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Mein ist die Rache

von

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Roter Schnee
 

Sie hatte Paris schon vor Monaten den Rücken kehren wollen, doch etwas hielt sie zurück. Das Gefühl, etwas Bedeutendes verpassen zu können? Vermutlich war es das. Es wollte ihr zumindest keine bessere Begründung einfallen, warum es sie immer noch in dieser kalten, übervölkerten und selbst im Winter streng riechenden Stadt hielt. Zugegeben, sie hatte sich nach all den Jahren daran gewöhnt, dass die wenigsten Gegenden der französischen Hauptstadt auch nur einigermassen erträglich rochen und sie war sich auch nicht sicher, ob sie ohne die Menschenmassen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, überhaupt noch leben konnte.

Seit einigen Minuten schon stand sie am Fenster ihres Schlafzimmers und beobachtete die vermummten Gestalten, die sich unter ihren Augen durch den fast kniehohen Neuschnee kämpften. Obwohl das reine Weiß in ihren Augen schmerzte, genoss sie den Anblick. Wenn sie heute Abend nach hause kommen würde, wäre von der Farbe der Unschuld nichts mehr zu erahnen. Der Schnee würde spätestens bis Mittag eine Verbindung mit dem alltäglichen Dreck eingegangen sein.

Zwischen den einzelnen Kleiderbergen, die sich mühsam ihren Weg bahnten, wurde sie eines kleinen Jungen gewahr, der, ein Päckchen unter den Arm geklemmt, freudig hinter einer Alten herstiefelte, die dank ihrer enormen Breite gerade soviel Schnee beiseite schob, das der schlanke Knabe ohne größere Anstrengung voran kam. Und als hätte er bemerkt, dass er beobachtet wird, hob er seinen Kopf und strahlte sie mit einem lückenhaften Lächeln an. Aramis kannte das sommersprossige Gesicht mit den Katzenaugen nur zu gut. Sein Gesicht begann jedes Mal zu glühen, wenn er ihr begegnete, was auf Grund der Tatsache, dass er nur drei Häuser weiter wohnte, nicht selten der Fall war, zumal seine Mutter ab und an Besorgungen für sie erledigte und er die verantwortungsvolle Rolle innehatte, ihr diese vorbei zu bringen, sobald sie Abends nach hause kam. Heute jedoch behielt das spitze Gesicht seine natürliche Farbe. Kurz hielt der jüngste Bofiz-Sproß in seinem Marsch inne, um ihr zuzuwinken, dann rannte er auch schon wieder hinter der Alten her, um nicht seine Idee an jemand anders zu verlieren. Vielleicht waren es ja auch diese Kleinigkeiten, die das Leben in Paris angenehm genug machten, um sie gegen die negativen Seiten aufzuwiegen. Oder es war der Kollege, der vor einer halben Stunde völlig durchgefroren vor ihrer Tür stand und seit dem verzweifelt vor dem Kamin darauf wartete, dass sie bereit war, mit ihm den Dienst anzutreten. Erschrocken fuhr Aramis aus ihren Gedanken hoch. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, weswegen sie aufgestanden war. Sie nahm sich vor, sich dafür zu ohrfeigen, sobald sie die Zeit dazu fand.
 

Vorsichtig spähte sie durch den schmalen Türspalt. Mit Mühe konnte sie seine vor dem Feuer ausgestreckten Beine erkennen. Er war also immer noch da. Aramis fiel ein Stein vom Herzen. Seine Geduld schien ihr einmal mehr unerschöpflich. Dafür würde er sich wieder in der Behauptung bestätigt fühlen, dass Frauen unnötig lange brauchen, um vor die Tür zu kommen. Auch dafür würde sie sich bei Gelegenheit ohrfeigen.

Nachdem sie noch einmal den korrekten Sitz ihres Kragens überprüft hatte, trat sie mit leichtem Räuspern durch die Tür.

"Na endlich. Ich dachte schon du hast dich wieder hingelegt..." Ein leichtes Lachen begleitete seine Worte. Betont langsam erhob er sich aus dem Sessel und musterte sein Gegenüber. "Und wofür hast du nun so lange gebraucht? Nein warte, sag nichts: Du bist eine Frau. Hatte ich fast vergessen!"

"Fein. Und wie lange hast du gebraucht, um dir diese zwei Sätze zurechtzulegen?" Aramis stemmte die Hände in die Hüfte. So leicht würde sie sich seine Sprüche nun doch nicht gefallen lassen, und wenn er sie mit einem noch so entwaffnenden Lächeln versah.

"Sagen wir es mal so, ich hatte ja genügend Zeit...oder willst du mir da etwa widersprechen?" Triumphierend hob er die Augenbrauen. "Aber du willst doch nicht wirklich so vor die Tür gehen, oder?"

"Wieso? Gibt es etwas daran auszusetzen?" zum wiederholten Male an diesem Morgen ließ sie ihren Blick über die Uniform gleiten. Was konnte daran nicht stimmen? Sie war sauber, hatte keine Falten und auch sonst schien alles am rechten Fleck zu sein.

"Ich bin mir zwar sicher, dass ich dir nichts Neues erzähle, aber es ist kalt draussen..."

"Was du nicht sagst!" Aramis riss die Augen auf.

"Doch doch...kaum vorstellbar, nicht wahr?" Wissend nickte er mit dem Kopf. Er hatte gute Laune und das war seine Art, sie davon in Kenntnis zu setzen.

"Was schlägst du also vor?" Besorgt zog sie die Augenbrauen zusammen.

"Ich würde zumindest die gefütterten Handschuhe nehmen...und einen dickeren Mantel wählen. Aber diese Entscheidung liegt natürlich bei dir!"

Aramis machte auf dem Absatz kehrt und verschwand erneut hinter der Schlafzimmertür.

"Aber lass dir nicht wieder so viel Zeit!" Der Musketier stand mitten im Raum, wippte auf und ab und pfiff betont langsam vor sich hin.

"Schon wieder da." Aramis grinste stolz. Solle nochmal einer behaupten, sie wäre langsam. Zwar sah es hinter der schweren Eichentür aus wie auf einem Schlachtfeld, aber immerhin hatte sie die beinahe neuen Handschuhe in Rekordzeit gefunden. Ihr Freund schien davon wenig beeindruckt.

"Dann können wir ja endlich!" Immer noch wippte er auf und ab.

"Angst vor'm Kapitän?"

