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Blindes Vertrauen

Sieger Frühlings FF Wettbewerb 2004
von

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Alpha - 3: Daddy...

Hauptteil 2: Alpha
 

"Die Seele getauscht für ein Herz aus Stein

Ziehst du alle mit in den Abgrund hinein.
 

Lügner - Verdammt sollst du sein!"
 


 

Kapitel 3: Daddy...
 

"Sie müssen sich entscheiden, wir können nicht beide retten."

"Das können Sie doch nicht von ihm verlangen!"

"Es... ist schon gut..."

"Beeilen Sie sich, wir haben kaum noch Zeit, sonst verlieren wir beide."

"Dann..."

Erwartungsvolle, angespannte, furchtsame Stille gefolgt von tiefem Luftholen.

"... rettet meine Frau."
 

***
 

"Er ist ja noch so winzig. Können Götter so klein sein?" Thor, äußerlich selbst nicht älter als fünf Jahre wirkend, rückte sein traditionelles Göttergewand zurecht und beugte sich über die Wiege. Rote Augen blickten ihn neugierig an und kleine Hände streckten sich ihm entgegen.

"Er ist noch sehr jung, so bist auch du." Odin trat zu ihm hinüber und streichelte sanft mit der linken Hand durch einen hellbraunen Schopf. Auf dem rechten Arm hielt der älteste Gott ein anderes Kleinkind. Dunkelgrüne Augen musterten die anderen Kinder neugierig und Loki lachte glücklich, als sich Thor erhob und ihn nahm.

"Sie können ja noch nicht einmal sprechen." Murmelte der junge Donnergott und ging hinüber zum Fenster, trat an der Gestalt eines jungen Mannes vorbei, der die Szene vor sich schweigend musterte. Wind ließ die Vorhänge auseinander fahren, violette Strähnen blieben unbewegt.

"Du musst Geduld mit ihnen haben."

Thor nickte bei den weisen Worten des nordischen Gottes und schaukelte den kleinen Loki in seinen Armen, der sein Gesicht verzog und zu weinen begann. Sofort stimmte Baby-Heimdal mit ein und der junge Donnergott sah sich entsetzt zwei schreienden Kleinkindern gegenüber. Von Odin konnte er jedoch keine Hilfe erwarten, denn der mächtigste Gott war bereits gegangen.

"Ich hab mich zwar beschwert, dass es hier sehr einsam ist..." seufzte Thor und blickte direkt in die Richtung des jungen Mannes, ohne ihn jedoch zu sehen. Schließlich ging er hinüber zu der Wiege, setzte Loki mit hinein und begann, das Möbelstück leicht zu wippen. Beide Götter hörten auf zu schreien und sahen ihn wieder mit ihren großen Augen vertrauensvoll an, begannen sogar zu lachen.

"... aber ich denke schon, dass wir gute Freunde werden, was?"
 

***
 

"Fang mich doch!" Ein kleiner Junge von äußerlich fünf Jahren stolperte über die grüne Wiese. Seine roten Augen strahlten und er grinste verstohlen, als ihn ein anderer Junge, er mochte doppelt so alt aber nicht weniger ungeschickt sein als er, verfolgte und schließlich einholte.

"Hab dich!" Fest nahm er den Ausreißer in seine Arme und kicherte, als ein anderer Junge, der hinter ihnen hergerannt war, stolperte und auf sie beide fiel.

"Hab euch beide." Strahlte Loki und er und Heimdal brachen in schallendes Gelächter aus, als Thor seine Chance nutzte und sie beide auskrabbelte.

"Wisst ihr, dass ihr unglaubliche Frechdachse seid?"

"Ja."

"Natürlich."

Die beiden Kinder grinsten über das ganze Gesicht und kuschelten sich an den älteren Jungen, als dieser sich auf seinen Rücken drehte und nach oben in den weiten Himmel schaute. Es war ein wundervoller Frühlingstag, die Sonne schien wärmend auf sie herab. Thor hatte Odin um Erlaubnis gefragt und war mit den zwei kleinen Göttern zur Erde gegangen, da es in Asgard keine wirklichen Jahreszeiten gab. Den halben Tag hatten sie kleine Käfer gejagt und bunte Blumen entdeckt - und sich gegenseitig verfolgt, quer über die grünste Wiese, die Thor ausfindig machen konnte. Bald würde er das Mittagessen in einem großen Korb erscheinen lassen und aufpassen, dass sich die kleinen Götter nicht all zu schlimm voll kleckerten.

"Das da oben ist ein Hund." Erklärte Loki, der sich an seine linke Seite angekuschelt hatte und zeigte mit seiner kleinen Hand zu einer Wolke hinauf, die über das helle Blau des Firmament zu schweben schien.

"Nee, das ist ein Falke." Korrigierte ihn Heimdal, der sich an seine rechte Seite schmiegte und gähnte. Nach all der Lauferei wurde er schläfrig im warmen Licht.

"Also ich seh da nur ein Schaf." Erläuterte Thor und zuckte mit seinen Schultern.

"Das ist alles, nur kein Schaf." Erwiderte prompt Loki und runzelte seine Stirn. "Vielleicht ja ein Hund mit Flügeln, aber kein Schaf."

Heimdal nickte zustimmend, sagte jedoch nichts. Er hatte seine Augen geschlossen und seine Hand in Thors Hemd geballt. Es fehlte nicht viel und er würde einschlafen.

"Ein Hund mit Flügeln?"

"Oder eine Schlange."

"Wie kommst du denn da rauf?"

"Wegen dem Schwänzchen dort hinten."

"Könnte das nicht ein Schafschwänzchen sein?"

"Nee, die sind doch rund und ganz flauschig."

"Gut, dann eben ein Hund mit Flügeln. Ich bin überstimmt."

"Genau."

Loki grinste und stützte sich auf seine Ellenbogen. Er gähnte ebenfalls und blinzelte müde auf Heimdal herab, dessen Brust sich in einem regelmäßigen Rhythmus hob und senkte.

"Ich hasse Mittagsschlaf." Gab der kleine Unheilsgott zu, konnte aber ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken.

"Das ist doch kein Mittagsschlaf, sondern nur eine Verschnaufpause." Thor lächelte ihn sanft an und breitete einladend seinen linken Arm aus, den rechten hatte er bereits um den kleinen Wächter geschlungen. "Komm her und ich erzähl dir eine Geschichte aus der Menschenwelt und wenn Heim wieder aufgewacht ist, gibt's was zu Essen."

"Wirklich?" Loki strahlte ihn an und Thor nickte.

"Wirklich."

"Dann will ich die Geschichte über den alten Kaiser hören." Loki kuschelte sich in den Arm des älteren Jungen und gähnte erneut. Seine Augen wurden immer schwerer und bereits nach dem ersten Satz war er eingeschlafen.

Thor hielt seine beiden Schäfchen, wie er sie manchmal nannte, sanft fest und blickte mit einem seligen Lächeln zum Himmel empor, in den Wolken nach einem Hund oder einem Falken suchend.

Die Gestalt des jungen Mannes, der in ihrer Nähe gegen einen Baum lehnte, blickte dem Treiben regungslos zu.
 

***
 

"Herzlichen Glückwunsch zum Göttertag."

Thor hievte die große Torte, die er mit Hilfe der drei Schwestern gebacken hatte, auf die große Tafel des Speisesaals Walhallas. Er hätte sie auch einfach so erschaffen können, aber ihm erschien das Backen persönlicher, auch wenn er dafür beinahe seine Gemächer in die Luft gejagt hatte. Belldandy konnte das Schlimmste gerade noch verhindern.

Obwohl Thor während der letzten Jahrhunderte gewachsen war, hatte er seine endgültige Größe und vor allen Dingen Stärke noch nicht erreicht. Hartes Training lag noch vor ihm, bis er mit seinen Blitzen gezielt umgehen konnte, aber Odin war geduldig. So wie auch jetzt. Der mächtigste Gott saß am Kopf der Tafel und sah seinen jüngeren Göttern zu, die mit Loki feierten. Der Junge, der nun äußerlich wie ein zehnjähriger Mensch wirkte, grinste über sein ganzes Gesicht und blies die Kerzen mit einem gewaltigen Luftzug aus. Dann blickte er erwartungsfroh in die Runde. Es war das erste Mal, dass sein Göttertag gefeiert wurde, noch dazu mit all seinen Freunden.

"Das ist von uns." Sagte Belldandy und schickte ihren Schwestern strafende Blicke, als diese von der Torte naschen wollte, obwohl Loki diese noch nicht einmal angeschnitten hatte.

"Danke." Kicherte er und begann ungeduldig, das Geschenkpapier aufzureißen. Was immer ihm die Göttinnen aus der Menschenwelt auch mitgebracht hatten, er würde es mögen.

Heimdal, der dem ganzen Treiben bis jetzt stumm zugesehen hatte, stellte sein eigenes Päckchen mit einem lauten Knall auf den Tisch, sprang von seinem Stuhl auf und lief aus dem großen Saal hinaus. Er rannte blindlings durch die Gänge, vorbei an den Gemächern Thors, an den Gemächern Lokis und der Gestalt eines jungen Mannes, der auf dem Fenstersims saß und ihm emotionslos nachsah, wie er in den Garten hinaus stolperte und schluchzend vor dem Springbrunnen in die Knie ging.

Laute, energische Schritte, die ihm gefolgt waren, ließen ihn zusammen zucken und schuldig blickte er auf, als er Thor auf sich zukommen sah.

"Ich..." er verschluckte sich und begann, hingebungsvoll zu husten. "Ich wollte nicht alles verderben..." schluchzte er leise und weitere Tränen rannen über sein kindliches Gesicht. "Ich hab... hab das nur nicht mehr ausgehalten..."

"Heim." Thor unterdrückte ein Seufzen, dann kniete er sich neben den zitternden Gott und nahm ihn sanft in seine Arme, hielt ihn fest, bis das herzzerreißende Weinen langsam verebbte.

"Ich hab doch keinen Göttertag..." hickste Heimdal und vergrub sein Gesicht an Thors Hemd, schien sich für seinen Ausbruch zu schämen.

"Dafür finden wir schon eine Lösung. Bis dahin ist doch noch Zeit." Thor streichelte sanft durch violette Haare, wiegte den kleinen Körper in seinen Armen behutsam.

"Es sind nur noch zwei Jahrhunderte!" protestierte Heimdal. Mehrere Menschenleben, für ihn in Walhalla aber wenige Augenblicke.

"Dann feiern wir eben zusammen Göttertag." Schlug eine helle Stimme vor und als Thor aufblickte, sah er Loki am Garteneingang stehen. Er trug seine traditionelle Kleidung, jedoch nicht seinen Flügelkranz, da sie bei der letzten Gelegenheit, da er sich wie ein Gott kleidete, zu laut lachen mussten. Die Flügel standen ihm wirklich nicht.

"Aber... aber das geht doch nicht, keiner weiß, wann..." schluckte Heimdal, der endlich aufsah und beschämt über Thors Arm schielte. Thor und Loki tauschten Blicke aus, die besagten, dass sie Heimdals Einwendungen entkräften mussten. Sie beiden wussten, dass Heimdal in einem Korb auf den Stufen Walhallas ausgesetzt worden war, Thor konnte sich an jene Nacht sogar noch gut erinnern. Niemand kannte den genauen Tag, da er als Gott in Erscheinung trat, daher wusste auch niemand, wann man ihn denn zu feiern hatte.

"Du hast einfach mit mir zusammen Göttertag und gut ist." Loki grinste und schlenderte zu ihnen hinüber. "Komm zurück zur Tafel, Heim. Du kannst auch die Hälfte der Torte bekommen und dir ein paar Geschenke aussuchen."

"Aber..."

"Kein Aber." Loki streckte seine Hand aus und lächelte in das tränenverschmierte Gesicht des kleinen Wächters. "Kommst du?"

"Ja..." Heimdal ergriff die ihm dargebotenen Hand und drückte sie dankbar. "Ja, so machen wir's."
 

***
 

Thor lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Es war weit nach Mitternacht, aber er konnte nicht einschlafen. Ein Buch lag aufgeschlagen neben ihm auf der Decke, aber die Geschichte interessierte ihn heute nicht, er las innerhalb der letzten zwei Stunde keine zwei Seiten. Die Beine hatte der Donnergott angewinkelt und pfiff leise eine Melodie. Morgen wollte Odin etwas Wichtiges mit ihnen besprechen. Thor wusste nicht, worum es sich handelte, aber der mächtige Gott hatte sehr ernst drein geschaut. Nun war der Donnergott nervös und Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen.

Er hob seinen Kopf und blickte zur Tür, als er erst das Geräusch nackter Füße und dann leises Klopfen hörte.

"Wer stört noch zu so später Stunde?" fragte er forsch, konnte aber ein Grinsen nicht zurückhalten, als die Tür aufschwang und Loki und Heimdal im Rahmen standen. Beide trugen ihre Schlafgewänder und grinsten ebenfalls. Müde wirkte keiner von beiden. Über die letzten Jahrtausende waren sie so weit gewachsen, dass kein Größenunterschied mehr zwischen ihnen bestand und sie sahen ebenfalls wie Thor wie fünfundzwanzigjährige Menschen aus. Sie benahmen sich jedoch überhaupt nicht wie erwachsene Götter, waren immer noch wie Kleinkinder, was sie bewiesen, indem sie sich mit einem mörderischen Schrei auf den Donnergott stürzten.

"Kitzelattacke!"

"Es gibt kein Entkommen!"

Thor lachte laut auf und verteidigte sich erfolgreich mit seinem Kopfkissen. Bald entbrannte eine heiße Kissenschlacht und die drei Götter sprangen dabei auf der Matratze herum, die stöhnend unter ihrem Gewicht quietschte. Das Buch fiel zu Boden und wurde ungesehenen von der Gestalt eines jungen Mannes aufgehoben und auf den Tisch gelegt.

"Was glaubst du, will der Alte von uns morgen?" Loki breitete seine Arme auf dem Bett aus und legte seinen rechten quer über Thors Beine. Die Kissenschlacht war hart und schonungslos gewesen, aber irgendwann waren sie dann doch auf die Matratze gesunken. Thor spendierte eine große Tafel Schokolade aus den Tiefen seines Nachttisches und eine Weile hatten sie schweigend gegessen.

"Nicht so respektlos." Ermahnte Thor, kicherte jedoch, als Loki ihm eine braune Zunge herausstreckte. "Keine Ahnung." Gab er schulterzuckend zu.

"Ach, bestimmt nichts Wichtiges. Er will doch nur eine Show abziehen, ihr wisst doch, wie er ist." Heimdal nahm sich das letzte Stück Schokolade, knüllte das Papier zusammen und warf es in einem hohen Bogen durch das Zimmer.

"Gehört wohl bei einem so mächtigen Gott dazu." Stimmte ihm Loki zu. "Ob wir auch mal so sein werden, wenn wir groß sind?"

"Wohin willst du denn noch wachsen?"

"Ich hab was gefragt, lenk nicht ab."

Schweigen, dann simultanes Schulterzucken.

"Ob wir immer Freunde sein werden?" Diese Frage stellte Heimdal, der dabei seine Augen geschlossen hielt, sein Gesichtsausdruck verriet jedoch ein wenig von der Anspannung, unter der sie alle standen, seitdem Odin ernst zu ihnen gesprochen hatte.

"Du kannst vielleicht Fragen stellen." Lächelte Thor und fuhr durch strubbelige violette Strähnen. "Natürlich werden wir immer Freunde bleiben, was soll ich denn sonst den ganzen Tag ohne euch machen? Mich zu Tode langweilen?"

"Die allerbesten Freunde." Fügte Loki hinzu und klopfte das Kopfkissen in seinem Rücken zurecht. "Die allerbesten."
 

***
 

Thor ging eiligen Schrittes durch die kleine Stadt, wich hier und da den Menschen aus, die ihm entgegen kamen. Ein Eselkarren überfuhr ihn beinahe, aber er hörte nicht einmal das Schimpfen des Fahrers. Einige Frauen lächelten ihn aufreizend an, aber er ignorierte sie. Seine Sandalen klatschten auf dem warmen Stein und er erklomm die Treppe zum Tempel, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Seine Toga rutschte und er fragte sich, warum seine zwei Freunde sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatten, um zu schmollen. Ob sie wirklich nur schmollten oder sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Ob sie überhaupt noch seine Freunde waren, so wie sie es sich versprochen hatten.

"Warum hat Odin es ihnen gesagt? War es denn wirklich notwendig? Hätte es nicht ausgereicht, wenn sie es später erfahren hätten, am Ende der Welt?" flüsterte er und schüttelte seinen Kopf. Er verstand das alles nicht.

Der Donnergott atmete tief ein, als er in den Schatten der Säulen trat und zielstrebig den Geräuschen folgte. Zwei ihm wohl bekannte Stimmen schrieen sich aufgebracht an und Thor hoffte, dass er nicht zu spät kam.

"Gestern waren wir noch die besten Freunde, unzertrennbar, und heute hassen sie sich. Nur weil Odin ihnen von der Prophezeiung erzählen musste!" grollte Thor und trat zu den beiden jungen Göttern hinüber, die sich lautstark beschimpften. Jeder hielt eine Karaffe mit roter Flüssigkeit in ihren Händen, vermutlich Wein. So rot wie ihre Gesichter bereits leuchteten, schienen sie schon mehr Alkohol getrunken haben als ihnen bekam.

"Du wirst misch nie besiegen!"

"Woher willst du das wissen?"

"Weil ich stärker bin als du!"

"Bist du nicht!"

"Bin ich wohl!"

"Bist du nicht!"

Thor seufzte ob des Streites, der sich seiner Meinung auf Kleinkindniveau befand. Beide Götter hatten ihre Waffen gezogen, Loki hielt seine Sense und Heimdal einen Adler in der freien Hand, und wankten aufeinander zu.

"Dann lass es uns hier und jetzt und...!" schlug Heimdal vor und blinzelte, als sich der Tempel um ihn zu drehen begann. Trotzdem nahm er einen weiteren Schluck Wein. "... und jetscht auschtragen!"

"Sch..." auch Loki schien allmählich Artikulationsprobleme zu bekommen und er zertrümmerte einen Krug, als er seine Sense gefährlich durch die Luft schwenkte. Die Gestalt eines jungen Mannes, der ebenfalls eine Karaffe in seinen Händen hielt, sah schweigend zu, wie die rote Flüssigkeit über den kleinen Tisch lief und schließlich auf den hellen Boden tropfte, dort einen See bildete.

"... scho schei esch!" beendete Loki seinen Satz nachdem er seinen Wein ausgetrunken und das Gefäß fortgeworfen hatte. Es klirrte hinter ihm, aber er scherte sich nicht darum. Einzig und allein Heimdals Gegenwart schien noch wichtig zu sein.

Dunkelgrüne und rote Augen starrten sich hasserfüllt an - und blinzelten, als Thor zwischen die beiden Streithähne trat und sie fassungslos anstarrte.

