"We call them fools
Who have to dance within the flame
Who chance the sorrow and the shame
That always comes with getting burned.
But you got to be tough when consumed by desire.
'Cause it's not enough just to stand outside the fire!"
Garth Brooks
Die eigentliche Bedeutung des Liedes "Standing Outside The Fire" ist eine
andere, aber ich denke, der Inhalt ist auch auf meine Geschichte übertragbar.
Denn es gibt neben geistig- und körperlich Behinderten auch andere Menschen, die
es sich nicht getrauen, so zu sein wie sie sind, weil sie Angst vor der
Gesellschaft haben. Vor einer Gesellschaft, die sie als abnormal hinstellt ohne
sich darüber im klaren zu sein, wie -normal- ihre eigenen Moralvorstellungen
überhaupt noch sind.
Mein besonderer Dank gilt Markus, der mir mit Begriffen wie "Tunten",
"Schwuchteln" und "Schlampen" gezeigt hat, wie die meisten Menschen über andere
denken, die nicht der aktuellen Norm entsprechen. Ohne ihn hätte ich wohl nie
über das Thema nachgedacht.
Vielleicht merkst Du ja auch einmal, was es bedeutet, außerhalb des Lebens, des
eigentlichen Feuers, zu stehen. Vielleicht begreifst Du eines Tages, daß alles
was zählt, die Gefühle sind. Gefühle und keine großen Sprüche. Denn die bringen
niemanden weiter.
Außerhalb des Feuers
By April Eagle
Prolog
Ganz langsam entstand unter seinen geduldigen Händen ein Bild.
Der junge Mann hielt kurz inne, betrachtete mit seinen blauen Augen die Frau
eine Zeit lang ganz in Gedanken versunken, rückte seine silberne Brille zurecht.
Die Frau war alt, schon weit über die Siebzig. Was sie trug, entsprach schon
lange nicht mehr der aktuellen Morde, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das
dunkle Kleid mochte ihr bereits seit vielen Jahren gute Dienste leisten.
Vermutlich seit dem Tod ihres Mannes. Das graue Haar hatte sie im Nacken zu
einem Knoten aufgesteckt. Sie sah bemitleidenswert aus - auf den ersten Blick.
Denn wer sich die Zeit nahm und genauer hinsah, der konnte das Leuchten in ihren
Augen sehen. Sie wirkten nicht leer, wie man das erwartet hatte, sondern waren
voller Leben. Was immer diese Frau auch durchlitten haben mochte, welche
Entbehrungen sie im Laufe des zweiten Weltkrieges auch hatte hinnehmen müssen,
sie hatte nicht aufgegeben. Fröhlich lachte sie dem Schicksal ins Gesicht.
An einem kleinen Stand hatte sie sich eine Roster gekauft und teilte diese mit
einem Hund, der brav vor ihr Sitz gemacht hatte und erwartungsvoll zu ihr
aufsah. Es war ein sehr großer Hund. Einer von den Zotteligen mit den großen,
treuen Augen. Sein Fell war von heller Farbe, fast so hell wie ihre Haare. Er
reichte ihr beinahe bis zur Hüfte, wenn er saß.
Wie ungleich sie doch wirkten! Die alte, kleine Frau mit dem jungen, großen
Hund! Einige Passanten sahen die beiden kurz an, gingen dann kopfschüttelnd
weiter. Für sie war klar, daß sich die alte Frau besser einen Pudel angeschafft
hätte.
Der Hund war doch viel zu gefährlich für sie! Sie konnte ihn doch niemals
halten, wenn er ausbrach oder sie gar anfallen sollte! Dieses Tier war doch viel
zu temperamentvoll für eine solch gebrechliche Frau! Es würde sie zu Tode
schleifen, wenn es den Drang verspürte, hinter einer Katze her zu jagen, und sie
die Leine nicht rechtzeitig los ließ! Wie konnte es diese Frau sich nur
erlauben, so ein Riesenvieh zu halten! Wo schlief das Monster überhaupt?! Doch
nicht etwa in der Wohnung?! Diese Tierquälerin!!!
Der junge Mann lächelte, warmer Frühsommerwind fuhr durch seine hellblonden
Haare, die im sanften Sonnenlicht rötlich schimmerten. Er bemerkte die Passanten
nicht. Weder ihre abfälligen Bemerkungen noch die abschätzenden Blicke wurden
ihm bewußt. Alles, was er sah, war die Liebe, die zwischen der alten Frau und
dem großen Hund bestand. Bedingungslose Liebe.
Die beiden wußten, was sie aneinander hatten. Jeder brauchte den anderen. Würde
die alte Frau eines abends einschlafen und nicht mehr aufwachen, so würde der
Hund ihr folgen. Und sollte der Hund von einem Auto überfahren werden, so würden
die Nachbarn sie am nächsten Morgen tot in ihrem Bett finden.
Wie seltsam sie äußerlich auch wirkten, sie waren glücklich miteinander. Sie
brauchten sonst niemanden auf dieser Welt. Nur sich selbst. Bindungslose
Liebe...
Der junge Mann seufzte leise, dann sah er zurück auf den Zeichenblock auf seinen
Knien. Geduldig fuhr er fort in seiner Arbeit. Er wollte diesen Moment
festhalten. Einen Moment der Ewigkeit, der so rasch vergangen sein würde wie ein
Wimpernschlag. Wie eine Kerze im Wind erlosch...
Der junge Mann konzentrierte sich wieder auf seine Zeichnung und bald fuhr der
Bleistift mit einer Leichtigkeit über das Papier, daß es wirkte, als wolle er es
streicheln. Der Zeichner hatte sanfte, fast weiche Gesichtszüge, die immer ernst
waren. Nun wirkten sie entspannt, fast fröhlich. Er war klein für sein Alter,
hatte sich aber damit abgefunden, daß er nicht mehr wachsen würde. Mit nicht
einmal einem Meter achtzig waren seine Mitstudenten immer größer als er.
Insgesamt war er zierlich gebaut, was seine Dürre unterstrich. Seine Schwester
ermahnte ihn schon viel zu oft, daß er nicht genügend aß, aber er vergaß es
schlicht. Viele Menschen, die ihn nicht kannten, verwechselten ihn häufig mit
einem Schüler, obwohl er bereits seit einigen Semestern studierte. Letzten
Winter war er 21 geworden, aber immer wurde er jünger geschätzt. Gut, er konnte
meist verbilligt Straßenbahn fahren, aber es nervte doch gewaltig, wenn er in
fast jedem Supermarkt seinen Ausweis vorzeigen mußte, nur weil er seinem
Internatsnachbarn eine Flasche Bier mitnahm.
Viele Menschen eilten an ihm vorbei, aber er nahm sie nicht wahr. Es waren junge
Menschen, die das Universitätsgebäude betraten oder es verließen. Der Zeichner
saß davor auf den hellen Stufen. Seine Lippen bewegten sich stumm zu der Musik
in seinen Ohren. Unbewußt sang er die Worte seines Lieblingssängers.
Er hörte weder den Lärm der nahen Straße noch das Rauschen der Bäume des Parks,
der das alte, weiße Gebäude umgab. Hell schien die Frühsommersonne durch die
grünen Wipfel, Schatten tanzten auf der Treppe und den Wiesen rings um ihn
herum. Anders als die anderen Studenten seines Jahrganges trug er legere
Kleidung: Eine ausgewaschene Jeans, ein weißes Kapuzensweatshirt und bequeme
Turnschuhe. Sein dunkelblaues Fahrrad war gegen das Geländer gelehnt, daneben
stand sein schwarzer Rucksack, der fast alles enthielt, was ihm wichtig war.
Die alte Frau gab dem Hund ein weiteres Stück Wurst und der Schwanz des Tieres
wedelte um so freudiger.
Es ist schön, daß es auch noch solche Wesen gibt. Ohne Neid. Ohne Haß. Ohne
Zwang...
Der junge Mann seufzte, unbewußt, schob die Brille zurecht, begann dann, das
faltige Gesicht der Frau zu straffieren.
Ja, es war voller Falten. Aber es war auch voller Freude.
Beneidenswert...
Erneut versank er in seiner Zeichnung, vergaß die Welt um sich herum, als er in
seine eigene eintauchte, die viel friedvolle war. Viel wärmer als die kalte
Realität. Viel stiller. Viel verständnisvoller...
Ja, hier konnte er derjenige sein, der er wirklich war: Ein junger Mann voller
Hoffnungen und Träume. Hier konnte er Dinge sehen, die andere Menschen schon
längst vergessen hatten. Das Gähnen einer erwachenden Blume, die sich im
Frühjahr dem warmen Himmel entgegenstreckte. Die neckischen Sonnenstrahlen des
Sommers, die das grüne Gras kitzelten. Das Lachen des fröhlichen Laubes, wenn
der Herbstwind mit ihm durch die Lüfte tanzte. Der leise Atem der Flüsse, wenn
sie im Winter unter dicken Eisdecken schliefen. In dieser Welt. Konnte er den
Regen weinen, den Sturm toben und die Schneeflocken leise säuseln hören. Wenn
Wattewolken am Himmel entlang zogen, konnte er ihre Worte verstehen. Sie riefen
ihn, wollten ihn in all die fremden Länder mitnehmen, die er noch nie gesehen
hatte, die ihnen jedoch so vertraut waren. Wenn er ihren Erzählungen lauschte,
sah er die schönsten Landschaften vor sich. Er mußte sie auf Papier festhalten.
Deshalb trug er den Block stets bei sich. Die Zeichnungen waren seine
Erinnerungen an ein andres, an ein besseres Leben. An ein freieres.
Es waren nur wenige Bleistiftstriche, aber sie gaben ihm Hoffnung, wenn er in
die kalte Realität zurückkehren mußte. Sie gaben ihm das Gefühl, daß er nicht
allein war.
Der junge Mann wirkte äußerlich wie viele andere Studenten auch. Aber in seinem
inneren war er etwas Besonderes. Denn er hatte sich ein Talent behalten, das die
meisten Menschen abstießen, wenn sie erwachsen wurde. Das Talent zu träumen.
Ein dunkler Sportwagen fuhr vor, stellte sich direkt vor den Eingang der
Universität. Der Fahrer musterte kurz das Parkverbotsschild, tat es mit einem
Achselzucken ab. Es surrte, als das Verdeck geschlossen wurde. Einige Studenten
drehten sich nach dem teuren Auto um. Manche von ihnen nickten anerkennend,
andere wandten ihren Blick neidisch ab.
Ein junger Mann Mitte zwanzig stieg aus. Er trug einen dunklen Anzug, der
vermutlich maßgeschneidert war. Kurz lehnte er sich gegen die geschlossene Tür
des Wagens, schob die Sonnenbrille in das pechschwarze Haar, das bis auf seine
Schultern langte und das er im Nacken zusammengebunden hatte. Seine braunen
Augen betrachtete das alte Universitätsgebäude, das noch aus den düsteren
Jahrhunderten des Mittelalters stammte, skeptisch. Ein resignierender Ausdruck
schlich sich in sein sonnengebräuntes Gesicht und er schürzte seine Lippen. Es
würde ihm hier nicht besser ergehen als an den anderen Universitäten auch, die
er bereits besucht hatte. Die Menschen waren überall gleich. Auch hier. Das
wußte er. Und daß sich in dieser Stadt etwas ändern würde, daran glaubte er
nicht mehr. Diese verrückte Hoffnung gab er auf, als er die zweite Hochschule
verlassen mußte.
Der junge Mann ergriff seinen dunklen Lederrucksack, der neu in der Sonne
glänzte und schloß seinen Wagen mit einem leichten Knopfdruck auf seinen
Schlüsselbund ab. Es piepte kurz und die Warnblinker erhellten sich für einige
Augenblicke. Dann schulterte er seinen Rucksack, drehte sich zu dem alten
Gebäude um und eilte die Treppe hinauf. Seine Augen funkelten nun in wilder
Entschlossenheit.
Er kannte sein Ziel. Und er würde alles tun, um dieses zu erreichen. Welche
Steine ihm auch dieses Mal in den Weg gelegt werden würden, er würde sich nicht
unterkriegen lassen.
Mit einer entschiedenen Bewegung schob er die Brille wieder auf die Nase,
verbarg somit seine Gefühle vor den Blicken anderer. Gefühle waren ihm kaum
anzusehen, außer wenn man ihm direkt in die Augen sah. Deshalb trug er beinahe
immer seine Sonnenbrille. Sonst war er ein guter Schauspieler. Sein Vater einmal
gemeint, er solle doch zum Film gehen. Wütend hatte er es ihm bei einem Streit
an den Kopf geworfen. Daraufhin hatte der junge Mann das Haus seiner Familie
verlassen und war seit jenem Abend nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Aber er
brach den Kontakt nicht völlig ab. Nein, so einfach machte er es ihnen nicht!
Der junge Mann strich sich mit einer unbewußten Bewegung eine Strähne seines
glatten, aber dennoch widerspenstigen Haares hinter die Ohren. Sein Vater war
auch nicht begeistert von seiner Idee gewesen. Aber seit er ein kleines Kind
war, besaß er diesen Traum tief in seinem Herzen. Und wer würde ihn sich
erfüllen, dessen war er sich sicher. Nein, er würde sich nicht den Meinungen
anderer beugen.
Er hatte schon genug Leute gesehen, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, sich
durch den Alltagstrott zu schleppen. Ohne Freude, ohne Glück. Viele opferten
sich für andere Menschen auf, die ihrer Mühen gar nicht wert waren. Viele
rannten hinter Illusionen her, die wie Seifenblasen zerplatzten, wenn sie sie
endlich erreichten. Viele gaben ihre Träume, ihre Hoffnungen für falsche
Wertvorstellungen auf. Sie alle standen außerhalb des ewigen Stromes, nahmen
nicht am wahren Leben teil. Aus Angst vor dem Fall. Aus Angst, daß niemand sie
auffing. Aus Angst, zu nah an das wahre Leben heranzutreten. Aus Angst, sich an
dem Feuer der Leidenschaft zu verbrennen. Der Leidenschaft, frei und glücklich
zu sein.
Also blieben sie auf ihren beschränkten Plätzen, sahen von außen neidisch in die
Flammen. Unzufrieden bis zu ihrem Tod.
Der junge Mann wollte nicht zu jenen armseligen Menschen gehören. Niemals!
Eine Windböe fuhr durch den Park. Schatten tanzten auf dem leuchtenden Grün der
Wiese, leise rauschten die dichten Wipfel der alten Eichen. Vögel zwitscherten
freudig um die Wette. Die Passanten schlenderten durch die nahe Einkaufspassage.
Hier und da hupte ein ungeduldiger Autofahrer. Die Stadt war voller Leben. Junge
Studenten eilten die Treppe hinauf, saßen rings im Park. Sie lachten, erzählten
aufgeregt oder lernten aus abgegriffenen Büchern oder losen Heftern. Ab und an
bellte ein Hund.
Der junge Mann nahm den Trubel nur flüchtig wahr. Der Wind fuhr durch sein
schwarzes Haar und erneut strich er die widerspenstige Haarsträhne hinter seine
Ohren, blieb dann mitten in der Bewegung stehen.
Beinahe wäre er über den Jungen gestolpert, der still auf den Stufen saß,
scheinbar ausdruckslos vor sich hin starrte. Gerade wollte er ihn anfahren, er
solle doch woanders herum hängen, als er die Stöpsel in den Ohren sah. Der Junge
hörte ihn nicht, nahm sonst auch nichts wahr.
"He..." Er beugte sich leicht über den Jungen, sah auf die Zeichnung auf dessen
Knien. Auf dem weißen Papier konnte er eine alte Frau erkennen. Ihr Gesicht war
runzelig, sie bedachte einen großen Hund zu ihren Füßen mit einem faltigen
Lächeln.
Anerkennend hob der junge Mann eine Augenbraue, sah auf, als er das fröhliche
Bellen gegenüber hörte. Dort stand die alte Frau, warf gerade eine Servierte
weg, kraulte die Ohren des großen Hundes und verließ den Park. Sie brauchte
keine Leine. Das Tier würde ihr folgen - wo immer sie auch hin ging.
Leicht runzelte der junge Mann die Stirn, blickte zurück auf das weiße Papier,
das wie durch Zauberhand zu leben begonnen hatte. Die dunklen Augen der Frau
leuchteten und er vermeinte regelrecht, das aufgeregte Hecheln des Hundes hören
zu können. Ihr Blick strahlte noch etwas aus außer purer Lebensfreude. Ein
Gefühl, das der junge Mann gar nicht gesehen hatte, als sie den Park verließ.
Aber auf dem Papier war es offensichtlich. Ja, diese alte, gebeugte Frau, deren
Haar ergraut und deren Gesicht mit Falten übersät war, liebte dieses Hund. Und
das große Tier verehrte sie ebenso. Keiner von ihnen könnte ohne den anderen
existieren...
Der junge Mann blinzelte, sah dann in das bleiche Gesicht des Zeichners, der
konzentriert auf das Bild starrte. Seine Hände glitten geschickt über das
eintönige Weiß, formten mit Hilfe des Bleistiftes ein Bild, das Außenstehenden
vermutlich für immer verborgen geblieben war. Die blauen Augen funkelten im
Eifer. Er schien nichts um sich zu bemerken, war völlig in seine Arbeit
vertieft. Kurz hob er seine freie Hand, um die silberne Brille zurecht zu
rücken, sah aber nicht auf. Der Wind fuhr durch seine kurzen Haare und er
blinzelte geblendet, als die Sonne durch die Wipfel brach. Aber er hörte nicht
auf zu zeichnen. Das Bild schien das einzige zu sein, das für ihn existierte.
Ein Lächeln erschien auf dem jugendlich Gesicht, die Wangen färbten sich
rötlich, während er die Augen des Hundes straffierte. Große, treue Augen, die
nicht lügen konnten...
Unbewußt schob der junge Mann seine Sonnenbrille zurück auf die Nase, denn er
hatte sich zu tief hinab gebeugt, sie beinahe verloren. Einige Momente überlegte
er, ob er den Jungen stören sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Der
Zeichner könnte sonst seine schönen Gedanken an die alte Frau verlieren, das
Bild nicht beenden. Das wollte der junge Mann nicht.
Auch, was hätte er ihm sagen sollen? Sich vorstellen? Als Neuling, der nicht
wußte, wo er hin sollte?
Unsinn!
Dennoch fand er es irgendwie schade, daß der Zeichner ihn nicht bemerkte. Aus
irgendeinem Grund hätte er ihn gern kennengelernt.
Komm! Sie auf! Sieh mich an!
Aber der Junge sah nicht auf, zeichnete unbeirrt weiter, formte stumm ungehörte
Worte irgendeines Sängers.
Der junge Mann seufzte, fragte sich verwirrt, warum er sich mit einem Mal so
traurig fühlte. Warum erinnerte ihn gerade dieser Junge, daß er allein war?
Wieso spürte er in seiner Nähe die Einsamkeit, die er immer so gut verneinen
konnte? Sonst konnte er sich selbst sehr gut belügen.
Daß ihn all die haßerfüllten Blicke seiner Mitmenschen nicht interessierten. Daß
er sich nicht weiter um seine konservative Familie scherte. Daß er mit seinem
Leben so zufrieden war, wie die alte Frau auf dem Papier...
Der junge Mann schulterte seinen Rucksack erneut, sah ein letztes Mal in das
entspannte Gesicht des Zeichners.
Egal, Hauptsache, er stand nicht außerhalb des Stromes.
Alles, was zählt, ist mein Traum!
Mit energischen Schritten eilte er die Stufen empor, verschwand in dem dunklen
Inneren des großen Gebäudes.
Sein Traum war das Wichtigste in seinem Leben. Wegen ihm würde er sich niemanden
unterordnen. Nein, nie würde er sich deswegen ändern, sich selbst verleugnen.
Belügen ja, aufgeben nein! Was blieb noch, wenn er selbst nicht mehr im Spiegel
erkannte? Er würde seinen Traum verwirklichen, trotz all der haßerfüllten
Blicke, trotz all des Mißtrauens. Trotz all der Unverständnis.
Es gab bereits genug Menschen, die außerhalb des Feuers standen...
Die große Uhr der nahen Kirche schlug laut und kräftig. Einige Vögel flogen
erschrocken in den wolkenlosen Himmel, zwei blaue Augen blinzelten verwirrt.
Der junge Mann legte den Stift beiseite, zog die Stöpsel aus seinen Ohren,
lauschte dem dumpfen Klingen der Glocken einige Momente, sah verwundert auf
seine Armbanduhr und fluchte erschrocken. In Windeseile schlug er den Block zu
und sprang die Stufen zu seinem Fahrrad hinunter.
Trotz aller Eile steckte er das Papier mit äußerster Sorgfalt in den Rucksack.
Es durfte nicht knicken.
Kurz überprüfte er, ob sein Fahrrad auch abgeschlossen war, rannte dann die
Treppe empor.
Verdammt, warum muß ich immer zu spät kommen?
Er fluchte erneut, als er strauchelte und die letzten drei Stufen die Treppe
hinauf flog.
"Jonas, du alter Dussel!" rief ihm ein anderer Student zu, grinste breit.
"Kommst du wieder einmal zu spät?"
"Klar, genauso wie du, Michael. Oder hast du heute kein Bio?" Jonas lächelte,
als der andere Student erbleichte und nun ebenfalls zu rennen begann.
"Viel Glück beim Prof!"
"Danke." Jonas wischte sich die dreckigen Hände geistesabwesend am weißen
Sweatshirt ab, verschwand dann ebenfalls im Inneren der Universität.
Als sich die Tür hinter ihm schloß, verstummten die Glocken der evangelischen
Kirche und die Tauben kehrten auf die Zinnen des gotisch gebauten Gotteshauses
zurück. Leise gurrten sie und beobachteten, wie eine alte Frau glücklich
lächelnd durch die engen Gassen unter ihnen schlenderte. Ein großer, hellgrauer
Hund wich nicht von ihrer Seite.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
"Guten Morgen, Herr Hauser. Es ist wirklich nett von Ihnen, daß Sie uns mit
Ihrer Anwesenheit beehren." Der Professor drehte sich nicht um, schrieb
seelenruhig weiter an die schwarze Tafel.
Jonas zuckte bei dem spöttischen Ton leicht zusammen, zog leise die Tür hinter
sich ins Schloß.
Ich..." versuchte er zu erklären, rückte nervös seine Brille zurecht, sah sich
kurz in dem verhältnismäßig kleinen Raum um. Dieses Seminar wurde von nur etwa
20 Studenten seiner Studienrichtung besucht. Alle anderen hielten es für
langweilig oder schlicht für überflüssig. Nur ein harter Kern, der die angeblich
tote Sprache mochte oder sie für seinen Abschluß als notwendig erachtete, hielt
durch. Die meisten Jugendlichen waren nach den Grundsemestern gegangen.
Jonas kannte die wenigen Studenten beim Namen, trafen sie sich doch jede Woche
einmal. Und das seit über zwei Jahren.
Gerade wollte er sich unter weiteren Ausflüchen zu seinem Platz begeben, als er
das fremde Gesicht unter den vertrauten sah.
Seine Stumme wurde immer leiser, bis sie in unverständliches Murmeln überging.
Wie hypnotisiert starrte er in haselnußbraune Augen in einem von der Sonne
gebräunten Gesicht. Er konnte sich nicht mehr bewegen, war wie erstarrt. Es
schien ihm, als würden sie ihn durchbohren, bis in das Innerste seiner Seele
schauen. Der Blick beinhaltete etwas, das Jonas nicht bestimmen konnte, das ihn
aber berührte.
Sonnenlicht schien durch das offene Fenster, verfing sich in den pechschwarzen
Haaren. Eine Strähne löste sich aus dem Zopf, fiel in ein nun sanft lächelndes
Gesicht. Der junge Mann hob in Gedanken versunken seine feingliedrige Hand und
strich sie in einer unbewußten Geste hinter die Ohren.
Jonas Finger zuckten und er verspürte den Wunsch, seinen Block hervorzuholen und
dieses Bild festzuhalten. Gleichzeitig wußte er, daß er diesen Moment nie
vergessen würde. Er hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt. Die Zeichnung
konnte er auch in seinem Zimmer anfertigen. Wenn er Zeit und Ruhe hatte. Wenn
ihn keine neugierigen Blicke beobachteten. Wenn er das zeichnen konnte, was er
sah, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen.
Wenn er seine Gedanken frei umherstreifen lassen konnte auf der Suche nach
Antworten. Auf Fragen, die er sich selbst nie gestellt hatte. Die er nicht
kannte. Nicht kennen wollte.
Der junge Mann runzelte leicht seine Stirn, ein fragender Blick mischte sich in
die haselnußbraunen Augen.
Jonas blinzelte, tauchte langsam aus seiner Welt auf, die ihn so plötzlich
umgeben hatte. Das geschah ihm immer. Mit einem Schlag vergaß er alles um sich
herum, nahm nur noch das Bild vor sich wahr. Alles war unwichtig, nur seine
Gefühle zählten noch. Instinktiv zeichnete er, was er sah, blühte in dieser
Tätigkeit auf.
In ihr konnte er frei sein.
"Ihre Ausflüche will ich gar nicht hören, Herr Hauser." Sagte der Professor,
holte ihn mit seinen strengen Worten endgültig i die Realität zurück. Jonas
blinzelte ein weiteres Mal und erst jetzt konnte er den Blick von den tiefen
Augen lösen. Verwirrt sah er seinen Professor an. Waren wirklich nur wenige
Sekunden vergangen? Ihm waren diese Momente wie eine Ewigkeit erschienen. War
die Zeit nicht stehen geblieben? War er nicht in den haselnußbraunen Augen
ertrunken?
Wer bist du?
Jonas konnte die Frage hören. Sie war lauter als die Stimme des Professors, als
das Lachen der Schüler. Als das Rauschen der Blätter vor dem offenem Fenster.