"Und wie! Du weißt doch wie er ist. Er hat keine Ahnung was es bedeutet, bei dem Wetter durch die halbe Stadt spazieren zu müssen. Er braucht doch morgens nur aus dem Bett zu fallen und steht quasi schon vor seinem Büro. Und unter diesen Bedingungen benötigt er halt zwei Minuten anstatt einer, um von seiner bescheidenen Hütte zum Hauptquartier zu kommen. Wie kann es denn da sein, dass wir anstatt einer halben mehr als eine ganze Stunde brauchen? Ich bitte dich, wie unrealistisch. Das könnte man doch auch in einer viertel Stunde schaffen, zumal doch um diese Jahreszeit wesentlich weniger Menschen unterwegs sind als im Sommer!" Aramis konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Wenn er auch selten von seiner Sachlichkeit abliess, sobald es denn einmal so weit war, war er kaum noch zu halten..

"Mein lieber Athos, du solltest dich schämen, derartig über deinen direkten Vorgesetzten zu reden. Er ist doch immer nur auf unser Wohlergehen bedacht!"

"Was natürlich erklären würde, warum er uns morgens zu unchristlicher Zeit aus dem Bett jagt. Das ich da nicht selbst drauf gekommen bin!" Er griff sich theatralisch an die Stirn.

"Bevor du dir noch weh tust schlage ich vor, dass du dir deine Stiefel greifst und wir uns endlich auf den Weg machen. Was hältst du von der Idee..."

"Bei genauerer Betrachtung...Nichts! Aber ich hab einen Gegenvorschlag zu machen. Weiterschlafen!"

"Vermutlich in meinem Bett?"

"Exakt!"

"Vergiss es!"
 

Bereits wenige Minuten später fragte sie sich, ob es so klug war, Athos' Vorschlag derartig vorschnell abzuweisen. Sie konnte nicht so schnell zittern wie ihr kalt war und mehr und mehr beschlich sie das ungute Gefühl, dass sie ihre Ohren nicht mehr fühlen konnte. Vielleicht waren sie ihr ja auch schon hinter der letzten Kurve abgefallen und dienten jetzt den Ratten als Festschmaus. Sie schüttelte sich.

"Ich glaube, meine Gänsehaut hat soeben eine Gänsehaut bekommen..." Aramis sah zu ihrem Kollegen auf. Nicht einmal die gerötete Nase konnte seinem Gesicht die Autorität nehmen, die ihm in die Wiege gelegt zu sein schien. Ihren ungläubigen Blick beantwortete er mit einem kurzen Grinsen.

"Für derartige Nichtigkeiten ist dir wohl nie zu kalt, hm? Ich an deiner Stelle würde mich so tief wie möglich hinter diesem Kragen vergraben." Erneut zog sie die Augenbrauen zusammen.

"Du solltest das lassen!"

"Was?"

"Diese Sache mit den Augenbrauen...das gibt unschöne Falten die dich nur unnötig grimmig aussehen lassen."

"Ich wüsste nicht, was dich das stören könnte!" Aramis bahnte sich nun ebenfalls einen Weg aus dem Kragen des Mantels, über dessen Rand bis dato ihre Nase getrohnt hatte.

"Immerhin muss ich jeden Tag diesen Anblick ertragen...!"

"Na danke!"

"...und unter uns gesprochen: Männer finden grimmig dreinblickende Weiber in den seltensten Fällen wirklich anregend! Du siehst, ich bin nur um deine Zukunft besorgt..."

"Meiner Erfahrung nach finden Männer auch Frauen in Uniform nicht sonderlich attraktiv. Was stören da also noch ein paar Falten." Athos zuckte mit den Schultern. Er konnte sich über ihre Attraktivität nun wahrlich nicht beklagen. Aber ihn fragte ja keiner. Warum auch? Er war ja schließlich nur der beste Freund und hatte somit keine Meinung über ihre äußere Erscheinung zu haben. Er seufzte, als plötzlich aus dem Hinterhalt ein Schneeball seinen Schädel traf. Sein Blick folgte dem Filzhut, der langsam zu Boden glitt. Ruckartig fuhr er herum und sah sich mit einer Reihe Kinder konfrontiert, die ihn stolz ob ihres Sieges angrinsten.

"In Ordnung, wer von euch kleinen Gaunern war das?" Den Jungen entglitt das Grinsen, als sie registrierten, was sie da so glorreich erlegt hatten. Nach einigen Sekunden des Zögerns deuteten alle Hände auf den selben Bengel, der sich immer noch nicht sicher war, ob er vor Stolz platzen oder doch lieber schleunigst rennen sollte. Doch spätestens als Athos ihn mit dem Finger zu sich winkte, wusste er, dass jede Flucht zwecklos war. Er fügte sich in sein Schicksal und bewegte sich langsam und mit gesengtem Haupt auf den Musketier zu, der unter seinem Mantel noch erhabener wirkte. Als er direkt vor ihm zum Stehen kam, musste er seinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Die Gedanken des Knaben kreisten nur um eins: Was würde er zur Strafe mit ihm tun. Vermutlich würde er sich seinen Namen geben lassen und sich dann später bei seinen Eltern für eine Bestrafung aussprechen, wie es alle taten.

"Keine Schule heute?" Die hellbraunen Augen des Jungen musterten Athos' Gesicht, als hätte er dessen Frage nicht verstanden. Dann antwortete er zögerlich:

"Nein, Monsieur!" Noch bevor er erneut über den Sinn dieser Frage nachdenken konnte, hatte er schon eine Hand voll Schnee im Gesicht. Mit weit offenem Mund schnappte er nach Luft.

"Damit wären wir dann wohl quitt!" Athos klopfte sich den Schnee, der immer noch an seinem Handschuh hing, am Mantel ab und fuhr dem Jungen durchs zerzauste Haar.

"Nicht übelnehmen!" Der kleine Kerl nickte nur stumm, immer noch nicht sicher, was er von der ganzen Situation halten sollte. Schweigend sah er dem Musketier hinterher, der gerade seinen Hut aufhob und sich wieder zu seinem Kollegen gesellte, der die ganze Szene genau so fasziniert beobachtet hatte wie die Reihe Kinder hinter ihm. Er war beeindruckt.

"Du hättest ihm wenigstens eine Chance geben können..." Aramis' Vorwurf war halbherziger Natur. Sie musste zugeben, dass dieses kleine Schauspiel ihr Spaß gemacht hat. Ein Schauspiel, ja das traf es.