"Sagt mal, geht's euch noch ganz gut?" fuhr er die betrunkenen Götter an und entriss Heimdal die Karaffe, als sich der Wächter noch weiter abfüllen wollte. "Ich denke, du hast genug getrunken, Heim. Und du auch, Loki, grins nicht so dämlich!" Thor war außer sich vor Wut, und vor Enttäuschung. Er hatte mehr von seinen besten Freunden erhofft. War ihre Freundschaft wirklich so schwach gewesen, dass ein Wort Odins ausreichte, um sie zu zerstören?

"Ihr werdet jetzt beide nach Walhalla zurückkehren und dort ordentlich ausnüchtern. Und dann denkt ihr noch mal über eure Worte nach."

"Wo... wo..." Heimdal stolperte mehrfach über seine eigene Zunge und entschied sich, seine Gedanken anders zu formulieren. "Er ischt mein Feind! Mein Todfeind!" zischte er und der Adler schrie zustimmend auf. "Du hascht doch..."

"Er will misch töten!" ereiferte sich nun auch Loki und hob gefährlich seine Sense, nur, um sie von Thor entwendet zu bekommen. Im betrunkenen Zustand hatte er nicht schnell genug reagieren können.

"Hört ihr zwei euch überhaupt reden?" Thor ließ die Sense in seinen Händen schrumpfen und steckte sie neben seinen Hammer an den Gürtel seine Toga. "Schämen solltet ihr euch, alle beide! Gestern habt ihr euch noch die Freundschaft geschworen und nun wollt ihr wie zwei junge Stiere aufeinander losgehen?"

"Freundschaft? Pah!" spie Heimdal und verschränkte abschätzend seine Arme vor der Brust. "Der ischt mein Feind!"

"Die Prophescheiung irrt nie!" bestätigte auch Loki und erneut starrten sich beide mit so viel Abscheu an, dass es Thor weh tat.

"Niemand weiß, ob sie überhaupt in Erfüllung gehen wird! Immerhin.." versuchte Thor erneut, zwischen seinen zwei besten Freunden zu vermitteln, wurde jedoch von Heimdal unterbrochen.

"Natürlisch wird schie, die Schweschtern irren nie!" Der Wächter deutete mit seiner rechten Hand auf den Unheilsgott und verzog sein Gesicht in einer Fratze des Hasses. "Der ischt mein Feind, auf ewig!"

Mit diesen Worten drehte er sich um und schwankte mit dem Rest an Würde, den ihn der Alkohol noch ließ, davon. Thor war zu erschüttert, um ihn aufzuhalten, um ihn zu schütteln und anzuschreien, damit er wieder zur Vernunft kam. Lokis leises Raunen hinter ihm jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

"Mein Feind, auf ewig!"
 

***
 

"Für wen entscheidest du dich?!"

Thor sah nicht auf, als er die harten Worte hörte. Es handelte sich um eine Entscheidung, die er nicht treffen wollte, niemals treffen konnte. Statt dessen starrte er interessiert auf seine Füße, als habe er in seiner ganzen Existenz noch nichts Interessanteres gesehen. Es war weit nach Mitternacht und er saß auf seinem Bett, wie er das bereits vor einer Woche getan hatte, in jener Nacht vor der Verkündung der Prophezeiung. Wie damals war er nicht allein in seinem Zimmer, Heimdal leistete ihm Gesellschaft, obwohl sich der Donnergott fragte, ob es sich bei dem Wächter noch um seinen Freund handelte. Wahre Freunde stellten einen nicht vor eine so unmögliche Entscheidung.

"Bist du auf Lokis Seite oder auf meiner!"

Die letzten Tage erschienen Thor wie ein Traum, nein, eher wie der schlimmste Alptraum, den er sich je hätte vorstellen können. Loki und Heimdal schienen jedes Mal, wenn sie sich sahen, übereinander herfallen zu wollen und jegliche Aktivität, die Thor bisher so gemocht hatte, endete im Desaster. Gemeinsame Mahlzeiten wurden bald ein Unding, kein Treffen verlief ohne böse Worte und verbrannte Erde und immer stand Thor zwischen den Fronten. Immer versuchte er, zwischen den zwei zornigen Göttern zu verhandeln und den größten Schaden, den die Prophezeiung angerichtet hatte, zu minimieren. Er versuchte es vergeblich.

"Zu wem stehst du, Thor?!"

Endlich blickte der Donnergott auf und einige Minuten starrte er schweigend in Heimdals bleiches Gesicht. Stumm fragte er sich, wo der Wächter geblieben war, den er seit so langer Zeit schon kannte, den er aufzog und den er so sehr mochte, als sei er sein eigener Sohn, auf den er aufpassen wollte, dessen Glück sein innigster Wunsch war. Seit jenen Worten Odins hatte Thor den anderen Gott nicht mehr lachen, ja, nicht einmal mehr lächeln gesehen. Immer schien er einen höhnischen Kommentar auf den Lippen zu haben und er freute sich sichtlich, seinen einst besten Freunden mit seinen unüberlegten, oder vielleicht sogar sehr wohl überlegten Worten weh zu tun.

"Für wen entscheidest du dich?!"

"Für euch beide." Flüsterte Thor schließlich und kämpfte hart gegen die Tränen an, die in seinen dunklen Augen brannten. Beide, Thor und Loki, waren seine besten Freunde, ja, vielleicht sogar so etwas wie eine Familie, er konnte keinen von beiden aufgeben. Keinen! Aber Heimdal verstand dies nicht.

"Ich habe verstanden." Zischte der Wächter und drehte sich abrupt um, schüttelte Thors Hand ab, die vor schnellte und sein rechtes Handgelenk ergriff, um ihn zurück zu halten. "Wer für Loki ist, ist gegen mich."

"Heim, nicht!" Thor konnte den bettelnden Unterton in seiner Stimme nicht unterdrücken, aber Heimdal verließ ohne ein Wort zu sagen seine Gemächer, drehte sich nicht noch einmal um. Thor blickte ihm lange schweigend hinterher, lehnte sich schließlich in sein Kopfkissen und schloss die brennenden Augen.

Leise wurde die Tür von der Gestalt eines jungen Mannes geschlossen, dessen rote Augen die Dunkelheit des Tempels nach etwas abzusuchen schienen, oder nach jemandem. Unbemerkt von Thor und Heimdal hatte der Unheilsgott die ganze Zeit über auf dem Gang gestanden und gelauscht.
 

***
 

"Lass mich in Ruhe!"

Heimdal wollte sich die Decke über den Kopf ziehen, aber Thor hielt ihn zurück. Der junge Gott wirkte wild entschlossen und der Wächter verdrehte genervt seine Augen, nur, um im nächsten Moment laut husten zu müssen. Rasselnd holte er Luft und verbarg sein Gesicht in seinen Armen, als ein zweiter Anfall über seinen zitternden Körper herein brach.

"Red keinen Unsinn, du bist krank!" Thor ergriff Heimdals Schulter und zwang ihn, sich auf den Rücken zu legen. Dann bedeckte er die schweißnasse Stirn mit einem kühlen, feuchten Tuch, so wie er das schon so oft getan hatte, als Heimdal noch ein ganz kleiner Gott gewesen war.

"Bestimmt nicht!"

"Oh doch, du hast Fieber. Das kommt davon, wenn man sich auf der Erde betrinkt und dann im Regen in der Gosse liegen bleibt. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht!"

"Kann dir doch egal sein." Heimdal hustete erneut und zog sich den kühlen Lappen über die Augen, um nicht länger in Thors zornig funkelnde blicken zu müssen.

"Das ist mir überhaupt nicht egal, wenn ich dann hier die Krankenschwester spielen muss!" fauchte Thor, aber es war mehr Besorgnis als Wut, die aus seiner Stimme sprach. "Ihr seid beide manchmal solche Kinder! Loki hustet genauso wie du! Wenn ihr euch schon betrinken müsst, was ja wohl zu eurem Hobby zu werden scheint, macht das gefälligst im warmen Griechenland oder gleich hier in Walhalla. Ich hab nämlich keine Lust, euch jedes Mal in irgendeiner Pfütze aufzusammeln!"

"Dann lass es eben bleiben!" Heimdals ganzer Körper spannte sich an, aber ihm fehlte die Kraft wie auch die Stimme, um Thor anzubrüllen. Seine ohnehin schon vom Fieber geröteten Wangen färbten sich vor Zorn noch dunkler.

"Nein, das kann ich eben nicht! Weil ihr beide meine Freunde seid." Erwiderte Thor und entkorkte die Phiole, um an ihr zu riechen. Urd hatte sie ihm gegeben und er hoffte, dass sie sich nicht in den Zutaten geirrt hatte. Diverse Nebenwirkungen konnten für die Götter zwar nicht tödlich, aber äußerst unangenehm sein.

"Du kannst nicht der Freund dieses Idioten sein und zugleich auch meiner!" argumentierte Heimdal und protestierte, als Thor unter seine Schultern griff und ihn vorsichtig zu sich empor zog.

"Und ob ich das kann!" Thor brachte die Phiole an Heimdals Mund und zwang ihn, die Hälfte zu trinken. Die andere Hälfte war für Loki bestimmt.

"Nein..." brachte Heimdal trotzig hervor, aber seine Lider wurden immer schwerer, die Medizin schien zu wirken.

"Noch ein Wort und ich hol Loki hierher und halte euch beiden die Standpauke eurer Existenz!" sprach Thor drohend, aber sein Gesichtsausdruck wurde sanft, als er spürte, dass der Wächter eingeschlafen war. Er deckte den jungen Gott zu und blieb noch eine ganze Weile an seiner Bettstatt sitzen, streichelte sanft durch violette Haare und wünschte sich, dass sie nie von der Prophezeiung gehört hätten, dass noch alles so wäre wie früher.

Schließlich erhob er sich mit einem Seufzen und beschloss, seinen anderen Patienten zu versorgen. Leise verschloss er die Tür hinter sich, bemerkte nicht den jungen Mann, der nahe des Fensters stand und schweigend auf die schlafende Gestalt im Bett herab blickte.
 

***
 

"Woher hab ich das nur gewusst? Woher hab ich nur gewusst, dass so etwas passieren würde?" Thor schüttelte seinen Kopf und lief aufgeregt in Lokis Schlafgemach auf und ab. Dabei fuhr er sich immer wieder durch die hellbraunen Haare und rieb sich die müden Augen, so als könnte er aus diesem Alptraum erwachen. "Das ist eine Katastrophe! Du weißt genau, dass das nicht sein kann!"

"Ist mir egal!" Loki, den Thor als halbwegs vernünftig eingeschätzt hatte, verschränkte abwehrend seine Arme vor seiner Brust. Er wirkte auf den Donnergott wie ein kleines Kind.

"Du weißt, was Odin von Fenrir und Midgar hält, er wird davon absolut nicht begeistert sein!" Thor deutete zu der Wiege hinüber, die nahe der Tür stand, bevor er seinen Weg fortsetzte und um das Bett des Unheilsgottes tigerte. Loki selbst saß auf einem Kissen und ließ die Beine baumeln. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sich davon nicht abbringen lassen.

"Ich werde sie nicht verstoßen!"

"Aber Odin..."

"Es ist mir egal, was der Alte davon hält!"

"Du bringst sie damit aber in Gefahr!"

"Besser in Gefahr als immer allein."

Diese Worte ließen Thor aufhorchen. Er drehte sich zu einem ungewöhnlich bleichem Loki um und runzelte die Stirn.

"Kann sie nicht bei ihrer Mutter bleiben?" fragte er argwöhnisch und wusste die Antwort, noch bevor der Unheilsgott sie aussprach, als er einen verletzten Ausdruck in dunkelgrünen Augen sah. Einen unendlich traurigen.

"Sie ist bei ihrer Geburt gestorben."

"Das tut mir leid."

"Mir auch."

Thor seufzte erneut und ließ sich schließlich in einer resignierenden Geste neben Loki auf das Bett nieder. Keiner von beiden sah die zwei Gestalten, die durch die Tür schlichen und sich auf Zehenspitzen der Wiege näherten.

"Also wird sie hier bleiben." Schloss der Donnergott.

"Ja, Onkel Thor." Ein wehmütiges Grinsen trat auf Lokis Gesicht und er neigte leicht seinen Kopf, um besser zu dem Gott des Donners, der ihn nie im Stich gelassen hatte, hinab schauen zu können, der neben ihm auf der Matratze lag und aussah, als würde er nie die Kraft aufbringen, sich wieder zu erheben.

Thor war da gewesen, als Loki sich dazu entschloss, Migar und Fenrir aufzunehmen, gegen Odins Willen. Noch stand nicht fest, ob er seine beiden Söhne, wie er sie nannte, behalten durfte, aber der Donnergott stand auf seiner Seite, spielte sogar mit dem Höllenhund und der Weltenschlange Ball. Genauso wie Heimdal.

Loki würde es nie verstehen, genauso wenig wie Thor, der sich trotz dessen finstere Blicke um Heimdal kümmerte, warum der Wächter ständig in Lokis Gemächern auftauchte. Meist endeten diese Besuche in wilden Schimpftiraden und Kämpfen, deren böses Ende Thor immer gerade so verhindern konnte. Einmal hatte Loki den Wächter der nordischen Götter in Midgars Zimmer erwischt. Erst hatte der Unheilsgott Heimdal auf der Stelle umbringen wollen, da er glaubte, dass sein Sohn in Gefahr schwebte - bis er den gelben Quietschball in Heimdals Hand sah und das aufgeregte Zischen Midgars hörte, das er immer von sich gab, wenn er den Ball fangen wollte.

"Onkel Thor, hm? Ob ich dem gewachsen bin?"

"Du hast Heim und mich großgezogen, du schaffst alles."

Beide grinsten sich an und Thor fühlte sich an jene Tage erinnert, da sie wirklich noch die besten Freunde gewesen waren, jung, frei und unbeschwert.

"Wer ist das?"

Die kalte Stimme ließ sie beide zusammenfahren und gehetzt blickten sie auf, nur, um Heimdal neben der Wiege stehen zu sehen. Er hielt ein helles Bündel in seinen Armen und Loki fragte sich mit klopfendem Herzen, als er vom Bett auffuhr und seiner Tochter zur Hilfe eilte, warum Hel nicht geschrieen hatte, so wie sie es sonst immer tat, wenn sich Fremde ihrer Schlaffstatt näherten.

Die Gestalt eines jungen Mannes stand hinter Heimdal und lächelte amüsiert, als Loki und Thor ihre Augen aufrissen, da kleine Hände vertrauensvoll nach violetten Strähnen griffen und Heimdal leise zu kichern begann.
 

***
 

Die Gestalt des jungen Mannes sah zu den zwei jungen Göttern hinüber. Loki ließ soeben seine Sense sinken und starrte Heimdal, ebenfalls in Kampfpose, entgeistert an. Dunkelgrüne Augen weiteten sich in erbarmungsloser Erkenntnis und im nächsten Moment drehte er sich um und lief zurück zu Walhalla.

"Hel!"

"Hey! Was soll das! Feige weglaufen!" schrie Heimdal, aber der andere Gott reagierte nicht. Sein heller Mantel wehte hinter ihm her und schon war er im Inneren des Palastes verschwunden. "Na warte!" knurrte Heimdal und folgte ihm.

"Es ist genug." Flüsterte die Gestalt des jungen Mannes und wandte sich ab. Von allen Ereignissen, von allen Erinnerungen war dies die einzige, die er nie mehr mit ansehen wollte. Jener Tag, an dem Odin Hels Existenz entdeckte - und in demselben Atemzug auslöschte.

"Es reicht, ich will nicht mehr!" Der junge Mann ließ seinen Kopf hängen und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Fest schloss er sein Auge und ballte seine Hände zu Fäusten. Er hatte davon gehört, dass das Leben an einem vorbei zog, wenn man starb, aber allmählich fand er diese Show lächerlich. Er war ein Gott, er hatte mehrere Jahrtausende existiert, so schnell würden diese Bilder nicht abbrechen. Bilder, die er nicht mehr sehen konnte, nicht mehr sehen wollte.

Alle haben gesagt, Niflheim wäre die Hölle. Sie hatten Unrecht. Es ist viel schlimmer!

Der junge Mann holte zitternd Luft und öffnete sein Auge. Der Garten Walhallas war verschwunden, statt dessen umgab ihn gleißendes Licht. Für einen Augenblick sah er sich hoffnungsfroh um, nur, um enttäuscht zu erkennen, dass es sich dabei nicht um Odin handelte. Der mächtigste aller Götter war nicht gekommen, um ihn zu sich, um ihn zurück nach Hause zu holen.

Was hattest du auch erwartet? Du hast versagt!

Der junge Mann musterte seine erwachsene Gestalt, wunderte sich, warum er sie ausgerechnet jetzt wiedererlangte. War er nicht als Kind in Niflheim eingefahren? Würde er nicht als Kind in der Ewigkeit wandeln, da dies der Körper war, in dem er starb?

Kann ein Gott so einfach sterben?

Die Frage stellte er sich nun schon seit einer halben Ewigkeit, seit jenem Moment, da er sein Auge aufschlug und die Erinnerungen erbarmungslos über ihn herein brachen. Zuerst hatte er ja wirklich geglaubt, dass es an Lokis Verrat lag, daran, dass ihm seine Lebensenergie durch das Fehlen seines Auges und damit das Fehlen seiner göttlichen Macht ausgesaugt wurde. Aber andererseits, war es wirklich so einfach, einen Gott umzubringen? Loki war damals freiwillig in den Zug gestiegen und mit der Illusion seiner Tochter in das Totenreich gefahren, ohne seine Zustimmung wäre dies nie geschehen.

Oder bin ich gar nicht tot?

Der junge Mann schritt dem gleißenden Licht entgegen, aber keine weiteren Erinnerungen überfielen ihn, worüber er dankbar war. Die nächsten Bilder hätten Lokis Trauer, Hels Beerdigung und den Diebstahl seines Auges beinhaltet, er verzichtete gern auf eine Wiederholung der Ereignisse.

"Beeilen Sie sich, wir haben kaum noch Zeit, sonst verlieren wir beide."

Plötzlich erfüllte die Stimme seine Welt und er drehte sich einmal um sich selbst, konnte aber den Verursacher der Worte nicht ausfindig machen.

"Dann..."

Dies sprach jemand anderes aus. Die Stimme, die dem jungen Mann seltsam bekannt vorkam, die er jedoch nicht zuordnen konnte, klang traurig, resignierend, unendlich müde. Undurchdringbare Stille beherrschte die Helligkeit, ihr folgte ein tiefes Luftholen.

"... rettet meine Frau."

Der junge Mann fuhr erschrocken zusammen, als lautes Schreien sein ganzes Sein erfüllte. Wütendes, protestierendes Schreien. Das Schreien eines Kleinkindes.

Was geschieht hier?

Das ist keine Erinnerung.

Der junge Mann riss überrascht sein Auge auf, als er den Schatten sah, der sich gegen das gleißende Licht abhob, langsam auf ihn zutrat. Es handelte sich dabei unverkennbar um eine junge Frau, die ein helles Gewand trug. Ihr Gesicht wurde von einem weißen Schleier bedeckt und obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte, fühlte sich der junge Mann sofort in ihrer Gegenwart sicher. Instinktiv wusste er, dass sie ihm nichts antun würde.

Was antun? Du bist doch schon tot!