"Na, Jonas. Du willst wohl einen neuen Rekord im Zuspätkommen aufstellen!"
spöttelte ein blondes Mädchen mit langem Pferdeschwanz in der ersten Reihe.
"Ja, klar!" Jonas grinste, war froh, daß sich sein Kopf langsam wieder klärte.
Zeichnen war sein Leben, er zog sich gern in seine eigene Welt zurück. Aber das
tat er immer allein.
Was tust du?
Erneut diese Stimme. Sie war voller Zärtlichkeit. Voller Liebe. Bedingungsloser
Liebe...
Jonas schulterte seien Rucksack stärker, nun war es an ihm, die Stirn leicht zu
runzeln.
Ich sollte mehr schlafen.
Er unterdrückte en Gähnen und ging langsam zu seinem Platz. Der Professor tat
zwar empört, aber er war nicht nachtragend. Nie würde er ihn seines Unterrichtes
verweisen oder ihn für sein ständiges Zuspätkommen bestrafen. Schließlich war er
sein bester Schüler.
"Setzen sie sich bitte neben Herrn Kajä, Herr Hauser. Herr Kajä ist seit heute
an dieser Universität und wird unseren Kursus hoffentlich genauso begeistert wie
Sie verfolgen. Die passenden Bücher wird er sich wohl erst noch kaufen müssen."
Der Professor musterte den leeren Platz des jungen Mannes, wartete, bis Ruhe in
das kleine Zimmer eingekehrt war und wandte sich wieder der Tafel zu, während er
zu sprechen begann.
"Don Cayé!" hörte Jonas den neuen Studenten neben sich gereizt flüstern. Die
Stimme war rauh und der Zeichner vermeinte, einen leichten Akzent zu hören.,
Leise seufzte er und holte seine Kursnotizen sowie seine Bücher heraus. Diese
schlug er auf und legte sie in die Mitte der Bank.
Die Blondine mit dem langen Zopf war aufgestanden und las selbstsicher den Text
vor. Die Sprache mochte seltsam klingen, aber Jonas war sie vertraut. Er hörte
sie gern. Zwar behaupteten viele, daß sie tot sei, aber in jeder Kirche, in
jeder Burg, an jedem älteren Gebäude konnte er sie entdeckten. Aus ihr waren
viele andere Sprachen entstanden. Sie mochte tot sein, aber in den Worten
anderer Völker lebte sie weiter.
Der Neue neben ihm öffnete langsam seinen Hefter, der völlig durcheinander zu
sein schien, aus vielen losen Blättern bestand, die nur teilweise beschrieben
waren. Ein Blatt fischte er heraus und machte sich einige Notizen mit einem
Kugelschreiber, der golden glänzte und sehr teuer wirkte.
Welche Verschwendung!
Jonas schob seine Brille zurecht, konzentrierte sich auf den Text. Er versuchte
es zumindest, aber in Gedanken war er bereits bei dem Bild, das er noch heute
zeichnen mußte. Unterdrückt seufzte er.
Das war's dann wohl mit dem Schlaf!
Der sonst so lockere Unterricht zog sich heute in die Länge. Mit jeder Minute
wurde Jonas unruhiger, sah mehr als nötig auf seine Armbanduhr. Sein neuer
Banknachbar schien auch keine große Hilfe zu sein, die Zeit zu überstehen. Stumm
saß er neben ihm, starrte mit ausdruckslosem Gesicht i das Buch, verfolgte
kommentarlos den Erläuterungen des Professors an der Tafel. Entweder hatte der
Neuling keine Lust oder er war restlos überfordert.
Jonas sah von seinen Notizen auf, als der Professor seinen Banknachbarn eine
Frage stellte und dieser mit einem lässigen Achselzucken antwortete. Der
Professor musterte den jungen Mann in dem schwarzen Maßanzug kurz, wandte sich
dann zu einem anderen Studenten um, der mehr wußte.
Jonas betrachtete den Neuling von er Seite. Das Gesicht war noch immer
ausdruckslos, die Augen seltsam leer. Wo war der starke Ausdruck in ihnen
geblieben, den der Zeichner so deutlich gesehen hatte, als der den Raum betreten
hatte.
"Machst du überhaupt mit?" fragte er seinen Banknachbarn leise, sah dem
Professor zu, wie er an die Tafel zurückkehrte, um weiter Vokabeln
anzuschreiben. "Oder läßt du dich nur akustisch berieseln?"
"Urteilst du immer so schnell?" De rauhe Stimme war ebenso leise wie seine und
Jonas heute den Akzent nun deutlich heraus. Er klang südländisch. Spanisch?
Italienisch? Griechisch? Jonas hörte die unterbewußte Warnung in den Worten. Der
Zeichner sah kurz den jungen Mann neben sich an, konnte jedoch dem
eindringlichen Blick der nun kalt wirkenden Augen nicht standhalten.
"Du kennst die Bücher nicht?" fragte er, obwohl ihn in Wirklichkeit andere
Gedanken beschäftigten.
War er wirklich so oberflächlich geworden? Beurteilte er die Menschen wirklich
so rasch? Vielleicht... Aber der erste Eindruck hatte ihn noch nie getäuscht.
Ein Blick in die Augen des anderen Menschen, ein Wort seiner tiefen oder hohen
Stimme und Jonas wußte instinktiv, ob dieser Mensch gut oder böse war.
Der neue Student jedoch durchbrach dieses Konzept, das Jonas besaß, seit er den
ersten Bleistift hatte halten können.
Jeder Mensch besaß seine eigene Aura. Diese konnte Jonas spüren. Er zeichnete
sie zusammen mit all den anderen Dingen, die er sah. Die nur er sah.
Der Neuling besaß auch eine Aura. Eine sehr starke. Die dunklen Augen schienen
so viel sagen zu wollen, was der Mund wohl nie ausgesprochen hätte. Trotzdem
konnte Jonas den jungen Mann nicht richtig einschätzen. Die Aura war zu dicht,
als daß der Zeichner sie hätte durchdringen können. Er konnte die feste Hülle
nicht zur Seite schieben, sehen, was sich dahinter verbarg. Ein gutmütiges oder
ein erbarmungsloses Herz? War dieser Mensch gütig oder grausam? Oder war ihm
einfach alles egal?
Jonas wußte es nicht. Er wußte nur, daß er dem jungen Mann vertrauen konnte. Das
tat der Künstler sonst nur bei einem einzigen Menschen. Ja, der Zeichner war
beliebt, aber er ließ niemanden nahe genug an sich heran. Denn er wollte nicht
verletzt werden. Nicht noch einmal. Nie mehr!
Es gab so viele Menschen, denen er einmal blind vertraut und die ihn verstoßen
hatten, weil er nicht mehr n ihr Leben paßte. Weil er nicht mehr in das Bild zu
gehören schien, das ihnen ihre Gesellschaft diktierte. Von heute auf morgen
hatten sie ihn nicht mehr gewollt. Alle wandten sich von ihm ab. Alle - außer
Lisette. Als jeder ihn abschob, sich nicht mehr um ihn kümmern wollte, nahm sie
ihn auf, zeigte, daß es auch für Menschen wie ihn noch Liebe gab. Daß auch er
Trost und Geborgenheit verdient hatte. Und Glück.
Oh, Lisette...
Was immer der Neuling auch für ein Mensch war, Jonas ahnte, daß er seiner
Schwester ähnlicher war als seinem Vater. Und aus einem unerklärbaren Grund war
der Zeichner sehr froh darüber.
"Hm..." antwortete der junge Mann neben ihm und sie beide ernteten einen
strengen Blick des Professors.
Schweigend brachten sie die Vorlesung hinter sich. Kaum daß die alte Uhr des
Universitätsgebäudes schrillte, fuhren die andern Studenten auf, ergriffen ihre
Sachen und waren bereits zur Tür hinaus. Die Sonne schien wunderbar warm und
keiner von ihnen wollte länger als nötig in dem alten Gebäude sitzen.
Jonas packte langsam seine Hefter en, sah auf die Uhr und rechnete in Gedanken
seinen Tagesablauf durch. Genervt seufzte er.
Da komm' ich heute wieder vor um acht nicht heim!
Jonas schnappte sich seine Bücher und steuerte zielsicher auf den Neuling zu,
der sich noch kurz mit dem Professor unterhielt. Sein Herz schlug ihm plötzlich
bis zum Hals und er ärgerte sich darüber.
Warum führe ich mich auf wie ein Kleinkind?
Er fand keine Antwort.
""Nun gut, Herr Kajä, aber bis zu den Prüfungen müssen Sie Leistung zeigen,
sonst sind Sie fehl in diesem Kurs. Die Schonfrist beträgt aber nur diesen einen
Monat!"
Der junge Mann nickte, als der Professor ging und fischte seine Sonnenbrille aus
der schwarzen Jacke, verharrte jedoch mitten in er Bewegung, als er Jonas
erwartungsvoll an der Tür stehen sah.
"Was willst du?" fragte er und seine Stimme klang einen Ton zu bellend. Der
Student, der eher wie en Schüler wirkte, zuckte leicht zusammen, hielt ihm dann
jedoch mit einem Lächeln auf dem bleichen Gesicht ein Buch entgegen.
"Hier, damit du dem Unterricht besser folgen kannst. Wir behandeln gerade die
dritte Geschichte. Falls du Probleme haben solltest, meine Handynummer steht im
Einband." Jonas rückte die Brille zurecht, das Lächeln vertiefte sich auf dem
sonst so traurigen Gesicht.
"Danke" Der junge Mann musterte den jüngeren Studenten verwirrt.
Sollte ich mich geirrt haben? Sind die Menschen hier anders?
"Wie heißt du?" forderte er ihn auf, strich sich die widerspenstige Strähne des
pechschwarzen Haares hinter die Ohren. Sein Gegenüber betrachtete ihn
fasziniert.
"Jonas Hauser." Sagte dieser nach einer Weile, die er brauchte, um die Frage
überhaupt wahrgenommen zu haben.
"Schön, dich kennenzulernen, Jonas. Ich bin Raphael don Cayé." Stellte sich der
junge Mann südländischen Typs vor und als er seinen Namen aussprach, war sein
Akzent unüberhörbar. Freundschaftlich streckte er dem Jüngeren seine Hand
entgegen, die dieser ohne zu zögern ergriff.
Er hat einen kräftigen Händedruck.
Er wirkt so zerbrechlich.
Die jungen Männer standen einander schweigend gegenüber.
Zwei äußerliche Gegensätze. Der eine in legerer, heller Kleidung, der andere im
maßgeschneiderten, dunklen Anzug. Der eine klein und scheinbar schwach, der
andere groß und scheinbar stark. Sie wirkten wie gut und böse. Aber er war wer.
Wirklich?...
Haselnußbraune Augen sahen schweigend in tiefblaue.
Die Zeit schien still zu stehen. So wie vor etwa einer Stunde, als Jonas
hektisch den Raum betrat, da das Seminar bereits begonnen hatte.
Raphael musterte das Gesicht des jungen Studenten, der einen Kopf kleiner als er
war. Der noch immer fest seine Hand hielt, als wollte er sie nie mehr los
lassen. Unbewußt?
Der Wind fuhr erst durch rabenschwarze, dann durch hellblonde Haare, die leicht
rötlich glänzten.
Ich will dir so viel sagen.
Ich will dir zuhören.
Beide blinzelten verwirrt, als das Fenster mit einem lauten Schlag zuschlug.
"Ich... ich muß dann los." Stotterte Jonas und eine zarte Röte überzog sein
bleiches Gesicht. Er ließ Raphaels Hand los, als habe er sich verbrannt. Dann
wirbelte er herum und rannte aus dem Zimmer.
Raphael strich sich die widerspenstige Strähne unbewußt hinter die Ohren, rat
hinaus auf den dunklen Gang und beobachtete den jungen Zeichner, der gerade
eilig durch die großen Portale das alte Gebäude verließ. Kurz schien das helle
Sonnenlicht in den dunklen Gang, überflutete den alten Steinfußboden. Dann
schloß sich die Tür und das Meer aus leuchtenden Strahlen verebbte langsam und
erlosch.
Raphael setzte langsam die Sonnenbrille auf und starrte auf die geschlossene
Tür. Dann senkte er seinen Blick auf seine Hände. Er spürte noch immer den
warmen Druck auf seinen Fingern. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, ohne
daß er es verhindern konnte.
"Jonas..."
Als die Uhr der Universität die nächsten Seminare einläuteten, stand Raphael
noch immer bewegungslos auf dem belebten Gang.
***
Die Sonne versank langsam hinter den Häuser am Horizont. Ihr rötlicher Schein
überzog die Wiesen des großen Parks inmitten der Stadt. Die Bäume warfen lange
Schatten, wirkten wie Gespenster, die ihre langen, knochigen Arme nach Passanten
ausstreckten.
Die Luft war noch angenehm warm, Vögel zwitscherten fröhlich und die ersten
Mücken tanzten im Licht der Laternen.
Jonas bremste erschrocken sein Fahrrad ab, aber der kleine Hund hatte es sich
anders überlegt, rannte zu seinem Herrschen zurück. Der Mann verzog ärgerlich
sein Gesicht, aber der Student hörte ihn nicht schimpfen. Laut klang die sanfte
Gitarrenmusik in seinen Ohren, während er kräftig in die Pedale trat.
Es war bereits nach acht Uhr. Endlich hatte er Feierabend.
Morgen klingelt der Wecker wieder um sechs!
Innerlich stöhnte Jonas auf, schob dann aber den Gedanken weit fort, als er den
Fahrtwind spürte, der durch seine Haare fuhr, ein wenig Kühle unter das
Sweatshirt brachte, das an seinem verschwitzten Rücken klebte. Der Rucksack war
nun wesentlich leichter und das Lied fröhlich. Unbewußt lächelte der junge
Student, trieb sein Fahrrad an, das immer schneller den Kiesweg entlang fuhr.
Dann ließ er den Lenker los, streckte weit seine Arme aus und legte den Kopf in
den Nacken. Seine blauen Augen blickten verträumt zum Abendhimmel empor, der
sich in allen Rottönen bis hin zum dunklen Violett verfärbt hatte. Die ersten
Sterne funkelten geheimnisvoll.
Jonas lachte laut auf, spürte den Wind nun überall an seinem müden Körper. Er
erfrischte ihn. Er gab ihm das wunderbare Gefühl der Freiheit zurück.
Ein Vogel brach aus dem Geäst der Bäume hervor, stieg hoch zum Himmel hinauf.
Seine Schwingen waren groß und mühelos hielt er sich in der Luft.
Der Student musterte das Tier einige Momente neidisch, dann ergriff er wieder
den Lenker des Fahrrads und fuhr schweigend weiter. Seine Schultern hingen, da
Lächeln war aus seinem Gesicht, die Glückseligkeit aus seinen Augen
verschwunden.
Es gab einige Augenblicke, in denen er sich richtig frei fühlte. Dann war er so
schnell wie der ewige Wind, so unbeugsam wie das unendliche Meer. Kein Feuer
konnte ihn je verbrennen, kein Sturm ihn brechen.
Jonas seufzte leise, als der Vogel einen lauten Schrei ausstieß und aus seinem
Blick verschwand.
Ja, er konnte sich manchmal frei fühlen.
Aber er wußte zugleich, daß er es niemals sein würde.
***
Jede Lampe brannte in dem kleinen Zimmer. Es war nur spärlich eingerichtet. Am
gekippten Fenster stand ein enges Bett, dessen graue Decken wild durcheinander
lagen. Mehrere Bücher zierten das Regal darüber. Ein Kühlschrank brummte
zwischen der Tür und einem alten Kleiderschrank dumpf vor sich hin. Die
verblichene Tapete war mit mehreren Landschaftsbildern überhangen, die der
Bewohner des Zimmers wohl selbst gezeichnet hatte. Eine große Staffelei stand in
der Mitte neben dem Bett. Es gab weder Stühle noch einen Tisch, dafür aber viele
Öl- und Wasserfarben in den verschiedensten Gefäßen, die rings um die Staffelei
auf dem mit Zeitungspapier ausgelegten Fußboden standen.
Es brannte die Lampe an der Decke, die über dem zerknüllten Kopfkissen sowie die
Beleuchtung der Abzugshaube. Einen Herd gab es nicht, dafür eine einzelne
Kochplatte, die jedoch unbenutzt wirkte.
"Jonas?" Ein junger Mann mit knallroten Haaren und dicker Nickelbrille stürmte
durch eine andere Tür neben dem Kleiderschrank in das kleine Zimmer. Er trug ein
T-Shirt, auf dem mit großen, roten Buchstaben stand:>ICH BIN GUT ZU VÖGELN<. Es
spannte leicht über seinen gut genährten Bauch. In seinen Händen hielt er
mehrere CDs, sah sich kurz in dem Raum seines Zimmernachbarn um.
"Du hast Besuch." Er trat zu dem Kühlschrank und drehte das kleine
Kassettenradio aus, war froh, die Gitarrenklänge nicht länger erdulden zu
müssen. Country mochte er nicht besonders, aber Jonas akzeptierte dafür seine
Verrücktheiten.
"Besuch?" Der blasse Student, der hinter der Staffelei stand, nahm den Stiel des
Pinsels in den Mund, kaute nachdenklich auf diesem herum. Außer den verrückten
Informatik- und Mathematikstudenten, die ebenfalls auf diesem Gang des
Wohnheimes dahin vegetierten, kamen nie andere Leute in sein kleines Reich.
Da hörte er das leise Klopfen.
Und diese Leute besaßen nie die Höflichkeit zu klopfen.
"Danke, Jürgen." Jonas steckte den Pinsel in die Tasche seiner Jeans, wischte
sich die Hände an dem nun mit bunten Flecken übersäten Sweatshirt ab.
"Keine Ursache. Wenn du deine Katzenmusik etwas leiser stellen würdest..."
"Und, ist dein Dämon schon besiegt?"
"Fast." Jürgen grinste, vergaß seine Beschwerde. Schließlich wußte er ja, daß
sein Mitstudent sein Radio immer so laut laufen ließ, wenn er zeichnete. "Noch
zwei Level, dann bin ich der King."
"Viel Erfolg, du tüchtiger Krieger." Jonas sah Jürgen nach, der durch das kleine
Bad, das ihre Zimmer miteinander verband, lachend verschwand. Er würde bis zum
Morgengrauen vor seinem Computer hocken und nicht eher aufgeben, bis er das
Spiel gewonnen hatte.
Der Zeichner lächelte in Gedanken versunken vor sich hin, während er zur Tür
ging und diese öffnete.
Auch eine Art von Verrücktheit, die jedoch niemanden weh tat...
"Hallo."
Jonas blinzelte verwirrt als er die Stimme mit dem südländischen Akzent
erkannte, blickte verwundert auf den jungen Mann, der auf dem Gang stand.
Anstelle des Anzuges trug er nun eine schwarze Hose und ein dunkles Hemd. Beides
sah dennoch sündhaft teuer aus.
"Äh... hallo..." Jonas, dem jetzt erst bewußt wurde, wie dumm er Raphael
angestarrt haben mußte, trat einen Schritt zur Seite.
"Komm' rein, aber fall nicht in Ohnmacht." Erklärte er, rückte die Brille
zurecht. "Jürgen, mein Zimmernachbar, meint immer, es sehe aus wie nach der
Essenschlacht in einem Kindergarten." Jonas zuckte mit seinen Schultern. Dafür
konnte man bei Jürgen keine zwei Schritte machen, ohne nicht über eine CD,
Diskette oder sonst ein Computerteil zu stolpern.
"Es sieht interessant aus." Erwiderte Raphael, blieb vor der Staffelei stehen.
Jonas verzog sein Gesicht, verschloß die Tür und lehnte sich dagegen.
"Interessant ist ein Essen, das nicht schmeckt. Aber aus Höflichkeit zwingt man
es in sich hinein, um den Gastgeber nicht zu beleidigen." Er nahm ein feuchtes
Tuch, das neben dem Kassettenrecorder auf dem Kühlschrank lag und säuberte den
Pinsel sorgfältig.
"Dein Hobby?" fragte Raphael und betrachtete eingehend das Ölgemälde einer alten
Frau mit ihrem großen Hund. Sie standen vor einem grünen Strauch und wirkten
sehr glücklich. Koloriert wirkten sie noch lebendiger, wurden die Gefühle noch
deutlicher.
"Nein, meine Leidenschaft." Erklärte Jonas mit kühler Stimme, legte den Pinsel
behutsam zu den anderen, drehte sich zu dem jungen Mann um. "Was willst du?"
fragte er offen heraus, aber seine Stimme klang weder genervt noch ablehnend.
Raphael strich sich die widerspenstige Strähne hinter die Ohren, hielt das
Lateinbuch hoch, das ihm der kleinere Student erst am Vormittag gegeben hatte.
"Mit dem Inhalt hab' ich keine Probleme, aber die blöde Grammatik bereitet mir
so meine Sorgen." Meinte er, schob die zerwühlte Decke des Bettes ein Stück
beiseite, setzte sich auf die durchgelegene Matratze. "Für mich sehen Futur und
Präsens irgendwie gleich aus." Gab er zu, schlug das Buch auf.
"Ich weiß, der Ablativ ist das Häßlichste." Jonas zog seinen Hefter aus dem
Rucksack, nahm neben Raphael Platz, kreuzte seine Beine übereinander. "Oder das
PPP..." Bald war er in die Grammatik vertieft, erklärte sie dem älteren
Studenten anhand des Textes über Herkules, den der Professor gerade mit ihnen
behandelte.
Raphael war ein gelehriger Schüler, der schnell verstand. Jonas hatte schon
vielen Studenten Nachhilfeunterricht gegeben - wenn auch nicht in seinem eigenem
Zimmer. Das war ein Los, das ihn als Bester automatisch traf. Viele kamen dann
mit gelangweilten Mienen zu ihm, weil sie mußten. Weil sie den Kurs bestehen
wollten. Er war nur das Mittel zum Zweck.
Der junge Mann neben ihm dagegen hörte zu. Die Geschichte schien ihn zu
interessieren. Oder er war ein guter Schauspieler.
"Herkules ist ganz schön stark gewesen." Überlegte Jonas leise, zog einige
Pfeile zwischen unterstrichenen Vokabeln in seinem Hefter, um seinen Worten mehr
Nachdruck zu verleihen.
"Ja, aber glücklicher war er trotzdem nicht. Sein Vater legte ihm all die
Prüfungen auf, aber im Olymp wollte er ihn nicht haben."
"Wahrscheinlich..." Über Jonas Gesicht, das vom Erklären leicht gerötet war,
huschte ein Schatten. "Wer will schon einen Bastard?" murmelte er und eine
unangenehme Stille entstand, in der Raphael verwundert auf den kleineren
Studenten herabblickte. Sie wurde von dem lauten Knurren Jonas' Magen
unterbrochen.
Raphael sah auf seine teuer wirkende Armbanduhr, vermutlich eine Rolex.
"Schon zehn Uhr durch." Sagte er mehr zu sich als zu seinem jungen Lehrer. "Hast
du noch nichts gegessen?"
Jonas schüttelte nur seinen Kopf, dachte an die halb leere Ketchupflasche, die
angerissene Milchpackung und die drei rohen Eier, die sein Kühlschrank
beherbergte und die sich darin wohl zu Tode fürchteten. Zum einkaufen war es zu
spät und auf die Kekse und das bittere Bier Jürgens hatte er auch keinen
Appetit.
Also wieder Fastenzeit!
Raphael, der seine Gedanken erraten zu haben schien, klappte energisch das Buch
zu. "Wie wär's, wenn wir essen gehen?" Kurz musterte er das karg eingerichtete
Wohnheimzimmer. "Ich lade dich auch ein, als Dank für deine Geduld. Sonst hätte
ich den Ablativ wohl nie begriffen." Raphael sah den kleineren Studenten an, als
dieser zögerte. "Oder mußt du morgen früh raus?"
"Nein."
Warum lüge ich?"
"Ich kenn' da 'ne Pizzeria gleich um die Ecke." Jonas rutschte von der viel zu
weichen Matratze, streckte seine steifen Beine aus und zog sich dann das über
und über mit Farbflecken bekleckerte Sweatshirt über den Kopf. Er warf es mit
einer knappen Bewegung auf den Boden neben die Farben. Morgen würde er es wieder
gebrauchen können, wenn er sich erneut seiner Leidenschaft widmen würde.
Behutsam hob er ein weißes Tuch auf, hängte es über die Staffelei, nachdem er
sich vergewissert hatte, daß die Farben getrocknet waren.
"Familienrecht? Erbrecht? Wofür ist denn das?" Raphael hatte ein Buch
aufgeschlagen, das er auf dem Kopfkissen entdeckt hatte. Er sah nicht auf,
strich sich lediglich die widerspenstige Strähne hinter die roten Ohren.
"Ich studiere Jura." Jonas holte einen grauen, abgetragenen Pullover aus dem
Schrank, konnte förmlich die fragenden Blicke des jungen Mannes im Rücken
spüren. "Paßt überhaupt nicht dazu, was?" Er deutet auf die Bilder an den
Wänden. Auf die Meere, die man rauschen zu hören vermeinte. Auf die Wälder und
Wiesen, die im leichten Wind zu wiegen schienen. "Aber irgendwie muß man ja Geld
verdienen. Nichts ist umsonst." Kurz ging er ins Bad, wusch sich die mit Farbe
beschmierten Hände und sagte Jürgen Bescheid, daß er noch einmal fortgingen.
Der Rothaarige unterbrach sein Spiel, starrte ihn ungläubig an. "Du gehst aus?
Um diese Uhrzeit?"
Jonas grinste nur frech. "Besieg' du mal deine Dämonen, edler Ritter."
Kopfschüttelnd kehrte er in sein Zimmer zurück, ergriff sein Portemonnaie samt
Schlüssel.