"Was für eine Chance? Mich noch einmal zu treffen? Oh nein..." Athos lachte leise auf. Er würde sich doch nicht von einem Kind geschlagen geben

"...eine Chance wegzurennen!"

"Mir wurde diese Chance auch nicht gegeben! Ich habe lediglich mit gleichen Waffen gekämpft. Aramis, dass ist eine Schneeballschlacht. Das ist Krieg!" Aramis konnte erkennen, wie sich kleine Lachfalten um seine Augen bildeten. Dann herrschte wieder Schweigen.

"Mir ist kalt!" presste Aramis schließlich zwischen den Zähnen hervor. "Ich habe langsam kein Gefühl mehr in den Füßen. Können wir uns nicht irgendwo aufwärmen?"

"Und noch mehr Zeit verlieren? Nur über meine Leiche!"

"Bei dem Wetter dürfte das keine Schwierigkeit sein..." Sie richtete ihren Blick gen Himmel, der von schweren grauen Wolken verhüllt war. "Sieht so aus, als würde es bald wieder was von oben geben...Ich mag gar nicht daran denken." So sehr sie auch Schnee mochte, es reichte wieder für diesen Winter. Und trotzdem war kein Ende abzusehen.

"Bonjour Mademoiselle Aramis!" Joaquin Bofiz begrüßte sie mit hochrotem Kopf und machte dann eine angedeutete Verbeugung Richtung Athos. "Bonjour Monsieur!" Er kannte den Namen ihrer Begleitung sehr wohl, doch allein die Tatsache, dass er eindeutig zu häufig mit ,seiner' Aramis zu sehen war, machte ihn für den kaum zehnjährigen Joaquin unsympathisch und deshalb nicht weiter nennenswert. Er wand sich wieder Aramis zu.

"Mama sagt, sie hat etwas für euch. Was es ist wollte sie mir nicht verraten. Ihr sollt es euch bei Gelegenheit abholen..." Mit seinem linken Fuß zog er kleine Halbkreise im Schnee, während er wie gebannt Aramis dabei zusah, wie sie in ihrem Gedächtnis nach etwas wühlte, dass nach Ansicht seiner Mutter nicht für Joaquins Augen bestimmt war.

"Was treibst du hier?" Es war ihr wieder eingefallen, das konnte er an ihrem Gesicht erkennen. Als er bemerkte, dass er sie angestarrt hatte, wurde das Rot seines Gesichts noch eine Spur kräftiger.

"Schule war geschlossen. Also bin ich ein bisschen durch die Stadt gegangen. Und wisst ihr, was mir da zu Ohren gekommen ist?" Er rieb sich die Hände, die nur durch ein paar dünne Fäustlinge vor der Kälte geschützt wurden. Die Spannung war für ihn kaum noch erträglich. Er musste es loswerden, aber niemals würde er einfach so anfangen zu plaudern. Er war ja schließlich kein altes Waschweib. Man musste ihn schon interessiert um diese Information bitte.

"Na?"

"Eine Leiche!" Seine Augen funkelten verschwörerisch.

"Wie meinen?" Aramis hob die Augenbrauen.

"Sie haben eine Leiche gefunden...an der Seine..."

"Als ob eine Leiche in dieser Stadt etwas besonderes wäre..." Athos schien sichtlich unbeeindruckt. "Bei dem Wetter ist jeder dahergelaufene Säufer eine potentielle Leiche."

"Aber es ist eine Frauenleiche!" Warum musste dieser Kerl ihm seine große Neuigkeit zerstören? Warum? Und als ahne er schon, was er gleich erwidern würde, fügte er schnell noch ein "Und sie sieht nicht wie ein leichtes Mädchen aus!" hinzu. Aramis schüttelte den Kopf.

"Wenn an der Geschichte tatsächlich etwas dran sein sollte, dürfte der Kapitän auch schon unterrichtet sein. Wir werden sehen." Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, was weniger an dem Gedanken an eine Frauenleiche sondern viel mehr an dem Gedanken an einen weiteren Marsch durch Paris lag. "Sag deiner Mutter, dass ich versuchen werde, heute Abend bei ihr vorbei zu sehen." Joaquin nickte und stapfte durch den Schnee davon, jedoch nicht ohne Athos noch einen misstrauischen Blick hinterher zu werfen.

"Darf man fragen was du von seiner Mutter heikles erwartest, das er es nicht erfahren darf?" Athos ignorierte das merkwürdige Verhalten des Jungen ihm gegenüber.

"Nachthemden..." Sie konzentrierte sich auf den Weg vor ihr. Ihre Ohren begannen zu glühen. Wenigstens wußte sie jetzt, dass sie nicht abgefroren waren.

"Und was ist daran so skandalös?"

"Ich weiß nicht...seine Mutter macht sich Sorgen, dass ihn das auf dumme Gedanken bringen könnte..."

"Nachthemden?! Erlaube mir die Frage, was du für Nachthemden trägst..." Aramis hatte das Gefühl, ihr würde das Blut in den Adern kochen.

"Ich wüßte nicht was es dich angeht, welche Art von Nachthemden ich trage!"

"Tut mir leid, aber du hast mich neugierig gemacht..."

"Reicht es wenn ich dir sagen, dass sie nicht bis zum Knöchel gehen?"

"Du machst es nur noch schlimmer..."

"Gut, dann können wir ja jetzt ein anderes Thema anschlagen!" Sie atmete innerlich auf. Es war ihr immer noch ein Rätsel, was sie von seinen Anspielungen halten sollte. "Was denkst du über diese Geschichte mit der Leiche?"

"Ich denke sie ist ein tote Hure, die erfroren ist und durch die Fantasie zu vieler tratschender Weiber zu einer toten Edeldame gemacht wurde. Alles in Allem glaube ich, dass der Kleine dich nur beeindrucken wollte..."

"Warum sollte er das tun?"

"Vermutlich weil du seine erste große Liebe bist..." Athos schmunzelte.

"Wie kommst du bitte auf die Idee?" Aramis sah ihn mit großen Augen an.

"Ich habe gesehen, wie er dich die ganze Zeit angestarrt hat. Und der Ausdruck in seinem Gesicht war eindeutig mehr als nur Bewunderung, glaube es mir! Der Junge wird wohl nie glücklich werden...."

"Hm?" Das erste Mal seit langem hatte sie Probleme, seinen Gedankengängen zu folgen.

