber wie dich für ein manga projekt.Was das zeichnen betrifft bin ich schon soweit.Ich brauche nur noch jemanden der gute stories schreibt.Am besten weniger fantasy und mehr vom real live.Aber erstmal ist das nebensächlich.wenn du also interesse hast dann schreib mir bitte:Bagi16@aol.com
Jonni
Von: abgemeldet
2001-04-16T12:59:21+00:00 16.04.2001 14:59
Also: Ich find deine Story total klasse!!! Schreib noch ein bisschen was dazu, bau sie noch ein bisschen aus, schick es einem Verlag und bring es als Buch raus!!!!!!!!! Ich möchte dann ein persönlich signiertes Exemplar haben *g*. Aber nein, jetzt mal im Ernst, wie die andern vorher schon gesagt haben kann man sich sehr gut in die jeweiligen Situation hineinversetzen und das ist etwas was mich sehr anspricht sie ist einfach wunderschön!!! Ihc musste zwei Tage dran lesen, ich fand das garnicht gut, dass ich schlafen gehn musste, weil ich am nächsten Tga Schule hatte, aber sie ist echt GENIAL!!!!
Bye Sternschen
Von: abgemeldet
2001-03-27T18:38:10+00:00 27.03.2001 20:38
@ beatrice: Nichts gegen ein Bisschen übersetzen, aber April's Stories sind mir doch etwas zu lang... Diese hätte ich vielleicht noch übersetzt *g*
@ april: Hach, ich lese deine langen Geschichten einfach zu gerne...
Von: abgemeldet
2001-03-26T17:35:46+00:00 26.03.2001 19:35
Wie kann man nur so gut schreiben? Wie du die Situationen beschreibst und überhaupt, die ganze Geschichte! Einfach genial!
Bitte schreib einfach nocht weiter so gute Stories! Da ich leider erst im ersten Englisch Jahr der Schule bin, bringe ich es nocht nicht fertig deine Englischen Geschichten zu lesen. Ich hoffe dass du bald wieder ne deutsche Fanfiction schreibst! (es sei denn Orion übersetzt mal wieder... *smile*)
Beatrice


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