Er ignorierte seine innere Stimme, die ihn höhnisch auslachte, und trat zögernd auf die junge Frau zu.

"Wer seid Ihr?" fragte er leise und verbeugte sich leicht vor ihr, weil es sich richtig anfühlte. Er selbst hätte sich niemals vor jemand anderen derartig erniedrigt, nicht vor seinen angeblichen Feinden, ja nicht einmal vor Odin höchstpersönlich, aber er wusste plötzlich, dass sie seine Ehrerbietung verdiente. "Wo bin ich?"

"Das weißt du, Heimdal." Erklärte sie mit ruhiger Stimme, die seine Seele zu streicheln schien. Er zog seine Stirn in Falten bis ihm bewusst wurde, dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte.

"Bin ich in Niflheim?" wagte Heimdal endlich, die nagende Frage auszusprechen. "Bin ich tot?"

"Ja und nein." Antwortete sie ihm mysteriös und obwohl ihr Gesicht verborgen war, konnte er ihr sanftes Lächeln spüren, fühlte, dass alles gut werden könnte, wenn er nur an sie glaubte, ihr blind vertraute.

"Was ist geschehen?"

"Sehr vieles." Sie hob ihre rechte Hand und streichelte behutsam über seine vernarbte Wange. "Und es liegt an dir, dich zu entscheiden."

"Mich zu entscheiden?" Er verstand sie nicht, wollte es aber so gern, wollte, dass sie ihn wieder anlächelte und nicht länger so unendlich traurig klang.

"Ja, Heimdal." Weiche Hände strichen über Heimdals freie Arme und Gänsehaut überzog sofort seinen Körper. "Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige."

"Das ihrige?"

Heimdal stolperte einige Schritte erschrocken zurück, als plötzlich ein Gewicht in seine Arme gedrückt wurde. Er erblasste, als er an sich herab blickte und ein Baby in ein helles Tuch dort eingewickelt liegen sah. Die gequälten Schreie erstarben in seinen Gedanken, wurden von amüsiertem Glucksen ersetzt.

"Großes Unrecht ist geschehen." Fuhr die geheimnisvolle Frau fort und lehnte sich leicht vor, um über rot glänzende Wangen zu streicheln. Das Baby lächelte in seinem Schlaf, erwachte jedoch nicht. Es wirkte in Heimdals erwachsenen Armen winzig und er wusste nicht, was er mit den Kind tun sollte, er konnte weder windeln noch kannte er sich mit Milchflaschen und Babybrei aus.

"Das mag schon sein, aber ich hab keine Ahnung von Babys." Unterbrach er sie, konnte die Panik in seiner Stimme nicht unterdrücken. "Was soll ich mit ihr?"

"Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt." Die junge Frau weinte nun, Tränen benetzten das weiße Tuch vor ihrem Gesicht. "Und nun geh, Heimdal. Geh und werde glücklich."

"Wohin?" Heimdal fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass ihm jemand Glück wünschte. Das hatte er doch nie gehabt. "Wohin?"

"Das wirst du schon sehen."

Die Frau trat einige Schritte zurück und als Heimdal ihr folgen wollte, stieß er gegen eine unsichtbare Wand. Das Baby verzog unruhig sein Gesicht, so als würde es gleich aufwachen und zu schreien beginnen, und so tat er das einzige, was ihm einfiel: Er wiegte es sanft in seinen Armen und sang ein altes Schlaflied, das er seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr gesungen hatte. Seit Loki seine kleine Tochter nach Walhalla gebracht und Thor und Heimdal des öfteren den Babysitter gespielt hatten.

Der Blitzableiter hat immer gewickelt und gefüttert, ich durfte dafür singen und schaukeln.

Heimdal stockte mitten in der Strophe, als ihn ein Gedanke durchzuckte.

Hel?

Gehetzt blickte er auf, konnte die Gestalt der jungen Frau aber nirgendwo mehr sehen. Sie war fort. Fest hielt er das Baby in seinen Armen, fest und schützend, als das Licht immer heller wurde und sie schließlich verschlang.

Hel? Bist du das?
 

***
 

"Nimm mich mit!"

Der Welpe sprang mit einem Satz auf das Sofa und blickte bettelnd in dunkle Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Dunkle Ringe zogen sich über die bleiche Haut und der junge Mann schüttelte langsam seinen Kopf, als würde ihm diese Bewegung viel Kraft kosten.

Thor?

Heimdal blinzelte überrascht, als sich das gleißende Licht auflöste und er sich in Lokis Wohnzimmer wiederfand. Irgendwie verwunderte ihn der Ort nicht, war er doch in diesem Haus das letzte Mal auf der Erde gewesen. Dennoch hatte er nicht mit dem Donnergott gerechnet, der nicht länger wie ein siebzehnjähriger Mensch wirkte, sondern seine ausgewachsene Göttergestalt zurückerhalten hatte.

"Nein, Fenrir, das geht nicht und du weißt das auch." Thor streichelte sanft durch schwarzes Fell und unterdrückte ein Gähnen. Er sah aus, als hätte er die letzten Tage nicht richtig oder gar nicht geschlafen.

"Aber wenn du mich reinschmuggelst..."

"Nein, Hunde sind im Krankenhaus verboten, außerdem ist das Infektionsrisiko noch zu hoch." Thor schüttelte energisch seinen Kopf und schloss den kleinen Welpen in seine Arme, als dieser auf seinen Schoß krabbelte und seine Schnauze in Thors schwarzem T-Shirt verbarg. "Tut mir leid, Kleiner."

Heimdal brachte das schlafende Baby in seinen Armen in eine bequemere Position und trat hinüber zu dem Sofa. Instinktiv wusste er, dass weder Thor noch der Höllenhund ihn sehen konnten. Verwirrt betrachtete der Wächter das seltsame Bild, das sich ihm bot. Thor tröstete tatsächlich Lokis ältesten Sohn - und dieser ließ das auch noch zu!

Krankenhaus? Liegt Loki im Krankenhaus? Ist Fenrir deswegen so traurig? Tja, geschieht ihm Recht mit seinem großen Vaterkomplex!

Dennoch verwunderte es Heimdal zu hören, dass Loki die ärztliche Hilfe der Menschen benötigte und dass Fenrir darüber so deprimiert war, dass er sich in Thors Arme kuschelte, wobei der Donnergott ebenfalls sehr niedergeschlagen wirkte.

Steht es so ernst um Loki?

Heimdal hätte darüber fröhlich sein sollen, dass es seinem ärgsten Feind so schlecht ging, besonders nach der Hölle, die er in Nilfheim durchwandert hatte, dennoch konnte er keine Freude empfinden. Nicht, wenn Thor so niedergeschlagen drein schaute.

"Ich bleib auch hier, okay, Nii-chan?" Die Tür öffnete sich und Midgar kam herein. Er trug einen kleinen Eimer in der rechten und einen Putzlappen in der linken Hand. Offensichtlich war er zu seinem Frühjahrsputz übergegangen, würde höchstwahrscheinlich eine neue Errungenschaft, die er über das Telefon unter Benutzung der Kreditkarte seines Vaters bestellt hatte, zum Putzen der Fenster ausprobieren.

"Ich will aber nicht hier bleiben! Ich will auch einen Krankenbesuch machen! Ich will nicht tatenlos hier rumsitzen!"

Heimdal blinzelte erstaunt, als er wirkliche Tränen in schwarzen Hundeaugen sah.

"Du könntest doch eh nichts ausrichten." Thors Stimme klang resignierend, als er den Welpen sanft von seinem Schoß schob und sich erhob. "Ich ruf euch an, sobald ich etwas Neues weiß, okay?" Der Donnergott straffte sein schwarzes T-Shirt und Heimdal fragte sich, ob Loki es nun auch geschafft hatte, ihn mit seiner Macke für dunkle Kleidung anzustecken. Thor trug außerdem eine schwarze Jeans und ergriff eine dunkle Jacke, die über der Sofalehne hing. Mit mechanischen Bewegungen, als leide er unter körperlichen Schmerzen, streifte er sie sich über und fuhr sich durch die strubbeligen Haare.

Er ist wirklich wie Loki geworden. Verräter!

Heimdal sah kurz über seine Schulter zurück und sah mit Schaudern, wie Fenrir offen zu weinen begann und nun Schutz in der Umarmung seines Bruders fand. Der Eimer stand vergessen auf dem Tisch, der Putzlappen schwamm ungeachtet in dem rasch erkaltendem Schaumwasser. Tränen rannen auch über Midgars blasses Gesicht.

Was ist hier geschehen?

Heimdal schüttelte sich leicht, dann folgte er Thor. Der Donnergott schlüpfte soeben in seine dunklen Turnschuh und seufzte unterdrückt, als das Telefon zu läuten begann. Heimdal runzelte seine Stirn, als er sah, wie der junge Mann zögerte und schließlich seine rechte Hand ausstreckte, die sichtbar zitterte. Es schien ihn unglaubliche Überwindung zu kosten, den Hörer abzunehmen und an sein Ohr zu pressen.

"Moshi moshi, Enzyaku Detektei, wie kann ich Ihnen helfen?" sprach er im professionellen Ton, aber mit bebender Stimme, so als habe er diesen Satz schon tausend Mal gesagt und leierte ihn daher aus seinem Gedächtnis, ohne groß darüber nachzudenken.

"Ach, du bist's, Hashitzou-kun." Thor stieß die angehaltene Luft aus und seine angespannten Schultern sackten nach unten. Erneut strich er sich in einer nervösen Geste durch die Haare und schloss für einen Augenblick die müden Augen. "Nein, ich werd diese Woche wohl nicht zu den Vorlesungen kommen... hai... das wäre nett, wenn du mitschreiben... hai..." Thor drehte sich um und Heimdal, der hinter ihm stand, tat es ihm gleich. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Midgar mit Fenrir auf seinem Arm. Beide sahen sie sehr ängstlich aus und nickten erleichtert, als Thor seinen Kopf schüttelte und stumm den Namen des Anrufers formte.

Was ist hier los?

Heimdal verstand nur Bahnhof. Wer war Hashitzou? Warum sollte er für Thor Vorlesungen mitschreiben? Welche Vorlesungen? Ging der Donnergott etwa zur Universität? Wie konnte es der Gott mit seinen schlechten Noten nur auf eine Universität geschafft haben? Und warum besuchte er überhaupt eine menschliche Bildungseinrichtung, die er als Gott doch überhaupt nicht nötig hatte?

"... um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob ich dieses Semester überhaupt noch einmal auftauchen werden."

Dieses Semester?

Heimdal beschlich eine üble Vorahnung und er hielt das Baby in seinen Armen ein wenig fester, als er näher an den erschöpften Donnergott herantrat, der sich gegen die Kommode lehnte und hilflos seine Schultern zuckte, obwohl Hashitzou - wer auch immer er war - ihn gar nicht sehen konnte.

Dieses Semester?

Wie lange bin ich denn in Niflheim gewesen?

Heimdal wusste, dass Thor in die Oberstufe, in dieselbe Klasse wie Mayura gegangen war. Zwischen der Oberstufe und der Universität konnten im ungünstigsten Fall schon ein paar Jahre liegen.

Jahre?

Der Wächter blickte sich erschrocken um, konnte in dem Flur jedoch keine besonderen Veränderungen sehen. Die Möbel standen noch genauso wie er in jener Nacht gegen sie gestoßen war im wilden Versuch, Loki mit einem Küchenmesser zu erstechen.

Thor ist nicht intelligent genug, um zwei Klassenstufen zu überspringen.

Heimdal grübelte noch immer über das japanische Bildungssystem und warum Thor eventuell während seiner Schulzeit die Universität besuchen könnte - vielleicht als Vorbereitungskurs oder ähnliches - wurde jedoch aus seinen Gedanken gerissen, als er die nächsten Worte des Donnergottes hörte.

"Ich kann's nicht ändern, Hashitzou-kun. Gomen ne, du musst die Prüfung ohne mich machen, ich werde wohl ein Urlaubssemester einlegen. Nein, das ist mein Ernst, meine Familie ist mir im Moment wichtiger. Hai... arigatou... man hört sich..."

Thor legte den Hörer auf die Gabel und straffte seine Schultern, so als müsse er sich eines unsichtbaren Gegners erwehren. Dann schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und trat hinaus in das Sonnenlicht eines lauen Frühlingstages. Trotz der warmen Sonnenstrahlen schien der Donnergott zu frieren, seine Schritte waren langsam und vorsichtig, so als würde er auf Scherben laufen, als er die Straße entlang lief.

Heimdal korrigierte erneut das schlafende Baby in seinen Armen und folgte ihm neugierig und verwirrt.

Familie?

Wen hat Thor als Familie bezeichnet?

Loki etwa?
 

***
 

Viel schien sich in Tokio nicht verändert zu haben, seit Heimdal das letzte Mal hier gewesen war. Einige neue Straßenbahnen fuhren durch die Innenstadt und die Werbeplakate warben mit Produkten, die der Wächter nicht kannte, aber er bildete sich nicht viel darauf ein. Er hatte immer von denselben Instantprodukten gelebt und war selten in die Innenstadt gegangen, da ihn dort nur ständig Leute ansprachen und fragten, ob er denn seine Mutti verloren hätte. Ja, es war nervig in dem Kinderkörper gewesen, umso dankbarer war Heimdal, endlich wieder seine normale Körpergröße zurückbekommen zu haben. Er wusste nicht, welchen Umstand er dies verdankte, aber selbst wenn ihn im Moment niemand anderes sah als das Baby in seinen Armen, das aufgewacht war und ihn aufmerksam mit ihren dunkelgrünen Augen anstarrte, sehen konnte, so war er froh darüber. Sehr froh. Denn als Kind hätte er das Kleinkind nicht tragen können. Es war auch so schon schwierig genug.

Hoffentlich schreit sie jetzt nicht.

Heimdal riskierte einen kurzen Blick in seine Arme, aber das Mädchen schien zufrieden mit ihm zu sein, blickte neugierig in die ihm noch unbekannte Welt.

Nein, viel schien sich nicht verändert zu haben, oder Heimdal wären die Veränderungen nie aufgefallen, selbst dann nicht, wenn er niemals in Niflheim gewesen wäre.

Thor ging an mehreren Zeitungsläden vorbei und Heimdal war versucht, sich einfach eine aktuelle Zeitung zu stehlen, ließ es dann aber bleiben in der Angst, den Donnergott aus den Augen zu verlieren. Er wusste nicht, wo sich das Krankenhaus befand und konnte niemanden nach dem Weg fragen. Also blieb er Thor dicht auf den Fersen und vertraute darauf, dass ihm schon jemand verraten würden, welches Datum man heute schrieb.

Vielleicht war ich gar nicht so lange weg. Vielleicht nur wenige Tage.

Heimdal blickte zu den Kirschbäumen hinüber, als Thor an einem kleinen Park vorbei lief. Sie standen in voller Blüte und ihre weißen Blätter wehten durch die Luft wie warmer Schnee. Die Natur sah noch genauso aus wie an Mayuras Geburtstagsfeier.

Vielleicht ist auch nur eine Woche vergangen?

Heimdal sah, wie das Baby in seinen Armen die hellen Flocken aufmerksam beobachtete, und wiegte sie willkürlich, was ihm mit einem glücklichen Glucksen belohnt wurde. Vermutlich hatte Thor ein Praktikum an der Universität oder besuchte dort eine Vorlesung zu dem Thema >Wie verdiene ich mit möglichst wenig Jobs möglichst viel Geld< und hatte Heimdal nichts davon erzählt. Immerhin war sehr viel in dem Jahr vorgefallen, das sie auf der Erde verbracht hatten. Thor hatte es wohl nicht für wichtig erachtet, Heimdal von seinen Abendkursen zu berichten, oder er hatte es schlicht und ergreifend vergessen.

Und das Krankenhaus?

Heimdal setzte sich in Bewegung, als er Thor beinahe an einer grünen Ampel verlor und versuchte, logische Erklärungen für seine skeptische innere Stimme zu finden. Vermutlich lag Loki im Krankenhaus, weil er mit seinem Messer doch erfolgreicher gewesen war, als er das angenommen hatte. Der Wächter hatte zwar nicht mehr deutlich sehen können, aber vielleicht hatte er doch getroffen und nun lag Loki sicherheitshalber im Krankenhaus, schließlich steckte er noch in einem Kinderkörper.

Ha! Jetzt bin ich wieder erwachsen und er muss leiden!

Bestimmt hatte Mayura es für sicherer erachtet, dass der Unheilsgott ärztliche Hilfe erhielt, selbst wenn es sich nur um eine Schnittverletzung handelte, und Fenrir und Midgar übertrieben maßlos. Beide besaßen sie immerhin den größten Vaterkomplex, den Heimdal je gesehen hatte, da war es wohl ganz natürlich, dass sie ausflippten, sobald ihr Vater verletzt war, egal, wie klein die Wunde auch ausfiel.

Und Thors äußere Erscheinung?

Heimdal musterte den nun erwachsenen Gott und zuckte gleichgültig seine Schultern. Vermutlich besaß der Donnergott noch ein wenig seiner göttlichen Macht und hatte irgendwann die Nase voll gehabt, als siebzehnjähriger Junge durch die Welt zu marschieren. Vielleicht legte er diese äußere Erscheinung nur an den Tag, wenn er zu seiner Businessvorlesung zur Universität musste, um dort nicht all zu sehr aufzufallen.

Und seine dunkle Kleidung?

Ein Modetick, entschied Heimdal. Thor hatte sicherlich der dunkle Samuraianzug von Mayuras Geburtstagsfeier sehr gut gefallen und deshalb trug er nun auch schwarze Kleidung. Oder aber, er wollte Loki imponieren.

Oder es ist seine Art, Loki Loyalität zu zeigen.

Heimdal verzog sein Auge zu einem Schlitz und folgte dem jungen Mann in einen kleinen Laden, der überhaupt nicht so aussah, wie sich der Wächter ein Krankenhaus vorgestellt hatte. Rasch erkannte Heimdal seinen Fehler, als er all die vielen Blumen sah, die in Eimern auf dem Fliesfußboden standen.

Ein Blumenladen?

"Ein Strauß von denen da." Thor erwiderte müde das Lächeln der freundlichen Floristin und zeigte auf einen Topf mit besonders grellen Blumen.

"Nelken?" fragte die junge Frau und hielt dem Donnergott einige Blumen entgegen, um ihm die Frische zu zeigen und eventuelle Einwände abzuwarten.

"Hai." Thor nickte und Heimdal bemerkte erneut den leicht japanischen Akzent, den er zuvor noch nie bei dem jungen Gott gehört hatte. "Siebenundzwanzig Stück, bitte."

"So viele?"

"Hai."

Heimdal kauft Blumen für Loki?

Der Wächter grollte drohend und stakste empört zu dem Schalter hinüber, wo die junge Frau fachmännisch die Blumen zurecht schnitt und zu einem großen Strauß zusammen zu legen begann.

Das geht nun wirklich zu weit!

"Das muss aber wirklich ein ganz besonderer Mensch sein, der einen so schönen Strauß erhält."