"Sieh mal, die meisten Männer haben die dumme Angewohnheit, sich irgendwann im Laufe ihrer Jugend auf einen Typ Frau festzusetzen. Viele deiner Kollegen gehören zu dieser Sorte Männer. Porthos gehört nicht dazu, der nimmt alles, was er kriegen kann. D'Artagnan gehört auch nicht dazu, weil er mit der Frau, an die er sein junges Herz verloren hat, verheiratet ist. Aber falls er Constance irgendwann verlieren sollte, wird er sich eine Frau suchen die ist wie sie. Oder er wird nie wieder eine Frau suchen."

"Was ist mit dir?"

"Ich gehöre nicht dazu, weil ich mein Herz an eine Frau verloren habe, die für mich wohl unerreichbar ist und es auch bleiben wird. Sie oder keine!" Aramis sah eine ihr unbekannte Leidenschaft in seinen Augen aufflammen. Sie verschwand so schnell wie sie gekommen war.

"Was, wenn sie es gar nicht wert ist?"

"Sie ist es, glaube mir!" Und sie glaubte ihm.
 

Nach einigen weiteren Minuten beschwerlichen Fußmarsches erreichten sie das Hauptquartier der Musketiere. Der Innenhof war schneefrei wie immer. Dies war eine der undankbarsten Aufgaben, die der Kapitän Anwärtern zuteilen konnte. Und er verteilte sie gerne. Aramis wußte das. Sie selbst hatte das Vergnügen gehabt und es gehasst.

Kaum hatten sie die schwere Eingangstür hinter sich geschlossen, hörten sie eine rauhe Stimme hinter sich: "Ihr seid spät dran!"

"Auch dir einen guten Morgen Nicolas! Immer noch als Schreiberling missbraucht?" Athos brauchte sich nicht nach ihm umzudrehen. Den schwer erkälteten Musketier erkannte er auch so ohne Schwierigkeiten. Statt dessen suchte er die Halle nach anderen Kollegen ab, jedoch vergebens.

"Sind wir die Ersten?" Athos wollte seinen eigenen Ohren nicht trauen. Wie konnte er nur eine derart naive Frage stellen.

"Die Letzten!" Hätte Nicolas lachen können, er hätte es getan. Statt dessen brachte er es nur zum einem keuchenden Husten.

"Du solltest dich nicht über deine Kollegen lustig machen. Der liebe Herr bestraft klein Sünden sofort, wie du sicherlich bemerkt hast!"

"Wenn ich mich über euch zwei lustig machen wollte würde ich fragen, was ihr so lange getrieben habt. Aber da ich mir nicht den Zorn einer Dame zuziehen will, lasse ich das an dieser Stelle."

"Schon zu spät..." Aramis betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Ihr war klar, dass sie derartige Äusserungen nicht ernst zu nehmen hatte, aber es konnte nicht schaden ab und an klar zu machen, wer hier das Sagen hatte.

"Wo sind die anderen?"

"Vor ungefähr einer halben Stunde ausgeflogen. Zum Pont Neuf. Haben irgendwas von 'ner Leiche gemurmelt. Der Kapitän lässt ausrichten, dass ihr ebenfalls eure Ärsche dorthin schieben sollt..." Mit einem lauten, schmatzenden Geräusch zog er die Nase hoch und ließ sich wieder in seinen Sessel zurückfallen, den er extra für diesen Anlass hatte hier aufstellen lassen.

"Ist der Kapitän zugegen?" Nicolas nickte.

"Will aber nicht gestört werden. Und ich an eurer Stelle würde da auch nicht hoch gehen..." Er machte eine fahrige Handbewegung, um die beiden wieder zu verabschieden.
 

"Ich will da wieder rein!" Aramis starrte den kleinen Wölkchen warmer Luft hinterher, die bei jedem Atemzug ihren Körper verliessen. Sie war wahrlich nicht in der Stimmung, bis zum Pont Neuf zu marschieren. Die Leiche würde vermutlich auch in einer Woche noch so daliegen, wie sie es jetzt tat; die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei diesen Temperaturen sofort in Verwesung übergehen würde, war wohl mehr als gering. "Bis wir dort angekommen sind ist sowieso schon alles vorbei...eigentlich könnten wir uns das sparen..."

"Ich denke, wir sollten uns das Ganze zumindest einmal ansehen. Wenn schon der Kapitän darüber informiert wird, scheint an dem Tod etwas unnatürlich zu sein."

"Mord?"

"Es wird wohl zumindest danach aussehen..." Er zögerte. "Und was das angeht, möchte ich mich nicht auf das Urteil eines Porthos verlassen müssen..." Er übersprang die letzten Stufen zum Hof und reichte ihr die Hand. "Wenn Mademoiselle mir folgen wollen?"
 

Nachdem sie einige Minuten durch den Schnee gestapft waren, blieb Aramis plötzlich unvermittelt stehen. "Warum haben wir eigentlich nicht die Pferde gesattelt und sind zum Pont Neuf geritten?" Athos drehte sich zu ihr um. Die Frage war berechtigt. Warum eigentlich nicht? Sie hätten nur quer über den Hof gehen und die Pferde aufzäumen müssen. Die Zeit, die sie damit verschwendet hatten, hätten sie auf dem Weg ohne Probleme wieder herausgeholt. Resignierend lüpfte er die Achseln. "Vermutlich werden wir alt und vergesslich..."

Ungeduldig rieb Aramis die Hände aneinander. Obwohl ihre Handschuhe mit Lammfell gefüttert waren, bemächtigte sich langsam die Kälte ihrer Finger. "Ich hätte nie gedacht, dass es bis zu dieser verdammten Brücke so weit sein kann..." Sie kniff die Augen zusammen in der Hoffnung, am Ende der Straße ihr Ziel erkennen zu können. Sie hätte im Bett bleiben sollen! Dieses ganze Weiß begann ihr allmählich aus dem Hals heraus zu hängen. Gleichzeitig bahnte es sich seinen Weg in ihre Stiefel und machte sich dort in Form von kaltem Wasser breit.

Als sie nach ein paar Metern erneut um die Ecke bogen, lag sie in voller Größe vor ihnen. Und in einiger Entfernung erregte eine aufgebrachte Traube Menschen ihre Aufmerksamkeit.