"Kommst du?" forderte er Raphael auf, der ganz vertieft in den Rechtsgesetzen
las.
Was mach' ich eigentlich?
Jonas ignorierte seine innere Stimme. Warum sollte er nicht mit Raphael eine
Pizza essen gehen? Seine Schwester tadelte ihn viel zu häufig, daß er nicht
genug und zu unregelmäßig aß. Außerdem hatte sie recht, daß er zu wenig Freunde
hatte.
"Gemütlich haben die's hier." Raphael strich sich die widerspenstige Strähne
hinter die Ohren.
"Hm..." Jonas studierte die Karte und wurde sich bewußt, daß er den ganzen Tag
bis auf einen Apfel zum Frühstück noch nichts gegessen hatte. "Hm, Lasagne.
Lecker." Murmelte er vor sich hin, konnte sich nicht daran erinnern, wann er das
letzte Mal in einem richtigen Restaurant gegessen hatte. McDonald's und Jürgens
Pizzadienst zählten nicht.
"Bist du schon lange hier in dieser wunderschönen Stadt?" fragte er Raphael, als
die Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte.
"Das klingt ja nicht sehr patriotisch."
"Na ja." Jonas mußte grinsen, denn mit Raphaels Akzent klang jedes
kompliziertere Wort irgendwie anders. Nicht lächerlich oder unverständlich. Aber
irgendwie lustig. "Mir ist es hier meist zu laut und im Winter ist es zwischen
den Betonklötzen von Häusern kaum auszuhalten. Aber im Moment blühen alle Bäume
und es läßt sich aushalten." Er zuckte mit den Schultern. "Es ist eine Großstadt
wie jede andere auch. Dreckig, voller Abgase und seltsamer Gestalten. Aber sie
ist besser als jedes Dorfnest." Der Zeichner hatte seine Servierte ergriffen,
riß sie langsam in kleine Stücke. "Hier kennt nicht jeder jeden und das zieht
wohl auch so viele Jugendliche an." Er räusperte sich, legte die Servierte
schließlich beiseite.
"Oh mann, das klingt richtig theatralisch. Jürgen meint auch immer, ich blase zu
viel Trübsal." Die Getränke kamen und Jonas nippte kurz an seiner eisgekühlten
Cola. "Eigentlich wollte ich ja dich ausfragen und nicht umgekehrt." Erklärte er
und sein Grinsen wurde noch breiter.
"Ach, soll ich dir meine Bewerbungsunterlagen und einen tabellarischen
Lebenslauf geben, damit du mich zu einem Vorstellungsgespräch einladen kannst,
um zu sehen, ob ich deines Nachhilfeunterrichtes auch würdig bin?" Raphaels
Stimme war genauso spöttisch wie die des Zeichners.
"Aber mit Paßphoto."
"Du bist ungnädig." Der ältere Student verzog spielend ärgerlich sein Gesicht.
"Wieso, bist du auf solchen Photos auch immer so grausam getroffen?"
"Ich bin nicht photogen." Raphael zuckte mit den Schultern, lächelte nun
ebenfalls.
"Laß' mal zeigen!" Jonas beugte sich leicht vor, um auf den Ausweis des jungen
Mannes zu sehen, machte eine abfällige Handbewegung. "Das nennst du versaut?"
fragte er leicht entrüstet, zog die Plastekarte aus seiner Hosentasche und hielt
sie daneben. "Das ist wirklich grausam. Auf diesem Photo sehe ich aus wie ein
Fünfzehnjähriger. Die Verkäufer schauen mich immer so komisch an, als ob der
Ausweis gefälscht sei. Einmal wollte mich der Vorführer nicht ins Kino lassen,
weil der Film ab sechzehn war und er mich für jünger hielt." Jonas schüttelte
seinen Kopf und seine kurzen, hellblonden Haare wirbelten durch die Luft. "Dabei
war es nur ein ganz einfacher Gruselfilm gewesen." Er steckte den Ausweis weg,
setzte sich zurück auf seinen Stuhl.
"Du bist in Italien geboren?" fragte er neugierig, denn er hatte den Geburtsort
Raphaels lesen können.
"Ja, aber hier bin ich zur Schule gegangen und nun studiere ich hier. Die
Universitäten in Italien sind nicht so gut." Raphael strich sich die
widerspenstige Strähne hinter die Ohren und Jonas, der gerade seine Cola trank,
hätte sich beinahe verschluckt.
"Was ist deine Studienrichtung?" fragte er, holte tief Luft, um wieder zu Atem
zu kommen.
Das ist ja wie bei einem Verhör!
"Du stellst ganz schön viele Fragen." Normalerweise hätte das Raphael sehr
gestört, aber heute machte es ihm nichts aus. Er fragte sich nicht weiter nach
dem Grund. Schon lange hatte er sich nicht mehr so amüsiert und er würde sich
den Abend nicht durch seine warnende innere Stimme verderben lassen.
"Als zukünftiger Anwalt muß ich das doch."
"Hab' ich etwas verbrochen?"
"Nö." Jonas rückte die Brille zurecht, sah erwartungsvoll die Kellnerin an, die
das Essen brachte. Es dufte köstlich und sein Magen knurrte erneut. Nach einigen
Bissen war sich der junge Zeichner auch sicher, daß es genauso gut schmeckte wie
es aussah.
"Ich studiere Medizin."
"Auch kein leichtes Studium." Jonas steckte sich eine weitere Gabel voll Pasta
in den Mund, wußte nun, warum der junge Mann ihm gegenüber den Lateinkursus
besuchte. Aber es verwunderte ihn, daß er nicht besser in der toten Sprache war.
Medizinstudenten konnten Latein doch meist besser sprechen als die alten Römer
höchstpersönlich. Bei all den seltsam klingenden Begriffen, die sie lernen
mußten. Jede Muskel, jeder Knochen besaß doch seinen eigenen lateinischen Namen.
"Das ist es wert."
Jonas sah auf und beobachtete Raphael, der sorgfältig seine Pepperonipizza in
kleine Teile zerschnitt.
"Klingt ja fast so, als würdest du das machen, weil du das willst und nicht,
weil dein Vater eine Praxis hat." Der junge Zeichner dachte an all die
Medizinstudenten, die nur studierten, weil sie mußten oder sie für eine
gesicherte Zukunft bereitwillig ihre eigenen Träumen aufgaben.
"Mein Vater war dagegen."
Halt endlich deinen Mund. Das geht ihn nichts an!
Raphael betrachtete die Pepperoni nachdenklich, schob sie sich dann in den Mund
und kaute langsam. Sie brannte höllisch, aber er ignorierte den Wunsch nach
Wasser. Wenn er jetzt trank, würde er sich zu Tode trinken und das Brennen würde
trotzdem nicht aufhören.
"Meinem Vater ist eigentlich egal, was ich mache. Also hab' ich mich für einen
Beruf entschieden, der mir noch das meiste bieten kann." Jonas blickte mit einem
Mal ganz traurig drein und die Lasagne schmeckte ihm nicht mehr. Er dachte an
Lisette, die ihn als einzige unterstützt hatte. Nun ja, eigentlich war es sogar
ihre Idee gewesen. Denn er konnte ja nicht ewig bei McDonald's oder
irgendwelchen Zeitungsaustragefirmen arbeiten. Das würde ihn eines Tages töten.
Das wußten sie beide.
"Hier ist es viel zu kalt. Bei mir zu Hause ist es um diese Jahreszeit schon
wesentlich wärmer. Das Meerwasser hat die richtige Temperatur, um baden zu gehen
und die Sonne heizt die Luft auf 30 Grad auf. Mein Vater besitzt ein großes
Landgut und die ersten Reben tragen schon ihre Früchte..." begann Raphael
plötzlich mit angenehmer Stimme zu erzählen. Jonas stützte sich auf das Gelenk
der Hand, die noch immer die Gabel in der Hand hielt, und sah ihn aufmerksam an.
Er hörte dem älteren Studenten gern zu. Er mochte den südländischen Akzent, sah
gern die Gesten, mit denen er seine Worte betonte.
Der junge Zeichner lächelte, während er vor seinem inneren Auge die fernen
Landschaften sah, die der geborene Italiener schilderte.
Warum erzähl' ich das alles?
Raphael runzelte leicht seine Stirn, fuhr dann aber fort in der Geschichte über
die Fischer, die jeden Morgen auf das unendliche Meer hinausfuhren und auf
erfolgreichen Fang hofften. Er sah das Lächeln auf Jonas Gesicht, spürte, wie
sich der jüngere Student langsam entspannte.
Hauptsache, er sieht nicht mehr so traurig aus.
"... und wenn du hinter der Uni immer gerade aus gehst, kommst du in die
Fußgängerpassage. Das große Gebäude links ist dann die Bücherei und gleich
daneben ein Supermarkt, der nicht ganz so teuer ist wie die restlichen Läden in
der Stadt." Erzählte Jonas und zeigte hinüber zu den hell erleuchteten
Hochhäusern.
Es war nun dunkle Nacht, während sie zurück zum Wohnheim schlenderten. Die
Sterne funkelten am wolkenfreien Himmel, die Straßenlaternen warfen sanftes
Licht auf die Bürgersteige unter sich. Leise rauschten die Bäume im angenehm
warmen Nachtwind. Ja, der Sommer hielt Einzug. Mit jedem Tag wurde die Luft
wärmer. Nichts konnte ihn mehr aufhalten.
Dennoch fror es den jungen Zeichner. Er ging nun schweigend neben dem
italienischen Freund her, zog die ausgeleierten Ärmel des grauen Pullovers fest
über seine eiskalten Hände. Er hatte die Woche wenig geschlafen und das rächte
sich nun. Noch morgen, dann war Wochenende. Dann konnte er wenigstens ein wenig
länger schlafen. Vorausgesetzt, seine Flurnachbarn veranstalteten keine Party,
die bis früh drei Uhr dauerte, bis der Alkohol alle und die Feiernden so
betrunken waren, daß sie einschliefen.
Wenigstens hab' ich wieder etwas vernünftiges gegessen.
"Den Fraß der Mensa würde ich dir nicht empfehlen. Davon kriegt man nur
Ausschlag oder Brechreiz." Meinte er nach einer Weile des Schweigens, erwähnte
nicht, daß ihm der Abfall, den man dort auf Marken erhielt, auch viel zu teuer
war. Er hatte den blauen Sportwagen Raphaels gesehen und ahnte, daß dieser genug
Geld hatte, jeden Tag sein Mittag im Ritz einzunehmen.
Idiotisch, daß ich die Kaufhalle erwähnt habe. Er muß denken, ich bin arm wie
eine Kirchenmaus.
Jonas dachte an seinen traurigen Kontostand und die große Leere in seinem
Portemonnaie.
Verdammt, ich bin arm wie eine Kirchenmaus!
Der junge Zeichner zog noch stärker an den Ärmeln seines Pullovers, sah auf
seine alten Turnschuhe herab. Nun, er war nicht der einzige, der am
Existenzminimum dahin kroch. Das wußte er.
Ein schwacher Trost!
Nun, es konnte schlimmer sein.
Ja, wie denn?
Jonas seufzte leise, versuchte wie immer vergeblich, die nervende Stimme in
seinem Inneren zu unterdrücken.
"Ist dir kalt?" Raphael musterte den kleineren Studenten besorgt, der nur kurz
aufsah. Seine blauen Augen waren wieder so traurig wie in dem einen Moment in
der Pizzeria. Dann senkte der junge Zeichner wieder seinen Blick und seine
Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
"Nein. Wir sind ja auch schon da." Er blieb stehen, sah auf, um sich für die
Lasagne zu bedanken und erstarrte. Wie hypnotisiert blickte er in die tiefen
haselnußbraunen Augen, die ihn fragend musterten. Dasselbe Gefühl überkam ihn,
das er auch am Morgen gespürt hatte, als er voller Eile in das Studierzimmer
gestürmt war.
Was ist hier los?
Er wollte etwas sagen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, sein Mund
seltsam trocken. Mehr als einen unverständlichen Ton hätte er wohl nicht
herausgebracht. Unverwandt starrte er den älteren Studenten an, konnte sich
nicht mehr bewegen.
Was mach' ich hier?
Raphael stand mit einer geschmeidigen Bewegung plötzlich ganz dicht vor ihm,
nahm das Gesicht des jungen Zeichners in seine warmen Hände. In so sanfte Hände.
Der italienische Student wirkte genauso verwirrt.
"Jonny..." flüsterte er, sagte noch einige Worte in seiner Muttersprache, die
Jonas nicht verstand. Die er wohl auch nicht verstanden hätte, wenn er
Italienisch beherrscht hätte. Schweigend sah er noch immer den Medizinstudenten
an, ließ zu, daß dieser ihn sanft an sich drückte, sich zu ihm herabbeugte.
Was...
Jeglicher Gedanke war ausgelöscht, als die warmen Lippen Raphaels auf den seinen
spürte. Instinktiv ließ er die Ärmel seines Pullovers los und umschlang die
Taille des älteren Freundes. Er spürte die festen Muskeln, die von weicher Haut
überspannt wurden. Jonas schloß seine Augen und erwiderte den Kuß mit all der
Sehnsucht, die er sich bisher nie eingestanden hatte. Die Sehnsucht nach Liebe.
Bedingungsloser Liebe...
Die Zeit schien still zu stehen und keiner von beiden wußte, wie lange sie dort
gestanden hatten, als sich Raphael mit einem Mal versteifte und sich plötzlich
von den kleineren Studenten löste.
Jonas sah ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Entsetzen an. Seine Beine
zitterten und vermochten nicht länger, ihn zu tragen. Er ging vor dem ganz in
Schwarz gekleideten jungen Mann, der nur noch wie ein Schatten wirkte, in die
Knie, sah auf die kalten Platten unter sich. Sein Atem ging schnell, die Welt
schien sich um ihn herum zu drehen.
"So sollte sich das nicht anfühlen..." murmelte Raphael und taumelte einige
Schritte zurück, bis er die Straßenlaterne in seinem Nacken spürte. Er sah, wie
Jonas seinen Kopf hob und ihn mit seinen großen dunkelblauen Augen fragend
ansah. Ungeweinte Tränen spiegelten sich in dem Glas der silbernen Brille, die
leicht verrückt war. Aber der junge Zeichner hob dieses Mal nicht seine Hand, um
sie zurecht zu rücken. So, wie er das sonst immer tat.
Was...
"Ich geh' dann wohl besser." Raphaels Akzent war mit einem Mal so ausgeprägt,
daß es fast gebrochen klang. Jonas sah ihn noch immer so unverwandt an und die
alte Panik stieg in dem jungen Italiener empor. Gleich würde er ihn anschreien,
wie das die anderen auch getan hatten. Raphael senkte seinen Blick und zog
seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Dann eilte er davon.
Was hab' ich getan?
Jonas blickte dem jungen Medizinstudent schweigend hinterher, hörte, wie der
Motor eines Sportwagens aufheulte.
Warum hab' ich das getan?
Der junge Zeichner saß noch lange auf dem Bürgersteig. Es gelang ihm erst, auf
seine zitternden Beine zu kommen, als der Wagen schon längst die Straße
verlassen hatte.
***
"Na, wie war's?" Ohne zu klopfen steckte Jürgen seinen Kopf zur Tür hinein,
runzelte verwundert die Stirn. Er hatte doch das Schlüsselbund und Schritte
gehört. Oder wurde er langsam paranoid? Waren zehn Stunden am Computer doch zu
viel? Nein! Niemals!
"Ach, da bist du." Meinte er, als er die Gestalt entdeckte, die auf dem
Fenstersims hockte, hinaus in den Himmel starrte. Der Rotschopf trat neben den
jungen Zeichner, sah auf den Block auf dessen Knien. Er zeichnete den hellen
Mond, der gerade am Horizont erschien, aber das Bild wirkte seltsam falsch.
Jürgen wußte jedoch nicht warum, er hatte nicht viel Ahnung von Kunst.
"Was gab' es denn?" fragte er neugierig und zog dem jungen Mann die Stöpsel aus
den Ohren, um somit seine Aufmerksamkeit zu erringen.
"Lasagne."
Jürgens Falten auf der Stirn wurden noch tiefer. Wieso klang sein Zimmernachbar
dann so deprimiert? Lasagne war doch schließlich sein Lieblingsgericht. Er sah
die dunklen Ringe um die blauen Augen, wußte, daß es schon weit nach zwölf Uhr
war und der junge Zeichner nicht so großzügig wie er ausschlafen konnte.
"Geh' ins Bett, Winzling. Du siehst müde aus." Sagte er, tätschelte die schmale
Schulter des jungen Jurastudenten.
"Ja, mach' ich dann."
Jürgen holte tief Luft, wollte aber nicht schimpfen. Es ging ihn ja eigentlich
nichts an, ob sich der junge Zeichner um seine Gesundheit scherte oder nicht.
Aber auf diesem Gang war noch keiner im Stich gelassen worden. Nun ja, wenn er
unbedingt malen mußte. Das war ja seine Sache.
"Lieb von dir, daß du jetzt den Walkman nimmst. Ich bin gerade im letzten Level
und da brauch' ich Konzentration, keine Katzenmusik." Er grinste und kehrte in
sein Zimmer zurück.
Jonas sah kurz auf, fuhr fröstelnd zusammen, als der kalte Nachtwind durch das
offene Fenster fuhr und an seiner Kleidung riß.
"Lieb..." flüsterte er mit Tränen erstickter Stimme, als er die Worte seines
Zimmernachbarn wahr nahm. Mit zitternden Händen steckte er den Stöpsel in sein
Ohr zurück, schaltete die Musik wieder ein und drehte sie auf volle Lautstärke.
Dann wandte er sich wieder seinem Bild zu. Es stellte einen weißen Vollmond dar,
der vor einem tiefroten Himmel strahlte.
Während Jonas mit einem dicken Fettstift den Himmel noch dunkler straffierte,
verschwammen die Farben vor seinen Augen. Er biß sich fest auf die bebenden
Lippen, bis sie zu bluten begannen.
Aber er konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
***
Die Ampel schaltete auf Rot, aber der blaue Sportwagen machte keine Anstalten
anzuhalten. Links und rechts quietschten Reifen, als die Autos, denen die
Vorfahrt genommen worden war, bremsten. Hier und da ertönte eine empörte Hupe.
Raphael hörte sie nicht. Er hatte sein CD-Radio aufgedreht und die sanfte Stimme
Freddy Mercurys erfüllte das Innere des Wagens.
>The show must go on...< ertönten die Worte des Sängers, während der junge
Italiener seinen Sportwagen auf hundert Stundenkilometer beschleunigte, obwohl
in der Stadt nur sechzig erlaubt waren.
Die Show mußte weitergehen... Das hatte er damals auch geglaubt. Damals, als er
bemerkte, daß er anders war. Damals, als er es seiner Familie gestand und von
ihr verstoßen wurde. Damals, als er von den ersten zwei Universitäten flog, weil
er sich mit zu vielen Studenten geprügelt hatte, die in ihm den letzten Dreck
gesehen hatten. Er war Ungeziefer gewesen, das es zu vertreiben galt. Und sie
hatten auch Erfolg gehabt. Als einer von ihnen wegen schweren Verletzungen im
Krankenhaus landete, wurde Raphael offiziell von der Universität ausgeschlossen.
An der zweiten Hochschule war es ihm nicht anders ergangen. Und an der
dritten...
Verdammt! Ich bin, was ich bin. Wer das nicht begreifen kann, soll mich in Ruhe
lassen!
Aber sie hatten ihn nicht in Ruhe gelassen. Immer wenn sie die Wahrheit über ihn
herausgefunden hatten, wurden sie zu Monstren. Jeder einzelne von ihnen. Sie
terrorisierten ihn so lange, bis er keine andere Wahl hatte, als sich zu
verteidigen. Und wenn er sich ernsthaft verteidigte, war der Rausschmiß wegen
Körperverletzung nicht mehr weit.
Hier würde es ihm nicht besser ergehen. Jonas würde sein Mißgeschick herum
erzählen und innerhalb von ein oder zwei Monaten konnte er sich an der nächsten
Universität anmelden.
Verflucht, warum habe ich das nur getan?!
Er stellte sich die Frage zum wiederholten Mal, fand aber keine Antwort darauf.
Er hatte sich immer gut im Griff, seine Gefühle unter eiserner Kontrolle.
Trotzdem hatte er sich nicht zurückhalten können, als der junge Zeichner ihn so
einladend angesehen hatte. So einsam. So verständnisvoll...
Seit der zweiten Universität, die er hatte verlassen müssen, hatte er aufgehört,
nach Gleichgesinnten zu suchen. Denn was er fand, waren meist nur Ekel und Haß
gewesen. Alles, was zählte, was sein Traum gewesen. Aber sie hatten es trotzdem
irgendwie heraus bekommen und er war gegangen, um seinem Traum woanders ein
kleines Stückchen näher zu kommen und ihn sich eines Tages zu erfüllen.
Warum konnte ich mich heute nicht zurück halten?
Weil er die Einsamkeit satt hatte? Weil er sich bei dem kleinen Jurastudenten
wohl gefühlt hatte? Weil dessen munteres Lachen ihm gut getan hatten?
Nein, so sollte es sich nicht anfühlen. Nicht so gut!
Raphael fluchte unterdrückt, schaltete die Nebelscheinwerfer ein, um in den
engen Gassen mehr zu sehen, die er mit überhöhter Geschwindigkeit entlang raste.
Er hatte schon einige Menschen geküßt, aber es war nie so gewesen wie heute. So
voller Sehnsucht. So voller Liebe...
So durfte es einfach nicht sein! Der blasse Zeichner hatte einen Freund gesucht.
Das hatte Raphael gespürt. Die Studenten in dem Lateinkursus hatten zwar mit ihm
gesprochen und dieser Jürgen schien auch ab und an nach dem kleinen
Jurastudenten sehen, aber wirkliche Sorgen schien sich keiner um ihn zu machen.
Sonst wäre ihnen aufgefallen, wie müde Jonas wirkte. Obwohl es bereits sehr warm
war, hatte er gefroren. In seinem dicken Pullover! Raphael hatte schon beim
Hinsehen geschwitzt. Und dann diese ständige Blässe, die nur dann etwas
verschwand, wenn der Zeichner in seinem Element war oder Grammatik erklärte. In
seinem Kühlschrank befand sich bestimmt nichts Eßbares. Und dann dieses Zimmer!
Daß es chaotisch aussah, das störte Raphael nicht. Sein älterer Bruder war
genauso schlimm und wenn der junge Italiener nicht ständig umziehen müßte,
würden die meisten Räume seiner Wohnung auch so schrecklich unaufgeräumt
aussehen. Aber sein Bett besaß nicht eine so grausame Matratze. Wie konnte Jonas
nur darauf schlafen? Da mußte doch am nächsten Morgen jeder Wirbel einzeln
schmerzen!
Raphael trat noch heftiger auf das Gaspedal und schaltete einige Gänge runter.
Der Motor heulte auf wie ein wilder Wolf, der den Vollmond sah.
Der kleine Jurastudent schien nicht nur am Rande des Existenzminimums zu leben,
sondern auch am Rande des Hungertodes. Raphael war entsetzt gewesen, als er die
Rippen gesehen hatte, über denen die Haut bereits gespannt hatte. Kümmerte sich
niemand um den jungen Zeichner, daß er wenigstens einmal am Tag etwas zu essen
bekam? Dieser Jürgen hatte ziemlich gut genährt ausgesehen. Gab er nicht etwas
von seinem Abendbrot ab, wenn er bemerkte, daß Jonas nichts mehr hatte?
Andererseits, ließ der kleine Jurastudent überhaupt zu, daß jemand es bemerkte?
Vermutlich nicht. Wenn Raphael nicht darauf bestanden hätte, hätte Jonas die
Lasagne selbst bezahlt. Stolz war der junge Künstler schon. Stolz und unheimlich
dumm! Das Jurastudium war sehr hart, besonders, wenn man es eigentlich gar nicht
wollte.
>Nein, es ist meine Leidenschaft.< hörte der junge Italiener die Stimme des
kleineren Studenten noch immer in seinem Kopf. Alles, was dieser Künstler doch
wollte, war zeichnen. Und er konnte es, verdammt noch einmal, sehr gut! Es war
genauso ein schöner Traum wie der des Medizinstudenten. Warum konzentrierte er
sich nicht völlig darauf? Weshalb mußte er sich zugrunde richten mit dem
Vorsatz, Anwalt zu werden, wenn er es gar nicht wollte?
>Aber irgendwie muß man ja Geld verdienen. Nichts ist umsonst.<
So ein Unsinn! Als ob Geld jemals glücklich gemacht hätte. Raphael mußte
unweigerlich an seinen Vater denken, der im Geld geradezu schwamm. Auch er
erhielt regelmäßig höhere Zahlungen als wie er jemals in der Lage war
auszugeben. Jedenfalls nicht allein...
Nun, wenigstens sein älterer Bruder wußte etwas damit anzufangen. Er war
glücklich, aber das lag nicht an dem Geld. Es hatte ihm lediglich geholfen,
seine eigenen Ziele eher zu erreichen. Noble Ziele, um die Raphael ihn so
manches Mal beneidet hatte, bis er den Mut fand und sich gegen seinen Vater
stellte. Bis er die Courage fand und das Studium in dem fremden Land aufnahm,
das ihm bereits vertrauter war als die ferne Heimat.
Nein, eigentlich hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, daß es auch
Menschen wie Jonas gab, die vermutlich Tag für Tag lebten und hofften, in der
nächsten Woche noch genug Geld für die Wohnung aufzubringen. Denn wenn der
kleine Jurastudent mehr Geld gehabt hätte, so würde er wohl kaum in dieser
armseligen Behausung hocken. Kein Wunder, daß er immer so traurig aussah. Das
Wohnheim war ja auch deprimierend.