"Er ist ein Verräter!" spie Heimdal, aber keiner hörte ihn, nur das Baby gab einen gequälten Laut von sich und er schaukelte es behutsam in seinen Armen, wisperte sinnlose Worte, um es wieder zu beruhigen. Nein, er sollte in der Gegenwart des Kleinkindes nicht schreien, wollte er nicht selbst angebrüllt werden, das kannte er noch von Hel.

Hel...

Warum hat mir die junge Frau das Kind anvertraut, was soll ich damit? Warum bin ich hier? Wieso lauf ich hinter Thor her, der für Loki Blumen kauft, wo er sich nie einen Dreck drum gekümmert hat, wie es mir ging, ob mich die Anfälle quälten und ob ich Schmerzen wegen meines fehlenden Auges hatte. Nie hat er danach gefragt, und nun folge ich ihm durch halb Tokio, obwohl er mich nicht einmal sehen kann!

Was mach ich überhaupt hier?!

>Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt.< hörte er wieder die sanfte Stimme der mysteriösen Frau in seinen Gedanken und seufzte ergeben. Was immer ihre verworrenen Worte auch bedeuteten, ihm blieb nichts anderes übrig, als mit einem Baby im Schlepptau durch Tokio zu wandeln, um das große Unheil überhaupt erst einmal ausfindig zu machen. Die Alternative, die ihm blieb, war, nach Niflheim zurück zu kehren. Heimdal hütete lieber für den Rest seiner Existenz das Baby in seinen Armen und schlich hinter nordischen Göttern her, als noch einmal in diese Hölle hinab zu steigen, wo ihn Erinnerungen und Alpträume quälten, denen er nicht entrinnen konnte.

"Ja, sie ist etwas ganz Besonderes." Thor biss sich auf die Unterlippe und drehte sich von der jungen Floristin weg, scheinbar interessiert die Rosen betrachtend. Heimdal sah jedoch, dass er mit den Tränen kämpfte.

Thor weint?

Heimdal tänzelte um den Donnergott herum und schwenkte zugleich rhythmisch seine Arme, um das Baby wieder zum Einschlafen zu bewegen. Er hoffte, dass das Kleinkind keinen Hunger bekam, er wusste nicht, was noch wie er es füttern sollte.

Und wer ist sie? Ist es nicht Loki, den er im Krankenhaus besuchen will? Warum spricht er dann von einer sie? Oder hat Thor etwa eine Freundin?

Der Wächter konnte dies nicht so recht glauben. Thor war in der Lage, Vorlesungen an der Universität oder einen neuen Nebenjob nicht zu erwähnen, weil er es für nicht wichtig hielt, aber er hätte Heimdal bestimmt erzählt, wenn er eine Freundin gehabt hätte!

Hoffentlich ist es nicht wieder so eine Schaufensterpuppe.

Heimdal grinste höhnisch, aber sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Horrors, als tatsächlich zwei Tränen über Thors bleiche Wangen rannen und der junge Gott offensichtlich nach Fassung rang.

"Soll ich eine bestimmte Karte hinzufügen?" fragte die Floristin und band den Strauß schließlich zusammen, da sie mit der Anordnung der Blumen zufrieden war.

"Gute Besserung, wir gehen schließlich in ein Krankenhaus." Erwiderte Heimdal zynisch, ärgerte sich, das sie ihn nicht hören konnte. Ihr freundliches Lächeln ging ihm auf die Nerven. Genauso wie Thors zittriges Luftholen und die raschen Bewegungen über seine Wangen, als könnte er damit die Spuren der Tränen fortwischen.

Jeder wird sehen, dass du wie ein Kleinkind heulst.

"Es... es ist ihr Geburtstag."

"Also >Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag<. Da wird sich ihre Angebetete bestimmt freuen." Lächelte die Floristin und suchte unter dem Tisch nach einer entsprechenden Karte, die sie an den Strauß hängte. Thor erwiderte nichts, stand einfach nur da und rang nach seiner Fassung, die er schon vor Tagen verloren zu haben schien, so müde und verwahrlost wie er aussah!

Geburtstag?

Wir gehen aber trotzdem in ein Krankenhaus, oder?

Loki feiert keinen Geburtstag, er feiert Göttertag - und der findet nur aller paar Jahrhunderte statt. Was soll das?

Heimdal hob erstaunt seine Augenbrauen, als Thor schließlich seine Geldbörse zog und einen besonders großen Geldschein hervorkramte.

Seit wann hat unsere Kirchenmaus denn Geld?

"In Folie oder Papier?"

"Papier, bitte."

Die junge Floristin nickte und reichte ihm den eingewickelten Strauß, um den Schein entgegen zu nehmen. Der Strauß kostete eine erhebliche Stange Geld, deshalb wunderte sich Heimdal umso mehr, als Thor das Wechselgeld ablehnte, der jungen Frau brüchig einen schönen Tag wünschte und den kleinen Blumenladen wieder verließ.

"Domo arigatou." Die Floristin verbeugte sich und wünschte ihm ebenfalls einen schönen Tag. Thor nickte nur und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Heimdal schlüpfte rasch durch den Spalt und fragte sich entgeistert, welche Wunder ihm heute noch begegnen würden. Thor hatte nicht nur extrem viel Geld ausgegeben, sondern der Floristin das höchste Trinkgeld spendiert, das Heimdal jemals gesehen hatte.

Ist er es vielleicht, der krank ist? Geistig krank?

Der Wächter schunkelte das Baby in seinen Armen, das nicht schlafen wollte, aber glücklicherweise schweigend seine Umwelt musterte und folgte erneut dem Donnergott und dem großen Blumenstrauß ergeben.
 

***
 

Thor lief langsam durch die belebten Straßen Tokios, bemerkte die Passanten um ihn herum nicht, auch nicht die Ampel, als er einfach bei Rot über die Straße ging. Heimdal schrie entsetzt auf, konnte ihm jedoch nicht helfen. Er sah bereits die Katastrophe auf sie zurasen, aber der Fahrer des Wagen reagierte geistesgegenwärtig, um dem blind vor sich hinstarrenden Gott auszuweichen - und, um energisch auf die Hupe zu drücken. Thor zuckte bei dem durchdringenden Geräusch ein wenig zusammen, fasste dann aber stärker nach dem Blumenstrauß und setzte unbeirrt seinen Weg fort. Wenigstens schien der Donnergott genau zu wissen, wo er hinwollte, auch wenn er nicht zu bemerken schien, wo er sich gegenwärtig befand.

So hab ich ihn noch nie erlebt.

Heimdal schaukelte das kleine Mädchen, das erschrocken zu schreien begonnen hatte, sanft in seinen Armen, beruhigte nicht nur sie mit leise gesprochenen Nichtigkeiten. Entsetzt starrte er auf die Straße zurück, wo Thor nur knapp einem Unfall entronnen war, und lief dann rasch hinter dem Gott her, der beinahe gegen eine Plakatwand knallte. Der junge Mann schien in Gedanken überall zu sein, nur nicht in der Welt, die ihn umgab.

Liegt es an seiner Freundin?

Dennoch glaubte Heimdal nicht recht daran, dass Thors Unachtsamkeit von seiner Verliebtheit herrührte. Verliebte schwebten dämlich grinsend auf einer rosaroten Wolke, der Donnergott wirkte jedoch alles andere als verliebt oder gar glücklich. Auf Heimdal machte er den Eindruck, als wäre er soeben verlassen worden, oder als habe er jemanden sehr Wichtiges verloren. Durch höhere Mächte. Durch den Tod.

Ist jemand gestorben?

Nein, Loki kann nicht gestorben sein, dann hätte ich ihn sicherlich in Niflheim getroffen. Ich hätte ihn mit mir auf diese verdammte Reise durch diese verfluchten Erinnerungen gezerrt, bis er eingesehen hätte, was für ein Arsch er gewesen ist!

Heimdal seufzte erleichtert, als das Baby sich wieder beruhigte und Thor ein großes Gebäude betrat. Hier würde er wenigstens nicht in ständiger Gefahr schweben, von Autos überfahren zu werden oder gegen Bäume und ähnliches zu laufen. Wenn er hier doch mit einem Tisch zusammen stieß, so gab es hier wenigstens Ärzte, die ihm halfen.

Der Wächter betrachtete die weißen, sterilen Wände und musste niesen, als ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase stieg. Sofort fühlte er sich unwohl an diesem Ort, was nicht nur an dem unterdrückten Jammern einiger Menschen lag, an denen Thor mit unveränderter Miene vorbei schritt. Zielsicher, als sei er schon oft diesen Weg gegangen, bog er ab und hielt vor der Rezeption an. Eine Frau mittleren Alters saß dahinter und sie lächelte ihn freundlich an, als sie von ihrem Computer aufsah und ihn erkannte.

"Es ist schön, dass Sie kommen." Begrüßte sie ihn und Heimdal lief zu ihr hinüber, um auf den Bildschirm spähen zu können. Leider sagten ihm die Schriftzeichen in dem Programm nichts und er konnte auch kein aktuelles Datum erkennen.

Sie kennt ihn?

Wie oft kommt Thor in dieses Krankenhaus?

"Sie hat bereits den ganzen Morgen auf Besuch gewartet."

Bei ihren sanft gesprochenen Worten, hinter denen sich kein Tadel verbarg, nur mütterliche Fürsorge, zuckte Thor heftiger zusammen als beim Erklingen der Autohupe.

"Ihr Ehemann war noch nicht da gewesen?"

Das Lächeln der netten Frau wurde eine Spur trauriger.

"Nein." Sie blickte an Thor hinab und Heimdal sah, wie sie mehrfach ihre Hände öffnete und schloss. "Sind das Blumen?"

"Hai, für sie." Thor lächelte so verzweifelt, es wirkte beinahe wie eine Grimasse. "Das ist doch erlaubt, oder? Wegen der Vorschriften..."

"Keine Sorge, stellen Sie sie einfach aufs Fensterbrett, dann geht das schon in Ordnung." Die Frau konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie beugte sich über die Theke und korrigierte den Kragen von Thors Jacke, strich ein paar Falten in dem dunklen T-Shirt glatt. So wie sie das wohl ihr ganzes Leben lang bei ihren Kindern und vermutlich auch Enkeln getan hatte. Dann produzierte sie einen Kamm aus den Taschen ihres weißen Kittels und drückte ihn dem müden Gott in die Hand.

"Kämmen Sie sich, Sie sehen ja fürchterlich aus."

"Hai." Thor tat wie ihm befohlen und verbeugte sich kurz, um dann zielstrebig den Gang zu seiner Rechten hinab zu gehen. Heimdal staunte erneut über die japanischen Manieren, die sich der Donnergott angewöhnt hatte und fragte sich abermals, ob er wirklich nur eine Woche in Niflheim gelitten hatte oder ob nicht doch mehr Zeit vergangen war. Sehr viel Zeit, in der aus dem nordischen Gott ein Japaner geworden war.

"Warten Sie noch ein paar Minuten, der Arzt ist gerade auf Visite bei ihr." Rief die Frau dem nordischen Gott hinterher und widmete sich wieder ihrem Computerprogramm. Thor nickte und setzte sich vor einer Tür am Ende des Ganges auf einen Plaststuhl, der extrem unbequem aussah. Heimdal schaute in glasige Augen, die durch seine Gestalt hindurch auf das Bild an der Wand hinter ihm starrten und es trotzdem nicht wahrnahmen.

Was ist hier nur geschehen?

Der Wächter stellte sich diese Frage immer und immer wieder, wohl wissend, dass er Geduld aufbringen musste, um Antworten zu erhalten. Geduld, die er nicht hatte, besonders nicht, da das Baby in seinen Armen erneut zu wimmern begann und ihm allmählich die Muskeln einschliefen.

"Hast du Hunger?" murmelte Heimdal und blickte sich verzweifelt um, aber er konnte nirgends eine Flasche Milch oder gar ein Gläschen Babybrei sehen. Da durchfuhr ihn ein entsetzlicher Gedanke. "Oder müssen deine Windeln gewechselt werden?" Geschockt hob er das Baby und es kostete ihn alle Überwindung, an der hellen Windel zu riechen. Erleichtert stellte er fest, dass der Unmut der Kleinen nicht von unangenehmer Nässe herführte. Auch knurrte der kleine Magen nicht, Hunger schien sie auch nicht zu haben.

Vermutlich ist sie einfach nur angeödet, mit jemandem wie mir rumhängen zu müssen.

Heimdal schnitt eine Fratze, woraufhin das Balg doch tatsächlich die Nerven hatte, ihn hell anzulachen.

Genauso wie Hel damals...

Der Wächter schluckte und fragte sich erneut, wer dieses Kleinkind war und warum es ihm von dieser Frau in seine Obhut gegeben wurde. Wer die Frau gewesen war. Hatte es sich dabei wirklich um Hel gehandelt? Wieso gab die Tochter Lokis ihm dann ein Baby und schickte ihn zurück in die Welt der Lebenden, wo ihn jedoch niemand sehen konnte? Es ergab alles absolut keinen Sinn!

Heimdal stöhnte, als ihm der rechte Arm abzufallen drohte, denn auch wenn das Baby nicht viel wog, so konnte es im Laufe der Zeit doch recht schwer werden. Suchend blickte sich der Wächter um und wurde auch fünf Zimmer weiter fündig. Auf einem Wagen lagen ordentlich gestapelt Windeln. Traditionelle Stoffwindeln, die sich Loki immer um den Bauch gebunden hatte, um seine kleine Hel durch seine Gemächer in Walhalla zu tragen.

Wie hatte er das noch gemacht?

Heimdal legte das Mädchen vorsichtig auf den Wagen zwischen den Windeln ab und stritt einen erbitterten Zweikampf, den die Windel gewann. Verzweifelt fluchte er, was das Baby sehr lustig zu finden schien. Es gluckste fröhlich und Heimdal fragte sich zynisch, ob er nicht den Job als Wächter aufgeben und dafür Clown im Zirkus werden sollte, wenn andere seinen Anblick so amüsant fanden.

Die Tür neben ihm wurde geöffnet und eine junge Frau trat heraus. Sie trug ein kleines Baby, kaum größer als Heimdals Schützling, in ebensolch einer Konstruktion um den Bauch, die dem nordischen Gott nicht gelingen wollte. Angeregt unterhielt sie sich mit einer anderen Frau, die im Nachthemd und sichtlich geschwollenem Leib hinter ihr her watschelte. Heimdal kannte sich in den Dingen der menschlichen Biologie nicht besonders gut aus, aber er ahnte, dass die Frau im Nachthemd kurz vor der Niederkunft stand und die erstere ihr Kind vor nicht all zu langer Zeit zur Welt gebracht hatte.

Wo bin ich hier?

In welches Krankenhaus ist Thor da gegangen?

Heimdal sah sich den Babysitz aus der Nähe an und war zum ersten Mal froh, dass er nicht gesehen wurde, sie hätten ihn doch glatt für einen Spanner gehalten.

Ja, für einen Spanner, nicht länger für ein Kind, dem man einen Lutscher schenkt!

Heimdal grinste höhnisch und endlich gelang es ihm, die Windel richtig zu falten und zu verknoten. Er testete die Belastbarkeit und half dann dem kleinen Mädchen schließlich hinein. Damit trug er sie nun direkt vor seiner Brust, aber das Gewicht war besser verteilt, er hatte seine Hände frei, seine Arme würden nicht absterben und das Baby schien ebenfalls zufrieden zu sein.

Vielleicht war ihm ja nur kalt gewesen.

Heimdal strich gedankenverloren über den kleinen Rücken und beobachtete, wie das kleine Mädchen herzhaft gähnte und dann seine Augen schloss, um in seiner Nähe einzuschlafen.

Sie sieht richtig niedlich aus...

Der Wächter schüttelte seinen Kopf und vertrieb die seltsamen Gedanken. Dann stapfte er zurück zu der Empfangsdame, um das Schild zu lesen, das vor dem Gang an einer Glastür prangerte, die offen stand.

>Geburtsstation E 5<

Heimdal blinzelte, aber die Schrift veränderte sich nicht. Thor saß eindeutig vor einem Krankenzimmer der Geburtsstation eines Krankenhauses in Tokio, was immer das E 5 auch bedeutete.

Was will er hier?

Hat jemand ein Kind bekommen?

Aber wer?

Der Wächter umarmte automatisch das Kleinkind vor seiner Brust, als ihm eine grausame Ahnung überkam.

Nein, das kann nicht sein! Das...

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich die Tür zu dem besagten Krankenzimmer öffnete und Thor sich sofort erhob. Er wechselte einige Worte mit dem Arzt und verbeugte sich tief, als der Mediziner das nächste Zimmer betrat, um in seiner Visite fortzufahren. Heimdal hatte die Unterhaltung nicht gehört, aber Thor wirkte nicht erleichterter oder gar fröhlicher nach seiner Unterredung mit dem Doktor. Statt dessen fuhr sich der Donnergott nervös durch seine Haare, unbeabsichtigt das Werk des Kammes zugrunde richtend, und betrat schließlich das Zimmer.

Heimdal huschte ebenfalls hinein, bevor die Tür leise geschlossen wurde, und gab einen erstickten Laut von sich, als er hinter Thor hervor trat und die Gestalt sah, die in einem viel zu groß wirkenden Bett lag. Oder war es die Gestalt, die zu klein, zu gebrechlich aussah? Mehrere äußerst medizinisch und damit kompliziert wirkende Apparaturen standen um das Bett herum und machten leise Geräusche, die jedoch extrem laut waren in der Stille des Zimmers. Auf einigen Monitoren konnte Heimdal diverse Linien sehen, die ihm jedoch nichts sagen. Die ganze Situation war ihm völlig fremd. Dennoch wusste er sofort, dass die Person nicht ohne Grund in dem Krankenhaus lag und sich Thor nicht ohne Grund ernsthafte Sorgen um sie machte.

"Hallo." Flüsterte die junge Frau und rang nach Luft. Allein dieses Wort schien ihr Kraft zu kosten, über die sie nicht verfügte.

Mayura?

Heimdal blieb wie versteinert inmitten des Raumes stehen, während Thor eine Vase ergriff, die leer auf einem kleinen Beistelltisch stand und diese mit Wasser füllte. Wortlos, als wüsste er nicht, was er am besten sagen könnte, kämpfte er mit dem Papier und neben dem nervigen Piepen der Geräte erfüllte nun peinliches Rascheln den Raum. Bald standen die Blumen auf dem Fensterbrett. Die Vorhänge waren vorgezogen, die Sonne blieb ausgesperrt. Plötzlich wusste Heimdal, warum der Donnergott ausgerechnet so grelle Blumen ausgewählt hatte. Sie brachten ein wenig Farbe in diesen sterilen Raum.

Mayura?

"Hallo, Kleines." Flüsterte Thor schließlich und zog sich einen Stuhl neben das Bett, auf dem er sich niederließ und sanft ihre reche Hand ergriff. Heimdal fuhr leicht zusammen, als er die vielen Kanülen sah, die die Haut durchgestochen, die vielen Schläuche, durch die meist durchsichtigen Flüssigkeiten in ihre Venen tropften.

Kleines? Thor hat Mayura Kleines genannt? Macht der sich jetzt auch noch an dieses Gör ran?