"Ich glaube wir haben unseren Tatort gefunden!" Aramis hörte die unterdrückte Wut in seinen Worten. Er hasste Schaulustige und die Art, wie sie sich in das Geschehen einmischten und sich daran aufgeilten. Jeder von ihnen musste unbedingt seine geistigen Ergüsse zu den Ereignissen loswerden und in den seltensten Fällen waren diese auch nur annähernd hilfreich. Nur widerwillig setzte er sich wieder in Bewegung und steuerte die Menschenansammlung an. Das Gefühl von Leichtigkeit, dass er am Morgen noch verspürt hatte, war längst vergessen. Während er sich langsam der Menge näherte begann er leise zu fluchen; er verfluchte das Wetter, er verfluchte diese beschränkten Gaffer, er verfluchte den Mörder und er verfluchte die Leiche, dann verfiel er in Schweigen. Mit eiserner Miene schob er sich durch die Mauer aus Bauern, Mägden und allen anderen, die scheinbar nichts besseres zu tun hatten als ihn bei der Arbeit zu behindern. Aramis konnte sich nur mit Mühe hinter ihrem Kollegen halten, einige breite Hintern drohten immer wieder, ihr den Weg zu versperren.

"He! Vordrängeln is nich'!" Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sich ein stechender Geruch ihrer Sinne bemächtigte und ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb. Aramis' Blick wanderte ungläubig an dem massigen Körper auf und ab, der ihr den Weg versperrte. Der breite Schädel wurde von wenigen Haaren umrahmt und aus der Mitte des Gesichts starrten zwei Schweineaugen auf sie herab. Der Kopf ging nahtlos in den schwammigen Rumpf über, der von einigen fleckigen und verschwitzten Bahnen Stoff verdeckt wurde. Die Unförmigkeit wurde von viel zu kurzen Armen und Beinen gekrönt. Aramis sah sich für einen Moment gezwungen, die Atmung einzustellen. Der Geruch von Tiermist und altem Schweiß brachte sie an den Rand einer Ohnmacht und erst nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr wieder, einen klaren Gedanken zu fassen.

"Hättet Ihr die Freundlichkeit, mir den Weg freizumachen?" Aramis Stimme klang nicht so fest, wie sie es sich in diesem Moment gewünscht hätte.

"Warum sollte ich?" Erneut schlug ihr eine Welle des fauligen Geruchs in's Gesicht.

"Weil ich hier durch muss!" Instinktiv begann sie sich mit der Hand Frischluft zuzufächeln. Lange würde sie diese Diskussion nicht mehr durchstehen, dessen war sie sich sicher. Schutzsuchend vergrub sie ihr Gesicht hinter dem Kragen. Vielleicht gelang es ihr so, wenigstens einen Teil der Dämpfe abzuwehren. Langsam stieg das Gefühl der Wut in ihr auf und sie hatte nicht übel Lust, dieser widerwertigen Kreatur vor ihr einfach in's Gesicht zu brüllen, auf das er ihr mit dem Respekt entgegentrat, den sie in ihrer Position verdiente. Doch wie aus der Ferne hörte sie Athos' rettende Stimme. Als er das Fehlen seines Schützlings bemerkt hatte, war er auf dem Absatz umgekehrt und bahnte sich erneut einen Weg durch die Masse. Inzwischen ruhte seine Hand auf der Schulter des fetten Bauern und schob ihn fordernd beiseite. Der Koloss wollte gerade zu einem lautstarken Protest ansetzen, als sein Blick auf die versteinerte Miene des Musketiers fiel. Aramis hingegen nahm einen tiefen Atemzug und zwängte sich durch den schmalen Spalt, der sich vor ihr auftat.
 

"Manchmal glaube ich, die Menschheit ist pervers..." Aramis nahm einen tiefen Atemzug und ließ ihren Blick über die Gesichter der Umstehenden wandern. "Ich würde mir diesen Anblick im Leben nicht freiwillig zumuten!" Ihre Hand ruhte auf der Schulter eines Kollegen, der nicht wesentlich älter war als sie selbst, allerdings erst seit Kurzem die Musketiersuniform trug. Er hatte sich nach dem Anblick des toten Körpers mehrmals übergeben müssen und stand nun verschüchtert und mit rotem Kopf abseits von seinen Kollegen. Er konnte auf die Aufmerksamkeit seiner Kollegin getrost verzichten, dessen war er sich sicher. Es verletzte ihn in seinem Stolz als erwachsener Mann, dass er im Gegensatz zu ihr nicht in der Lage war, seinen Magen unter Kontrolle zu halten.

"Du solltest dir nicht so viele Gedanken über die ganze Sache machen. So was kommt vor..." Aramis sah sich erneut Hilfe suchend nach Athos um. Es musste auf diesen jungen Mann einfach erniedrigend wirken, wenn eine Frau, noch jünger als er selbst, ihm einzureden versuchte, dass Schwäche in einem solchen Moment absolut kein Makel sei. Aus dem Mund eines älteren und vor allem durch und durch männlichen Kollegen würden ihre Worte sicherlich überzeugender auf ihn wirken. Athos jedoch war zu sehr damit beschäftigt mit grimmiger Miene die Leiche zu begutachten.
 

Die kornblumenblauen Augen waren schreckgeweitet, aus den Höhlen hervorgetreten und starr gen Himmel gerichtet. In ihrem leeren Blick spiegelten sich die grauen Wolken. Ihr Mund war geschlossen, und dennoch schien es Athos, als würde sie aus vollster Kehle um Hilfe schreien. Das Unverständnis über die an ihr begangene Tat stand ihr in's bläulich schimmernde Gesicht geschrieben.

Hinter sich vernahm Athos das zarte Knirschen von Schnee.

"Und?" Er beobachtete Aramis aus dem Augenwinkel. "Was fällt dir auf?"

"Nun ja, sie ist tot. Ich würde sagen stranguliert." Sie wartete auf ein zustimmendes Brummen, bevor sie weitersprach. "Ich denke wir können davon ausgehen, dass sie nicht einfach nur umgebracht wurde, dass würde einfach keinen Sinn machen."

"Wieso nicht?"

"Welcher Kerl würde eine Frau einfach nur umbringen?" Aramis ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. "Wissen wir schon, wer sie ist?"

"Nein. D'Artagnan hört sich gerade ein wenig um. Ich glaube allerdings kaum, dass er Erfolg haben wird. Wir werden abwarten müssen, bis jemand sie vermisst...wenn sie denn jemand vermisst." Athos zog die Augenbrauen zusammen. Er war immer noch nicht vollständig von seiner Vermutung bezüglich des Gewerbes der jungen Frau abgerückt, konnte aber auch keine eindeutigen Beweise dafür finden.