Raphael dachte mit einem leisen Seufzer an die leuchtenden Augen zurück, als ihm
Jonas sein Paßphoto gezeigt und so herzhaft gelacht hatte.
In dem Moment kam das Auto ins Schleudern. Der junge Italiener fluchte, trat auf
die Bremse und riß das Lenkrad herum. Der Wagen drehte sich und kam nur wenige
Meter neben einer großen Eiche zum stehen.
Raphael holte tief Luft, lehnte sich zurück und sah durch das Seitenfenster zu
dem massiven Stamm hinüber.
Warum mache ich mir überhaupt Sorgen um den Kleinen?
Er strich sich die widerspenstige Strähne hinter die Ohren, fuhr sich über die
müden Augen. Jonas würde ihn nicht mehr sehen wollen. Nicht nach dem Mißgeschick
heute abend.
War es wirklich ein Mißgeschick?
Der kleine Jurastudent wußte nun, daß er anders war. Gewiß ekelte er sich vor
ihm, würde es wohl all den anderen Jugendlichen erzählen. Vielleicht war er
derjenige, der den ersten Stein warf.
Raphael seufzte erneut, dachte an den entsetzten Blick zurück, den Jonas ihm
zugeworfen hatte, als er sich von ihm löste. Dann schaltete er die
Nebelscheinwerfer aus und fuhr die Straße zurück. Es wurde Zeit, daß er in seine
neue Wohnung kam. Einige Kartons galten ausgepackt zu werden, auch wenn es wohl
nicht viel Sinn haben würde. Bald würde er sowieso wieder gehen müssen. Wie
immer...
Der Sportwagen hielt nun die vorgeschriebene Geschwindigkeit ein, als er auf die
Hauptstraße bog, sich rasch unter den vielen anderen Autos verlor.
Ja, die Show mußte weitergehen. Das tat sie immer.
Aber mit jedem Neuanfang wurde sie schwerer. Sinnloser...
***
Dicke Wolken verhängten den Nachthimmel, kein Stern war zu sehen, geschweige
denn der Mond. Die Temperatur war gegen Abend auf fast Null Grad gefallen, Nebel
stieg aus dem nahen Park empor. Hinzu kam, daß es wie aus Eimern schüttete.
Jonas schleppte sich den glitschigen Bürgersteig entlang, spürte den kalten
Regen kaum, der hart auf seine schwarze Jacke herab prasselte. Er war bereits
naß bis auf die Knochen und die Kapuze hatte seine Haare auch nicht schützen
können. In Strähnen hingen sie in sein bleiches Gesicht. In seine Augen, die naß
glänzten, was nicht nur an dem Unwetter lag.
Der Tag hatte bereits so wunderbar angefangen. Irgendwann die Nacht war er wohl
doch eingeschlafen und hatte natürlich verschlafen. Entsetzt hatte er auf seinen
Wecker geschaut, aber dieser gab keinen Mucks mehr von sich. Im Laufe der
letzten vierundzwanzig Stunden hatte die Uhr das Zeitliche gesegnet und Jonas
hatte sich verzweifelt gefragt, wo er so auf die Schnelle einen Ersatz fand, der
nicht die Welt kostete.
Natürlich war er zu spät gekommen und der Professor für Jura hatte ihn prompt
des Seminars verwiesen. Dann verlor er auch noch die Hälfte der Werbeprospekte,
die er hatte austeilen sollen und goß einem Kunden bei McDonald's den Milkshake
über den Anzug. Wenn der Kunde nicht so verständnisvoll gewesen und nur lachend
abgewunken hätte, hätte man den ungeschickten Studenten bestimmt gefeuert.
Völlig erschöpft war er schließlich bei Dämmerung in sein Wohnheim zurückgekehrt
und bemerkt, daß er natürlich vergessen hatte einzukaufen. Traurig hatte er den
Ketchup und die Eier angestarrt, denn die Milch hatte er sich zum Frühstück
genehmigt. Noch trauriger hatte er den Inhalt seines Briefkastens angeschaut.
Werbung, Rechnungen, noch mehr Werbung, noch mehr Rechnungen. Und dann der
Brief! Eine Weile hatte er ihn schweigend angestarrt und es hatte ihn viel
Überwindung gekostet, ihn zu öffnen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er seinen
Blick von dem Scheck hatte lösen können, den er aus dem Umschlag hervor holte.
Jonas hatte Jürgen nicht Bescheid gesagt, als er seine schwarze Stoffjacke
ergriffen, den Scheck in die Innentasche gestopft und wortlos sein Zimmer
verlassen hatte. Schnurstracks war er in das ihm bereits so vertraute Viertel
gegangen. Grelle Lichter strahlten von den Schaufenstern ihm entgegen, aber er
hatte sie nicht wahrgenommen. Er war wieder in dieselbe Kneipe gegangen und
hatte dasselbe wie immer getrunken. Irgend so ein süßes Zeug, das ihm eigentlich
gar nicht schmeckte. Aber es war billig und hatte viele Prozente. Und nach dem
vierten Glas störte der gräßliche Geschmack nicht mehr. Oder war es das fünft
gewesen? Oder da sechste?
Jonas wußte es nicht mehr. Er erinnerte sich auch nicht, wie er in diese
verlassene Gasse gekommen war. Irgendwann hatte die Bar wohl schließen müssen
und er war auf die Straße gesetzt worden und einfach seiner Nase gefolgt. Links
und rechts standen hohe Linden, dahinter befanden sich hinter hohen Mauern feine
Häuser. Vermutlich war er in einen Teil der Stadt gelangt, die für besser
gestellte Menschen reserviert war. Für reichere Menschen. Nicht für arme
Schlucker wie ihn, die kein Geld hatte. Keine Würde. Keine Familie...
Der junge Zeichner schluchzte leise auf, setzte automatisch einen Fuß vor den
anderen, bis er stolperte. Die Welt drehte sich immer schneller um ihn und hörte
selbst dann nicht auf, als er gegen den großen Stamm einer Linde prallte,
langsam vor ihr auf die Knie ging und den Kopf gegen das Holz lehnte. Stumm
starrte er auf den dunklen Matsch, in dem er saß, wunderte sich darüber, warum
er nicht weiter ging.
Aber, wohin sollte er schon gehen? Ihn wollte doch sowieso niemand. Und
Lisette... Sie besaß ihre eigene Familie. Es war unfair, sich in ihr Leben zu
mischen. Sie hatte doch schon so viel für ihn getan. Er durfte ihre Gutmütigkeit
nicht länger ausnutzen. Er mußte endlich auf eigenen Füßen stehen! Der junge
Student schloß seine Augen, das Gefühl des Karussells wurde immer übermächtiger.
Worauf sollte er denn stehen, wenn sie ihm schon vor Jahren den Boden entzogen
hatten!
Jonas wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Seine Beine fühlten sich an
wie Gummi und wollten ihn nicht tragen. So wie gestern, als ihn Raphael geküßt
hatte. Als er sich von ihm abgewandt hatte und geflüchtet war. Wie so viele
andere Menschen auch. Nun, sein Auftritt war wenigstens stilvoll gewesen.
Vor mir ist noch niemand in einem blauen Sportwagen davon gerannt...
>So sollte sich das nicht anfühlen...< hörte er noch immer die rauhe Stimme in
seinem Ohr. Warum nicht? War es falsch gewesen? Hatte es sich so schlecht
angefühlt? War er dem jungen Italiener nicht gut genug gewesen? Wie seinem
eigenen Vater?...
"Nein..." schluchzte Jonas, schlug mit der Faust in den Matsch, der zur Seite
spritzte, sein heißes Gesicht ein wenig abkühlte. Er hatte getrunken, um all
diesen Mist zu vergessen. Um wenigstens einige, wenige Stunden ohne Schmerz,
ohne diese quälenden Erinnerungen leben zu können. Ohne die ständige Angst vor
dem Leben. Er hatte wohl nicht genug getrunken.
Irgendwo quietschten Reifen und eine Autotür schlug zu. Jonas hörte nicht
darauf. Vermutlich kehrte gerade ein tüchtiger Geschäftsmann zu seiner auf ihn
wartenden Familie nach Hause. Ihn empfing niemand, wenn er in das Wohnheim
zurück ging. Nicht einmal ein Hamster. Denn nachdem der letzte Nager ihm an
Altersschwäche gestorben war, hatte er sich keinen neuen mehr gekauft. Solche
Tiere hatten einfach ein besseres Heim als sein chaotisches Atelier verdient und
er wollte kein weiteres geliebtes Haustier mehr beerdigen wollen.
Atelier! Daß ich nicht lache!
Seine Gedanken waren träge, aber er konnte sie dennoch nicht zum Schweigen
bringen. Das dreckige Fenster war viel zu klein und außerdem konnte er sowieso
nie bei Tageslicht zeichnen. Die Farben wirkten immer anders, wenn er alle
Lampen aufstellte. Aber, hatte er denn eine andere Wahl? Er mußte zeichnen,
sonst konnte er sich gleich umbringen. Denn, was blieb ihm denn noch, wenn er
keine Bilder mehr erstellen konnte? Ein Jurastudium, das er haßte! Eine Familie,
zu der er nie gehen könnte! Nie, ohne diese mitleidigen, diese argwöhnischen
Blicke zu sehen! Nie, ohne die leisen, hinterhältigen Stimmen hinter seinem
Rücken zu hören! Wenn er nicht mehr zeichnen konnte, blieb ihm nichts mehr. Und
diese Erkenntnis erschreckte ihn. Die Einsamkeit tat so furchtbar weh...
"Jonas?"
Er blinzelte, als er seinen Namen vernahm, hob langsam den dröhnenden Kopf,
kniff die Augen zusammen, als sein Blick zu verschwimmen drohte. Durch den
dichten Regen hindurch konnte er die Silhouette eines jungen Mannes erkennen,
die neben ihm stand, die Hände in die Hüften gestemmt hatte.
"Geh wesch!" lallte er, als er den südländischen Akzent in der Stimme erkannte.
Mit der linken Hand machte er eine vage Geste, daß der andere Student gehen
sollte. Er brauchte keine Zuschauer. Es war schon schwer genug, der andere mußte
ihn nicht auch noch auslachen, wie er so im Matsch hockte. Er brauchte kein
Mitleid!
"Jonny..." Raphael hockte sich neben den kleinen Jurastudenten, wunderte sich,
was dieser hier tat. Er legte eine Hand auf die bebende Schulter des jüngeren
Mannes, erkannte, daß dieser bis auf die Knochen durchnäßt war.
"Was machst du hier?" Der junge Zeichner hob ein wenig seinen Kopf und Raphael
konnte den Alkohol riechen.
"Du bist ja stockbesoffen." Erklärte er verwundert, denn er hatte Jonas nicht
für einen Trinker gehalten.
"Es war noch zu wenisch." Lallte dieser und Raphael sah die Tränen in den blauen
Augen. Das Gesicht des jungen Zeichners war naß, aber der junge Italiener ahnte,
daß es nicht nur Regentropfen waren.
"Komm', ich bring' dich nach Hause." Raphael ignorierte den Protest des kleinen
Jurastudenten und packte diesen unter die Arme, zog ihn auf die Beine. Die Hose
war voller Dreck, der langsam in die ausgetretenen Turnschuhe floß. Dann öffnete
er die Seitentür seines Wagens, schob Jonas auf den Sitz und schnallte ihn an.
"Laß' misch raus." Forderte der junge Zeichner, als sich der Wagen in Bewegung
setzte.
"Ach, und du glaubst, daß du den Weg nach Hause findest?" Raphael musterte den
kleinen Jurastudenten kurz skeptisch, richtete dann seinen Blick wieder auf die
Straße vor sich.
"Ich hab' kein Zuhause!" Jonas lehnte sich vor und nahm sein heißes Gesicht in
seine eiskalten Hände, stöhnte leise. Morgen würde er einen fürchterlichen Kater
haben. Und das alles umsonst. Nichts hatte er vergessen. Nicht eine einzige,
erniedrigende Kleinigkeit! "Ich will nicht zurück ins Wohnheim!" flüsterte er
und seine Stimme klang dumpf hinter den beinahe blauen Fingern. "Das letzte Mal
hab' ich zwei Bilder kaputt getreten und Jürgen hat nur gelacht."
"Und wo soll ich dich dann abliefern?"
"Irgendwo beim Park. Oder am Friedhof..." Jonas stöhnte auf, als der Wagen durch
ein Schlagloch fuhr. Die Kopfschmerzen kündigten sich an und er fragte sich, wie
stark sie wohl erst morgen sein würden.
Raphael verzog nur stumm sein Gesicht. Er hatte nicht vor, den kleinen
Jurastudenten bei diesem Wetter auf die Straße zu setzen. Dabei konnte er sich
doch den Tod holen! Eine Lungenentzündung würde bei seiner körperlichen
Verfassung tödlich sein! Der junge Italiener wußte, wovon er sprach. Schließlich
studierte er diese Fachrichtung und er hatte während seiner Praktikumszeit viele
ähnliche Fälle gesehen. Obdachlose, die das Wetter nicht ernst genug genommen
hatten. Ja, es war Frühsommer, aber die Nächte konnten noch immer sehr
ungemütlich sein.
"Isch mache dir doch alles naß!" murmelte schließlich Jonas nach einer Weile des
Schweigens, in der Raphael gewendet hatte und nun den Weg zurück fuhr. "Ich bin
doch so dreckig!"
"Dafür gibt es Waschstraßen." Sagte Raphael nur knapp, wunderte sich selbst,
warum er plötzlich so unsagbar wütend war.
***
Jonas blinzelte geblendet, als das Licht eingeschaltet wurde. Die Wohnung war
mit heller Farbe gestrichen und nach der Anzahl der Türen, die er erkennen
konnte, schien sie recht groß zu sein. Er schwankte und wäre beinahe
hingefallen, als er seine Schuhe auszog und mit nassen Socken über das
hellbraune Parkett wankte. Er hinterließ Pfützen auf dem Holz und einen großen
Fleck an der Wand, als er sich dagegen lehnte.
"Das ischt eine schöne Wohnung." Murmelte er, als er die großen Fenster des
Zimmers sah, in das der Flur mündete. Gemütlich war der Raum eingerichtet. Mit
einem flauschigen Teppich, einer Couchgarnitur, die in der Mitte stand und einer
Wand, die nur aus Glas zu bestehen schien und zu einem Balkon hinaus führte. Ja,
es war eine sehr schöne Wohnung, die wahrscheinlich auch sehr teuer war. Aber
irgendwie wirkte sie leer. So, als fehlte ihr ein wichtiges Möbelstück.
"Hast du hier keine Bilder?" fragte er, als er die Leere der Wände bemerkte. Bei
ihm selbst gab es kaum ein freies Stückchen Tapete mehr, überall hingen seine
Gemälde.
Aber ich habe auch nicht so saubere Wände...
Er seufzte, ließ seinen Kopf hängen und starrte auf seine durchweichten Socken.
Seine Füße waren mittlerweile so kalt geworden, daß er sie kaum noch spürte. Ein
Schauer jagte über seinen Rücken und er zog sich automatisch die Ärmeln der
völlig durchnäßten, ebenfalls eiskalten Jacke über die blaugefrorenen Hände.
"Verdammt, was hast du dort draußen gemacht!?" fuhr ihn Raphael an, der die
unbewußte Geste gesehen hatte und packte den kleinen Jurastudenten am
Kapuzenansatz.
"Mich besaufen." Flüsterte Jonas, sah kurz auf und musterte das ärgerliche
Gesicht des jungen Italieners mit fiebrig glänzenden Augen. "Aber es hat nicht
geholfen. Das tut es nie. Ich erinnere mich noch immer an all den ganzen
Scheiß..." schluchzte er, presste seine Fäuste gegen die breite Brust des
Medizinstudenten und senkte den Kopf. Die Tränen rannen nun ungehindert über
sein bleiches Gesicht und der Schmerz in ihm schien ihn zerreißen zu wollen.
"Ich halt' das einfach nicht mehr länger aus..."
Raphael blickte mit traurigem Gesichtsausdruck auf den zitternden Körper des
kleinen Jurastudenten herab, legte dann seine Arme um die bebenden Schultern und
drückte ihn sanft an sich. Er wußte, daß Jonas nie so offen zu ihm gewesen wäre,
wenn er sich nicht so betrunken hätte. Aber da er ihn im Moment nicht von ihn
stieß, wollte er ihn den Trost geben, den der junge Künstler so offensichtlich
brauchte.
Es dauerte lange, bis das Schluchzen abklang, die Tränen versiegten. Aber der
Schmerz würde nicht so leicht verschwinden.
Raphael, der Jonas noch immer fest in seinen Armen hielt, spürte erst jetzt, wie
kalt der junge Zeichner wirklich war, wie sehr er in der warmen Wohnung fror.
Vorsichtig umfaßte er das Kinn des kleinen Jurastudenten, zwang ihn, den Kopf zu
heben. Er sah in zwei fiebrig glänzende Augen, fühlte die Hitze, als er seine
Stirn gegen die seines Freundes lehnte.
"Du hast Fieber." Stellte er sachlich fest, löste die Umarmung und öffnete eine
der vielen Türen. Jonas lehnte sich wieder gegen die Wand und schloß die Augen.
Er hätte sich schämen sollen für seinen Gefühlsausbruch, aber er tat es nicht.
Er fühlte sich ganz einfach ausgelaugt und furchtbar elend. Warum sollte er sich
auch noch schämen? Er besaß doch sowieso keine Würde mehr! Er hatte sie nie
besessen!
Irgendwo hörte er Wasser rauschen. Oder war es der Regen? Er wußte es nicht.
Wenn jemand ihm erzählt hätte, daß es der hauseigene Wasserfall war, so hätte er
das auch geglaubt. Im Moment war ihm alles seltsam egal, seine Gedanken so
wunderbar vernebelt. Aber nicht vernebelt genug!
"Komm!" Raphael ergriff seine Hand und zog ihn in ein Badezimmer, das doppelt so
groß war wie sein Wohnheimloch. Es war mit weißen Kacheln ausgelegt und weicher
Teppich vertrieb die Kälte des Marmors. Riesige Spiegel bedeckten die eine Seite
über mehreren Waschbecken, Fenster bildeten die andere Seitenfront. Die
Jalousien waren heruntergelassen worden, aber Jonas hörte noch immer den Regen,
der gegen die Scheiben prasselte. An einer anderen Wand stand eine Badewanne,
die größer als sein Bett war. Heißes Wasser lief gerade hinein und es dampfte.
Wie viel Wände hat dieses Zimmer eigentlich?
Jonas stolperte, als sich die Welt noch schneller zu drehen begann. Raphael war
sofort neben ihm, hielt ihn fest.
"Such' dir das nächste Mal wenigstens schönes Wetter für dein Saufgelage aus!"
forderte er ihn auf, öffnete den Reißverschluß der klatschnassen Jacke. Jonas
fischte aus einer Innentasche einen Scheck hervor, der wie gewaschen aussah,
hielt ihn dem angehenden Mediziner unter die Nase.
"Mein Vater hat sich nie darum gekümmert, ob schönes Wetter war oder nicht."
Meinte er, setzte sich auf den breiten Rand der Badewanne, weil seine Beine ihm
schlicht den Dienst versagten.
"Dein Gehaltsscheck?" fragte Raphael, als er die niedrige Summe auf dem Papier
las. Jonas schüttelte nur den Kopf und bereute diese Geste sofort, als das
Karussell einen Zahn zulegte.
"Nein, Schweigegeld." Er sah kurz in fragende, haselnußbraune Augen, senkte dann
seinen Blick und starrte auf den flauschigen Teppich. "Mein Vater war
verheiratet und Vater dreier Kinder, als er meine Mutter kennenlernte.
Vielleicht haben sie sich geliebt, vielleicht war es auch nur eine günstige
Gelegenheit. Jedenfalls entstand ich dabei. Eigentlich wäre das ja nicht weiter
wild gewesen. Mein Vater kam meine Mutter regelmäßig besuchen und kümmerte sich
auch um mich, bis sie schwer erkrankte und schließlich starb. Ich war damals
vier Jahre und da meine Mutter keine Familie mehr besessen hatte, mußte mich
mein Vater aufnehmen. Damit kam das ganze Verhältnis heraus und seine Frau
machte ihm die Hölle heiß. Natürlich wollte sie mich Bastart nicht in ihren
eigenen vier Wänden dulden, aber sie hatte keine andere Wahl. Ich bekam irgend
ein kleines Zimmer und kaum daß ich alt genug war, wurde ich weit weg auf ein
Internat geschickt. Genauso wie die anderen Kinder auch. Nur, daß ich die
fernste Universität nehmen und möglichst nie wieder heimkehren sollte." Jonas
seufzte leise, setzte die Brille ab und legte sie neben sich auf den Wannenrand.
"Zum fünfzigsten Geburtstag meines Vaters hab' ich dieses ungeschriebene Gesetz
gebrochen. Ich war damals dreizehn und dachte wohl, daß man mir verzeihen
könnte, daß ich ein Bastart war." Er zuckte leicht seine schmalen Schultern, die
hingen. "Vielleicht kannte ich die Bedeutung dieses Wortes noch nicht richtig,
aber die gesamte Verwandtschaft zeigte mir, welche Schande ich sei und daß ich
nie in diese Familie gehören würde." Jonas Stimme brach und er rang nach Luft.
"Die einzige, die anders war, war Lisette. Sie ist die älteste und einzige
Tochter meines Vaters und machte sich aus all dem Gerede nichts. Sie behandelte
mich wie einen richtigen Bruder und wenn es Probleme gibt, darf ich sie
besuchen. Sie hat immer für mich Zeit." Der junge Zeichner faltete seine Hände,
sah noch immer nicht auf.
"Sie ist der einzige Mensch, zu dem ich noch Kontakt habe. Mein Vater schickt
mir jedes viertel Jahr diesen Scheck, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen."
Jonas lachte kurz auf, es klang unendlich traurig. "Es reicht nicht einmal mehr
für das Wohnheim. Wenn ich nicht nebenbei jobben würde, könnte ich mir nicht
einmal einen Hamburger leisten." Er biß die Lippen aufeinander und sein Blick
wurde zornig. "Aber ich werde mich nicht bei meinem Vater melden, um nach mehr
zu betteln. Ich brauch' kein Blutgeld von ihm. Er gibt es mir doch nur, damit
ich ruhig bin. Das bin ich auch so. Denn, was will ich schon von einem Mann, der
mir nicht einmal eine Geburtstagskarte schickt oder sich erkundigt, ob es mir
noch gut geht?!" Jonas schluckte hart, aber er hatte keine Tränen mehr. "Wenn
ich sterben würde, würde er vielleicht durch Lisette von meinem Tod erfahren.
Aber er würde nicht zu meiner Beerdigung kommen. Nein, sie würden feiern. Diese
ganze verfluchte Familie wäre doch nur froh, daß ihr Schandfleck endlich
beseitigt wäre!"
"So darfst du nicht reden." Raphael, der ihm schweigend zugehört hatte, hockte
sich vor ihn und zog ihm die Strümpfe aus. Sie waren so naß, daß er den Teppich
unter Wasser gesetzt hätte, hätte er sie ausgewrungen.
"Ach, und wie soll ich dann reden? Soll ich fröhlich vor mich her lachen, obwohl
mir zum heulen zumute ist? Weil ich dieses verdammte Studium mache, das mich
ankotzt? Weil ich Bilder zeichne, die sowieso niemand sehen will? Die niemand
verstehen kann?" Jonas sah noch immer nicht auf, aber er ließ zu, daß der junge
Italiener ihm die nasse Jacke und das durchweichte T-Shirt auszog.
"Wenn dir dein Leben wirklich so schlecht erscheint, dann ändere es doch."
"Das kannst du so einfach sagen! Du schwimmst geradezu im Geld, wenn ich schon
allein dieses Bad sehe! Da ist das einfach, sein Leben umzukrempeln, weil man
sich keine Gedanken darum machen muß, woher man die nächsten Mahlzeit nehmen
soll! Wo man die nächste Nacht verbringen soll. Denn unter Brücken will ich
nicht schlafen."
"Das sah vorhin aber ganz anders aus, wo du da im Schlamm gehockt hast."
Erwiderte Raphael mit leicht zynischer Stimme und öffnete den Gürtel, um dem
kleinen Jurastudenten aus der völlig mit Dreck verschmierten Hose zu helfen.
"Auch siehst du viel zu dürr aus, als daß du dir große Gedanken um dein Essen
machen würdest."
"Die Ölfarben sind teuer und da muß ich mich eben manchmal entscheiden, was mir
wichtiger ist." Erklärte Jonas und riß die Augen auf, als er langsam erkannte,
daß er halb nackt auf dem Wannenrand hockte und der junge Italiener ihn langsam
entkleidete. Seine Hand schnellte vor und packte die sonnengebräunte.
"Was tust du da?" fragte er und leichte Panik schlich sich in seinen Blick, als
er endlich aufsah.
"Dich in die Badewanne stecken. Du wirst dir sonst noch eine richtige Grippe
holen." Raphael musterte kurz Jonas Gesicht, das mit einem Schlag tief rot
anlief.
"Das kann ich allein." Wehrte er ab und der junge Italiener erhob sich, drehte
ihm den Rücken zu und öffnete einen kleinen Schrank, der aus hellbraunem
Bambusholz zu bestehen schien.
"Du meinst, ohne irgendwo dagegen zu prallen und hinzufallen?"
Jonas verzog nur ärgerlich das Gesicht, schlüpfte aus seiner Hose und der
Unterwäsche und stieg in die Badewanne. Der Ärger wich aus seinen Gesichtszügen,
während er die Wärme genoß, die in seine kalten Glieder zurück kehrte.