Obwohl Heimdal zugeben musste, dass es sich hierbei nicht länger um ein Gör, einen Teenager handelte. Mayura war ebenfalls gewachsen. Aus ihr war eine junge und schöne Frau geworden, wie Heimdal grummelnd feststellte. Vermutlich mochte sie noch immer >Mysteries<, jedoch war davon im Moment nichts auf ihrem eingefallenen Gesicht zu sehen. Ausgezehrt wirkte sie, als sei sie dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen.

"... schön..." sie deutete zu den Blumen und Tränen glitzerten in ihren braunen Augen. Ein dünnes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sich Thor vorbeugte und sie fortwischte, da sie über ihre bleichen Wangen rannen.

"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kleines. Nicht nur von mir, sondern auch von Fenrir und Midgar."

"'gatou...." sie schluckte sichtbar und umschloss seine Hand mit schwacher Stärke. "Wie geht's meinen Jungs?"

Ihren Jungs?

Heimdal war sprachlos. Hatte sie wirklich von dem Höllenhund und der Weltenschlange gesprochen, als handle es sich dabei um ihre Familie, um ihre Söhne? Akzeptierte sie Loki wirklich für das, was er war - und seine Kinder gleich mit?

"Midgar hätte dir am liebsten einen großen Kuchen gebacken und Fenrir..." Thor zuckte hilflos mit seinen Schultern. "... er wäre beinahe in meine Jackentaschen gekrochen, damit ich ihn hereinschmuggle."

"Kann ich mir vorstellen." Mayura drehte ein wenig ihren Kopf und blickte zu dem Beistelltisch hinüber, auf dem ein eingerahmtes Photo stand. Es zeigte fröhliche Menschen und Götter während eines großen Festes auf einer Tribüne vereint. Heimdal sah die Schwestern des Schicksals, sah Freyr und Freya, sah Gullinbrusti, sah Mayuras Vater und viele ihrer Mitschüler. Im Zentrum des Bildes saßen sie selbst und Loki auf einem mit Samt überzogenen Sofa. Der Unheilsgott hatte seine wahre Gestalt zurück erhalten und Mayura wirkte kaum älter als an dem Tag, an dem Heimdal sie das letzte Mal gesehen hatte. Midgar und Thor hatten sich direkt hinter das Sofa gestellt und grinsten stolz in die Kamera, während es sich Fenrir auf dem weißen Kimono Mayuras bequem gemacht hatte. Loki trug wie immer seine dunkle Kleidung, aber sie war anders geschnitten als normal.

Ein festlicher Anzug.

Heimdals Kinnlade sackte nach unten, als er erkannte, dass es sich bei diesem Photo um ein Hochzeitsbild handelte.

Eine Hochzeit?

Etwa Loki und Mayuras?

Loki hat geheiratet? Der Gott, für den Frauen immer nur ein Abenteuer waren, hat sich an einen Menschen gebunden?

"Ich vermisse sie." Seufzte die schwache Mayura in dem Krankenbett und weitere Tränen, gegen die sie nicht ankämpfen konnte, rannen über ihre Wangen, wurden zärtlich von Thor fortgewischt. "Ich will so schnell wie möglich nach Hause."

"Werde erst richtig gesund, Kleines. Der Arzt hat gesagt, dass du zwar über den Berg bist, dich aber nicht übernehmen sollst. Die nächsten Wochen hast du strikte Bettruhe."

"Ich weiß." Ein erneutes Seufzen.

Über den Berg sein? Also hat sie wirklich im Sterben gelegen? Wo ist dann Loki? Sollte er nicht an der Seite seiner... Frau? ... sein und verhindern, dass sich dieser schmierige Thor an sie ranmacht?

"Ich kümmere mich zu Hause um alles, mach dir keine Gedanken. Und wenn's dir besser geht, schmuggle ich auch Fenrir für dich rein, okay?"

"Hai." Sie lächelte unendlich traurig und schloss ihre brennenden Augen. Ihre freie Hand fuhr über die Decke, die auf ihr lag, und verharrte direkt über ihrem Bauch. Wild kämpfte sie gegen ihre Gefühle an, Heimdal und Thor konnten es sehen, bevor sie dann doch schluchzen musste. "Gomen..." weinte sie und bedeckte ihr nasses Gesicht mit eben jener Hand. Heimdal konnte das Zittern nur zu gut erkennen. "... ich will nicht ständig, daran denken... ich..." schluchzte sie verzweifelt und Thor wusste in seiner Hilflosigkeit nichts anderes zu tun, als tröstend ihren Arm zu streicheln, wo keine Kanülen in ihrer weichen Haut steckten.

"Kleines..."

"Heute ist mein Geburtstag und ich sollte nicht so verzweifelt sein." Mayura holte stockend Luft und ein Beben fuhr durch ihren dünnen Körper. "Aber wenn ich daran denke, dass es auch ihr Geburtstag hätte sein können..." Sie nahm die Hand fort von ihren Augen und blickte durch die Tränen direkt in Thors Gesicht, das nun ebenfalls nass glänzte. "Heute wäre ihr errechneter Geburtstermin gewesen, Thor-kun, kannst du dich daran erinnern, wie erstaunt ich war, als die Ärztin mir das sagte?"

"Hai..."

Thor-kun? Sie nennt ihn bei seinem wahren Namen? Also hat Loki ihr wirklich alles erzählt und sie hat es tatsächlich akzeptiert.

Heimdal löste sich langsam aus seiner Starre und trat auf der anderen Seite an das Bett heran, hielt das Baby in seinen Armen fest umschlungen. Das Kleinkind, das ihm die mysteriöse Frau in Niflheim gegeben hatte, schlief tief und fest, lächelte in seinen Babyträumen.

Es gibt nur einen Weg, um als Baby in Niflheim einzukehren.

Gänsehaut überzog Heimdals Arme, als Mayuras Hand zu ihrem Bauch zurückkehrte und über die Decke strich, als suche sie etwas. Oder jemanden.

Man muss als Baby sterben.

"Ich wusste, wie hoch das Risiko stand, Thor-kun, aber ich hoffte, die moderne Medizin würde es schon richten. Als ich die 32igste Schwangerschaftswoche ereichte, dachte ich, dass wir's schaffen würden."

Oder man wird gar nicht geboren.

"Ich weiß." Thor strich durch pinkfarbene Haare, die matt auf dem hellen Kissen lagen und küsste die junge Frau sanft auf die Stirn. Der Kuss war leidenschaftslos, vermittelte der Kranken lediglich Sicherheit und Freundschaft. Unterstützung, die sie so dringend brauchte. "Ich wünschte, wir alle hätten mehr tun können."

Daraufhin weinte sie noch stärker und Thor umarmte sie vorsichtig, immer darauf bedacht, nicht die Kanülen oder die Schläuche zu berühren, und hielt sie tröstend fest. Heimdal stand neben dem Bett und wusste nicht, wie er reagieren sollte, was denken, was tun.

Wie in Trance senkte er seinen Kopf und blickte auf das schlafende Baby vor seiner Brust. Ein Flaum pinkfarbener Haare bedeckte das kleine Köpfchen und er hatte ihre dunkelgrünen Augen gesehen. Zwar sagte man, dass sich bei kleinen Kindern die Augenfarbe noch ändern konnte, aber er bezweifelte es bei diesem Baby.

Loki und Mayuras Kind.

Es gab gar keinen Zweifel. Die mysteriöse Frau hatte ihm das Kleinkind in Niflheim in die Arme gedrückt, das in der Welt der Menschen keinen Platz, kein eigenes Leben gehabt hatte. Noch vor seiner Geburt war es gestorben.

Ist dies das Unheil, das ich verhindern soll?

Heimdal sah auf und musterte die junge Frau, die weinte und bei dem leidenden nordischen Gott Trost und Beistand suchte - und erhielt.

Wie soll ich ein Unheil verhindern, das bereits geschehen ist? Ich bin selbst tot, ich kann dieses Baby nicht zurück ins Leben geben.

Der Wächter streichelte sanft über das kleine Köpfchen und korrigierte die Windel, damit das Baby bequemer schlief. Seine Mission erschien ihm von Minute zu Minute verrückter und er fragte sich ernsthaft, was die mysteriöse Frau damit bezweckt hatte. Er als entmachteter und vernichteter Gott konnte nichts mehr ausrichten.

"Loki..." schluchzte Mayura und nickte dankend, als Thor ihr ein Taschentuch vom Beistelltisch reichte und sie sich damit über die Wangen und die Augen fuhr. Tief holte sie Luft, versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Die Geräte piepsten ohne Unterlass, aber ihre Tränen versiegten, obwohl Heimdal ahnte, dass sie bald zurückkehren würden. "Loki war heute noch nicht da."

"Hat mir schon deine Lieblingskrankenschwester erzählt."

"Sakura-san? Sie ist wirklich ein Engel." Mayura lehnte sich erschöpft zurück in ihr Kopfkissen und schloss ihre Augen. "Ich hab das Gefühl... dass Loki sich die Schuld für alles gibt... und... mich deshalb meidet." Die junge Frau fröstelte leicht und Thor korrigierte sofort die Decke um ihrem Körper.

"Ich glaube nicht..."

"Red es mir nicht aus, ich kenne meinen Ehemann gut." Fiel ihm Mayura energisch, jedoch mit müder Stimme ins Wort. "Die letzten Tage war er immer extrem ruhig und heute zu meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag taucht er nicht auf, natürlich fühlt er sich schuldig." Mayrua lächelte traurig, als Thor wieder ihre Hand ergriff und sanft fest hielt. "Er hat mir alles erzählt und ich war bereit gewesen, das Risiko einzugehen und sein Kind auszutragen."

Siebenundzwanzigster Geburtstag?

Heimdal setzte sich auf den Rand des Bettes, da er glaubte, dass seine Beine ihn nicht länger tragen würden.

Siebenundzwanzigster Geburtstag?

Ein eisiger Klumpen bildete sich in seinem Magen, als er begriff, dass er nicht nur ein paar Wochen oder Monate in Nilfheim verbracht hatte, sondern auf den Tag genau zehn Jahre. Zehn Jahre, die in Asgard rasch vergingen, sich auf der Erde jedoch in die Länge zogen und in Niflheim eine Ewigkeit darstellten.

Zehn Jahre!

Einige Veränderungen, die er an Thor und Mayura nicht nur äußerlicher Art festgestellt hatte, ergaben auf einmal einen Sinn. Deshalb ging Thor also auf die Universität und besaß so viel Geld. Vermutlich hatte er nach seinem Schulabschluss einen lukrativeren Job finden können oder half gar Loki beim Verkauf der Antiquitäten.

Heimdal vergrub sein Gesicht in seinen eisigen Händen und fühlte den raschen Herzschlag des Babys an seiner Brust.

Zehn ganze Jahre!

"Trotzdem..."

"Er fühlt sich schuldig und das will ich nicht." Mayura öffnete erneut ihre Augen und gähnte. Die Medizin, die stetig durch den Tropf in ihren Körper floss, ließ sie viel schlafen und es war ihr auch recht, musste sie nicht ständig darüber grübeln, was geschehen war. Mir ihr und ihrem Kind, ihrer ungeborenen Tochter. "Wenn du ihn heute siehst, Thor-kun, sag ihm, dass ich ihn liebe und ihm alles vergebe."

Heimdal blickte wieder auf und fragte sich, ob es sich bei der jungen Frau um dasselbe Mädchen handelte, das er damals kennen gelernt hatte. Die Verrückte, die unbedingt ein Detektiv werden wollte und überall nach >Mysteries< suchte. Eine Oberschülerin, die statt Fenrirs Worten nur ein Bellen hörte und in Midgar nicht mehr als einen ausgezeichneten Koch und einen loyalen Freund Lokis sah.

Das Mädchen, das Loki auf der Erde hielt, obwohl er nach Asgard zurückgehen und gegen Odin hätte kämpfen können.

Die Mayura, in die sich der Donnergott verliebt hatte.

"Hai." Thor nickte und Heimdal fragte sich, ob der Donnergott überhaupt wusste, wo sich Loki aufhielt. Zuhause bei seinen Söhnen war er nicht gewesen, genauso wenig wie er hier an der Seite seiner kranken Frau saß, die beinahe bei dem Versuch gestorben war, ihr gemeinsames Kind zu gebären.

Ob Hels Mutter deswegen starb? Weil es ein tödliches Risiko birgt, mit dem Unheilsgott eine Familie gründen zu wollen?

Heimdal wiegte das Kind vor seiner Brust behutsam, während Thor erneut nickte, dieses Mal entschlossener. Mayura lächelte schläfrig und schloss ihre Augen wieder, fühlte noch immer Thors Hand, die die ihrige sanft umschloss.

"Arigatou, Thor-kun." flüsterte sie und war im nächsten Moment eingeschlafen. Der Donnergott blieb noch eine Weile still an ihrem Bett sitzend, bevor er erneut ihre Decke korrigierte und sich schließlich erhob, als eine Krankenschwester herein kam, um nach der Patientin und den medizinischen Apparaturen zu schauen.

Thor nickte der Schwester und wenige Meter weiter der netten Empfangsdame, die Mayura Sakura-san genannt hatte, zu und trat hinaus in die warme Frühlingssonne.

"Wofür dankst du mir?" murmelte der Donnergott zu sich selbst und ballte seine Fäuste. "Sieh mich an, Kleines, ich bin ein mächtiger nordischer Gott und habe das Leben deiner Tochter auch nicht retten können."

Thor zog den Reißverschluss seiner schwarzen Jacke hoch, während er die Richtung einschlug, aus der er gekommen war. In dem Moment begriff Heimdal, dass der Donnergott Trauer trug.
 

***
 

Thor ging noch immer langsam und tief in seine Gedanken versunken, aber nicht minder zielstrebig als auf dem Weg zum Krankenhaus, die Straße entlang. Entweder er wusste genau, wo er Loki zu suchen hatte, oder er arbeitete zuerst seinen mentalen Was-zu-tun-ist-Zettel ab. Heimdal tippte auf letztere Möglichkeit, als der Donnergott an einem Imbissstand stehen blieb und sich etwas zu Essen bestellte.

Lecker! Eine heiße Kartoffel gefüllt mit Frischkäse!

Heimdal blickte über Thors Schulter und ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Sein Magen knurrte nicht, er brauchte wohl als Toter keine Mahlzeiten mehr, aber sein Appetit war geweckt. Besonders bei seinem Lieblingsmahl: Europäische Kartoffeln. Er hatte sie zu Lebzeiten in jeglicher Variation genossen, in welcher die Menschen sie zuzubereiten wussten. Zwar konnte er auch gegen die japanische Küche mit ihren traditionell reisbeladenen Schüsseln nichts einwenden, aber für eine Kartoffel, eine Pommesscheibe oder einen Teller Kartoffelbrei hätte er eine Menge getan - zum Beispiel in die ihm verhasste Grundschule gehen, wenn es denn auf dem Speiseplan stand.

"Arigatou."

Thor aß die Kartoffel jedoch nicht, sondern ließ sie sich einpacken. Erneut gab er unverschämt viel Trinkgeld und Heimdal fragte sich, ob er sich mit Migar Lokis Kreditkarte teilte. Anders konnte der Donnergott doch gar nicht an so viel Geld gekommen sein, oder?

Heimdal schaute wehmütig zu dem Stand, entschied sich dann aber gegen einen Kartoffelraub. Vermutlich schmeckte ihm als Toter das Essen gar nicht mehr. Außerdem entfernte Thor sich schon wieder von ihm und er konnte nicht riskieren, ihn in der Menschenmenge zu verlieren. Der Donnergott stolperte hier und da noch immer über unsichtbare Hindernisse, knallte beinahe gegen Bäume, Bänke und aufgeregte Menschen, aber wenigstens hielt er das eingepackte Essen vorsichtig in seiner Hand.

Für wen hat er das gekauft, wenn er es nicht selbst isst? Für Fenrir als Trost? Oder gar für Loki?

Mir hat er nie etwas zu Essen gekauft.

Und das Eis?

Ein Eis, das kann man ja wohl kaum zählen!

Der Wächter folgte Thor schmollend, als dieser in eine Seitengasse abbog und stellte erleichtert fest, dass sie sich von dem Zentrum der Großstadt entfernten. Immer mehr Grün beherrschte die Vororte Tokios, die Straßen waren kleiner und weniger Autos und Menschen stürmten an ihnen vorbei. Das Risiko, dass Thor von einem Lastwagen überrollt wurde, sank drastisch, wie auch die Gefahr, dass Heimdal den Donnergott aus den Augen verlieren könnte. Leichter Wind fuhr durch die Kirschbäume eines nahen Parks und das Weiß hob sich gegen die dunklen Wolken umso leuchtender ab. Die warmen Sonnenstrahlen verebbten und Thor fuhr fröstelnd zusammen, als ein Windstoß durch seine Haare fuhr. Helle Blüten wirbelten durch die Luft und in der plötzlich einsetzenden Dämmerung wirkte das Szenario unwirklich, beinahe wie ein Schneesturm.

Dämmerung?

Heimdal blickte kurz zum Himmel hinauf, um zu erkennen, dass sich ein heftiger Regenguss ankündigte. Drohende Wolken türmten sich auf und rasch beherrschte Zwielicht den Tag, dessen Ende erst in einigen Stunden beginnen sollte.

Super, ich latsch diesem Idioten hinterher, um nass zu werden!

Heimdal legte schützend den rechten Arm um das Baby und fragte sich entsetzt, wie er es vor dem Regen bewahren konnte. Er hatte weder Wechselkleidung, sollte der helle Strampler feucht werden, noch wusste er, wie er mit einem nassen und sicherlich extrem wütendem Baby umging.

Thor hat Hel immer gebadet und gewickelt.

Heimdal wusste jedoch, dass er heute keine Hilfe von dem Donnergott erwarten konnte, da ihn dieser nicht sah, seine Gegenwart nicht einmal spürte.

So viel zu allerbesten Freunden! Pah!

Eine Weile lief Heimdal grollend hinter Thor durch die engen Gassen. Der Donnergott gähnte mehrfach und fuhr sich mit der freien Hand über die glänzenden Augen. Einmal stolperte er und prallte gegen eine hohe Mauer, die eine Villa umgab. Anstelle jedoch zu fluchen und weiterzuschwanken, blieb Thor für einige Momente gegen die kalten Stein gelehnt und bedeckte sein Gesicht mit seinen eisigen Händen.

Er sollte selbst ins Krankenhaus gehen. Oder zumindest schlafen.

Heimdal trat näher an den jungen Mann heran und zupfte an seiner schwarzen Jacke, um vielleicht doch seine Aufmerksamkeit zu erregen.

"Thor, du siehst scheiße aus!"

Der Donnergott bemerkte weder seine Berührung noch hörte er die weniger schmeichelhaften Worte. Er straffte seinen müden Körper und fuhr fort in seinem Weg, beharrlich von einem Fuß auf den anderen fallend.

"Na super, ich kann ihn nicht mal mehr beleidigen!" knurrte Heimdal und setzte sich ebenfalls in Bewegung, nur, um beinahe gegen den Donnergott zu prallen, als dieser plötzlich stehen blieb und das Portal zu seiner Linken schweigend musterte.

Ein Tempel?