"Ich glaube nicht, dass sie käuflich war..."

"Wieso?" Manchmal glaubte er, sie könne tatsächlich seine Gedanken lesen.

"Nur so'n Gefühl...sie ist zu gepflegt..." Erneut musterte sie die Leiche von Kopf bis Fuß. "Haben wir irgendwelche Spuren?"

"Nur hunderte von Fußabdrücken, die diese Trottel dort hinten", er deutete auf die nicht kleiner werden wollende Menschentraube, "hinterlassen haben. Niemand in der Nachbarschaft will vergangene Nacht irgendetwas Verdächtiges gehört haben. Ist doch eigenartig, wo diese Stadt doch sonst so gute Ohren hat und..."

Bevor er sich noch weiter in Rage reden konnte, fiel Aramis ihm in's Wort: "Es gibt zwei Möglichkeiten; die erste wäre, dass es sich hierbei zwar um den Tatort handelt, der Zeitpunkt des Mordes allerdings noch nicht lange zurückliegt. Allerdings ist dann die Frage, warum es keine Zeugen gibt. Die zweite Möglichkeit wäre, dass sie schon länger tot ist, der Tatort jedoch ein anderer ist!"

"Wie kommst du darauf?"

"Es hat bis heute früh geschneit. Die Leiche ist jedoch nicht mit Schnee bedeckt..." Für kurze Zeit umspielte ein triumphierendes Lächeln ihre Lippen. Früher oder später wäre er auch allein darauf gekommen, aber heute war sie einfach schneller als er. Sie würde sich dafür bei Gelegenheit selbst auf die Schulter klopfen.
 

Es war spät geworden. Aramis kämpfte sich auf dem Weg nach hause durch den knöchelhohen Matsch und stieß dabei einen Fluch nach dem anderen aus. Nach diesem Tag hatte sie endgültig die Nase voll von Schnee. Sie bestand auf Sonnenschein und sommerliche Temperaturen; statt dessen schneite es schon seit Mittag.

Gerade wollte sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnen, als sich der kleine Joaquin in ihr Gedächtnis rief. Sie trat ein paar Schritte zurück und sah die Straße hinunter, ob im hause Bofiz noch Licht brannte. Sie schien Glück zu haben. Zumindest hätte sie es als Glück bezeichnet, wäre ihr nicht gerade überhaupt nicht nach einem Plausch mit Madame Bofiz gewesen. An anderen Tagen empfand sie es als durchaus entspannend, sich mit dem neuesten Tratsch berieseln zu lassen, aber heute wollte sie eigentlich nur noch schlafen. In Gedanken spielte sie die nächsten Tage durch und kam zu dem Schluß, dass sich in nächster Zeit keine weitere Möglichkeit für einen Besuch bei ihren Nachbarn ergeben würde. Also verabschiedete sie sich in Gedanken wieder von ihrem Bett und machte sich schweren Herzens auf den Weg.
 

Joaquin führte sie mit hochrotem Kopf in die Küche des Hauses. Insgeheim ärgerte er sich. Sie war zu spät! Das heißt, eigentlich war sie nie zu spät; wenn es nach ihm ginge könnte sie auch mitten in der Nacht vor der Tür stehen und er würde ihr bereitwillig öffnen. Wenn es jedoch nach seiner Mutter ging, und das tat es, dann war es zu spät. Zu spät für ihn, um noch aufzubleiben und den beiden Frauen in der Küche Gesellschaft zu leisten. So würde er nie hinter das Geheimnis des kleinen unauffälligen Päckchens kommen, das seine Mutter so sorgsam vor ihm versteckt hielt.

Die große Küche wurde vom Geruch gekochten Sauerkrauts ausgefüllt, das zusammen mit gesalzenem Hering auf dem Herd stand. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie nicht nur müde war, sondern auch Hunger hatte. Und auch wenn sie die Mischung aus Sauerkraut und Fisch hasste, an diesem Abend hätte sie auch das vertilgt. Man musste es ihr nur noch anbieten.

"Mama ist in der Speisekammer. Ich hol sie!" Aramis nickte nur und wartete, bis sie das patschende Geräusch nackter Füße auf dem kalten Steinboden nicht mehr hören konnte. Noch ein prüfender Blick, ob niemand in der Nähe war und sie schlich sich leise an den Topf heran. Gerade als ihr Magen mit lautem Knurren den Anblick des noch dampfenden Sauerkrauts begrüßte, vernahm sie Schritte hinter sich:

"Hungrig?" Aramis fuhr herum und blickte direkt in das Gesicht des Feindes. Madame Bofiz.

"Ein wenig..." Sie hätte ein ganzes Schwein verdrücken können.

Mit Wohlwollen beobachtete Aramis, wie ihre Nachbarin eine Schranktür öffnete, einen Teller hervorzog und die Tür wieder schloß; dann in eine Schublade griff und einen Löffel zu Tage förderte. Ihr Magen machte einen Freudensprung. Und er begann zu tanzen und zu singen, als Madame Bofiz eine Kelle Kraut nach der anderen auf den Teller fallen liess. Alles was ihr jetzt noch zu ihrem Glück fehlte war ein guter Schluck Met aus Monsieur Bofiz' kleinem, geheimem Alkoholitätenversteck. Es war bei weitem nicht so geheim wie er es glaubte. Die Herrin des Hauses wusste sehr wohl, wo ihr Mann seine Reserven versteckte und schröpfte diese regelmässig, wenn sie Gäste hatte. Sehr zum Leid des Hausherrn (seines Zeichens Schreiber und gut bezahlter Laufbursche eines bekannten Pariser Kaufmanns) der sich des Öfteren mit der Frage konfrontiert sah, wann zum Henker er den edlen Tropfen aus dem Loiretal geleert hatte.

Aufmerksam lauschte sie den Neuigkeiten, die Madame Bofiz ihr zu berichten wusste, während sie ungeachtet jeder Erziehung die gesamte Portion Kraut mit Fisch vernichtete.

Ihre dunklen Haare und die grünen Augen machten Madame Bofiz, mit Vornamen Aurélie, zu einer durchaus ansehnlichen Erscheinung. Sie war seit gut zehn Jahren mit Monsieur Bofiz verheiratet, Joaquin war das älteste von 4 Kindern. Als Aramis sie vor sechs Jahren kennen gelernt hatte, war sie ein schmächtiges Persönchen gewesen, dass die meiste Zeit damit beschäftigt war, den Tod ihres dritten Kindes zu verarbeiten. Vor knapp einem halben Jahr hatte sie ihre achte Geburt hinter sich gebracht und die Anzahl der Schwangerschaften hatte sie deutlich runder werden lassen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie eine, wie Aramis fand, verdammt gute Köchin war, die sogar einem Gerstenbrei noch etwas Geschmack entlocken konnte.