"Was kann ich dafür, daß der Baum sich mir mitten in den Weg gestellt hat?"
murmelte er mit einem unscheinbaren Lächeln auf dem Gesicht und rutschte tiefer
in die Wanne, bis nur noch sein Kopf aus dem Wasser herausschaute. Das Karussell
verringerte das Tempo ein wenig und eine seltsame Trägheit ergriff von seinem
Körper Besitz.
"Kommst du allein zurecht?" hörte er irgendwo neben sich die rauhe Stimme mit
dem südländischen Akzent. Müde öffnete er die Augen und blinzelte.
"Ja, ich bin doch kein kleines Kind mehr." Meinte er, aber er war zu erschöpft,
um noch empört zu klingen.
"Ja, aber betrunken. Das ist fast dasselbe." Raphael strich sich die
widerspenstige Strähne hinter die Ohren, legte dunklen Stoff auf einen Stuhl
neben die Badewanne. "Das sind trockene Anziehsachen und Handtücher. Ich bin in
der Küche und schau' mal, ob ich..."
"Kein Essen!" flehte Jonas und schloß wieder seine Augen. Ihm war noch immer so
furchtbar schlecht und es hob ihn bei dem Gedanken an fettige Pommes oder süße
Milkshakes, die er jeden Tag an hungrige Kunden verteilen durfte.
"Vielleicht Tee?" Als der kleine Jurastudent nickte, betrachtete Raphael ihn
eine Weile schweigend. Dann verließ er das Bad.
"Kamille?" Jonas runzelte seine Stirn, als er sich konzentrierte, aber er konnte
das Schild nicht lesen. "In einem Beutel?" Er saß auf dem weißen Sofa, das so
wunderbar weich war und hielt einen Becher in der Hand, der dampfte. Eine warme
Decke lag um seine Schultern und er hatte die Beine gekreuzt, so daß er da saß,
wie ein tibetischer Mönch. Der dunkle Pyjama, den er trug, war ihm viel zu groß,
vermutlich gehörte er dem jungen Italiener. Aber er war trocken. Das war die
Hauptsache.
"Ich hab' nie behauptet, daß ich kochen könnte." Raphael stellte den Zucker auf
den gläsernen Tisch, nahm neben dem kleinen Jurastudenten Platz.
"Lisette hat es mir beigebracht. Aber auf der Kochplatte sind meine
Möglichkeiten begrenzt." Jonas sah in seinen Tee und wieder erschien der
traurige Ausdruck auf seinem Gesicht. "Lisette ist wunderbar. Sie ist immer da,
wenn ich sie brauche. Oben an der See hat sie sich ihren Traum erfüllt und einen
Pferdehof eröffnet. Mit den Viechern kann sie gut umgehen und ich besuche sie
gern. Die Tiere sind gerechter als Menschen. Und treuer." Er trank einen Schluck
und verbrannte sich prompt die Zunge. "Manchmal würde ich gern zu ihr gehen und
sie fragen, ob ich nicht für immer dort bleiben könnte. Sie würde bestimmt nicht
nein sagen, denn sie kann jede helfende Hand gebrauchen. Aber es wäre nicht
fair. Lisette hat ihre eigene Familie: Einen liebevollen Mann und eine stressige
Tochter von gerade zwei Jahren. Es ist ihr gegenüber nicht fair, wenn ich
einfach so auftauche und ihr ganzes Leben durcheinander wirbele." Jonas seufzte,
stellte die Tasse auf den Glastisch und faltete die Hände in seinem Schoß. "Es
ist gut zu wissen, daß ich immer zu ihr kommen kann, wenn ich Probleme habe,
aber ich gehöre nicht zu ihrer Familie."
Raphael rückte dichter an ihn heran und legte seine Hand tröstend auf das
Geflecht der noch immer eiskalten Finger des jungen Zeichners. Eine Weile saßen
sie so schweigend da, bis Jonas schließlich die unheimliche Stille unterbrach.
"Das wegen gestern tut mir leid. Du warst so nett zu mir und ich mußte dich
wegen meines unmöglichen Verhaltens in die Flucht schlagen."
Was rede ich da? Man, ich muß wirklich stockbesoffen sein!
Raphael hob erstaunt seinen Kopf, musterte den kleinen Jurastudenten erstaunt,
der mit einem Schlag errötete.
"Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Das hab' ich noch nie gemacht."
Es schien das Schwerste zu sein, was er je gemacht hatte, als er schließlich
aufsah und in zwei haselnußbraune Augen blickte. Aber er sah nicht mehr die
Ernüchterung in ihnen, die Fassungslosigkeit. Nun wirkten sie vielmehr sanft und
wieder so unendlich tief wie gestern, als er in Eile in das Studierzimmer des
Lateinkurses gestürmt war.
"Hey, du scheinst vergessen zu haben, daß ich derjenige gewesen bin, der dich
geküßt hat." Versuchte Raphael zu scherzen, aber seine Stimme klang noch rauher
als sonst, der Akzent noch ausgeprägter.
"Aber du meintest, es habe sich falsch angefühlt..." stotterte Jonas und wurde
noch roter im Gesicht. Die Welt drehte sich wieder schneller um ihn, aber er
konnte den Blick nicht von den haselnußbraunen Augen wenden, die so tief waren
wie das Meer.
"Nicht falsch..." flüsterte Raphael, beugte sich leicht vor und nahm die
silberne Brille von Jonas Nase. Der kleine Jurastudent starrte ihn verträumt an.
Was tust du hier? Hast du nichts aus all den schmerzvollen Jahren gelernt?
Raphael ignorierte die warnende Stimme in seinem Inneren. Vergessen waren die
Studenten, die ihn so haßerfüllt angebrüllt, die ihn verprügelt und schließlich
von so vielen Universitäten verstoßen hatten. Vergessen waren die mitleidigen,
angeekelten Blicke seiner Familie. Vergessen war sein Schwur, nur noch an seinen
Traum zu denken und jegliches Gefühl tief in seinem Herzen zu verschließen.
Vergessen war all die Verzweiflung. Alles, was noch für ihn existierte, war der
kleine Student, der neben ihm saß, ihn so vertrauensvoll ansah. Der nicht vor
ihm zurück zuckte.
"Nicht falsch, sondern richtig. Und das hat mich ein wenig erschreckt." gab er
leise zu, legte sanft seine Lippen auf die des jungen Zeichners.
Warum laß' ich das zu?
Jonas löste den Knoten seiner Finger und schlang seine Arme um die Schultern des
jungen Italieners und zog ihn zu sich herab, so daß dieser halb auf ihm lag. Er
schloß seine Augen und ließ sich treiben, genoß einfach das Gefühl der
Geborgenheit und des Trostes, nach dem er sich sein ganzes Leben lang sehnte.
Das Gefühl der Liebe...
Warum... Ist das denn so wichtig?
Lange lagen sie so auf dem weichen Sofa und taten nichts weiter, als sich zu
küssen. Die Zeit schien für sie stehen geblieben zu sein. Die kalte Welt
außerhalb dieser Wohnung existierte nicht mehr. Sie hörten weder den Regen, der
gegen die großen Terassenfenster prasselte, noch das Geräusch der wenigen Autos,
die vor dem Haus auf der Straße vorbeifuhren. Alles wurde unwichtig, jegliche
Probleme verschwanden aus ihren Gedanken. Alles, was noch zählte, waren sie. Und
die Gefühle, die sie füreinander empfanden.
Jonas riß seine Augen auf, als er die warme Hand spürte, die sanft unter den
Pyjama kroch und zärtlich seinen Oberkörper streichelte. Er sah in zwei
haselnußbraune Augen, die ihn fragend musterten. Angst wuchs in ihm, aber sie
wurde von den vom Alkohol vernebelten Gedanken unterdrückt.
"Sei sanft. Ich..." Raphael unterbrach das leise Gestammel seines kleinen
Freundes mit einem entschiedenen Kuß, die Hand verschwand beinahe sofort.
Es dauerte eine Weile bis sich der Italiener von dem jungen Zeichner löste und
atemlos auf ihn herab blickte.
"Keine Bange, so eilig hab' ich's nicht." Flüsterte er, rückte ein Stück von
Jonas ab, der ihn noch immer so verträumt anstarrte, und versuchte, seine
aufgebrachten Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen.
"Du gehörst mit einem Hustenmittel ins Bett." Erklärte Raphael schließlich
entschieden und stand auf. "Sonst hast du morgen neben einem Kater auch noch
eine handfeste Erkältung." Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Jonas lehnte seinen Kopf gegen die Lehne des weichen Sofas, seufzte leise.
Was immer ich hier mache, es fühlt sich richtig an.
Leicht runzelte er die Stirn, fragte sich, wo der warnende Ton seiner inneren
Stimme geblieben war.
"Achtunddreizig Grad. Das ist mehr als erhöhte Temperatur." Raphael musterte
erst das Fieberthermometer, dann den kleinen Jurastudenten skeptisch, der auf
dem großen Bett unter kugeligen Decken lag.
"Sonst hätte ich das Zeug auch nie getrunken." Meinte dieser schläfrig,
lächelte.
"Wieso? Es hatte immerhin Alkoholzusatz. Es muß dir doch geradezu geschmeckt
haben." Der junge Italiener legte das Thermometer beiseite, grinste, als er das
unterdrückte Stöhnen des jungen Zeichners hörte.
"Erinnere mich bloß nicht an den wundervollen Kater, der mir noch bevor steht."
Flüsterte Jonas, glitt allmählich in den Schlaf über. Es war so wunderschön warm
hier und das erste Mal, seit er den offenen Haß seiner angeblichen
Verwandtschaft gespürt hatte, fühlte er sich richtig geborgen.
Wenn mir nur nicht so schlecht wäre...
Der Gedanke verflüchtigte sich und mit ihm jegliches andere Gefühl, als der
Schlaf ihn übermannte und mit sich nahm in eine friedvoller Welt. In eine
freiere...
Raphael löschte das Licht, blieb einige Augenblicke zögernd neben der
schlafenden Gestalt des Freundes sitzen. Eigentlich sollte ich in mein eigenes
Schlafzimmer gehen.
Er hatte Jonas in das Gästezimmer einquartiert, das er für seinen älteren Bruder
hergerichtet hatte. Der einzige Mensch seiner Familie, der ihn noch anschauen
konnte, ohne daß er sich gleich schlecht fühlte. Der einzige Mensch überhaupt,
der ihn zu verstehen schien. Zumindest ein wenig. Und wenn er es nicht tat, so
hatte er es akzeptiert, daß sein kleiner Bruder anders war.
Ja, Julian konnte ihm noch die Hand reichen, ohne anschließend ins Bad zu
stürzen, um sich die Hände zu waschen...
Eigentlich sollte ich... Ach, was soll's!
Raphael seufzte leise, dann schlüpfte er unter die Decke und nahm den kleinen
Jurastudenten vorsichtig in seine Arme. Jonas, der bereits tief und fest
schlief, kuschelte sich an ihn, ein Lächeln erschien auf dem sonst so traurigen
Gesicht.
"Gute Nacht, Kleiner."
Raphael flüsterte zärtlich noch einige italienische Worte, die der jüngere Mann
sowieso nicht verstanden hätte.
Sie klangen fast wie eine Liebeserklärung.
***
Es dämmerte, als Jonas erwachte. Leise stöhnte er, faßte sich an den
schmerzenden Kopf. Wenn er nicht bald ein Aspirin bekam, würde der Kater kaum
aushaltbar sein. Wieviel Gläser von dem ekeligen Zeug hatte er sich eigentlich
rein gequält? Der junge Zeichner wußte es nicht. Er hatte den Scheck seines
Vaters erhalten und war in die übliche Kneipe gegangen, um sich zu betrinken. Um
all diesen Mist zu vergessen. Aber es schien nicht geklappt zu haben, denn er
erinnerte sich nur allzu gut daran, daß er ein Bastart war, seine leibliche
Familie nichts von ihm wissen wollte.
Und was dann? Was war dann passiert? Es hatte geregnet und es war kalt gewesen.
War er wieder in sein Wohnheim zurückgekehrt? Hatte sein Körper auch ohne
geistigen Beistand des Kopfes den Weg gefunden? Hatte er wieder eines seiner
Bilder zertreten und die Hälfte der Ölfarben verschüttet?
Jonas wollte seine Augen nicht öffnen, um das ganze Elend zu sehen. Lieber
wollte er hier liegen bleiben für den Rest seines Lebens. Einfach liegen bleiben
und von der Außenwelt vergessen werden. Um irgendwann vom Tod erlöst werden.
Jonas öffnete sie dennoch und erstarrte.
Das ist nicht mein Zimmer!
Die Matratze war viel zu bequem, die wenigen Umrisse, die er im fahlen Licht des
neuen Tages erkennen konnte, wiesen auf ein wesentlich größeres Zimmer hin.
Außerdem roch es nicht nach Ölfarben. Nein, es roch vielmehr nach frischer
Tapete. Der junge Zeichner war sich sicher, daß sein Wohnheimloch seit
Jahrzehnten keine Maler mehr gesehen hatte.
Wo bin ich?
Sein Kopf wollte explodieren, als er sich aufrichtete und einige Augenblicke wie
versteinert am Bettrand hocken blieb. Seine Beine versagten ihm den Dienst, die
ganze Welt drehte sich um ihn, als ob er in einer Achterbahn säße. Er sah an
sich herab und stellte fest, daß er nur Unterhosen trug. Es waren nicht einmal
seine eigenen.
Man, ich muß wirklich besoffen gewesen sein.
Der Restalkohol in seinem Blut bewirkte, daß er nicht sofort aufsprang und
fortlief. Wo war seine Kleidung? Leicht hob er seinen Kopf, stöhnte erneut auf.
In wessen Wohnung befand er sich? Wie war er hier her gelangt?
Du wolltest doch immer vergessen!
Ja, dieses Mal war es ihm wirklich gelungen. Zwar konnte er nicht die grausamen
Bilder seiner Verwandtschaft aus den Gedanken vertreiben, dafür fehlte die
letzte Nacht völlig. Und Jonas wurde das Gefühl nicht los, daß das nicht so gut
war.
Was zum Teufel...
Er riß seine Augen auf, als er die Gestalt erkannte, die auf der anderen Seite
des Bettes lag und tief schlief. Das gleichmäßige Atmen war unter dem lauten
Geräusch der Regentropfen, die an die Fensterscheiben prasselten, zuerst
untergegangen. Nun aber hörte es der junge Zeichner überdeutlich. Einige Momente
saß er einfach nur da und starrte den jungen Italiener voller Entsetzen an.
Was hab' ich getan?
Jeglicher Gedanke verschwand aus seinem ohnehin noch stark vernebelten Gehirn,
als er sich schleppend erhob und möglichst leise das Zimmer verließ. Seine
Kleidung fand er in einem luxuriös ausgestatteten Badezimmer. Sie hingen über
dem Badewannenrand und fühlten sich noch ein wenig feucht an. Rasch zog er sie
über und ergriff die dunkle Jacke, die im Flur an einer Garderobe hing. Sie war
trocken und wunderbar warm. Aus irgendeinem Grund fror es Jonas mit einem Mal
fürchterlich. Schweigend musterte er den Flur, aber er erkannte ihn nicht
wieder. Schließlich seufzte er, warf einen letzten Blick auf die nun
verschlossene Tür und verließ geräuschlos die Wohnung.
Im Treppenhaus war es angenehm dunkel. Der junge Zeichner stolperte die Stufen
herab, aber er würde kein Licht anzünden. Keiner der Nachbarn sollte sehen, wie
er am frühen Morgen aus dem Zimmer eines Fremden floh.
Raphael ist kein Fremder...
Jonas stieß mit aller Kraft die Eingangstür auf und trat hinaus in die kalte
Dämmerung. Harter Regen trommelte auf ihn herab, aber er stülpte die Kapuze
nicht über. Die Nässe tat so gut auf seinem heißen Gesicht, brachte ein wenig
Leben in den Körper, der nicht mehr ihm zu gehören schien. Automatisch setzte er
einen Fuß vor den anderen, aber er bemerkte es nicht einmal. Die Allee war von
mächtigen Eichen bewacht. Dahinter konnte er im Morgengrauen schmucke Häuser
ausmachen. Hier wohnten nur reiche und glückliche Menschen. Nicht solch
armselige Gestalten wie er.
Der junge Zeichner schwankte den Fußweg entlang, versuchte, jeglichen Gedanken
aus seinem schmerzenden Kopf zu verbannen. Es gelang ihm nur zum Teil.
Was ist letzte Nacht nur geschehen?
Er wußte es nicht. Die letzten Stunden waren aus seinem Gedächtnis verschwunden.
Es existierte nur noch ein großes Loch in seinem vernebelten Gehirn. Nur noch
eine riesige, graue Leere.
Was hab' ich letzte Nacht gemacht, um in einem fremden Bett aufzuwachen?
Jonas hatte einen kleinen Park erreicht. Er ging hinter einem Strauch in die
Knie und würgte. Er wollte den schlechten Geschmack in seinem Mund loswerden und
die Bauchschmerzen heraus brechen. Aber sein Körper erzitterte nur, gab sonst
nichts her.
Eine Weile blieb der junge Zeichner hocken, wandte sein Gesicht dem Himmel zu
und ließ die Regentropfen auf sich fallen. Sie wirkten wie Tränen der dichten
Wolken, die gemächlich über ihn dahin zogen. Seine bebenden Hände durchsuchten
die Taschen seiner Jeans und förderten einen zerknitterten Geldschein zu tage.
Er besaß ihn schon seit vielen Jahren und hatte ihn für Notfälle aufgehoben.
Dieser Schein verkörperte seine letzte Hoffnung, sollte er sein Studium aufgeben
müssen. Sollte er es in dieser kalten Stadt nicht mehr aushalten können. Dieser
Geldschein reichte für ein Ticket, um sich Rat bei dem einzigen Menschen zu
holen, dem er vertraute. Der ihn wirklich liebte. Der ihn vor einer großen
Dummheit bewahrte.
Jonas stöhnte, die Kopfschmerzen trieben ihn zum Wahnsinn. Langsam erhob er
sich, stützte sich an einem nahen Baum ab und wankte schließlich davon.
Ja, der Schein würde für ein Ticket reichen.
Und wenn er Glück hatte auch für ein Aspirin.
Als der Zug den Bahnhof verließ, lehnte sich Jonas zurück, nahm die silberne
Brille in die rechte Hand, schloß die Augen. Die aufgehende Sonne blendete ihn
und holte die Kopfschmerzen zurück, die die Tablette so wunderschön unterdrücken
konnte.
Eigentlich hätte er froh sein sollen, endlich diese grausame Stadt zu verlassen.
Es würde nicht für immer sein, das wußte er. Denn seine Bilder befanden sich
noch in dem Wohnheim. Ohne sie würde er nirgendwo hin gehen. Wo immer es ihn
auch einmal hinziehen würde, er würde sie mitnehmen. Waren sie doch sein ganzer
Lebenszweck.
Eine halbe Stunde hatte er in dem Abteil gesessen und angstvoll auf die
Wartehalle hinaus geschaut. Aber Raphael war nicht aufgetaucht, wie er das
befürchtet hatte. Warum hätte der junge Italiener auch herkommen sollen? Er
hatte doch schließlich gehabt, was er wollte. Jonas hatte noch nie in einem
kitschigen Buch oder einem schnulzigen Film gesehen, daß Machos ihren
One-Night-Stands hinterher liefen.
Woher soll er wissen, daß du weg fährst? Und wohin?
Der junge Zeichner bedeckte sein totenbleiches Gesicht mit seinen eiskalten
Händen, holte tief Luft.
Ja, er hätte froh sein sollen.
Aber er war es nicht.
***
"Montag morgen um neun und die Woche nimmt kein Ende!" Eine junge Studentin nahm
entschieden ihre langen, blonden Haare im Nacken mit einem Band zusammen, zuckte
mit den Schultern. Ihre Freundin schulterte ihren Rucksack stärker, lachte hell
auf.
"Du alter Pessimist. Schau', die Sonne lacht so schön nach all dem Regen am
Wochenende! Du solltest dich darüber freuen."
"Amen, Mutter Theresa!"
Lachend eilten die beiden den düsteren Gang der Universität entlang, bemerkten
nicht die Gestalt eines jungen Mannes, der vor einem der vielen Studienräume
stand und zu warten schien. Die Glocke läutete, viele Studenten eilten quer
durch das Gebäude, Türen schlugen und plötzliche Stille kehrte ein. Der junge
Mann löste sich aus seiner Starre, wollte gerade die Universität verlassen, als
er die eiligen Schritte hinter sich hörte.
"Verdammt, der Prof wird mich umbringen! Dabei sind Anwälte im wirklichen Leben
auch nicht immer überpünktlich!" fluchte ein Student, strich sich nervös durch
die dunkelbraunen Haare, räusperte sich und öffnete schließlich mit
übermenschlichen Mut die Tür.
Der junge Mann, der eben noch erwartungsvoll gewirkt hatte, ließ die Schultern
hängen, trat schließlich hinaus auf die Treppe. Die Sonne strahlte mit all ihrer
Macht vom Himmel herab und automatisch setzte der junge Italiener seine
Sonnenbrille auf.
Er ist nicht gekommen.
Raphael zog die dunkle Stoffjacke aus, warf sie auf die Rücksitze seines Autos,
während er einstieg. Laut heulte der Motor auf, als er davonfuhr. Der
Strafzettel wurde vom Fahrtwind ergriffen, landete irgendwo auf der Straße und
wurde von dem nächsten Wagen überrollt.
Hast du etwas anderes erwartet?
Der junge Italiener runzelte leicht seine Stirn, schaltete das Radio ein. Aber
die Stimme des bereits verstorbenen Sängers ödete ihn plötzlich nur noch an.
>Friends will be friends...<
Raphael drehte das Radio genervt aus, fuhr über die nächste rote Ampel und
ignorierte das empörte Hupen der bremsenden Autos um ihn herum mit einem bösen
Grinsen auf dem sonnengebräunten Gesicht.
Er war allein aufgewacht. Im ersten Moment hatte er aufspringen wollen und
nachsehen, ob mit dem kleinen Jurastudenten alles in Ordnung war, aber dann
hatte er gewußt, daß Jonas gegangen war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen. Seine
Sachen hatte er aus dem Bad mitgenommen und blieb verschwunden. Er ging nicht
ans Telefon. Auch Jürgen konnte ihm nicht weiterhelfen. Der Informatikstudent
hatte nur gemeint, daß Jonas ab und an im Jahr für eine Woche verschwand und
dann einfach so wieder auftauchte, ohne auch nur einem Menschen zu erzählen, wo
er gewesen war.
Raphael könnte es sich genauso leicht machen. Einfach warten, bis der kleine
Jurastudent wieder zurück kehrte.
Aber das wollte er nicht. Insgeheim hatte der junge Italiener ja gehofft, daß
Jonas zu seinen Juraseminaren auftauchte, aber auch in der Universität ließ er
sich nicht blicken.
Machst du dir etwa Sorgen?
Ja!
Der junge Medizinstudent sah kurz zu den grauen Blöcken auf, parkte dann sein
Auto und ging mit entschlossenen Schritte zu den Eingang hin, den er am
Donnerstag abend so zögernd betreten hatte. Mit einem Buch in der Hand, das er
schon längst kannte. Er war sich selbst ein wenig dumm vorgekommen. Er, der der
beste seines Studienganges gewesen war - auch in Latein, suchte Hilfe bei einem
anderen Studenten. Aber, wäre er sonst näher an den jungen Zeichner
herangekommen? Hätte ihn Jonas überhaupt beachtet? Wären sie je Freunde
geworden?
Wäre er dann fortgelaufen?
Raphael fluchte unterdrückt, holte ein kleines Schlüsselbund hervor und betrat
den übel riechenden Hausflur. Es steckte Post in Jonas' Briefkasten. Die Werbung
vom Wochenende und andere Briefe. Also war er nicht hier gewesen. Wo konnte er
dann sein? Ein junger Mann verschwand doch nicht einfach so vom Erdboden!
Jürgen kennt ihn seit zwei Jahren und er weiß auch nichts. Jonas wollte nicht,
daß jemand seinen geheimen Zufluchtsort weiß.
Der junge Italiener sah sich kurz um und als er sich vergewissert hatte, daß ihn
niemand sah, huschte er in das kleine Zimmer des jungen Zeichners. Jonas schien
die Wohnung ziemlich rasch verlassen zu haben, denn anstelle seiner Jacke nahm
er die des Medizinstudenten mit. In der dunklen Stoffjacke fand Raphael den
Schlüssel sowie das Portemonnaie.
Er hat nicht einmal etwas Geld bei sich...
Raphael sah sich in dem kleinen Raum um, der noch genauso unordentlich wirkte
wie an dem Abend, da er hier gewesen war. Aber das Bild der alten Frau war
beendet. Es stand unverhüllt an der freien Wand hinter den Ölfarben neben
anderen Gemälden.
Was erwarte ich, hier zu finden?
Raphael legte die Briefe ungeöffnet auf den altersschwachen Kühlschrank, trat zu
dem ungemachten Bett hinüber und nahm behutsam den großen Zeichenblock in die
Hände. Unzählige Bleistifte verschiedener Größe und Stärke lagen verstreut auf
der zerwühlten Decke und es knackte, als sich der junge Italiener auf die
vollkommen durchgelegene Matratze setzte. Sorgfältig öffnete er den Block und
sah eine junge Frau Anfang dreißig, die ihn fröhlich anzulachen schien. Sie
hatte ihr langes, blondes Haar zu einem energischen Zopf zusammengebunden, trug
enge Hosen und ein kariertes Holzfällerhemd. In ihren Händen hielt sie Zügel und
ein schwarzes Pferd hatte seinen Kopf auf ihre rechte Schulter gelegt, blies mit
seinen Nüstern gegen die wenigen Strähnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst
hatten. Sie wirkte so glücklich, so voller Lebensfreude. Und sie besaß dieselben
Augen wie Jonas.