Heimdal runzelte die Stirn, als Thor leise seufzte und schließlich das große Anwesen betrat, das aus mehreren Häusern und einer Gebetshalle zu bestehen schien. Kirchbäume blühten auf dem einladenden Hof, die Bäume rauschten im Wind, der mit jeder Minute stärker wurde.

Was will Thor in einem Tempel? Er kann zu keinem Gott beten, er ist doch selbst einer!

Der Wächter suchte nach einem Schild an der Eingangspforte, konnte jedoch keines finden. Also folgte er dem Donnergott, was blieb ihm auch anderes übrig?

"Narugami-kun!" Ein älterer Herr im traditionellen Yukata gekleidet lief auf Thor zu. Er hielt einen Besen in den Händen und seine ergrauten Haare standen ihm wild vom Kopf, vermutlich wegen des umschlagenden Wetters. "Es ist schön, dich zu sehen."

Das ist Mayuras Vater!

Heimdal brauchte einige Augenblicke, um hinter die Falten und die traurigen Augen, die während der Geburtstagsfeier vor zehn Jahren so fröhlich gefunkelt hatten, zu blicken. Dann erkannte er den Vater des Mädchens, nein, der jungen Frau.

Alt ist er geworden!

Der Wächter runzelte die Stirn, als ihm bewusst wurde, dass der ältere Mann Thor nicht bei seinem wahren Namen nannte, also hatte Loki wirklich nur Mayura die Wahrheit erzählt. Trotzdem war er mit dem Donnergott auf Vornamensbasis, also schien Thor ein sehr guter Bekannter zu sein. Oder Heimdal hatte die Höflichkeitsfloskeln der Japaner immer noch nicht begriffen, es würde ihn nicht verwundern.

"Hallo." Erwiderte Thor erschöpft und ließ sich auf eine Parkband nieder, die nahe eines besonders großen Kirschbaumes stand. "Ich war gerade bei Mayura."

Das runzelige Gesicht des Mannes hellte sich bei dem Namen seiner Tochter auf, um gleich wieder zusammen zu fallen.

"Ich werde sie heute auch noch besuchen, aber heute früh war Messe und danach..." Er seufzte und zuckte hilflos seine Schultern. "Es ist ihr siebenundzwanzigster Geburtstag und ich hab kein Geschenk."

"Ach, darum geht es ihr doch nicht." Thor lächelte ermutigend, obwohl ihm selbst der Mut zu fehlen schien. "Kauft ihr ein paar hübsche Blumen und besucht sie, so wie Ihr das die letzten zwei Wochen auch getan habt, dann ist sie glücklich."

"Glücklich, huh?" Mayuras Vater erhob sich, deutete Thor jedoch an, sitzen zu bleiben. "Ich bewundere ihre Kraft, Narugami-kun. Immer, wenn ich sie besuche, habe ich das Gefühl, dass sie mich zu trösten versucht." Daidouji-san verschwand für einen Augenblick im Haupthaus und als er wieder heraus trat, trug er einen in buntes Papier eingewickelten Gegenstand.

Was...

Heimdal trat näher an das Geschenk heran, dessen Form mehr verriet als was das Papier verbergen konnte.

Ein Schaukelpferd?

"Eigentlich hatte ich ihr das ja schenken wollen..."

"Habt Ihr das selbst gemacht?" Thors müde Augen leuchteten, als er sich vorbeugte und das Papier berührte. Seine Hand lag keine zwei Zentimeter von Heimdals entfernt, dennoch spürte er den anderen Gott nicht.

"Hai. Als mir May-chan erzählte, dass ich Großvater würde, hab ich mich noch an demselben Abend hingesetzt und mit Schnitzen angefangen. Nun kann ich es wohl verbrennen."

"Nicht. Hebt es auf, vielleicht..."

"Nein, Narugami-kun. Die Ärzte haben gesagt, dass sie wohl nie Mutter werden wird. Ich möchte sie damit nicht unnötig quälen."

Sie kann keine Kinder mehr bekommen?

Heimdal umfasste das Papier stärker, fühlte die kuschelige Mähne des Schaukelpferdes unter seinen kalten Fingern.

Welchen Preis hat sie für ihre Liebe bezahlen müssen? Für Loki...

"Stellt es in den Schuppen, Daidouji-san. Die Ärzte sagen schließlich viel, wenn der Tag lang ist..."

"Du hast diese chaotische Nacht selbst miterlebt, Narugami-kun. Alles passierte so wahnsinnig schnell und die Ärzte mussten handeln, um ihr Leben zu retten. Ich glaube nicht, dass sie sich irren."

"Wartet trotzdem ab. Verbrennen könnt Ihr es später immer noch."

"Vielleicht hast du Recht." Mayuras Vater ließ sich wieder erschöpft auf die Parkbank nieder, drehte eine herabgefallene Kirschblüte in seinen schwieligen Händen.

"Loki befindet sich seit den frühen Morgenstunden im Tempel. Er hat die Messe nicht gestört, aber einige ältere Frauen haben sich vor seinem giftigen Blick gefürchtet." Daidouji-san schüttelte traurig seinen Kopf. "Er starrt jetzt schon seit mindestens sechs Stunden den Altar an, als wäre er sein persönlicher Feind. Ich habe bereits versucht, mit ihm zu reden, aber er antwortet nicht."

Loki befindet sich in einem Tempel?

Er beteiligt sich an einer Messe? Als Gott?

Heimdal ließ das Schaukelpferd los und sah sich um. Er kannte sich auf dem Gelände nicht aus, aber er wusste sofort, welches Gebäude Daidouji-san meinte, da der ältere Mann unentwegt in dieselbe Richtung starrte.

"Es waren zwei anstrengende Wochen für ihn gewesen." Erklärte Thor. "Ich werde mit ihm reden und ihn ins Krankenhaus zu seiner Frau schicken."

"Hai." Mayuras Vater lehnte sich zurück und blickte dem stetigen Blütenfall zu, der synchron mit dem kalten Wind zunahm. "Blumen hattest du gesagt, Narugami-kun?"

"Hai." Thor nickte müde. "Ich hab ihr Nelken mitgebracht. Sie hat sich drüber gefreut."

"Nelken. So, so."

"Hai."

Heimdal betrachtete die beiden Gestalten auf der Bank kurz, bevor er hinüber zu dem besagten Gebäude schritt, auf dem noch immer Daidouji-sans Augen ruhten. Behutsam schob er die Papiertüren beiseite und trat hinein in den großen Raum, der das ganze Haus ausfüllte. Das Zwielicht war noch düsterer als auf dem Hof, wurde nur hier und da von brennenden Kerzen ein wenig aufgehellt.

Ein Tempel. Loki geht als Gott in einen Tempel!

Heimdal schritt vorbei an den Kissen und konnte schließlich die Gestalt eines jungen Mannes vor dem Altar kniend erkennen. Wie er das bereits erwartet hatte, da er das Hochzeitsphoto in Mayuras Krankenzimmer sah, hatte auch Loki seine wahre Gestalt zurück erhalten. Seine Kleidung hatte sich jedoch nicht verändert. Noch immer trug er einen schwarzen Anzug und einen dunklen Mantel, in dem er bedrohlich wirkte. Seine dunkelgrünen Augen blitzten hasserfüllt, aber sein bleiches Gesicht zeigte dieselbe Müdigkeit wie Thor und Daidouji-sans. Seine geballten Fäuste lagen in seinem Schoß und schweigend starrte er den Altar an, so wie Mayuras Vater es beschrieben hatte.

Ein Windstoß fuhr durch den Spalt, den Heimdal vergessen hatte zu schließen, und eine Kerze auf dem Altar erlosch. Die plötzliche Finsternis hüllte Lokis Gesicht in tiefe Schatten, nur seine Augen schienen weiterhin zu funkeln.

"Bist du jetzt zufrieden?" sprach der Unheilsgott mit einem Mal so laut, dass Heimdal erschrocken einige Schritte zurück stolperte. Das Baby gähnte vor seiner Brust, schlief jedoch weiter, als er reflexartig beruhigend über ihren kleinen Rücken streichelte.

"Bestimmt lachst du dich gerade tot über meine Dummheit. Hai, ich habe denselben Fehler zwei Mal begangen, das muss doch geradezu ein Feststag für dich sein!"

Lokis Stimme war schneidend und voller Hass. Sie erinnerte Heimdal an seine eigene, die er so oft gegenüber seinem ärgsten Feind benutzt hatte. Zu dem Unheilsgott passte sie überhaupt nicht.

"Freust du dich über mein Unglück?!" Lokis Stimme schwoll an und Heimdal durchfuhr der Gedanke, ob der Unheilsgott ihn vielleicht sehen oder zumindest seine Gegenwart spüren konnte. Glaubte er etwa, dass er feiern würde, wenn er seinen Erzrivalen so leiden sah? Nun, vielleicht hätte Heimdal sich tatsächlich gefreut, dass Loki einmal nicht der strahlende Sieger war, einmal genauso leiden musste wie er selbst. Aber er konnte wahrlich keine Freude empfinden, wenn Unschuldige dabei verletzt wurden, so wie Mayura. Oder wenn Thor so verzweifelt dreinschaute.

"Loki?" flüsterte er und hielt schützend seine Arme über das Baby, sollte Loki herumfahren und ihn angreifen. Heimdal kämpfte gerne mit dem arroganten Gott, aber nicht mit einem Kleinkind um die Brust geschnallt.

Obwohl Loki nicht mehr arrogant wirkte. Nein, sein Körper zitterte und seine Stimme verriet, dass auch er mit den Tränen kämpfte. Damals, als ihm Hel genommen wurde, hatte er gebrochen ausgesehen, nun jedoch war er zerstört.

"Loki? Hörst du mich?"

"Bestimmt schaust du gerade in deinen Spiegel und sagst in deiner verfluchten Stimme >Ich habe dich gewarnt, Loki.<. Pah!"

Welcher Spiegel?

"Loki?"

"Habe ich nicht schon genug gebüßt für meine sogenannte Sünde, Odin?" Der Unheilsgott ließ seine rechte Faust auf den Boden des Tempels herabfahren. "Musst du mich dafür so sehr bestrafen?!"

Odin?

Er grollt gegen Odin?

Heimdal wünschte sich, Lokis Gesicht besser sehen zu können. Wünschte, mit ihm sprechen zu können. Wünschte mit einem Mal, ihm seine Tochter zeigen zu können, die friedlich an seiner Brust schlief.

"Ich habe nur ein einziges Mal gesündigt, wie du es nennst. Ich habe nur ein einziges Mal mein Wort gegen dich erhoben und mich deinem Befehl widersetzt. Muss ich dafür für den Rest meiner Existenz büßen?" Loki schluchzte leise und Heimdal riss seine Augen auf. Bei Hels Beerdigung hatte ihn ein trauernder Unheilsgott schon Unbehagen bereitet, dieses Gemisch aus hilfloser Trauer und ohnmächtiger Wut erschreckte ihn zutiefst.

"Nur weil ich dir meine Loyalität ein einziges Mal verwehrt habe, muss ich ihren Tod immer und immer wieder erleben? Findest du das lustig, Odin? Ist es das, was du als Gerechtigkeit predigst?" Die Faust schlug erneut auf den Boden und Heimdal wusste, wenn es sich dabei um den mächtigsten nordischen Gott gehandelt hätte, hätte Loki ihn verprügelt. Viel hätte es ihm nicht gebracht, aber vielleicht hätte er sich danach besser gefühlt.

"Was hat dir Mayura getan, dass du ihr so etwas Grausames angetan hast?! Antworte mir, du verkorkste Ratte!"

Verkorkste Ratte?

Heimdal beugte sich zu dem zornigen Unheilsgott hinab und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Wie auch Thor konnte ihn Loki jedoch nicht spüren.

"Herrschsüchtiger Alter, zeig dich und stell dich mir! Dann werde ich dir zeigen, was ich von deinen Machenschaften halte! Von deiner beschissenen Prophezeiung, von deinem verworrenen Sinn von Gerechtigkeit und deiner kaltblütigen Art, mit dem Leben meiner Frau und meiner Tochter zu spielen! Ich nehm das nicht länger hin, hörst du mich?!"

"Vermutlich, aber da du all seine Schachfiguren hast schachmatt setzen können und er zu faul ist, sich auf die Erde zu begeben, wirst du wohl keine Antwort erhalten."

Heimdal fuhr erschrocken herum und sah Thor am Eingang des Tempels stehen. Sein Haare war noch wüster als vorher und der Wächter hörte das Geräusch heftigen Regens, das ein wenig gedämpft wurde, als der Donnergott die Tür hinter sich zuschob.

Beide scheinen sie Odin nicht besonders zu mögen.

Dabei sind sie es doch, die ihn, die MICH verraten haben!

Heimdal verstand ihre Trauer um Mayuras verstorbenes Kind, aber Odin konnte nun wirklich nichts dafür, dass es so gekommen war. Immerhin hatten sich Loki und Thor selbst in diese missliche Lage gebracht.

Oder?

"Ich hasse ihn!" zischte Loki und Heimdal konnte die Tränen in seinen Augen funkeln sehen, als Thor einige Kerzen auf dem Altar neu entzündete. Dann klatschte der Donnergott in seine Hände und verbeugte sich tief vor ihnen.

Was soll der Quatsch?! Er ist ein Gott, er wird doch wohl kaum beten, oder?

"Ich weiß." Antwortete Thor und richtete einen Bilderrahmen auf, der wohl während des Luftstromes auf dem Altar umgefallen war. Heimdal ging neben Loki, der ihn natürlich nicht bemerkte, auf die Knie, als seine Beine ihn nicht länger zu tragen vermochten. Entsetzt starrte er auf die Photographie, die niemand anderen als ihn selbst zeigte. Ihn in dem scheußlichen Kinderkörper und einem Zorro-Kostüm, in dem er sich unglaublich dämlich gefühlt hatte. Er grinste frech in die Kamera und hielt dabei eine dunkle Augenbinde in seiner rechten Hand.

Das war während des Blinde-Kuh-Spiels gewesen.

Noch deutlich erinnerte er sich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre - was es für ihn irgendwie auch war. Damals stolperte er blindlings über die Wiese und fing Thor, der sich erst nicht zu erkennen geben wollte, sich dann jedoch durch sein Lachen verriet, als Heimdal ihn kurzerhand ausgekrabbelt hatte. Blind oder nicht, er kannte Thors kitzelige Stellen, schließlich hatten er und der Donnergott Jahrtausende miteinander verbracht.

Er hat mich großgezogen...

Heimdal schluckte, als Thor die noch immer dampfende Kartoffel auswickelte und vor das Bild legte wie eine Opfergabe. Dann entzündete er ein Räucherstäbchen und verbeugte sich erneut vor dem Photo.

Was soll das werden?

"Stimmt... heute ist sein zehnter Todestag." Loki rieb sich die glänzenden Augen und erhob sich schwerfällig.

"Er ist nicht tot, er ist nur... irgendwo anders..." protestierte Thor und rückte ein wenig zur Seite, damit Loki dasselbe Ritual vollführen konnte.

Loki verbeugt sich vor einem Photo von MIR???

"Sagt mal, seid ihr beide nun vollkommen übergeschnappt?" japste er in die Stille des Tempels, aber keiner der beiden reagierte.

"Er ist genauso tot wie meine Tochter." Flüsterte Loki mit Grabesstimme und ballte erneut seine Fäuste, wirkte unheimlich und ungemein gefährlich, so wie das von einem Unheilsgott erwartet wurde. Unheil hatte er über die Menschen gebracht, hatte selbst viel Unheil erlitten, dennoch hatte er noch nie so wütend, so rachedurstig ausgesehen wie jetzt.

"Sein Körper ist in einem gleißenden Licht verschwunden."

"Weil er ein Gott war, Thor. Wie oft soll ich dir das noch erklären? Götter verschwinden, wenn sie aufhören zu existieren, da bleibt keine Leiche übrig!"

"Aber..."

"Er hat seinen kompletten Bluthaushalt auf meinen Bett erbrochen, war zum Schluss blind und sein Herzschlag setzte aus, als der Notarzt eintraf. Was glaubst du wohl? Das überlebt nicht mal ein nordischer Gott, besonders nicht in diesem Kinderkörper!"

"Trotzdem..."

"Es sind zehn Jahre vergangen, Thor. Meinst du nicht auch, er wäre inzwischen wieder aufgetaucht und würde versuchen, mich mit irgendwelchen Küchengeräten umzubringen, wenn er noch existieren würde?"

"Ich..."

"Hör endlich auf mit diesem Theater!" Loki sah so aus, als würde er gleich über den Donnergott herfallen und ihn windelweich prügeln. Heimdal begriff, dass der Unheilsgott furchtbar wütend auf Odin war wegen des Todes seiner ungeborenen Tochter, und diesen Zorn und seine tiefe Verzweiflung ließ er nun an Thor aus. Es war nicht fair, das wusste Loki vermutlich selbst, aber offensichtlich konnte er nicht anders mit seiner Trauer umgehen.

"Seit zehn Jahren bezahlst du nun die Rechnung für diese schäbige Wohnung in der Hoffnung, er würde zurückkehren. Denkst du etwa, ich bemerke nicht, wie du dich jeden Abend fortschleichst, um nachzuschauen, ob er vielleicht wieder da ist? Hör endlich auf, dich selbst damit zu quälen, er ist fort und wird nie wiederkommen!"

"Das kann dir doch..."

"Du gehst allen mit deinen Gebaren auf die Nerven, Thor! Er ist zehn Jahre tot. Zehn Jahre! Du kannst auch mal wieder ohne schlechten Gewissens lachen, die Trauerzeit ist vorbei! Genauso wie du diese grässliche Kleidung mal gegen was Helleres tauschen könntest! Ein Jahr ist okay, aber gleich zehn? Findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst?"

Nun wurde Loki richtig unfair und Heimdal sah dies auch an Thors verletztem Gesichtsausdruck.

"Heimdal ist tot, Thor. Akzeptiere es!" Loki holte tatsächlich mit seiner Faust zum Schlag aus, der Donnergott duckte sich jedoch rechtzeitig und der Fausthieb traf nicht seine Wange, sondern den Altar. Der Rahmen wackelte und fiel schließlich klirrend zu Boden. Das Geräusch schien Loki aus seiner Rage zu holen. Verwirrt blinzelte er und erblasste noch mehr, als er direkt in dunkle Augen blickte, die ihn traurig musterten.

"Thor... ich..." Der Unheilsgott schüttelte seinen Wuschelkopf, dann drehte er sich um und rannte aus dem Tempel. Heimdal hörte das Prasseln des Regens und Lokis klatschende Schritte, als der junge Gott durch das Frühlingsgewitter davon lief.

Das Baby drehte sein Köpfchen ohne zu erwachen und Heimdal streichelte sanft über die weichen Wangen, während er den Inhalt des Streitgesprächs langsam verarbeitete.

Um uns beide trauert jemand, Kleine.

Heimdal drückte einen zärtlichen Kuss auf die winzige Stirn und wiegte das Kleinkind behutsam.

Nicht nur um dich, sondern auch um mich.

"Ach, Loki." Seufzte Thor und bückte sich, um das Bild aufzuheben und zurück an den vorgesehen Platz zu stellen. Ein Riss zog sich durch das Glas und automatisch strich er über den Sprung. Heimdal zuckte mit ihm zusammen, als sich der Donnergott in den Finger schnitt.