Gerade begann ihre Gastgeberin, über den Sohn des Uhrmachers Dufour zu berichten, als sie die letzten Krautfäden vom Teller kratzte.

"Monsieur Dufour hätte sein Geschäft ja gar nicht aufgegeben, aber er konnte ja schon gar nicht mehr...war ja nur noch am Zittern..."

"Und sein Sohn hat das Geschäft übernommen?" Aramis stutzte. "Ich dachte er wollte studieren und Scharlatan werden..."

"Wollte er auch. Aber nachdem sein Vater eine Ewigkeit auf ihn eingeredet hatte, hat er schließlich nachgegeben."

"Gut so, als Uhrmacher kann er weniger Schaden anrichten als als Mediziner..."
 

Zur selben Zeit, als Aramis ihrem Unmut über studierte Folterknechte Luft machte, fuhr Joaquin in seinem Bett hoch. Zu guter Letzt hatte er also doch noch eine Idee gehabt. Leise schwang er sich aus dem Bett und schlich zur Tür, um seine zwei Brüder nicht zu wecken, die mit ihm in einem Zimmer schliefen.

"Madmoiselle Aramis?" Mit zusammengekniffenen Augen tappste er in die Küche. "Wisst ihr schon etwas Neues über die Leiche?"

Verschlafen ertastete Aramis den Weg zu ihrer Haustür. Sie war ihrem morgendlichen Besuch dankbar, dass er die Tür im ersten Stock gewählt hatte, wodurch ihr der Weg über die Stufen und durch die Küche erspart geblieben war. Sie war sich sicher, selbst wenn sie nicht auf der Treppe gestürzt wäre, wäre sie in der Küche über irgend etwas gestolpert, und wenn das Hindernis Tisch geheißen hätte. Andererseits, wenn sie nicht zu müde gewesen wäre, sie hätte ihm die Tür über den Schädel gezogen. Wehe er hatte keine gute Begründung für seinen verfrühten Besuch. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und machte dann auf dem Ballen kehrt, um doch noch den Weg in die Küche anzutreten. Ihr Gast kannte den Weg, sie musste ihn nicht mehr ausdrücklich hereinbitten. Statt dessen heizte sie den Ofen an, um Wasser zu kochen.

Gerade als sie nach einem der Töpfe griff, die über dem Ofen an der Wand hingen, hörte sie hinter sich ein leises Pfeifen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Sie trug eines der neuen Nachthemden, und eben jenes hatte sich soeben in undamenhafte Höhen begeben und gewährte ihm einen oder auch mehrere Blicke auf ein Paar glatter Oberschenkel. Als ob der Morgen nicht schon schlimm genug gewesen wäre.

Athos hingegen konnte sich über seinen Start in den Tag nicht beklagen. Wie könnte ein Tag besser beginnen als mit dem Anblick einer attraktiven jungen Dame? Die Zeit, die Aramis noch in ihrer Erstarrung verharrte, nutzte er effektiv, um sich die ihm unwillentlich präsentierten Kurven einzuprägen. Zugegebenermassen war es unüberlegt von ihm gewesen, diesen Laut der Begeisterung von sich zu geben, aber was konnte er schon dafür? Er war ein Mann - dessen war er sich in letzter Zeit selten so sicher gewesen wie in diesem Moment - dass musste als Entschuldigung ausreichen!

Langsam löste sich ihre Anspannung, ihre Arme und somit auch das Hemd sanken Richtung Boden und einige Sekunden später berührten auch ihre Fersen wieder die Steine. Jetzt musste sie nur noch darauf warten, dass ihr Gesicht wieder seine natürliche Blässe annahm, dann könnte sie ihre Wut verbal an ihm auslassen. Wie konnte dieser Kerl es nur wagen, ihr ungefragt auf die Beine zu gucken? Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre, dass er am frühen Morgen vor ihrer Tür gestanden hatte.

Sie holte tief Luft und machte eine halbe Drehung um die eigene Achse, um ihrem Freund eine Vielzahl von Verwünschungen und Flüchen an den Kopf zu werfen, doch noch ehe sie es zu einer vollständigen Silbe bringen konnte, fiel ihr Athos in's Wort: "Guten Morgen, Sonnenschein! Warum so schlecht gelaunt?" Seine gute Laune war beinahe beängstigend, aber seine Worte, gehüllt in eine honigsüße Stimme, wirkten wie Balsam auf die aufgebrachte Seele. "Das fragt mich jemand, der es gewagt hat, meinen Schlaf zu unterbrechen und der mir absolut unverfroren unter's Hemd glotzt? Die Frage müsste wohl eher lauten, warum bist du so gut gelaunt? Du machst mir Sorgen!" Die richtige Antwort wäre gewesen, dass sie sich letzte Nacht eindeutig am Sauerkraut überfressen hatte und der Met ihres Lieblingsnachbarn ungewöhnlich schnell eine ungewöhnlich starke Wirkung erzeugt hatte. In ihrem Magen rumorte es seit Mitternacht, in ihrem Schädel schien ein Kaltblut eine Sarabande zu tanzen und all das hatte zur Folge gehabt, dass sie in den vergangenen Stunden kaum ein Auge zugemacht hatte. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte ihm das Ausmaß ihres Katers nicht beschreiben können. Aber dem Gefühl nach mussten ihre Ohren ungefähr soweit von einander entfernt sein wie Paris von London. Mindestens.

"Warum ich gut gelaunt bin? Was ist das denn für eine Frage?"

"Eine, die nach einer Antwort schreit. Es ist ja schließlich nicht allzu häufig, dass du fast im Kreis lachst..." Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

"Ich seh' schon, wir neigen heute leicht zu Übertreibungen. Kater?"

Aramis beschloss, die Frage unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. Sie hätte ihm jetzt lang und breit - im Übrigen ein Wort, das ihren derzeitigen Zustand recht treffend beschrieb - erklären können, wie ihr gestriger Abend verlaufen war, doch sie hätte sich wahrscheinlich lächerlich gemacht, wenn sie erzählt hätte, dass ein Becher Met sie niederstrecken konnte. Also zuckte sie nichtssagend mit den Achseln.