"Lisette." Flüsterte Raphael, der plötzlich wußte, um wem es sich bei dem Bild
handelte. Genauso hatte sie der junge Zeichner auch beschrieben. So voller Liebe
und Verständnis für einen Bastart. Sie war der Mensch, an den sich Jonas wenden
konnte, wenn es ihm wirklich dreckig ging. Aber der kleine Jurastudent wollte
sich nicht all zu sehr in ihr Leben mischen, denn es war nicht seine Familie,
wie er behauptete.
Ich kann dich gut verstehen.
Raphael blätterte vorsichtig um und erstarrte mitten in der Bewegung. Der junge
Mann, der ihm nachdenklich entgegen starrte, war niemand anderes als er selbst.
Licht fiel durch ein Fenster, das nicht gezeichnet worden war, und spiegelte
sich in seinen dunklen Augen. Etwas Geheimnisvolles schwang in seinem Blick, den
niemand recht deuten konnte, der ihn nicht richtig kannte. Raphael hob
überrascht seine Augenbraue, schob die Sonnenbrille langsam von der Nase. Er
kannte diesen Blick. Er drückte Traurigkeit und Sehnsucht aus.
Wie hat er das sehen können?
Jonas war wirklich ein ausgezeichneter Betrachter.
Aber er hat mich doch nicht lange genug beobachten können!
Er dachte an die wenigen Momente, die sie sich angesehen hatten, als der kleine
Jurastudent zu spät in das Lateinseminar gestürzt war. Diese wenigen Augenblicke
schienen gereicht zu haben, denn das Bild konnte nicht sehr alt sein. Vermutlich
hatte es Jonas am Freitag gemalt. Nach ihrem Kuß...
Raphael musterte sein Ebenbild, sah die widerspenstige Strähne, die ihm auch
jetzt in sein Gesicht fiel. Aber auf dem Papier hatte er sie nicht hinter seine
Ohren gestrichen, wie er das immer tat. Eine fremde Hand fuhr durch sein
schwarzes Haar, das offen auf seine Schultern fiel. Erst jetzt fiel dem jungen
Italiener der junge Mann auf, der im offenem Sonnenlicht hinter ihm stand. Die
blauen Augen leuchteten, ein Lächeln erhellte das sonst so verschlossene,
bleiche Gesicht.
Wieso hat er das getan?
Jonas hatte sich selbst in das Bild gezeichnet. Wie anders er darauf wirkte! So
unbeschwert. So glücklich. So frei. Fast konnte Raphael das Lachen des kleinen
Jurastudenten hören. Das Lachen, das er bereits jetzt so sehr mochte und das er
schrecklich vermissen würde, sollte der junge Zeichner ihn nun auch von sich
stoßen, genauso wie seine Familie.
Verdammt, ich vermisse ihn seit zwei Tagen!
Seit Raphael das Bild Lisettes gesehen hatte, wußte er auch, wo er seinen
kleinen Jurastudenten finden konnte, aber er war sich nicht sicher, ob das der
richtige Weg war. Ja, Jonas hatte ihm seine größten Ängste, seine dunkelsten
Seiten offenbart. Er hatte ihn geküßt und sich so vertrauensvoll an ihn
gekuschelt. Vertrauen. Das hatte der kleine Jurastudent zu ihm gehabt. Aber er
war stockbesoffen gewesen.
Bestimmt hat er gar nicht richtig mitgekriegt, was er getan hat.
Raphael seufzte laut, strich sich unbewußt die widerspenstige Haarsträhne hinter
die Ohren. Irgendwie hatte er gehofft, daß die Show nun besser wurde. Jetzt, da
er Jonas kennengelernt hatte. Da hatte er sich wohl geirrt. Oder?
Wäre er sonst weggelaufen?
Nein, wahrscheinlich nicht.
Oder?
Raphael musterte ein letztes Mal das seltsame Bild, das er nicht recht verstand.
Anders als sein gezeichnetes Spiegelbild, sah der kleine Jurastudent nicht den
Betrachter direkt an. Sein Blick war auf den jungen Italiener gerichtet. Ein
rätselhafter, undurchschaubarer Ausdruck lag auf dem fröhlich lachenden Gesicht.
Ein Blick, den nur wirkliche Freunde entschlüsseln konnten. Jürgen wäre es
bestimmt nicht aufgefallen und all den anderen Studenten, die Jonas zwar
flüchtig kannten, dennoch keine Ahnung von seinem Leben hatten, auch nicht.
Entschieden klappte Raphael den Block zu, legte ihn vorsichtig auf die zerwühlte
Decke zurück und stand langsam auf. Kurz sah er sich noch einmal in dem kleinen
Zimmer um, legte dann die Schlüssel neben die Post auf den Kühlschrank und
verließ das Wohnheimloch. Beinahe wäre er mit Jürgen zusammengeprallt.
"Ist Jonas endlich wieder da?" fragte dieser, aber seine Stimme klang weniger
voller Sorge denn voller Neugier.
"Nein." Raphael ließ den völlig verdutzt dreinblickenden Rotschopf einfach
stehen und eilte die Treppe hinab. Kurz sah er auf seine teure Armbanduhr,
entschied, daß er die heutigen Medizinseminare auch nachholen konnte. Es gab
wichtigere Sachen als das.
Wichtiger als mein Traum?
Der junge Italiener verharrte in der Bewegung, lehnte sich gegen das
Treppengeländer und schob die Sonnenbrille wieder auf seine Nase. Nachdenklich
starrte er durch die getönten Gläser auf die mit Graffiti beschmierten
Betonwände. Er dachte an den kleinen Jurastudenten, der ihn so offen angelacht
und ihm dabei sein angeblich verdorbenes Paßphoto gezeigt hatte. Verdorben hatte
Raphael es nicht empfunden. Vielmehr niedlich... Der junge Italiener konnte noch
immer die Arme spüren, die Jonas sanft um ihn gelegt hatte. Und seine Beine
wurden noch immer ganz weich, wenn er an die liebevollen Küsse zurückdachte.
Wichtiger als mein Traum?
Raphael erinnerte sich an den kleinen Jurastudenten, der so in seiner Zeichnung
versunken auf den großen Stufen der Universität gesessen und die Liebe einer
alten Frau festgehalten hatte, die niemand anderes bemerkt hatte. An jenen
ersten Moment, in dem Jonas in das Lateinseminar gestürmt und wie hypnotisiert
stehengeblieben war und ihn fasziniert angestarrt hatte. An den unsicheren
Ausdruck in dem immer blassen Gesicht, als er ihm die Bücher gegeben hatte.
Seine Hände waren zart gewesen, aber auch voller Stärke. Mit ihnen vermochte er,
solch eindrucksvolle Bilder zeichnen zu können. Raphael schloß kurz seine Augen,
sah ihr beider Porträt vor sich.
Wichtiger als mein Traum?
Verdammt, ja!
Raphael löste sich ruckartig von dem Geländer, eilte hinaus auf die Straße und
fuhr rasch in seinem Wagen davon.
Er war in das Wohnheim gekommen, ohne recht zu wissen, was er gesucht hatte.
Dennoch hatte er es gefunden. Jetzt wußte er, was es tun galt. Er konnte nicht
hierbleiben und warten. Das wäre, als würde er außerhalb des Geschehens stehen.
Und wenn es der größte Fehler seines Lebens war, dann war es ihm egal.
***
"Onkel Schonasch!" Ein kleines Mädchen von gerade zwei Jahren tapste auf ihren
kurzen Beinchen über den Hof des Bauerngutes.
"Meine kleine Babsy!" Jonas legte die Mistgabel beiseite, bückte sich zu seiner
Nichte, hob sie sanft in seine Arme und wirbelte sie durch die Luft. Das kleine
Mädchen lachte glücklich auf.
"Schneller." quietschte es vergnügt, klatschte in seine kleinen Hände. Das
hellblonde Haar, das rötlich in der Frühsommersonne schimmerte, reichte ihr bis
auf die Schultern, strich sanft um ihr pausbäckiges Gesicht, während er sich mit
ihr im Kreis drehte. Sie besaß dieselben blauen Augen wie er und Lisette
erklärte, daß sie manchmal wie er schaute, wenn sie etwas haben wollte, es aber
nicht bekam. >Ihr beide schmollt wie ein Gesicht.< erklärte sie dann immer frech
grinsend. Jonas tat dann immer, als wäre er beleidigt. Aber in Wirklichkeit war
er stolz über ihre Worte. Stolz, darauf, daß ihm seine kleine Nichte so ähnlich
war. Das bewies, das er doch ein wenig zu dieser kleinen Familie gehörte.
"Ach, hier steckst du, du Schlingel!" Eine junge Frau Anfang dreißig trat aus
einen der vielen Ställen. Sie hatte das hellblonde Haar auf ihren Rücken
geflochten, trug nun gewaschene Jeans und ein neues Holzfällerhemd. Mit offenen
Armen trat sie zu ihrem Bruder hinüber, nahm ihm ihre Tochter ab.
"Du weißt doch, daß du jetzt deinen Mittagsschlaf halten sollt." Erklärte sie
entschieden, worauf Barbara ihr kleines Gesicht verzog, weinerlich von unten
heraus betrachtete.
"Ihr beide schmollt wie ein Gesicht." Lachte Lisette, sah kurz ihren kleinen
Bruder an, der seinen Gesichtsausdruck dem seiner Nichte verblüffend ähnlich
nachahmte.
"Man, bin ich froh, schon zu alt dafür zu sein." Erklärte Jonas entschieden,
ergriff wieder die Heugabel. Es gab noch viel Arbeit für ihn diesen Pferdehof.
Arbeit gab es immer genug. Und der junge Zeichner war sehr froh darüber.
"Eines Tages wirst du wieder zu alt sein und dich darüber freuen. Omi schläft
auch jeden Mittag eine Stunde."
Jonas nickte bei ihren Worten. Omi, so durfte er auch die alte Frau nennen, die
einen Teil des Hauptgebäudes bewohnte. Sie war die Adoptivmutter von Lisettes
Ehemann und die Güte in Person. Sie hatte den jungen Zeichner mit offenen Armen
empfangen, genauso wie ihre Schwiegertochter. Und genauso wie Jonas liebte sie
Barbara abgöttisch.
"Mag sein. Hast du heute noch Reitunterricht?" Jonas betrachtete kurz die
gewaschene Kleidung, die seine Schwester trug. Normalerweise wechselte sie ihre
Sachen nicht über den Tag, weil das sinnlos war. Die Pferde knabberten gern an
ihren Hemden und die Hunde sprangen sie immer voller Freude an, wenn sie sie
sahen.
>Wer Tiere hat und nicht aussieht wie ein Schwein, der macht etwas verkehrt.<
lachte Lisette immer fröhlich, wenn einer der vier Schäferhunde, die das Gelände
vor Fremden bewachten ansprangen. Oder John, ein noch junger, verspielter Berner
Sennenhund, den Lisettes Mann aus der Praxis mit nach Hause gebracht hatte. Ein
kleines Bündel, das sich winselnd an den jungen Tierarzt gekuschelt und
hoffnungsvoll in die Runde geschaut hatte. Einstimmig hatte der Familienrat
beschlossen, den Welpen zu behalten und die Schäferhunde hatten ihn rasch in ihr
Rudel aufgenommen.
John hat riesiges Glück gehabt. So wie ich auch.
"Ja. Um zwei kommen die ersten Schüler. Wie jeden Tag." Lisette drückte ihre
Tochter, die unauffällig zu gähnen versuchte, leicht an sich, beobachtete ihren
Bruder, der nickte und zurück in den Stall ging, um ein weiteres ihrer fünfzig
Pferde zu versorgen. Seine Schultern hängten und wenn er sich unbeobachtet
fühlte, erschien immer so ein furchtbar trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht.
Vor zwei Tagen war er einfach aufgetaucht und hatte sie um Unterschlupf gebeten.
Natürlich hatte sie ihn aufgenommen. Jonas wußte, daß ihre Tür immer für ihn
offen stand, daß ein Zimmer im ersten Stock ihm gehörte.
Nachdenklich musterte Lisette den Schatten ihres kleinen Bruders, der eine
Stallbox öffnete, leise auf das Pferd einredete, während er eintrat. Jonas nahm
ihre Gastfreundschaft nur selten in Anspruch. Eigentlich hatte sie ihn ja hier
behalten wollen, als er das erste Mal aus der großen Stadt zu ihr gekommen war.
Damals war er völlig verzweifelt über das von ihm so gehaßte Studium gewesen.
Aber bleiben wollte er dennoch nicht.
>Ich muß mein Leben selbst in den Griff bekommen.< hatte er an jenem Abend zu
ihr gesagt, als sie ihm das Angebot gemacht hatte, bei ihr auf dem Pferdehof zu
bleiben. Arbeit gab es immer genug und ihr kleiner Bruder konnte sehr gut mit
Tieren umgehen. Dennoch war er zurück in das dreckige Wohnheim gegangen, hatte
von ihr nicht einmal Geld angenommen. Nur ab und an kam er vorbei. Vermutlich,
um wieder ein wenig Hoffnung zu tanken, bevor er in die kalte Großstadt zurück
kehrte.
Meist war ihm das Studium zu viel geworden. Dann hatte er sich seinen Block
geschnappt, einige Pferde und das nahe Meer gezeichnet. Das hatte ihn immer
beruhigt. Besonders zu jenen Zeiten, in denen sich ihr Vater wieder bei ihm
gemeldet hatte. Und wenn es nur in Form eines Schecks war.
Aber dieses Mal schienen weder der stressige Lebensstil noch der kalte Erzeuger
schuld an Jonas traurigen Gemütszustand zu sein. Etwas anderes schien ihn zu
bedrücken. Etwas, worüber der junge Mann nicht mit seiner großen Schwester
sprach. Das erste Mal, seit sie sich an dem 50. Geburtstag ihres gemeinsamen
Vaters das erste Mal richtig sahen.
Er hat nicht einmal sein Zeichenzeug mitgebracht...
Lisette seufzte leise, wandte sich dann ab, um ihre müde Tochter in ihr Bettchen
zu bringen. Wenn Jonas doch noch mit ihr darüber sprechen wollte, sie war immer
für ihn da. Das wußte er auch.
"Na, Rosie? Wie geht's denn meiner Lieblingsstute?" Jonas betrat die Box, lachte
auf, als der Schimmel leicht seinen Kopf drehte und spielerisch an seinem weißen
T-Shirt knabberte, das mittlerweile völlig verdreckt war. Es schlackerte um
seinen Oberkörper, die Beine der Jeans hatte er umgekrempelt. Die Anziehsachen
gehörten Lisettes Ehemann. Seine eigenen hatte Jonas in die Wäsche gegeben.
"Du bist so frech!" schimpfte er mit gespielt strenger Stimme, holte ein Stück
Zucker aus der Hosentasche und reichte es dem Pferd, der es gierig verschlang.
"Nein, mehr gibt es nicht!" Erneut mußte er lachen, als Rosie ihren großen Kopf
gegen seinen Oberkörper stemmte, ihn mit sanftem Druck gegen die Stallwand
drückte.
"Erst will ich deinen Stall saubermachen und dich auch." Kurz umarmte er den
Hals des Pferdes, seufzte leise. Er mochte diese Tiere. Sie waren treu und
hörten ohne Widerrede zu. Wenn er in die dunklen Augen sah, glaubte er manchmal,
daß sie ihn verstanden.
Sie lassen einen Freund nie im Stich...
Jonas schob Rosie entschieden von sich, ergriff die Mistgabel und begann, das
dreckige Heu in die Schubkarre zu schichten, die auf dem Gang stand. Um ihn
herum schnaubten noch andere Pferde. Einige beachtete ihn nicht weiter, andere
musterten ihn mit unverhüllter Neugier.
"Wir könnten heute nachmittag doch einen Ausritt wagen, oder, mein Schätzchen?"
erzählte Jonas zu der Stute, schob die Tür ein Stück weiter auf, um an die
Schubkarre zu gelangen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, lief seinem
Rücken herab. Es war nicht die erste Box, die er heute ausmistete.
"Hinaus zum Meer. Dort bin ich schon so lange nicht mehr gewesen." Der junge
Zeichner stellte die Gabel in das Heu, lehnte sich auf den Stiel und sah die
Schimmelstute verträumt an, die geräuschvoll ihr Heu fraß und ihn nicht aus
ihrem Blick ließ.
"Das Meer ist etwas Besonderes, mein Schätzchen. Es ist so unendlich weit, als
könnte man all seine Sorgen hinter sich lassen. Ein Schiff muß sich so richtig
frei fühlen. Ohne Ketten, die es im Hafen halten. Ohne Anker. Ohne Schranken."
Er seufzte leise, hörte das unwillige Schnauben Rosies. "Du bist natürlich auch
etwas Besonderes, mein Schätzchen." Meinte er und ein kleines Lächeln kehrte auf
seine traurigen Gesichtszüge zurück.
Ja, Rosie war wirklich ein besonderes Pferd. Sie war nicht nur geduldig und ließ
jeden Mist mit sich machen. Sie hatte ihm auch all die Jahre zugehört, kannte
fast seine gesamte Lebensgeschichte. Auf ihr hatte er reiten gelernt und wenn es
ihm richtig dreckig ging und er nachdenken mußte, ritt er mit ihr am Watt
entlang.
Jonas besann sich wieder und arbeitete eine Weile schweigend vor sich hin. Als
die Box gesäubert und frisches Heu ausgelegt war, schaffte er die Schublade fort
und ergriff das Striegelzeug. Vorsichtig fuhr er mit der Bürste über das helle
Fell der Stute, bis es in der Sonne, die durch die Stallfenster fiel, glänzte.
"Du bist eine richtige Schönheit, mein Schätzchen." Murmelte Jonas, strich ihr
sanft über die Nüstern und klopfte den Striegel an der Stallwand auf.
"Mittlerweile hast du gar keine schwarzen Flecken mehr. Eine richtige Lady bist
du während des letzten Jahres geworden."
Ist das wirklich schon so lange her?
Er hatte es sich nicht getraut, über Weihnachten seine Schwester zu besuchen.
Barbara hatte sich eine schlimme Grippe eingefangen und ihr Mann mußte
Überstunden schieben, weil zwei ihrer Springpferde ebenfalls schwer erkrankt
worden waren. Eines von ihnen starb noch vor Neujahr, das andere hatte mehr
Glück und überlebte. In all dem Chaos hatte er nicht auch noch auftauchen
wollen, obwohl Lisette mehrere einladende Briefe schrieb. Er antwortete ihr
nicht, schrieb nur eine Weihnachtskarte und verbrachte in dem Wohnheimloch das
traurigste Weihnachtsfest und das einsamste Sylvester seines Lebens.
"Gib' Fuß!" forderte er Rosie auf und kratzte vorsichtig ihre Hufe aus. Er war
so vertieft in seine Arbeit, daß er die Gestalt gar nicht kommen sah. Fröhlich
neckte er mit der Stute, achtete sorgsam darauf, sie nicht mit dem Kratzer zu
verletzen.
"Laß' das, du verrücktes Biest. Ich weiß ja, daß du stärker bist. Ich ergebe
mich ja schon!" lachte er, als Rosie ihr Bein aus seinen Händen ziehen wollte.
Es war das übliche Spiel, das sie immer spielten. Die Stute wollte einfach das
zweite Zuckerstück, das er noch in seiner Hosentasche behielt, um sie zu
belohnen, wenn die Schönheitspflege beendet war. "Rosie!" schimpfte er mit viel
zu freundschaftlicher Stimme, als sie zwei Schritte Richtung Heu trabte und ihn
mit sich zog. Jonas verlor prompt sein Gleichgewicht und landete im Stroh.
"Na, warte. Das wirst du mir büßen, du..." Der junge Zeichner, der sich
aufgerappelt hatte und das Stroh von seinem T-Shirt klopfte, verstummte mitten
im Satz. Wie hypnotisiert blieb er mitten in der Bewegung stehen, starrte
ungläubig auf die Gestalt, die an der Boxentür lehnte, ihn wohl schon die ganze
Zeit beobachtete zu haben schien.
"Hallo, Jonny." Begrüßte ihn Raphael mit seiner rauhen Stimme und nahm die
Sonnenbrille ab.
"Ja, Susanne. So machst du es richtig." Lisette stand in der großen Reiterhalle,
beobachtete ihre Schützlinge genau. Die Peitsche, die sie in ihren
behandschuhten Händen hielt, brauchte sie selten. Meist reichte eine Drohung und
die Pferde vergaßen, daß sie eigentlich bocken wollten.
"Michaela, du mußt gerade sitzen. Ja, das sieht besser aus."
Etwa fünf Mädchen ritten in Abteilung Figuren durch die große Halle. Das große
Fenster war geöffnet worden und die Sonne schien hell in das Innere herein.
Leichter Wind fuhr durch Lisettes Kleidung und sie genoß das erfrischende
Gefühl, das ihr solche ein Frühsommertag immer vermittelte. An einem solchen Tag
hatte sie ihren kleinen Bruder das erste Mal richtig kennengelernt und ihn
sogleich gemocht. An einem solchen Tag hatte sie ihren Mann zu lieben begonnen.
An einem solchen Tag war sie mit Michael getraut worden. Und vor knapp zwei
Jahren war ihre gemeinsame Tochter Barbara zur Welt gekommen.
Frühsommer ist die schönste Jahreszeit des Lebens!
Glücklich lächelte sie vor sich hin.
"Nimm die Zügel nicht so fest in die Hand, Katharina! Du willst doch nicht den
armen Barnabas erwürgen? Ich weiß ja, daß er widerspenstig ist, aber trotzdem
mußt du ihm Freiheiten lassen. Siehst du? Er gehorcht dir doch aufs Wort. Wenn
dein bockiger Wallach erst einmal dein Freund geworden ist, wird er dich nie im
Stich lassen." Sie schirmte ihre Augen vor der blendenden Sonne ab, als sie die
Gestalt eines jungen Mannes erkannte, der plötzlich vor dem Fenster aufgetaucht
war, interessiert zuschaute.
"Hallo, kann ich Ihnen helfen?" fragte sie und zu ihm hinüber. Ihr eigenes
Gesicht spiegelte sich in seiner Sonnenbrille. Es war leicht errötet und ihr
Zopf begann, sich langsam aufzulösen.
"Sind Sie Lisette Müller?" Sie runzelte leicht ihre Stirn, als sie den
südländischen Akzent hörte.
"Ja. Und wer sind Sie?" Kurz drehte sie sich um, rief ihren Schülern einige
Befehle zu und wandte sich wieder zu ihm um. Eine Strähne seines rabenschwarzen
Haares hatte sich aus seinem Zopf gelöst und er strich sie geistesabwesend
hinter seine Ohren.
"Ich bin Raphael don Cayé." Der Akzent war nun unüberhörbar. Vermutlich war
Spanisch seine Muttersprache. Oder Griechisch. Oder Italienisch.
"Angenehm Sie kennenzulernen. Wie kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie reiten
lernen?" Sie streckte ihm mit einem fröhlichen Lächeln, das Raphael schon einige
Male bei Jonas gesehen hatte, die Hand aus und schüttelte seine sonnengebräunte
energisch.
"Nein, danke." Wehrte er lachend ab. "Seit mich mal so ein Gaul, Verzeihung,
Pferd, getreten hat, halte ich lieber abstand vor großen Tieren." Er sah kurz
auf die Reitschüler, die nun in leichten Trab gefallen waren und bewunderte sie
für ihren Mut, den er nicht gehabt hatte.
"Ich suche Jonas." Sagte er schließlich gerade heraus und sah in ihre
dunkelblauen Augen, die denen des kleinen Jurastudenten so ähnelten.
Wie kann er nur behaupten, nicht zu dieser Familie zu gehören!?
"Mein Bruderherz mistet die Ställe dort drüben aus." Sie streckte ihre Hand aus,
zeigte zu dem Gebäude jenseits des Hofes. "Du dürftest ihn nicht verfehlen. Er
beschäftigt sich gerade mit Rosie. Und diese Schimmelstute treibt immer ihren
Schabernack mit ihm. Gewiß schimpft er schon so laut, daß es die Spatzen auf den
Dächern hören können." Sie lachte hell auf, dann wurde ihr Gesicht mit einem
Schlag ernst.
"Bist du ein Freund von Jonas?" Automatisch war sie bei der Erwähnung ihres
Bruders zum vertrauten >Du< übergegangen und es störte Raphael nicht. Im
Gegenteil. Langsam verstand er, warum der kleine Jurastudent mit so leuchtenden
Augen von seiner älteren Schwester erzählte. Sie war wirklich der Fels in der
Brandung.
"Ja."
Egal, was Jonas auch dazu sagt!
"Das ist gut." Das Lächeln kehrte auf ihr gerötetes Gesicht zurück, aber ein
Schatten blieb in ihren tiefen Augen. "Hat er etwas ausgefressen?" Ob das
vielleicht der Grund war, warum er ihr dieses Mal nichts über seine Ängste
erzählt hatte?
"Nein. Er ist nur einfach verschwunden und da hab' ich mir..." Raphael suchte
nach Worten, wich schließlich ihren Blick aus. Er erzählte nie fremden Menschen
seine Gefühle, auch wenn Lisette keine Fremde mehr war. Nicht, nachdem er ihren
kleinen Bruder kennengelernt hatte.
"Du hast dir Sorgen um ihn gemacht." Vollendete sie seinen Satz und der Schatten
verschwand. "Das ist schön." Erklärte sie und ihre Stimme war voller Wärme. "Die
Menschen in der großen Stadt kümmern sich viel zu wenig um ihre Mitmenschen.
Jonas kommt manchmal wochenlang hier her, aber bisher hat noch keiner nach ihn
gefragt. Kein Mitstudent, kein Professor." Ein nachdenklicher Ausdruck schlich
sich in ihre Gesichtszüge und sie verschränkte die Arme leicht vor der Brust.