"Ich würde dir ja Recht geben, wenn es dir nicht genauso ginge. Woher bekomm ich denn das Geld für die Miete? Außerdem sieht dein Kleiderschrank genauso schwarz aus wie meiner." Thor lutschte an seinem blutenden Finger und seufzte tief. "Trotzdem kann ich an seinen Tod nicht glauben, Loki. Heim kann nicht so einfach verschwunden sein, nachdem ich Jahrtausende lang auf ihn aufgepasst habe."

"Ich bin doch genau hier. Wir beide sind genau hier."

Thor seufzte ein weiteres Mal, dann ging er an Heimdal und dem schlafenden Baby vorbei und folgte Loki in den strömenden Regen.
 

***
 

Fenrir lag wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa und sah nicht auf, als Thor das Wohnzimmer betrat. Der Donnergott war bis auf die Knochen durchweicht und hinterließ kleine Pfützen auf dem Teppich, als er durch den Raum schritt, sich suchend umsah.

Es ist wirklich beschissen, tot zu sein, aber es hat auch seine Vorteile.

Heimdal grinste hinterhältig, als er hinter Thor durch die offene Tür schritt. Weder er noch das Baby hatten auch nur einen Tropfen abbekommen. Die Kleine schlief weiterhin tief und fest, schien sich an dem lauten Geräusch des prasselnden Regens nicht gestört zu haben.

"Wo ist Loki?" fragte Thor und sah hinter das Sofa, so als erwartete er, den Unheilsgott dort kauernd vorzufinden.

"Daddy?" Fenrir wirkte noch deprimierter und vergrub seine Schnauze in seinen Pfoten. "Daddy hat uns nicht mehr lieb!"

"Nani?" Thor blickte nicht minder verwirrt drein wie Heimdal, der von dem größten Vaterkomplex der Geschichte bis eben noch felsenfest überzeugt gewesen war. Nasse Haare klatschten in das Gesicht des Donnergottes, als er sich über die Lehne zu dem wimmernden Welpen beugte.

"Wie kommst du denn darauf?" Behutsam kraulte er hinter weichen Ohren, nur, um von Fenrir fortgestoßen zu werden. Der Höllenhund schluchzte und verkroch sich unter ein Sofakissen, wollte niemanden mehr sehen.

"Geh weg! Lass mich in Ruhe!" weinte er und nur noch das schwarze Schwänzchen lugte unter dem hellen Stoff hervor.

"Loki-sama hat ihn nicht beachtet, als er nach Hause kam." Midgar wischte sich seine Hände an einer Küchenschürze ab und Heimdal roch sofort das leckere Essen, das vermutlich in der Röhre brutzelte. So wie jedoch alle dreinblickten, würde es wohl keiner anrühren. "Er hat sich in seinem Zimmer eingesperrt und will mit niemandem reden." Er reichte Thor ein Handtuch, um sich seine Haare abzutrocknen, und setzte sich neben den weinenden Welpen, der leise vor sich hinjammerte, dass sein >Daddy< ihn nicht mehr lieben würde.

Thor verzog seine Augen zu Schlitzen, knetete das Handtuch in seinen Händen und eilte mit entschlossenen Schritten zur Tür hinaus. Heimdal warf einen letzten verwunderten Blick auf die beiden ungleichen Brüder, bevor er dem offensichtlich wütenden Donnergott folgte. Die Tür zu Lokis Zimmer war tatsächlich versperrt, hielt Thors Hammer jedoch nicht lange Stand, der noch immer in einem hölzernen Katana eingeschlossen an seinem Gürtel baumelte.

"Jetzt reicht's, Loki!" sagte Thor drohend, als er in Lokis privates Reich eindrang. Der Unheilsgott saß bewegungslos auf seinem Bett und der Donnergott stolperte über etwas, das dabei empört quietschte. Loki zuckte heftig bei dem Geräusch zusammen und sein Blick war gehetzt, als er schließlich aufsah.

Auch Thors Wut verrauchte, als er das Objekt aufhob. In zitternden Händen hielt er einen kleinen Ball, der rot leuchtete und leise quietschte, wenn man ihn drückte.

Babyspielzeug.

Heimdal starrte ungläubig auf all die vielen Plüschtiere, Puppen und andere Spielsachen, die überall in dem Raum verstreut lagen. Am Fenster stand eine Wiege, die weißen Vorhänge, auf denen sich Schmetterlinge tummelten, waren vorgezogen.

"Das wäre deine Wiege gewesen, Kleine."

Heimdal schlängelte sich durch all das Spielzeug hinüber zu der Schlaffstatt und schob die Vorhänge leicht zur Seite. Zwischen weichen, zartrosa Decken lag ein flauschiger Teddybär, der ein kleines Schild um den Hals trug. Auf diesem stand ein einziger Satz, der Heimdal jedoch zutiefst erschütterte.

>Für meine Hel.<

Hel?

Entsetzt blickte er auf das Baby herab. Natürlich hatte er mittlerweile begriffen, dass es sich bei dem Mädchen um Loki und Mayuras gemeinsame Tochter handelte, die noch vor ihrer Geburt gestorben war. Aber Hel? Lokis erste Tochter, die vor so vielen Jahren von Odin vernichtet wurde? Wie konnte das möglich sein?

Ich habe Hel sterben gesehen, ich war bei ihrer Beerdigung!

Andererseits, wenn er, der bereits in Niflheim eingefahren war und zehn Jahre in der Totenwelt verbracht hatte, hier stand, dann konnte das Baby in seinen Armen genauso gut Hel sein.

Wer war dann die mysteriöse Frau? Ist das nicht Hel gewesen?

Ich versteh das alles nicht!

Heimdal hangelte sich zurück zum Bett, ohne selbst auf ein Spielzeug zu treten, und setzte sich auf die Matratze. Thor hatte die ganze Zeit über den Ball schweigend angestarrt, nun aber schien er sich an den Grund seines Kommens zu erinnern. Jetzt würde er es sein, der Loki die Leviten las. Heimdal wollte keine Sekunde des Streites verpassen. Nicht, weil die bösen Worte seinem Erzfeind galten, sondern weil er auf Antworten hoffte. Antworten auf seine Fragen, die niemand hörte.

"Jetzt reicht's, Loki! Ich versteh, dass du sehr mitgenommen bist, aber..."

"Ach ja, du verstehst das? Wunderbar! Du verstehst also ganz genau, was in mir vorgeht, nachdem ich schon wieder alles verloren habe?" zischte Loki aufgebracht und presste eine Stoffpuppe mit rosa Kleidchen fest gegen seinen Oberkörper.

"Alles verloren? Du..."

"Du verstehst ganz prima, wie ich mich fühle, nachdem ich mich vor zwei Wochen zwischen meiner Frau und meiner Tochter habe entscheiden müssen! Du weißt natürlich ganz genau, was in mir vor geht, nachdem ich zusehen musste, wie Mayura in der zweiunddreißigsten Woche blutend zusammen brach und Hel erneut sterben musste? Du..." Loki lag im nächsten Moment auf seinem Kissen, nur wenige Zentimeter neben Heimdal, und verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich. Seine rechte Wange, wo ihn Thor soeben mit der hohlen Hand geschlagen hatte, brannte unnatürlich rot auf der bleichen Haut.

"Ich verstehe deine Trauer, Loki! Glaubst du nicht, mir hat es weniger weh getan, als der Arzt seine Diagnose stellte und sagte, dass nur eine von beiden gerettet werden könnte?"

"Und ich habe mich für Mayura entschieden. Das war ganz eindeutig die schlimmste Entscheidung meines Lebens gewesen. Damals in Asgard, als Hel geboren wurde, ließen mich die Ärzte nicht vor und die Hebamme nahm mir die Last ab, entschied sich für das Ungeborene. Dieses Mal wurde mir diese Gnade nicht zuteil." Loki breitete seine Arme aus und die Puppe lag bewegungslos auf seiner Brust. Traurig starrte er an die Decke des Bettes. "Wie konnte ich nur so naiv sein, Thor? Ich glaubte, dass mit Hels Vernichtung und meiner Verbannung meine Schuld endlich beglichen wäre. Ich wollte nie mehr nach Asgard zurückkehren und meine Macht Odin geben, sollte er sich einen neuen Unheilsgott suchen. Ich wollte für sie menschlich werden und einfach nur ein normales Leben führen." Loki schloss seine dunkelgrünen Augen und schüttelte leicht seinen Kopf. "Ich konnte doch nicht ahnen, dass es wie ein Fluch auf mir lastet und ich mich jedes Mal zwischen meiner Frau und meiner Tochter entscheiden müsste."

"Mayura erwähnte, dass sie die Risiken kannte."

"Ich hab ihr von Hel erzählt und die Umstände ihrer Geburt. Es war sogar Mays Wunsch gewesen, ein Kind zu bekommen. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich noch einmal versucht hätte, denn ich wusste ja bereits, wie schmerzhaft es ist, wenn Odin mir die Kinder nimmt, aber sie war so voller Zuversicht. Sie glaubte an die moderne Medizin und als ihre Frauenärztin ihr sagte, dass ihr Baby nun überleben würde, auch wenn die Wehen zu zeitig einsetzten, dachte ich, dass alles gut werden würden. Dass Odin das Interesse an mir verloren hätte und mich endlich in Ruhe ließe." Zwei Tränen quollen hinter den zusammengekniffenen Augenlidern hervor, rannen über Lokis blasses Gesicht. "Drei Tage später brach May blutend zusammen und ihre ach so moderne Medizin versagte."

Er glaubt wirklich, dass Odin an all dem Schuld sei.

Warum?

Heimdal lehnte sich gegen den Bettpfosten und beobachtete, wie Thor den Ball behutsam zur Seite legte und sich nun auch auf die Matratze setzte.

"Heute ist Mayuras siebenundzwanzigster Geburtstag, Loki. Sie wartet auf dich, geh und besuch sie." Thors Stimme klang sanfter, nicht länger zornig.

"Wie könnte ich?!" murmelte Loki mehr zu sich selbst und riss seine Augen auf, als er Thors nächste Worte hörte.

"Ich hab sie heute besucht und soll dir ausrichten, dass sie dich liebt und dir vergibt. Wobei ich glaube, dass sie gar nicht weiß, was sie dir vergeben soll, da sie dir keine Schuld gibt. Sie hat eine Fehlgeburt erlitten, das ist für sie eine größere Tragödie als für uns alle zusammen, aber sie sieht in dir keine Schuld. Sie liebt dich, Loki, und sie vermisst dich."

"Woher..."

"Sie mag keine tausend Jahre mit dir verheiratet sein, Loki, aber sie kennt dich. Ihr ist aufgefallen, dass du sie meidest und hat die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Sie mag noch immer verrückt nach >Mysteries< sein und mit vollen Elan deine Detektei betreiben, Loki, aber sie kennt ihre Lieben sehr gut."

"Ich kann nicht..." flüsterte der Unheilsgott und verschränkte seine Arme wieder vor seiner Brust, wobei er die Puppe erneut festhielt. "Vielleicht kann sie mir vergeben, aber ich kann es nicht, schließlich hab ich sie in diese Situation gebracht. Weißt du, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde beinahe für Hel entschieden hätte? Meine Sehnsucht nach ihr war übermächtig und beinahe hätte ich May dafür geopfert."

"Das hast du aber nicht. Sie liebt dich, Loki, lass sie jetzt nicht im Stich, bitte. Genauso, wie du deine Söhne nicht links liegen lassen darfst. Fenrir glaubt bereits, du würdest ihn nicht mehr lieben und wenn Midgar noch mehr Essen als Ablenkung kocht, können wir die Detektei schließen und dafür ein Restaurant eröffnen."

"Thor..."

"Du wirst jetzt dich jetzt gefälligst aus deinem Selbstmitleid befreien, dieses Haus verlassen, einen Strauß bunter Blumen kaufen und deine Frau im Krankenhaus besuchen, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Wenn du dann Stunden später nach Hause kommst, wirst du Fenrir knuddeln und Migars Abendessen probieren und sagen, dass es dir schmeckt, auch wenn du's runterwürgen musst!" Thors Augen blitzten gefährlich und er ließ keine Widerrede zu.

"Thor..."

"Wenn ich jetzt nicht sofort sehe, wie du deinen Hintern von diesem Bett bewegst, kriegst du einen Stromschlag, der sich gewaschen hat. Ich scherze nicht."

Loki lächelte traurig, nickte und kroch schließlich von den weichen Kissen. Die Puppe legte er vorsichtig auf die Matratze und kramte in seinem Kleiderschrank, um ein neues schwarzes Hemd herauszusuchen. Heimdal, der noch immer über das eben Gehörte grübelte, drehte den Kopf und hob seine linke Augenbraue, als er die Finsternis in dem Schrank sah.

"Du hattest Recht, Loki, wir sollten morgen wirklich andere Klamotten einkaufen gehen. Wie wär's mit bunten Permuda-Shirts?"

"Nein, es war falsch, dir all diese Worte an den Kopf zu werfen. Du hast Heimdal und mich aufgezogen, ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat. Hundert Jahre Trauerflor wären wohl noch zu wenig für mehrere tausend Jahre Freundschaft. Ich war nur so wütend..."

"Schwamm drüber." Verzieh ihm Thor sofort. "Du hast aber nicht vor, nach Asgard zu gehen und Odin zu stellen, oder?"

Heimdal blickte gespannt zwischen den beiden hin und her. Würde Loki wirklich gegen den mächtigsten aller nordischen Götter in den Kampf ziehen?

Und wenn? Was bringt es mir? Ich bin tot!

"Es war mein erster Gedanke gewesen, als ich May in dem Krankenbett liegen sah, an all diese Maschinen angeschlossen. Mit flachem Bauch, der kein Leben geboren hatte." Loki warf das zerknitterte Hemd achtlos auf den Boden und schlüpfte in das frisch gewaschene. "Aber ich kann nicht. Ich hab mich vor zehn Jahren, als ich ihr erzählte, wer ich wirklich bin und sie mich als tatsächlich so akzeptierte, für ein Leben auf der Erde entschieden. Hier sind Midgar und Fenrir in Sicherheit, niemand schaut sie schief an oder versucht gar, sie als abartige Monster zu töten. Den anderen Göttern gefällt es hier ebenfalls. Die Schwestern sind gefragte Journalistinnen und Freyr erhält endlich als Boss einer großen Supermarktkette den Respekt, der ihm in Asgard immer verwehrt blieb. Sicherlich, er war schon immer ein wenig verrückt gewesen..."

Heimdal schnaubte bei Lokis Worten.

Du weißt ja gar nicht, wie verrückt! Du musstet mit ihm nie Halloween feiern!

"... aber er hat Odins ignorante Behandlung nie verdient. Endlich kann er mit seiner Schwester zusammen sein und Freya reist gerne mit den Norns durch die Welt. Warum sollte ich ihr Glück zerstören, nur, weil ich es mal wieder geschafft habe, über mich selbst Unheil heraufzubeschwören? Ich wünschte nur, May müsste unter meiner Fehlentscheidung nicht so sehr leiden."

"Sie wird weniger leiden, wenn du an ihrer Seite bist. Sie liebt dich, Loki."

"Ich weiß..."

Loki ordnete den Kragen des Hemdes und zog sich einen anderen Mantel an, der weniger tropfte. Mit einem kurzen Kopfnicken in Thors Richtung, der ihm einen kleinen Regenschirm zuwarf, verließ der junge Gott das Schlafzimmer, das mit diversen Babyspielsachen vollgestopft war, in dem jedoch nie helles Kinderlachen zu hören sein würde.

Heimdal schauderte es und er streichelte wieder sanft über weiche Wangen, während er Thor folgte, der sich in dem Zimmer selbst nicht ganz wohl zu fühlen schien. Der Donnergott gähnte und schaute kurz hinaus in den strömenden Regen. Dann ging er in einen anderen Raum, der vermutlich sein eigener war. Auf einem Schreibtisch vor einem gekippten Fenster, das Thor mit der linken Hand verschloss, da er mit der rechten bereits das Handtuch durch seine noch immer nassen Haare rubbelte, lagen mehrere Bücher und Hefter. Heimdal erkannte sofort Thors krakelige Handschrift, konnte die Schriftzeichen jedoch nicht entziffern, da der Donnergott mit einer entschiedenen Bewegung die Bücher zuklappte, auf einander stapelte und zur Seite schob. Dann setzte er sich auf den Stuhl und knipste die kleine Lampe an. In ihrem Licht konnte Heimdal mehrere Photographien sehen. Einige von ihnen waren ordentlich gerahmt und standen auf dem warmen Holz. Andere wiederum waren mit Klebeband an die Wand neben den Schreibtisch angebracht, so als handle es sich um Poster einer berühmten Rockband. Einige zierten sogar das Glas des Fensters.

Das sind also seine Erinnerungen.

Heimdal beugte sich nach vorn, um die Bilder besser betrachten zu können und erkannte, dass es sich dabei weder um eine berühmte Rockband noch um eine Sportmannschaft handelte. Auf den Photos an der Wand und dem Fenster sah er Thor in diversen Aufmachungen. Mal in seiner Schuluniform, wie er Mayura und einige Schulkameraden stürmisch umarmte und sie alle lachend irgendwelche Dokumente, vermutlich Zeugnisse, in die Höhe hielten. Der Sonnenhut wirkte lächerlich und Heimdal kicherte, als er Thor zusammen mit den Norns und Mayura auf der Großen Mauer von China stehen sah. Vermutlich hatte Loki das Photo geschossen. Im Hintergrund saß Fenrir auf der Mauer und schaute neugierig in die Tiefe, während Midgar besorgt zu seinem Bruder eilte, damit der Welpe nicht hinunter fiel. Freya und Freyr deuteten auf eine besonders große Portion gebratene Nudeln vor sich und Thor stritt sich mit Gullinbrusti lautstark um das letzte Paar Stäbchen. Natürlich konnte Heimdal seine Schimpftiraden auf dem Photo nicht hören, sie sich aber durchaus vorstellen.

Das Hochzeitsbild, das der Wächter bereits in dem Krankenzimmer gesehen hatte, war ebenfalls dabei genauso wie ein Photo, auf dem Mayura stolz ihren dicken Bauch in die Kamera streckte. Sie saß unter einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum und hatte einen kleinen Strampelanzug über ihren angeschwollenen Leib gelegt.

Thor lebt nicht nur hier, er hat sie alle tatsächlich als Familie anerkannt.

Heimdal schluckte und fühlte sich mit einem Mal leer, ausgezehrt. Alle wirkten so glücklich auf den Photos. Und er hatte dabei die Hölle in Niflheim durchwandert.

"Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe." Flüsterte Heimdal und nahm einen Rahmen in seine Hände. Heimdal schluckte, als er sich selbst darauf sah. Verwirrt blickte er auf und erkannte, dass er auf jedem gerahmten Photo mürrisch oder betrunken in die Kamera blickte. Sie waren beinahe alle auf Mayuras Geburtstagsfeier aufgenommen worden. Das Blinde-Kuh-Photo war ebenfalls dabei, genauso wie eine Momentaufnahme der Karaoke-Show. Die Göttinnen grinsten, während ein kindlicher Gott das Mikro in seinen Händen hielt und leidenschaftlich sang.