"Manchmal würde ich ihn ja gern von diesem Studium abbringen, aber er ist zu
stolz dazu. Ich hab' einfach Angst um ihn, wenn er sich wochenlang nicht meldet.
Denn seine Mitstudenten würden wohl kaum mitkriegen, wenn er krank in seinem
Wohnheimzimmer liegt und es nicht mehr schafft, ans Telefon zu gehen." Sie
lächelte nun ein wenig trauriger. "Nun, vielleicht übertreibe ich ja auch, aber
ich war mein ganzes Leben mehr Mutter als Schwester für ihn. Und seit Barbara,
meine kleine Tochter, geboren ist, ist mein Mutterinstinkt noch schlimmer
geworden." Sie lehnte sich leicht vor und legte ihre rechte Hand auf seine linke
Schulter.
"Ich bin froh, daß Jonas endlich einen richtigen Freund gefunden hat. Nicht
dieser Jürgen, der ihn nur Bier holen geht oder all die anderen Mitstudenten,
die ihn als Spinner belächeln oder einfach von seinem Wissen profitieren
wollen."
Wenn mich Jonas überhaupt noch will.
Raphael erwiderte das Lächeln tapfer und Lisette runzelte leicht ihre Stirn.
"So, jetzt hab' ich dich genug aufgehalten. Meine Schülern meinen auch immer,
daß ich zu viel rede. Na ja..." sie zuckte ihre Schultern, drehte sich dann um
und widmete sich wieder voll ihrem Unterricht. Bald erschallte ihre fröhliche
Stimme quer durch die ganze Halle und fünf Pferde bewegten sich im Gleichtakt.
Raphael holte tief Luft, dann ging er über den Hof auf den ihm beschriebenen
Stall zu. Seine Gedanken waren noch immer bei Lisette. Sie war wirklich so, wie
Jonas sie auf dem Papier festgehalten hatte: Voller Fröhlichkeit, Trost und
bedingungsloser Liebe.
>Mein Bruderherz< hatte sie gesagt. Sie mußte den jungen Zeichner wirklich
lieben.
Es war düster in dem Gang, hier und da schnaubten Pferde in ihren Boxen und der
junge Italiener hielt sich fest in der Mitte, denn er wollte von keinem großen
Tier gebissen werden.
"Laß' das, du verrücktes Biest. Ich weiß ja, daß du stärker bist. Ich ergebe
mich ja schon!" hörte Raphael da die Stimme des kleinen Jurastudenten aus der
offenen Box laut rufen. Es folgte ein so glückliches Lachen, daß sich der junge
Italiener erneut fragte, warum sich der junge Zeichner das chaotische Leben in
der Großstadt überhaupt zumutete. Warum tat er nicht einfach, was ihm gefiel?
Was ihn wirklich frei machte?
Er lehnte sich an die Boxentür, sah auf die kleine Gestalt Jonas herab, der im
frischen Streu hockte, mit dem Pferd zu kämpfen schien. Er hielt in einer Hand
ein Gerät, in der anderen den Vorderfuß des Schimmels. Das Tier schnaubte
unwillig, trat einige Schritte Richtung Heu und zog den kleinen Jurastudenten
automatisch mit sich. Dieser rappelte sich auf, klopfte sich das Heu von seinem
dreckigen T-Shirt und sah schließlich auf, um das Pferd zur Rechenschaft zu
ziehen.
"Na, warte. Das wirst du mir büßen, du..." Der junge Zeichner verstummte mitten
in Satz, schien ihn erst jetzt bemerkt zu haben. Verwirrt starrte er den jungen
Italiener an, verharrte mitten in der Bewegung.
"Hallo, Jonny." Sagte Raphael leise und schluckte hart.
Wird er mich jetzt von sich stoßen?
Der junge Medizinstudent nahm seine Sonnenbrille ab, trat langsam auf den
kleinen Jurastudenten zu.
Nun, ich werde es wohl bald wissen.
"Wie hast du mich gefunden?" flüsterte Jonas schließlich nach einer schier
unendlichen Weile, in der sie sich schweigend angesehen hatte und senkte seinen
Blick. Der Hufkratzer entglitt seinen zitternden Händen und er lehnte sich gegen
die Stäbe, die das Heu beieinander hielten. Rosie schnaubte nur kurz, fuhr dann
fort in ihrem beständigen Fressen. Sie war durch die vielen Reitschüler an
Fremde gewöhnt. Auch war ihr geliebter Jonas bei ihr, der noch immer den zweiten
Zuckerwürfel in seinen Taschen hatte.
"Du hast mir so viel über Lisette erzählt, daß ich euren Pferdehof gar nicht
verfehlen konnte. Sie ist der einzige Mensch, dem du wirklich vertrauen kannst.
Du gehst zu ihr, wenn es dir schlecht geht, oder?"
Jonas nickte nur, starrte weiterhin beharrlich auf das Stroh unter seinen
abgetragenen Turnschuhen.
"Bis du deshalb fortgelaufen? Weil es dir schlecht ging?" Raphael war noch näher
an ihn heran getreten. "Ging es dir bei mir denn so schlecht?" Die rauhe Stimme
war nun voller Traurigkeit. Der junge Zeichner hob seine eisigen Hände, fuhr
sich durch die kurzen Haare und seufzte tief.
"Ich werde mich nie wieder so besaufen." Erklärte er erschienen, ging nicht auf
die Frage des jungen Italieners ein. Sein Kopf dröhnte noch immer, wenn er an
die gräßlichen Schmerzen zurückdachte, mit denen er sich das ganze Wochenende
herumgeschlagen hatte. Zwar hatte er kein Wort gesagt, von der ersten Minute an
auf dem Pferdehof mit angepackt, aber Lisette mußte es dennoch erkannt haben.
Denn abends lagen mehrere Aspirin auf seinem Nachttisch. "Dabei wollte ich doch
immer alles vergessen..." Er biß sich auf die Unterlippe, schluckte hart, als
ungeweinte Tränen in seinen Augen brannten.
"Kannst du dich nicht mehr an Freitag nacht erinnern?" Raphael hatte seine
sonnengebräunten Hände unter das Kinn seines kleinen Jurastudenten geschoben und
zwang ihn aufzusehen. Die tiefen, dunkelblauen Augen des jungen Zeichners waren
voller Verzweiflung.
"Das brauch' ich auch nicht! Du hast meine Trunkenheit schamlos ausgenutzt und
mich benutzt!" brachte Jonas wütend hervor, schlug die Arme beiseite und schritt
entschlossen an dem jungen Italiener vorbei. Wild entschlossen wollte er die Box
verlassen, als er die leise Stimme hinter sich vernahm.
"Glaubst du wirklich, ich würde dir so etwas antun?"
"Was, bitte, soll ich denn sonst glauben?" fuhr Jonas den jungen
Medizinstudenten an, wirbelte herum und musterte diesen zornig. "Ich stehe in
dem einen Moment noch im Regen und philosophiere über Gott und die Welt und im
nächsten Moment erwache ich in einer fremden Wohnung. In einem fremden Bett.
Neben einem fremden Menschen, den ich gerade mal zwei Tage kenne! Nur in
Unterhosen gekleidet, die nicht einmal meine eigenen sind! Was, zur Hölle, soll
ich denn sonst glauben? Daß du mir einen Kaffee angeboten und dann mit mir
Karten gespielt hast, bis ich vor Erschöpfung eingeschlafen bin? Das nehm' ich
dir nicht ab!" Sein blasses Gesicht war nun errötet, sein Haar stand wild von
seinem Kopf. Stroh hatte sich zwischen den hellen Strähnen verfangen, ging nun
über seine Ohren bis auf seine bebenden Schultern.
"Du standest nicht im Regen, du hast regelrecht im Schlamm gelegen!" erwiderte
Raphael mit ruhiger, sachlicher Stimme, aber seine Augen funkelten gefährlich.
"Ich hab' dich mit nach Hause genommen, weil du nicht in das Wohnheim zurück
wolltest. Ich sollte dich am Friedhof abliefern, so ein Schwachsinn! Du hattest
achtundreißig Grad Fieber und völlig durchweichte Kleidung. Und du warst
stockbesoffen. In der Verfassung hätte dich vielleicht dein feiner Jürgen zurück
auf die Straße gejagt, ich konnte das nicht. Also hab' ich dich erst in die
Badewanne und schließlich mit Hustenmitteln ins Bett meines Gästezimmers
gesteckt." Der junge Italiener holte tief Luft, stemmte seine Fäuste in die
Seiten.
"Zu Beginn der Nacht hast du einen dunklen Schlafanzug angehabt. Mit vielen
schönen, geschlossenen Knöpfen. Aber gegen früh um drei hast du dich dann dafür
entschieden, daß dein flüssiges Abendbrot wohl doch nicht so gut geschmeckt hat
und hast dich prompt über uns beide übergeben. Es hat mich eine halbe Stunde
gekostet, dich aufs Klos zu hieven, wo du weitere zehn Minuten den Pozellangott
angebetet hast. Das Bett konnte ich neu beziehen, aber Schlafanzüge besitze ich
leider nicht so viele, als daß ich dich hätte neu einkleiden können. Also
mußtest du wohl mit meiner Unterwäsche vorlieb nehmen, weil deine eigene von
deinem Schlammbaden noch vollkommen durchnäßt war!"
Jonas stand still da, starrte ihn vollkommen verwirrt an.
Kann ich ihm glauben?
Er wußte es einfach nicht. An jenem Morgen hatte sein vernebeltes Gehirn alle
Gedanken ignoriert und es war ihm bis heute nicht gelungen, sich an irgend etwas
zu erinnern. Der junge Italiener konnte die Wahrheit sagen. Er konnte aber auch
die Wahrheit sagen, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen.
Deswegen wäre er wohl kaum den langen Weg hier her gefahren!
"Und was hattest du neben mir zu suchen?"
Raphael strich sich die widerspenstige Strähne hinter seine Ohren, stand im
nächsten Moment vor ihm und ergriff sanft sein eiskalten Fäuste. Jonas, unfähig
sich zu bewegen, starrte ihn weiterhin stumm an.
"Weil ich mich in deiner Gegenwart geborgen gefühlt habe." gab der junge
Italiener leise zu und ein sanftes Lächeln erschien auf dem sonnengebräunten
Gesicht. "Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide
Ohren in dich verliebt."
Der Akzent klang nun so deutlich durch, daß die Worte gebrochen wirkten. Aber
Jonas hatte sie trotzdem verstanden. Auch wenn der junge Medizinstudent
Italienisch gesprochen hätte, so wäre dem jungen Zeichner der Sinn der Worte
nicht entgangen. So blind war er, der jede Gefühle mit einem Blick sehen und auf
leblosen Papier festhalten konnte, nicht.
Raphael drängte ihn sanft gegen die Stallwand, beugte sich zu seinem kleinen
Jurastudenten herab und küßte ihn zärtlich. Es hatte ihn ungemeine
Überwindungskraft gekostet, diese wenigen Worte zu sagen, die doch seine ganze
Welt bestimmten. Nun, da er das Geständnis überstanden hatte, fühlte er sich
besser.
Und wenn er mich doch nicht haben will?
Er verdrängte den Gedanken, als sein kleiner Jurastudent die dunkelblauen Augen
schloß und den Kuß sehnsuchtsvoll erwiderte.
Was mach' ich hier? Hat mir dieses Verhalten nicht schon genug Leid eingebracht?
Jonas riß sich von Raphael los, streckte seine Hände aus und stieß den jungen
Italiener regelrecht von sich.
Kann ich ihm überhaupt vertrauen?
Einige Augenblicke sahen sich die beiden jungen Männer schweigend an. Ihre Atem
gingen schnell. Alles, was zu hören war, war das Schnauben der Pferde und das
Rascheln, wenn sie sich in ihren Boxen bewegten.
"Verschwinde!" sagte Jonas schließlich mit kalter Stimme und drehte sich zu um,
um den fallen gelassenen Hufkratzer aufzuheben. "Verschwinde und laß' mich in
Ruhe!"
Raphael stand einige Augenblicke sprachlos da, dann stieg unbändiger Zorn in ihm
empor. So leicht würde ihn der kleine Jurastudent nicht los werden.
"Warum soll ich gehen? Weil es dein gottverdammter Stolz nicht zuläßt, mit mir
zusammen zu sein?" fuhr er ihn wütend an. "Du empfindest doch dasselbe wie ich!"
Er sah, wie Jonas zusammenzuckte, dann aber seelenruhig das Pferd zu putzen
begann. Vorsichtig striegelte er das ohnehin schon glänzende Fell.
"Woher willst du wissen..."
"Ich hab' dein Bild gesehen."
Die Bürste verharrte einige Augenblicke bewegungslos auf dem Rücken der Stute,
dann fuhr Jonas in seiner Arbeit fort.
"Seit wann bist du denn Kunstexperte?" fragte er zynisch, seine Bewegungen
wurden energischer.
"Seit ich dich auf den Stufen vor der Universität hab' sitzen sehen. Du hast
eine alte Frau gezeichnet, die ihren Hund abgöttisch liebte. Auf deinem Bild
konnte ich es ganz genau sehen, während es mir in der Realität nie aufgefallen
wäre." Raphael strich sich die widerspenstige Strähne erneut hinter die Ohren,
schüttelte leicht seinen Kopf.
"Geh', ich will dich nicht. So einfach ist das." erklärte Jonas mit gefühlloser
Stimme und Raphael erbleichte bei den gnadenlosen Worten.
Hast du es etwa anders erwartet?!
"Schon verstanden. Du willst mich genauso wenig, wie du deinen Traum
verwirklichen willst und endlich professioneller Zeichner wirst. Statt dessen
studierst du dieses lächerliche Jura, obwohl dir der Beruf als Anwalt verhaßt
ist. Du jobbst bei verschiedenen Fastfoodketten, ißt kaum etwas und Schlaf
scheinst du auch nie zu finden. Du hast keinen einzigen Freund, der sich um dich
sorgt, wenn du einfach so für ein paar Tage verschwindest. Und anstelle dich bei
deinem Vater zu melden und ihm ins Gewissen zu reden, akzeptierst du das
Schweigegeld, wie du es genannt hast, und betrinkst dich im Kummer fast bis zur
Besinnungslosigkeit!" Raphael holte tief Luft, dann dämpfte er seine
aufgebrachte Stimme ein wenig.
"Lisette ist ein wunderbarer Mensch und du scheinst glücklich zu sein, wenn du
dich um die Tiere kümmern darfst. Aber du nimmst ihr Angebot nicht an, für immer
hierzubleiben, weil du glaubst, du würdest nicht zu ihrer Familie gehören. Es
stimmt, du bist ein Bastart, aber das interessiert doch deine Schwester nicht.
Merkst du manchmal, was für Unsinn du erzählst? Hast du schon einmal in den
Spiegel geschaut? Lisette sieht dir so verdammt ähnlich - du kannst gar nicht
verleugnen, daß du zu ihr gehörst. Aber das willst du wahrscheinlich gar nicht,
oder?" Raphael steckte die zu Fäusten geballten Hände in seine Hosentaschen,
lehnte sich gegen die Boxentür und starrte an die niedrige Decke.
"Ich kann es verstehen, daß du nicht zugeben willst, daß du anders als die
anderen bist. Daß du so bist wie ich. Den Schmerz und das Leid will ich dir
gerne ersparen. Denn die meisten deiner Mitstudenten werden dich hassen, wenn
sie es erfahren. Das ist auch der Grund, warum ich schon so viele Universitäten
verlassen habe, daß ich es gar nicht mehr zählen kann. Überall schlug mir
blanker Haß entgegen und sogar meine eigene Familie ekelt sich davor, mir auch
nur die Hand zu geben. In ihren Augen hab' ich vermutlich schon AIDS oder noch
Schlimmeres." Als er seinen Blick wieder senkte, standen Tränen in den
haselnußbraunen Augen. "Wenn du mich nicht wiedersehen und jeden Kontakt zu mir
abbrechen willst, dann verstehe ich das. Das bin ich gewöhnt."
Aber es wird mehr weh tun als sonst.
Raphael holte tief Luft, schluckte hart.
Denn dieses Mal warst du das erste Mal so richtig verliebt.
"Aber ich verstehe es einfach nicht, wie du deine wunderschönen Bilder in einem
Loch wie diesem Wohnheimzimmer malen kannst! Du hast weder das Licht noch den
Platz dafür. Wie sollen die Gemälde denn trocknen? Wie willst du denn dann ein
professioneller Zeichner werden? Oder soll das auch nur einer von den Träumen
bleiben, die du dir niemals erfüllen wirst?!"
Hört er mir überhaupt zu? Egal.
"Du sagtest, das Zeichnen sei deine Leidenschaft. Aber du tust nichts dafür.
Statt dessen studierst du Jura, jobbst bei McDonald's und verbitterst immer
mehr. Merkst du denn nicht, wie das Leben an dir vorbei zieht, ohne daß du es
richtig wahrnimmst?! Ohne, daß du aktiv an ihm teilnimmst?!"
Raphael fischte seine Sonnenbrille aus der Hosentasche, spielte einige Momente
damit, klappte die Bügel nervös auf und zu.
"Ein richtiger Traum ist wie ein ewig loderndes Feuer. Tief in seinem Inneren
brennt es vor sich hin und kann nicht erlöschen, so lange man an diesen Traum
glaubt. Gewiß, es ist gefährlich, sich diesen Traum zu verwirklichen. Einige
werden dich verrückt nennen und du kannst dich richtig verbrennen, wenn die
ersten Versuche nicht funktionieren. Ich will Arzt werden, egal, wie viele
Menschen mich noch verachten werden. Es wird viel Zeit und vermutlich auch noch
weitere Schmerzen kosten, aber ich werde mir diesen Traum eines Tages erfüllen."
Der junge Italiener setzte die Sonnenbrille auf die Nase, verdeckte seinen
feucht leuchtenden Augen.
"Aber lieber verbrenne ich mich, als daß ich diesen Traum aufgebe. Was bleibt
denn noch von mir, wenn ich das Feuer in mir ersticke? Aber du wirst das wohl
nie verstehen, denn du hast ja schon, was du willst." Die rauhe Stimme klang nun
zynisch, voller Traurigkeit.
"Ich hoffe, daß du es eines Tages nicht bereut. Daß du nicht den Mut aufgebracht
hast, deinen Traum zu verwirklichen. Ich hoffe, daß du nicht als alter Mann vor
den wenigen Bildern stehen und trauern wirst, daß du nicht mehr hast zeichnen
können." Raphael drehte sich, verließ die Box.
"Vielleicht wirst du nicht zu denjenigen gehören, die erkennen, daß sie ihr
ganzes Leben außerhalb des Feuers ihres Traums gestanden haben..." Scheinbar
laut schlug die Tür des Stalles zu, als der junge Italiener ging.
Jonas, der schon lange aufgehört hatte, Rosie zu striegeln, blickte über die
Schulter zu der verschlossenen Tür. Er hörte durch das gekippte Fenster den
Motor des Sportwagens aufheulen, wußte, daß Raphael in die große Stadt zurück
kehrte, ihn nicht mehr belästigen würde.
Außerhalb des Feuers...
"Das kannst du so einfach sagen, du reicher Schnösel." schluchzte er leise,
konnte nicht länger die Tränen zurückhalten. Frei liefen sie über seine bleichen
Wangen. Fest umschlang er den Kopf des geduldigen Tieres und ließ seiner Trauer
freien Lauf.
***
Außerhalb des Feuers...
Im raschen Galopp fegte die Schimmelstute über die weiten Wiesen dahin. Fast
schien es, als würde das Pferd schweben. Der Reiter hatte sich in die Steigbügel
gestemmt, hielt die Zügel locker, um dem Tier möglichst viel Freiheit zu lassen.
Vor ihnen tat sich das Meer. Es schimmerte rötlich im Licht der untergehenden
Sonne. Laut rauschte es. Laut und beruhigend. Am Himmel über ihnen drehten Möwen
ihre Kreise, schrien laut in die abendliche Atmosphäre. Der Horizont hatte sich
in allen Rottönen verfärbt, eine glühende Sonne ging gemächlich in der unendlich
weiten See unter.
Jonas schnalzte mit der Zunge und Rosie wackelte mit ihren Ohren. Er brauchte
ihr keine Befehle zu geben. Das Tier schien ihn auch so zu verstehen. Mit
kleinen Gesten und seiner Körperhaltung. Die Stute schnaubte, verfiel dann in
langsameren Trab. Der Wind, der vom Mehr her wehte, fuhr durch die lange Mähne
des Pferdes, spielte mit den kurzen Haaren des jungen Zeichners.
Jonas lehnte sich leicht zurück, schloß die Augen. Rosie kannte den Weg. Es war
immer derselbe Pfad, den er entlang ritt, wenn er seine Schwester besuchte. Wie
friedlich es doch hier war. So wunderbar ruhig. So beruhigend still. Ja, hier
gab es keine Sorgen. Sie verschwanden mit den Wellen, die vom Strand in die
ewigen Fluten zurück kehrten. Das Wasser nahm all den Schmerz mit sich. All die
Pein. Die quälenden Erinnerungen.
Statt dessen gab es ein Gefühl der Glückseligkeit zurück.
Der junge Zeichner ließ die Zügel los und Rosie fiel sofort in gleichmäßigen
Schritt. Jonas streckte seine Hände aus und genoß die Brise, die durch seinen
ausgeleierten Pullover fuhr, ihm eine angenehme Gänsehaut über den Rücken jagte.
Ja, hier konnte er er selbst sein. Kein Bastart. Kein Tagträumer. Kein
Anderer...
Hier war er frei...
Jonas dachte an die verbitterten Worte Raphaels zurück. Es war schon lange her,
daß jemand so mit ihm gesprochen hatte. Sein Vater interessierte sich nicht für
ihn, für die Professoren war er ein Musterschüler, auch wenn er regelmäßig zu
spät kam. Jürgen musterte immer sein Zimmer abfällig, aber richtig aufgeregt
hatte er sich darüber noch nie. Die einzige Person, die ihn schon einmal so
angefahren hatte, war Lisette gewesen. Vor zwei Jahren, als sie ihn einmal in
der großen Stadt besuchen kam und entsetzt darüber war, wie er dort hauste. Sie
hatte ihn sofort mit nach Hause nehmen wollen, aber er hatte sich erfolgreich
gewehrt. Beide Geschwister hatten sich angeschrien und so laut gestritten, daß
sie das halbe Wohnheim weckten. Lisette hatte schließlich aufgegeben und war mit
den Worten gegangen, er könne immer zu ihr kommen, wenn er endlich wieder zur
Vernunft käme.
Ja, das Jurastudium war auch Lisettes Idee gewesen. Aber sie hatte sich darunter
wohl etwas anderes vorgestellt für ihren kleinen Bruder, der so gern abhängig
und frei sein wollte.
Jonas öffnete seine Augen, sah hinaus in das unendliche Glitzern, das auf den
Wellen hin und her tanzte. Er dachte an seine Nebenjobs, an die glatten
Mitstudenten. Sie würden einmal perfekte Anwälte werden. Der junge Zeichner
dachte an sein unordentliches, viel zu kleines Wohnheimzimmer, an die Staffelei,
die in der Mitte stand, an die vielen Ölfarben, die über auf dem Fußboden
verstreut standen. An das kleine Fenster, da kaum Licht spendete. Und an die
vielen Bilder, die in Papier eingehüllt an den Wänden lehnten. Fertig verpackt,
um weg geschmissen zu werden, sollte er sie nicht mehr abholen können.
Würde wirklich jemand um ihn weinen, wenn er stürbe? Würden es weder die
Professoren noch seine Mitstudenten bemerken? Würde Jürgen nach ihm sehen, wenn
er drei Tage nicht auftauchte?
Jonas schob die Brille zurecht, seufzte leise. Nein, sie würden ihn nicht
vermissen. Er war doch nur ein kleiner Student unter vielen, der nicht weiter
auffiel. Das nie gewollt hatte.
Vor seinem inneren Auge tauchte plötzlich Lisette auf, die ihn fröhlich
anstrahlte. Sie hielt ihre kleine Tochter in dem einen Arm und mehrere Briefe in
der anderen Hand. Nein, sie hatte ihm nie in vergessen. Regelmäßig schrieb sie
ihm, wenn sie ihn telefonisch nicht erreichte und lud ihn in jedem einzelnen
Brief ein, nach Hause zu kommen.
>Hast du schon einmal in den Spiegel geschaut? Lisette sieht dir so verdammt
ähnlich - du kannst gar nicht verleugnen, daß du zu ihr gehörst.< hörte er die
rauhe Stimme aufgebracht rufen. Der junge Mann schien sich richtige Sorgen um
ihn gemacht zu haben. Es war Montag und die Semester, darunter gewiß auch
Medizin, wurden an der alten Universität gehalten. Aber Raphael hatte sich in
seinen Sportwagen gesetzt und den weiten Weg hier her gefahren.
Er hat mir so gut zugehört, daß er wußte, wo er mich zu finden hat.
>Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide Ohren in
dich verliebt.< Eine Gänsehaut fuhr über Jonas' Rücken, die aber nicht von dem
angenehmen Abendwind hervorgerufen wurde. Tränen traten in seine Augen, einige
Strähnen seines Haares streichelten über seine nun leicht geröteten Wangen.
Kann ich ihm vertrauen?
Wäre er sonst hier her gekommen? Als erster. Als einziger... ?
Jonas nahm die Zügel wieder auf, trieb Rosie an und bald galoppierte er am Watt
entlang. Der nasse Sand spritzte unter den Hufen der Schimmelstute. Es tat so
verdammt gut, hier zu sein. Unabhängig, frei. Ja, das konnte er hier sein. Bei
Menschen, die ihn liebten. Bei Tieren, die ihn brauchten. In der kalten,
gefühllosen Großstadt dagegen...
Gib's zu, dort bist du nur ein Gefangener. Gefangen in deinen Wahnvorstellungen,
die du höher bewertest als deinen großen Traum.
Warum tat er all das überhaupt? Doch nur, um seinem Vater zu beweisen, daß er es
auch ohne ihn schaffte. Daß er auch ohne erbetteltes Geld im Leben zurecht kam.
Daß er keine familiäre Anerkennung brauchte. Aber, war es seinem Vater nicht
sowieso egal, was er tat? Interessierte es den alten Mann überhaupt, ob er
Anwalt oder Zeichner war? Vermutlich nicht. Aber für Jonas war dies ein riesiger
Unterschied.
Außerhalb des Feuers...
Verdammt, Raphie hat recht gehabt!
Jonas wendete Rosie und galoppierte den Weg, den er gekommen war, zurück.
"Ich werde morgen wieder zurück fahren."
Jonas kraulte John, der neben ihm auf dem Bett seines Zimmers lag und müde vor
sich hin blinzelte, hinter den Ohren. Lisette, die auf der anderen Seite des
Raumes auf dem Schreibtischstuhl saß, seufzte unterdrückt.
"Schade. Du bist viel zu selten hier, Bruderherz." Sagte sie ehrlich. Ihr lagen
noch so viele andere Sätze auf der Zunge, aber sie brauchte sie nicht zu sagen.
Jonas kannte ihre Meinung zu der Art, wie er sein Jurastudium durch zog.
"Keine Bange, Lissy. Ich mach' keine Dummheiten mehr. Der Job bei McDonald's
wird zwar unumgänglich sein, aber ich werde die Studienrichtung wechseln."
Lisette hob erstaunt ihren Kopf, sah ihn mit ihren dunkelblauen Augen verwirrt
an.
"Moderne Kunst?" fragte sie und ein Lächeln erschien auf ihrem gesunden Gesicht,
als sie sah, wie ihr kleiner Bruder nickte.
"Das ist eines der vielen Fächer. Trotzdem sind die zwei letzten Jahre nicht
ganz umsonst. Ich kenn' das Erb- und Familienrecht mittlerweile gut genug, um
mich zur Wehr zu setzen, sollte ich im Testament von Vater nicht erwähnt zu
sein." Ein trauriges Grinsen erschien auf seinem bleichen Gesicht und er fuhr
fort, den jungen Hund zu streicheln, der es sichtlich genoß.
"Das ist gut, Bruderherz. Sehr gut sogar. Aber du kannst jederzeit hier her
kommen." Lisette schlug die Beine übereinander und ihre Augen leuchteten
regelrecht in dem Zwielicht, das die Nachttischlampe warf.
"Ich weiß, Lissy. Und ich verspreche, dich jetzt öfter zu besuchen. Rosie
vermißt mich sonst. Genauso wie dieser Prachtkerl hier, nicht wahr, du alter
Rabauke?" Der junge Berner Sennenhund öffnete verschlafen seine Augen, schloß
sie wieder, als die Hand ihn weiter kraulte.
Eine Weile herrschte angenehmes Schweigen zwischen den Geschwistern.
"Ich hab' mich noch gar nicht für das Bild bedankt, daß du mir zu meinem letzten
Geburtstag geschickt hast. Rosie wirkt so lebendig, alle in der Reiterhalle
bewundern das Porträt. Du hast wirkliche Begabung, Bruderherz."
Jonas nickte nur, seine Hände verharrte in dem dichten Fell des Tieres.
"Würdest du mich noch mögen, wenn ich anders wäre? Ich meine..." Der junge
Zeichner holte tief Luft, suchte nach den passenden Worten.
Lisette, die ihren Bruder schon immer auch ohne viele Worte verstanden hatte,
stand langsam auf und kam auf ihn zu. Der kleine Student sah stur auf den
schlafenden Hund neben sich, wagte es nicht, sie anzuschauen.
"Du redest von dem jungen Mann, der heute nach dir gesucht hat, nicht wahr?"
fragte sie leise, setzte sich neben ihn auf das Bett, blickte ihn nachdenklich
an.
"Raphael, ja. Er ist mehr als nur ein Freund. Ich meine... ich..." Jonas
verengte seine Augen, ließ die Schultern hängen. Es fiel ihm so unsagbar schwer.
"Ich empfinde für ihn mehr als nur Freundschaft."
Beinahe erschrocken riß er seine Augen auf, als Lisette ihre Arme um ihn schlang
und ihn sanft an sich drückte.
"Und er scheint dich auch zu lieben, Bruderherz." Ein leises Lachen war zu
hören. "Man, er hat dir ganz schön den Marsch geblasen, was? Ich konnte euch
über den ganzen Hof streiten hören." Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter,
drückte ihn behutsam an sich.
"Das wurde auch langsam Zeit, daß dir jemand gehörig den Kopf wäscht. Ich hab'
das ja nicht geschafft und dein Südländer taucht hier auf, schreit kurz rum und
du bist entschlossen, dein ganzes Leben zu umzukrempeln."
"Na ja, er war mit seinen Worten nicht ganz so umgänglich wie du." Gab Jonas zu,
ergriff sanft ihre Hände und hielt sie fest. Seine Finger selbst waren eiskalt.
"Ich bin froh, daß du nicht länger allein in der großen Stadt bist." Lisettes
Stimme klang so warm. So ehrlich.
"Und es stört dich nicht, daß Raphael ein Junge ist?" Die Stimme des jungen
Zeichners war so leise, daß seine große Schwester ihn beinahe nicht verstanden
hatte. Ein zärtliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie drückte seine
eisigen Hände liebevoll.
"Warum denn? Hauptsache, du bist glücklich."
"Die Familie wird mich dafür noch mehr verachten."
"Noch mehr? Ist das denn überhaupt möglich?" scherzte sie, aber ihre Stimme
klang ein wenig traurig. "Mich haben sie auch ausgelacht, als ich diese
Pferdefarm eröffnete. Niemand, außer dir, wollte meinen Michael akzeptieren.
Und, was ist daraus geworden? Ich habe fünfzig glückliche Pferde, einen
liebevollen Ehemann und eine bezaubernde Tochter. Ich bin zufrieden mit mir und
der Welt und würde nie mit jemanden tauschen wollen. Dieses Glück wünsche ich
dir auch, Bruderherz. Um Vater mach' dir keine Gedanken. Er hat sich noch nie
besonders um dich gekümmert und es wird ihn auch jetzt nicht interessieren, wie
du lebst und mit wem." Sie befreite ihre Hände, wuselte durch sein blondes Haar.
"Hauptsache, du kommst mit dir selbst zurecht. Der Rest ist doch vollkommen
egal. Nur deine Träume und Wünsche zählen. Und unser John findet das auch, nicht
wahr, alter Schwerenöter?" Sie ließ Jonas los und spielte mit dem jungen Hund,
der vergnügt zu winseln begann, spielerisch nach ihren Händen schnappte.
"Hab' Dank." Der Zeichner sah ihr nach, wie sie zur Tür ging, diese öffnete. Auf
der Schwelle drehte sie sich um, grinste ihn frech an.
"Du bist wahrlich mein kleiner Bruder." Erklärte sie mit einem Lächeln in der
Stimme. "Du hast eindeutig Geschmack." Sie kniff verschwörerisch ihr rechtes
Auge zusammen, war auf dem Gang verschwunden, um nach ihrer Tochter zu sehen,
die schon längst im Bett liegen und schlafen müßte. Daß Barbara das nie tat, war
ihrer Mutter klar.
Jonas kraulte den jungen Hund geduldig hinter den Ohren, blicke auf das dösende
Tier herab.
"Wir haben beide mächtiges Glück gehabt. Was, John?"
Ein befreiendes Lächeln erschien auf seinem sonst so traurigen Gesicht und er
lehnte sich gegen die Wand.
Das erste Mal, seit er denken konnte, fühlte er sich glücklich.
Beinahe frei...
***
"Bis morgen bitte ich Sie, sich das Thema zehn noch einmal genau
durchzuarbeiten." Der ältere Professor packte seinen Aktenkoffer, während die
Studenten fluchtartig den großen Studiensaal verließen, der mehrere Stufen
umfaßte, bis weit unters Dach des alten Gebäudes reichte.
"Auf Wiedersehen." Meinte der Professor fröhlich, klemmte sich die Aktentasche
unter den Arm und spazierte fröhlich pfeifend aus dem Raum. Die Sonne schien
wieder mit all ihrer Kraft und es versprach, ein wundervoller Nachmittag zu
werden.
Raphael saß noch immer auf seinem Platz, starrte ausdruckslos auf die
aufgeschlagenen Bücher vor sich. Er hatte versucht, dem klugen Professor zu
folgen. Aber es vermochte ihm nicht zu gelingen. Seine Gedanken wanderten
automatisch an einen fernen Ort.
Verdammt!
Der junge Italiener klappte entschieden das Buch zu. Er hatte die Seite bereits
zum fünften Mal gelesen und nicht ein Wort war zu ihm durchgedrungen. Raphael
stützte seine Ellenbogen auf die harte Tischplatte, vergrub sein
sonnengebräuntes Gesicht in seinen eiskalten Händen.
Ich bin so müde!
Die letzte Nacht hatte er kaum geschlafen und all die fröhlichen Studenten
gingen ihm furchtbar auf den Geist. Beinahe hätte er am frühen Morgen einen
Unfall verursacht und er hatte sich gar nicht darüber aufgeregt wie sonst.
Normalerweise regte er sich über jeden Kratzer seines Sportwagens auf, aber
plötzlich war es ihm egal gewesen. Wie so vieles anderes auch.
Irgendwie hatte er gehofft, Jonas würde doch wieder zu seinem Seminaren kommen.
Den halben Vormittag hatte er vor dem Hörsaal des Jurastudiums gestanden und
gewartet. Aber der junge Zeichner war nicht aufgetaucht und Raphael war zu spät
zu seiner eigenen Vorlesung gekommen.
Hast du etwas anderes erwartet?
>Geh', ich will dich nicht. So einfach ist das.< Die Stimme hörte er immer und
immer wieder in seinem Kopf. Wie laut er auch das Radio drehte, er konnte die
gnadenlosen Worte nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Sie begleiteten ihn
ständig. Und der junge Italiener ahnte, daß es sehr lange dauern würde, bis sie
verstummte. Länger als die verachtenden Worte seines Vaters, als er das Haus
seiner Eltern für immer verließ.
Raphael stöhnte leise auf. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war angenehm.
Die Show wird immer beschissener...
Er hörte die eiligen Schritte und jemand stürzte in den Studiensaal. Vermutlich
einer der vielen Studenten, der sein Buch vergessen hatte. Der junge Italiener
achtete nicht darauf. Er hatte bewußt noch keine Freundschaften unter den
angehenden Ärzten geschlossen und niemand hatte ihn großartig beachtet. Nur ab
und an fragte ihn jemand, ob er ihm dies oder jenes erklären könne.
Die Schritte waren irgendwo in seiner Nähe verstummt. Raphael fuhr heftig
zusammen, als er plötzlich zwei Arme spürte, die sich um seinen Oberkörper
schlangen.
"Ich komme immer zu spät, was?" flüsterte eine ihm nur zu bekannte Stimme nahe
seinem Ohr.
Der junge Italiener hob seinen Kopf, sah erstaunt in das lächelnde Gesicht des
kleinen Jurastudenten, das nun gar nicht mehr bleich wirkte. Die dunkelblauen
Augen leuchteten voller Freude, als sich Jonas zu seinem Freund hinab beugte,
ihn lange nachdenklich ansah.
"Es tut mir leid, was ich gesagt habe." sagte er leise, drückte dem sprachlosen
Raphael einen Kuß auf den Mund, musterte ihn einige Augenblicke von oben bis
unten. "Du siehst leicht mitgenommen aus. Liebeskummer?" Das Lächeln wurde eine
Spur frecher.
"Jetzt nicht mehr." Raphael drehte sich auf seinem Stuhl, zog den jungen
Zeichner auf seinen Schoß und legte dessen silberne Brille auf den Tisch. Dann
küsste ihn mit all der Liebe, die er bereits verloren geglaubt hatte. Eine ganze
Weile, in denen für sie die Zeit stehen zu bleiben schien, saßen sie so da,
nahmen nur noch den anderen wahr. Die ganze Welt hatte aufgehört zu existieren.
Nichts interessierte sie mehr, außer der andere.
Das Läuten der Universitätsglocke holte sie aus ihrer eigenen, kleinen Welt
zurück. Stumm sahen sie einander in die verklärten Augen, dann stand Jonas auf
und setzte sich auf den Tisch.
"Bist du dir sicher?" wagte Raphael nach weiteren Augenblicken des Schweigens zu
fragen. Der junge Zeichner, der in dem dicken Medizinbuch geblättert hatte, hob
seinen Kopf und musterte den jungen Italiener überrascht.
"Na klar." Jonas setzte sich die Brille wieder auf die Nase und lächelte Raphael
strahlend an.
Dieses Lächeln hab' ich so schrecklich vermißt!
"Aber viele Menschen werden dich hassen. Du wirst viele Freunde verlieren." gab
der junge Medizinstudent zu bedenken. Jonas zuckte nur leicht seine Schultern.
"Dann sind das keine richtigen Freunde. Nicht alle Menschen sind so engstirnig."
Er neigte leicht seinen Kopf, rückte die Brille zurecht. Die Sonne schien durch
die großen Fenster herein, hüllte ihn ein. Das hellblonde Haar schimmerte leicht
rötlich, stand ein wenig zerzaust von dem Kopf ab. Raphael verspürte den Wunsch,
durch die wilden Strähnen zu fahren. Seinen kleinen Jurastudenten zu umarmen und
nie wieder los zu lassen.
"Lisette meint, ich hätte Geschmack, als ich ihr von dir erzählte. Sie meinte
nur, ihr wäre egal, mit wem ich zusammen sei, Hauptsache, ich bin glücklich."
erklärte er freimütig, war sehr froh darüber, eine so verständnisvolle Schwester
zu haben. Denn sie zu verlieren, das hätte er nicht ertragen.
"Willst du mich denn jetzt?" fragte Raphael und wieder war sein Akzent
unüberhörbar. Die rauhe Stimme klang nun voller Unsicherheit, die
haselnußbraunen Augen musterten den kleinen Jurastudenten beinahe ängstlich.
Jonas sah den jungen Italiener stumm an, unfähig, etwas zu sagen, ohne sinnloses
Zeug zu stammeln. Deshalb nickte er einfach nur, das Lächeln wurde eine Spur
zärtlicher.
"Jonas Hauser! Endlich tauchst du auch mal wieder auf!" ertönte eine
aufgebrachte Stimme von der Tür her. Der junge Zeichner blinzelte verwirrt, hob
seinen Kopf. Das Lächeln erlosch, als er Jürgen erkannte, der entschlossen auf
ihn zu schritt.
"Was zum Geier hast du in deinem Kühlschrank? Das verdammte Ding ist ausgefallen
und nun stinkt es furchtbar." Der rothaarige Informatikstudent lehnte sich gegen
den Kopf, ein Grinsen erschien auf dem runden Gesicht. "Warum mußt du deinen
Kühlschrank auch abschließen. Was hast du denn da so Wertvolles drin, Winzling?"
"Drei Eier und eine halbe Flasche Ketchup." antwortete ihm Jonas wahrheitsgemäß,
worauf Jürgen in Lachen ausbrach. "Und, hast du dein Spiel gewonnen?"
"Schon längst. Mindestens zweihundert Skelette hab' ich pro Level killen müssen,
aber letzten Endes hab' ich doch gesiegt."
Raphael war aufgestanden und packte die Bücher in den Lederrucksack.
"Hast du noch eine Vorlesung?" fragte Jonas und sah ihn nachdenklich an.
"Ja." antwortete der junge Italiener kurz angebunden, fischte seine Sonnenbrille
aus der Hosentasche und verbarg hinter ihnen seine haselnußbraunen Augen.
"Ich hab' auch noch einiges zu erledigen. Bis heute abend." Jonas klang, als
würde er keinen Widerspruch dulden. Raphael nickte, dann verließ er den Hörsaal.
"Gewiß hast du doch ein neues Spiel angefangen, oder?" meinte der junge
Zeichner, aber Jürgen schien ihn gar nicht zuzuhören. Still stand er hinter dem
jüngeren Mann.
"Was willst du denn von dem?" fragte Jürgen und seine Stimme klang mit einem Mal
voller Kälte. "Ich hab' mich mal kundig über den gemacht. Von insgesamt sechs
Universitäten ist er rausgeworfen worden, weil er sich ständig mit seinen
Mitstudenten prügeln mußte. Du solltest dich nicht mit jemanden wie dem abgeben,
Winzling. Der ist 'ne Schwuchtel. Die sind doch alle gleich!"
Jonas, der mit einem Schlag erbleicht war, drehte sich zu dem
Informatikstudenten um, der sein Zimmernachbar gewesen war, seit er das verhaßte
Jurastudium begonnen hatte.
"Aber keine Bange, diese Tunte wird nicht lange hier bleiben. So was wie der
wird nicht an unserer renommierten Uni geduldet."
Der junge Zeichner starrte entsetzt in das rundliche Gesicht des Rotschopfes,
von dem er immer geglaubt hatte, er sei ein Freund. Jeglicher Schalk war aus den
dunklen Augen des Informatikstudents verschwunden, als er zu der Tür hinüber
schaute, durch die Raphael eben gegangen war.
Alles, was Jonas in dem Blick Jürgens noch sehen konnte, waren Ekel und Abscheu.
Und grenzenloser Haß.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Epilog
Es dämmerte, als Jonas sein Fahrrad gegen die helle Hauswand lehnte und es
abschloß. Behutsam nahm er den großen Beutel vom Gepäckträger, der alles
enthielt, was dem jungen Zeichner lieb und teuer war. Der Rucksack auf seinen
Schultern wog nicht viel. Er hatte nie besonders viele Kleidungsstücke besessen
und Bücher waren immer zu teuer gewesen, als daß er sich mehr als nötig gekauft
hätte. Der Walkman steckte in der dunklen Jacke, die nicht einmal seine eigene
war.
Ich bin wirklich arm wie eine Kirchenmaus.
Aber heute störte ihn dieser Gedanke nicht. Es gab Schlimmeres als arm zu sein.
Unglücklich zu sein. Außerhalb des Feuers zu stehen, wie es Raphael so treffend
gesagt hatte.
Jonas legte seinen Kopf in den Nacken, sah hinauf zu den Wipfeln der hohen
Eichen, die leicht im Abendwind rauchten. Wie friedlich diese Gegend doch war.
So ohne Straßenlärm, umgeben von dem grünen Gürtel der Stadt. Ein richtiges
Vorortflair. Fast so friedlich wie auf dem Bauernhof.
Nur ein Hund fehlt, der mich schwanzwedelnd begrüßt.
Der junge Zeichner rückte seine silberne Brille zurecht, seufzte leise und
betrat das hell erleuchtete Treppenhaus. Die drei Stufen hatte er rasch hinter
sich gebracht, aber vor der Tür blieb er stehen und zögerte. Eine unüberwindbare
Mauer schien sich vor ihm aufzutun. Er wollte den Klingelknopf drücken, aber
sein Arm war wie gelähmt, er konnte sich nicht rühren.
Das wird mein Leben für immer verändern.
Dunkelheit umgab Jonas, als das Licht im Treppenhaus erlosch. Stumm stand er vor
der Tür, starrte sie mit feuchten Augen an, dachte an die häßlichen Worte
zurück, die ihm Jürgen an den Kopf geworfen hatte.
Dann erinnerte er sich an die vielen Worte Raphaels.
Ja, es wird mein Leben für immer verändern. Aber will ich das denn nicht? Dieses
beschissene Leben ändern? Damit es endlich lebenswert wird?!
>Frag' mich nicht nach dem Wie oder dem Warum. Ich hab' mich über beide Ohren in
dich verliebt.<
Vielleicht war das Wahnwitz. Vielleicht konnte es mit ihnen gar nicht gut gehen.
Jonas runzelte seine Stirn, konnte sich noch sehr gut an Lisettes Hochzeit
erinnern. Wie glücklich sie damals gewesen war! Und wie glücklich sie jetzt noch
wirkte. Manchmal funktionierten Beziehungen einfach nicht. Aber oft genug waren
die Menschen miteinander glücklich. Egal, wie sehr sie die Gesellschaft
verurteilte. Egal, was die Familie auch von dem zukünftigen Schwiegersohn oder
Schwiegertochter hielt, das Wichtigste war doch, daß sich die Menschen liebten.
Bedingungslos liebten...
Vielleicht ist es Wahnwitz, vielleicht werde ich mit ihm glücklich.
Jonas holte tief Luft und die Sperre verschwand. Entschlossen lehnte er sich vor
und drückte den Klingelknopf. Das Ding-Dong durchriß die seltsame Stille des
Treppenhauses, ließ den jungen Zeichner zusammenfahren.
Ich werde es nie herausfinden, wenn ich weiterhin davor weglaufe.
Raphael trug einen dunklen Bademantel, seine Haare fielen in nassen Strähnen auf
seine Schultern. Die haselnußbraunen Augen musterten den kleinen Jurastudenten
erstaunt.
"Du bist ganz schön spät dran. Ich dachte schon, du hast es dir anders
überlegt." gab der junge Italiener leise zu, trat einen Schritt zur Seite, um
den jüngeren Mann herein zu lassen.
"Quatsch!" wehrte Jonas ab, stellte vorsichtig den großen Beutel in den Flur.
Als er sich wieder zu Raphael umdrehte, war sein Gesicht stark gerötet.
"Ich will dir ja nicht auf den Geist gehen, aber..."
"Du hast es Jürgen erzählt." sagte der junge Italiener, als er erkannte, daß der
Beutel die Bilder des kleinen Jurastudenten beinhalteten. Alle Bilder.
"Ja." Jonas schloß seine Augen, ließ zu, daß Raphael ihn sanft umarmte.
"Daraufhin war die Hölle los." Der junge Zeichner lachte kurz auf, es klang
traurig. "Ich hab' meine Siebensachen geschnappt und bin gegangen. Jürgen, der
immer mit mir gescherzt und von seinen neuesten Computerspielen erzählt hat,
schien mächtig froh zu sein, mich nie mehr wiedersehen zu müssen. In seinen
Augen war ich das letzte Stück Dreck." Jonas ließ seinen Kopf hängen, seine
Stimme wurde immer leiser. "Er kannte mich seit über zwei Jahren, aber zwei
Sekunden haben gereicht, um mich zu hassen."
"Es tut mir leid, Jonny. Das hätte ich dir gern erspart." Raphael drückte den
kleinen Jurastudenten sanft an sich, seufzte unterdrückt.
"Es gibt Schlimmeres." antwortete Jonas und wußte plötzlich, daß dem auch so
war. Er würde sich nicht lange über Jürgen oder all die anderen Menschen ärgern,
die ihn nicht verstanden. Nicht verstehen wollten. Es gab Wichtigeres für ihn
ihm Leben. "Zum Beispiel die quälende Frage, wo ich heute nacht hin soll." Jonas
sah auf und blickte geradewegs in die haselnußbraunen Augen des jungen
Italieners, die so unendlich tief wirkten.
"Ich will ja nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber kann ich heute auf deiner
Couch übernachten? Bis ich eine neue Bleibe gefunden habe?" fragte er und wurde
noch röter.
"Du siehst niedlich aus, wenn du errötest." flüsterte Raphael, drückte seinem
kleinen Jurastudenten einen kurzen Kuß auf den Mund. "Das Gästezimmer sei dein.
So lange, wie du es brauchst." Ein weiterer Kuß, dann ließ ihn der junge
Italiener los.
"Willst du heute etwas zu essen haben oder wieder nur Kamillentee?" fragte
Raphael, spielte bewußt auf die Nacht an, die Jonas in seiner Trunkenheit
vergessen hatte. "Keine Bange, Eier kann ich noch braten."
"Okay." Der junge Zeichner sah dem jungen Italiener nach, der das Wohnzimmer
betrat, und rückte die silberne Brille zurecht.
Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Aber ich werde nie glücklich werden, wenn
ich mein ganzes Leben lang außerhalb des Feuers stehe.
Er dachte an Jürgen. Bestimmt würde er sich noch öfter verbrennen und es würde
mehr als einmal weh tun, einen Menschen wegen der dummen Vorurteile zu
verlieren, der unter anderen Umständen vielleicht ein guter Freund geworden
wäre. Dann dachte er an Raphael und wußte, daß es das wert war.
Nein, ich will nicht zu all den anderen Menschen gehören, die eines Tages auf
ihr Leben zurück blicken und erkennen müssen, daß sie so viele Chancen versäumt
haben.
Bestimmt würde er noch viele Dummheiten machen, so manche unüberlegte Tat
bereuen.
Diese Entscheidung werde ich nie bereuen.
Dessen war er sich mit einem Mal sicher.
Jonas lächelte sanft, als er seinem Raphael folgte,
Ende
28.03.00 - 06.04.00
Disclaimer: Das Lied >Outside The Fire< gehört Garth Brooks und nur Garth Brooks
allein. Ich habe es mir ausgeliehen, weil es einfach so gut paßte. Ich denke, er
würde mir verzeihen. Dafür gehört diese Geschichte nur mir allein!
Ich weiß, daß ich nur ein Mädchen bin und es in meiner Kurzgeschichte mehr um
die Gefühle von Jungs geht. Aber nachdem ich das Lied gehört und einige nette
Personen schimpfen gehört hatte, hat mich die Kurzgeschichte einfach nicht mehr
losgelassen. Ich mußte sie einfach schreiben.
Wer schön, wenn mir irgendein Leser mailen würde, wie sie ihm gefallen hat:
aprileagle@freenet.de (oder wie sehr er sie gehaßt hat, ich nehme auch Kritik
entgegen).
Thanks!