Ich habe wirklich gesungen? Wie betrunken war ich denn?

Heimdals Blick fiel auf den Rahmen, den Thor in seiner zitternden Hand hielt, und fragte sich, wann dieses Photo denn aufgenommen wurde. Es zeigte einen Samurai, der einen schlafenden Zorro im Arm hielt. Ein kleiner Gott mit Flügelkranz stand neben ihnen und hatte seine Hand auf die Schulter des Rächers gelegt.

Ich war stockbesoffen!

"Ich wünschte, du wärst da, Heim. Du wüsstest vielleicht, wie man mit einem trauernden Loki umspringt." Thor stellte das Photo zurück auf den Schreibtisch und fuhr sich über die müden Augen. "Ich vermisse dich... verdammt..."

"Ich bin doch hier." Heimdal hielt den Satz ja selbst für sinnlos, konnte Thor ihn weder sehen noch hören, aber er wusste nichts anderes zu sagen. Gerade wollte er seine Hand nach dem Donnergott ausstrecken, den er einst für einen Überläufer, für einen weiteren Verräter gehalten hatte, der jedoch offen um ihn trauerte, ihn sogar vermisste, als es leise an der Tür klopfte.

"Herein?"

"Thor-sama?" Midgar steckte seinen Kopf durch den Türspalt und blickte sich suchend um. "Weißt du, wo Loki-sama ist?"

"Bei Mayura im Krankenhaus."

"Daddy ist im Krankenhaus?" Eine kleine Hundeschnauze drängelte sich durch Midgars Beine und Fenrir schien sich persönlich davon überzeugen zu wollen, dass sich sein Vater nicht in Thors Zimmer vor ihm versteckte.

"Hai."

"Ach so..." Der Höllenhund machte einen derartig geknickten Eindruck, dass Thor sich schwerfällig von seinem Stuhl erhob und den Welpen in seine Arme aufsammelte.

"Ich hab Mayura versprochen, dass ich dich mitbringe, sobald das Infektionsrisiko nicht mehr so hoch ist. Sie hat nach ihren Jungs gefragt und wäre am liebsten mit mir nach Hause gekommen."

"Wirklich?" Fenrirs dunkle Knopfaugen blickten den Donnergott skeptisch, aber zu gleich hoffnungsvoll an.

"Wirklich. Sie liebt euch doch, genauso wie euer Vater."

"Daddy..."

"Habt Verständnis für sein Verhalten, für ihn ist die ganze Situation schwierig. Er will euch bestimmt nicht verletzten." Verteidigte Thor den Unheilsgott und lächelte Midgar müde an.

"Daddy..."

"Hast du Hunger, Thor-sama? Ich hab frische Okonomiyaki gebraten. Freyr war so freundlich und hat uns heute früh einen großen Korb mit Zutaten aus seinem Supermarkt geschickt."

"Ich..." Heimdal sah, dass Thor am Rande der Erschöpfung stand und sich nichts sehnlicher wünschte, als auf sein eigenes Bett zu fallen und eine Runde zu schlafen. Aber er sah auch das erwartungsvolle Lächeln Migars, das sich dankbar vertiefte, als Thor müde nickte.

"Ich würde mich über ein leckeres Abendessen mit euch sehr freuen, Midgar."

"Wunderbar, Thor-sama."

"Daddy..."

Heimdal blieb in dem Zimmer zurück, als der Donnergott den beiden Brüdern in die Küche folgte. Stumm starrte der Wächter auf die vielen Photo an der Wand und dem Fenster, schaukelte sanft das schlafende Baby in seinen Armen - und traf eine Entscheidung.
 

***
 

Als Heimdal endlich das Krankenhaus fand, war bereits die Nacht herein gebrochen. Es regnete noch immer, aber der heftige Wind hatte sich gelegt. Weniger Autos als noch vor einigen Stunden fuhren durch die Innenstadt Tokios und Dank des schlechten Wetters hatten sich die meisten Passanten in große Einkaufstempel oder schicke Restaurants verzogen. Heimdal musste nicht länger fürchten, von jemandem angerempelt zu werden, der ihn nicht sah.

Der Wächter schritt vorbei an Sakura-san, die an ihrem Kaffee nippte und erneut Daten in ihren Computer übernahm, und steuerte zielsicher auf Mayuras Krankenzimmer zu. Er rechnete fest damit, dass er die junge Frau allein oder höchstens in Begleitung eines Arztes oder einer Krankenschwester vorfinden würde, hatte er sich zwei Mal in den Wirren der Großstadt verlaufen. Umso erstaunter war er, als er die Tür vorsichtig öffnete, schließlich wollte er die Kranke nicht wecken, und Loki an ihrem Bett sitzen sah. Ein schwaches Lächeln lag auf seinem leicht geröteten Gesicht und er beugte sich zu seiner Frau herab, um sie sanft zu küssen.

Klasse Timing!

Heimdal starrte mit roten Ohren auf das wahre Blumenmeer, das nun das Fensterbrett belagerte. Daidouji-san und Loki schienen Thors Rat befolgt und ein Blumengeschäft überfallen zu haben. Andere Menschen, oder Götter, hatten Mayura offensichtlich auch besucht. Die leuchtenden Farben vertrieben ein wenig die Tristesse des sterilen Raumes.

"Ich glaube, ich sollte lieber gehen, bevor mich Sakura-san am Schlawittchen packt und eigenhändig rauswirft."

"Heute ist mein Geburtstag, da habe ich Narrenfreiheit." Kicherte Mayura leise und Heimdal entschied sich, dass es nun sicher wäre, sich wieder zu den beiden umzudrehen, nur, um genervt aufzustöhnen, da sich die beiden schon wieder küssten.

Wie lange habe ich durch die Stadt gebraucht? Drei Stunden, nicht wahr? Reicht das denen nicht aus, um sich auszusprechen und... äh... auszuküssen?

Heimdal wandte sich wieder den Blumen zu und entschied sich, sich nicht eher zu Mayura umzudrehen, bevor der Unheilsgott nicht gegangen war.

"Trotzdem, du siehst müde aus..."

Natürlich ist sie müde! Sie ist krank und du musst ihr auch noch die Luft wegküssen!

"Du auch, Schatz."

Sie nennt einen mächtigen nordischen Gott einfach so Schatz? Starkes Stück!

"Ich..." Sein Satz wurde unterbrochen und Heimdal wurde schlecht bei dem Gedanken eines erneuten Kusses. Vorsichtig umarmte er das Baby, das kurz vor dem Krankenhaus aufgewacht war und sich nun neugierig umsah, und zeigte ihm eine Narzisse. Es brauchte solche Schweinereien nicht schon als kleines Kind sehen. Es konnte sonst was für Traumata davontragen!

"Geh nach Hause zu unseren Jungs und kümmere dich um sie, sie brauchen dich." Heimdal konnte das Lächeln in Mayuras Stimme hören. "Ich liebe dich, Loki."

"Ich liebe dich auch, May. Es... es... gomen ne..."

"Ist schon gut, es ist nicht deine Schuld, hörst du mich? Bald bin ich wieder gesund und hier raus und dann fangen wir noch einmal ganz von vorn an, hai?"

"Hai..."

Ein weiterer Moment des Schweigens, vermutlich verursacht durch einen weiteren zärtlichen Kuss. Dann das Geräusch eines Stuhles, der nach hinten geschoben wurde.

"Bis morgen, May."

"Bis morgen, Schatz."

Noch ein Kuss, dieses Mal ein ganz kurzer, und die Tür wurde leise, aber für Heimdal deutlich hörbar ins Schloss gezogen. Der Wächter atmete erleichtert auf und drehte sich zu der jungen Frau um. Er stockte mitten in der Bewegung, als er sah, wie das tapfere Lächeln auf ihrem Gesicht zusammen fiel und sich ihre Hände schützend auf den viel zu flachen Bauch legten. Tränen standen in ihren braunen Augen und sie wandte ihren Kopf zur Seite, um leise zu weinen.

Das nennst du also >schon gut<, Mayura?

Heimdal wusste, dass er ihrer Trauer, ihrem Schmerz nicht länger zusehen konnte, auch wenn er nicht wusste, wie er sie lindern sollte.

Was kann ich hier schon tun?

> Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt.<

Erneut hörte er die sanfte Stimme der mysteriösen Frau in seinen Gedanken und instinktiv trat er an das Krankenbett heran, in dem Mayura so leise wie möglich schluchzte.

"Mayura?" flüsterte er, obwohl er nicht damit rechnete, dass sie ihn hören konnte, hatte er den ganzen Tag über mehrfach vergeblich versucht, Loki oder Thor zu erreichen.

"Mayura?"

>Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige.<

"Hai?" Sie fuhr sich über die nassen Wangen und Heimdal verzog schmerzhaft sein Gesicht, als sie dabei mehrere Schläuche mit sich führte. Dann erst erkannte er, dass sie ihm geantwortet hatte. Oder war es wieder nur ein Trick, ein trügerisches Selbstgespräch wie bei Loki in dem Tempel?

"Mayura?"

"Hai?" Erneut antwortete sie und sah sich suchend in dem Raum um, schaute sogar zu Boden, was von ihrer Erfahrung mit verwandelten Göttern herrührte. Als sie ihren Blick wieder hob, weiteten sich ihre Augen und sie blinzelte mehrfach, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. "Heimdal-kun?"

Sie kann mich sehen!

Der Wächter umrundete das Bett und beugte sich über die junge Frau, die ihn nicht aus ihren Augen ließ.

"Wie kann das sein? Ich hab dich damals auf Lokis Bett verbluten gesehen, vor genau zehn Jahren... kami sama!" Tränen schossen in Mayuras braune Augen, als sie das Bündel an Heimdals Brust erblickte. Zitternd streckte sie ihre Hand nach dem Baby aus, das glücklich gluckste. Das kleine Mädchen war hellwach und schien zu spüren, wer sich da vor ihm befand. Auch Mayura schien ganz genau zu wissen, wen Heimdal so sanft umarmte.

Eine Mutter erkennt ihr Kind.

Ich will es ihr geben. Ich will, dass sie glücklich ist. Ich will, dass dieses kleine Mädchen bei seiner Mutter aufwächst und nicht in Niflheim, wo es sie vermutlich nie kennen lernen wird. Ich will, dass Fenrir und Migar nicht so niedergeschlagen dreinschauen. Ich will, dass Loki nicht länger im Selbstmitleid vergeht. Ich will, dass sich Thor nicht so viele Sorgen zu machen braucht und sich erholt, er sieht so schwach, so krank aus...

Heimdal war es egal, ob er damit seinem Erzrivalen half, ob er damit endgültig die Mission Odins unterwanderte und sich sogar gegen die Regeln des Schicksals aufbegehrte. Er wollte nur dieses Unheil von Mayura abwenden, genauso, wie die mysteriöse Frau es ihm beauftragt hatte. Nur leider wusste er nicht, wie er das anstellen sollte.

>Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige.<

"Hel..." Mayuras zitternde Hand berührte das kleine Köpfchen und Heimdal löste schweigend die Windel, um das Kleinkind in die wartenden Arme seiner Mutter zu geben. Mayura hielt es sofort sanft fest und Heimdal wusste, dass sie ihre Tochter nie mehr hergeben würde - selbst wenn es sie dieses Mal tatsächlich ihr Leben kostete.

Das werde ich zu verhindern wissen!

"Hel..." Mayura weinte und lachte zur gleichen Zeit, als das Baby sie mit großen dunkelgrünen Augen, die so sehr Lokis glichen, anschaute und das schönste Lachen lachte, das die junge Frau je in ihrem Leben gehört hatte.

"Wie... wie ist das möglich?" fragte Mayura schließlich, zwang sich äußerlich zu einer Ruhe, die sie wohl erst dann erhalten würde, wenn ihr jemand bestätigte, dass sie ihre Tochter nie mehr hergeben musste.

"Ich bin ein Gott." Erwiderte Heimdal cool, bemerkte jedoch ärgerlich das Zittern in seiner eigenen Stimme.

"Loki sagt das auch von sich und trotzdem konnte er ihr nicht helfen."

"Ich bin ein toter Gott. Loki kann nicht in das Totenreich gehen und sie zurück holen. Ich schon." Heimdal grinste überlegen und genoss den Triumph in vollen Zügen. Ja, er konnte wahrlich triumphieren, dass er Loki in einer solch wichtigen Angelegenheit geschlagen hatte. Und ein schlechtes Gewissen brauchte er dieses Mal nicht zu haben, tat er durch seinen Sieg sogar Gutes!

"Ins... Totenreich..."

"Es heißt auch Niflheim." Heimdal, vor wenigen Augenblicken noch unschlüssig ob seiner Vorgehensweise, trat nun entschlossen einen Schritt zurück und lächelte befreit, als er die ihm wohlbekannten Flügel spürte, die sich hinter seinem Rücken entfalteten. Wie lange er sie nicht mehr gespürt hatte, da er nicht mehr genug Macht in dem verfluchten kindlichen Körper besessen hatte! Als Wächter der nordischen Götter hielt er sie oft verborgen, da sie ihn bei den Arbeiten des Alltags störten und er außerdem häufig in Walhalla irgendwo hängen blieb und eine kostbare Vase herunter riss - und sich Thors schallendes Gelächter einhandelte - aber in Momenten wie diesen genoss er das Gefühl der weichen Federn auf seiner Haut, die Macht, die durch seinen Körper floss. Macht, die er vor so langer Zeit für verloren geglaubt hatte.

"Was... was hast du vor?" Mayura versuchte, vor ihm davon zu kriechen, stieß aber gegen eines der medizinischen Geräte, das schneller als normal piepte. Schützend hielt sie ihre Arme vor ihr Kind, als sich Heimdal dem Bett näherte. "Nimm sie mir nicht fort, Heimdal-kun, bitte."

Lokis Frau fleht MICH an.

Heimdal grinste höhnisch, aber ein Blick in ihre furchtgeweiteten Augen ließ ihn zur Besinnung kommen. Er war nicht hier, um sich an seinem Erzrivalen zu rächen, sondern, um ein großes Unheil zu verhindern. Um Hel eine zweite Chance zu geben. Einem Mädchen, das er in Walhalla so oft besucht und das sein Herz zu lieben begann, als sie ihn mit ihrer Babysprache >Ontel Himtal< genannt hatte.

Onkel Heimdal.

Nie hatte er sich eine eigene Familie gewünscht, aber in jenen Momenten wäre er gerne ihr Onkel gewesen.

"Nein, Mayura, deswegen bin ich nicht hier." Heimdal streckte seine Hände aus und musste sich auf die Matratze knien, um sie berühren zu können. Sanft legte er seine eisigen Finger auf ihre heißen Wangen, da er sich nicht getraute, ihre Arme zu umfassen. Womöglich glaubte sie ihm nicht und tat sich furchtbar weh bei dem Versuch, mit ihrem Kind vor ihm zu flüchten. Sie war noch sehr geschwächt, hatte vor wenigen Wochen dem Tod wirklich näher als dem Leben gestanden.

Hel braucht eine starke Mama.

"Ich will dir dein Kind zurück geben, nicht, es dir nehmen." Heimdal spannte seine Flügel und die weißen Federn leuchteten golden, als ihn seine ursprüngliche Macht durchströmte. Er wusste nicht, warum er plötzlich wieder über sie verfügte. Lag es daran, dass er sich wieder in seiner wahren Gestalt befand? Oder löste der Tod die Verbindung, durch die Loki mit Hilfe seines rechten Auges jegliche Kraft von ihm absaugte? Oder verlieh ihm die mysteriöse Frau diese Macht?

Heimdal konnte keine Antworten auf seine Fragen finden, aber sie waren auch nicht wichtig. Wichtig war die junge Frau vor ihm und er konzentrierte sich. Das goldene Leuchten umfasste bald seinen gesamten Körper und ging auf Mayura über. Das nervige Piepen der Maschinen wurde langsamer, regelmäßiger und Farbe kehrte in die bleichen Wangen zurück. Die junge Frau schnappte erschrocken nach Luft, als alle Kanülen aus ihrem Körper fuhren und sich die blutenden Einstiche sofort schlossen und verheilten. Fest hielt sie ihre Tochter, die das Leuchten amüsiert beobachtete, in ihrem linken Arm, während sie mit ihrer rechten Hand unter die Decke fuhr. Ihr Bauch schmerzte nicht länger und als die Verbände von ihrem Leib abfielen, fand sie keine Wunde, nicht einmal eine Narbe. Alles, was sie fühlte, war unversehrte Haut.

"Nani..."

"Das ist mein Geschenk, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Grinste Heimdal. Das goldene Leuchten erstarb, als er sich von ihr löste und zurück auf den Boden sprang. Die Flügel zitterten leicht und er wusste, dass er seine Macht aufgebraucht hatte. Nun würde er nach Niflheim zurück kehren. Aber mit dieser Erinnerung würde er die nächste Ewigkeit überstehen, egal, welche Alpträume dort auch auf ihn warteten. Niemals würde er das selige Lächeln einer Mutter vergessen, der er ihr Kind zurück gegeben hatte.

Ich hab das Unheil abgewendet, siehst du?

Er verbeugte sich vor Mayura in der traditionell japanischen Art, wie er das heute bei Thor mehrfach gesehen hatte.

"Gib gut auf sie auf. Auf sie und auf diese verrückten Götter, sie brauchen dich."

"Wo gehst du hin, Heimdal-kun?"

Heimdal-kun klingt seltsam, aber auf jeden Fall besser als Kazumi-chan,

"Zurück in die Totenwelt, wo ich hingehöre."

"Du gehörst hier her. Thor und Loki waren nach deinem Tod unglücklich, sind es noch heute."

"Ich denke, sie haben jetzt genug zu tun, anstelle wie Trauerklöße in der Gegend herum zu sitzen." Heimdal deutete auf Hel, die herzhaft gähnte und ihre kleinen Augen schloss. Er hatte das Kleinkind nur einen Tag durch die Welt getragen, aber er ahnte, dass er sie schrecklich vermissen würde in dem Reich der Stille. "Außerdem steht es nicht in meiner Macht, hier zu bleiben. Leb wohl, Mayura."

Der Wächter zog seine Flügel wieder ein und drehte sich zu dem gleißenden Licht, das sich wie erwartet hinter ihm aufgetan hatte. Vermutlich würde ihn die mysteriöse Frau empfangen und wenn er viel Glück hatte, konnte sie seine Alpträume stoppen und ihn diese eine, diese wunderschöne Erinnerung schenken.

"Dann steht es in meiner Macht!" Zwei kräftige Hände packten seine Arme und zogen ihn entschieden von dem Licht fort. "Noch einmal lass ich dich nicht entkommen, Heim."

Verwundert drehte Heimdal seinen Kopf und blickte geradewegs in Lokis entschlossenes Gesicht.
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Minerva
2007-07-18T19:38:42+00:00 18.07.2007 21:38
Wah! So wunderschöööön *schnieeef* TToTT
aprileagle-sama du bist ein Genie...
*schieeef*
Was für ein happy End...!


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