"Haben wir schon was Neues über die Leiche?" Eleganter Themawechsel. Sie gratulierte sich selbst dafür.

"Nein, nichts. Wir werden sehen müssen, was der heutige Tag noch bringt. Auch wenn ich persönlich der Ansicht bin, dass er überhaupt nichts bringen wird ausser einer Menge Papier."

"Ich weiß, dein Pessimismus in diesem Fall ist ungeschlagen. Marmelade oder Honig in den Tee?"

"Honig. Aber es hat wirklich nichts mit Pessimismus zu tun. Ich bin einfach nur realistisch. Es ehrt dich ja wirklich sehr, dass du an die Unschuld dieses toten Dings glaubst, aber ich hätte dich wirklich nicht für so naiv gehalten."

"Sie ist kein Ding Athos." Aramis stand am Herd und beobachtete das Wasser, das langsam zu dampfen begann. Sie kratzte sich mit dem rechten Fuß die linke Wade. "Ich gehe jede Wette mit dir ein, dass irgend jemand sie vermisst..." Sie hatte sich die Leiche am Vortag genau angesehen. Die gepflegten blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, ihr Körper von mehreren Schichten Kleidung verhüllt. Einzig der dichte Unterrock war deutlich in Mitleidenschaft gezogen, wobei hier noch die Frage war, ob diese Tatsache auf Verschleiß oder Gewalteinwirkung zurückzuführen sei. Alles in Allem hatte sie auf Aramis wie eine anständige junge Dame gewirkt, wenn es sie auch nicht vor dem Tod bewahrt hatte.

"Was ich gestern ganz vergessen habe zu fragen: Wer hat sie eigentlich gefunden? Ich meine, sie wird dort kaum die ganze Nacht gelegen haben und zack, mit dem ersten Hahnenschrei hatte sie plötzlich ein überaus übelriechendes Publikum." Wenn sie ehrlich sein sollte, die Frage war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Joaquin hatte sie gestern in seiner Neugier nach dem Finder gefragt und gespannt auf eine Atwort gewartet, während Aramis überlegt hatte, was sie ihm erzählen sollte. Am Ende hatte sie sich mit dem was man heute als Datenschutz bezeichnen würde herausgeredet. Sie dürfe die Identität des Finders nicht nennen, bis der Fall abgeschlossen sei.

Athos schnaubte verächtlich. "Vielleicht versammeln sie sich ja auch morgens und suchen dann gemeinsam die Stadt ab...tatsächlich wurde sie von jemandem gefunden, der sie genauso gut dort abgelegt haben könnte. Ziemlich zwielichtige Gestalt, du hättest deine Freude mit ihm, da verwette ich meinen Kopf drauf..."

"Wann?"

"Was wann?"

"Wann hat er sie gefunden?"

"Zur Prim...was ich nicht ganz verstehe. Es kann einfach nicht sein, dass niemand sie davor gesehen hat..." Athos kreiste mit dem Zeigefinger in der Luft.

"Warum nicht? Immerhin ist es momentan bis zum Mittag dunkel! Wie soll man eine Leiche sehen wenn man grade mal die Hand vor Augen erkennt? Und bitte halt die Hände still, du machst mich nervös!" Mit ausgestreckter Zunge balancierte sie die Tassen zum Tisch und ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen.

"Du übertreibst maßlos. Immerhin hat es schon gedämmert als ich aufgestanden bin, und das ist schon fast eine Stunde her. Ganz zu schweigen davon, dass es bis zum Mittag noch ziemlich lange hin ist..." Sein Blick wanderte zum Küchenschrank, von dem er erfahrungsgemäß wußte, dass er Brot und in den meisten Fällen auch Obst beherbergte, dann glitt er vorwurfsvoll zu Aramis. Sie hätte ihm ruhig auch etwas zu Essen anbieten können. Zu dumm nur, dass ihr Verstand heute früh noch eingerollt in eine warme Decke den Rausch der letzten Nacht ausschlief. Er musste wohl in seinen Forderungen etwas deutlicher werden, auch wenn es ihm nicht gefiel, sie derart offensichtlich anzubetteln. Es war einfach unter seiner Würde. Er hieß ja schließlich nicht Porthos. Und dennoch, wenn er hier nicht innerhalb der nächsten Stunde vom Stuhl kippen wollte, musste er sich erniedrigen.

"Du hättest nicht zufällig eine Kleinigkeit zu Essen für mich?" Athos versuchte, die Worte so unauffällig wie möglich zwischen seinen Zähnen hervorzupressen, während die Augen zur Decke wanderten. Jetzt nur keinen Blickkontakt.

"Kein Frühstück gehabt?"

"Nein, aber Hunger..."

"Du klingst wie Porthos!"

"Ich weiß. Beängstigend..." Immer noch starrte er unkonzentriert zur Decke. Warum gab sie ihm nicht einfach was er wollte?

Endlich stand sie auf und bewegte sich Richtung Schrank. Und mit einem Schlag war aller Hunger der Welt vergessen und ein Bedürfnis ganz anderer Natur in ihm geweckt. Das waren sie also, diese ominösen Nachthemden. ,Sie gehen nicht bis zu den Knöcheln' hatte sie gesagt. Sie gingen nicht einmal bis über die Knie. Er wusste nur nicht so recht, wie sie in diesem kurzen Stück Stoff die frostigen Nächte überstehen wollte, aber das sollte nun wahrlich nicht seine Sorge sein. Er dankte einfach dem lieben Herrngott, mit dem er schon so lange nicht mehr geredet hatte, für die kleine freundschaftliche Geste unter Männern. Und der alte Mann war ihm heute früh unsagbar freundschaftlich gesonnen. Wenn der Tag so weiter ging würde er ihn am Ende noch als seinen besten Freund bezeichnen.

Athos lehnte sich zurück und lauschte dem Ächzen der Türen, als sie den Schrank öffnete und wieder schloß.

"Die Scharniere könnten ein bischen Fett vertragen...meinst du nicht."

"Ja sicher, aber du könntest auch einen Tritt vertragen, dafür dass du mich aus dem Schlaf reisst und ausraubst! Ich bin für beides momentan nicht in der Stimmung...zu deinem Glück."

Er hörte sie schon gar nicht mehr. Er war viel zu fasziniert von Speck, Käse und Brot, die sich ihm nun in voller Pracht darboten. Seit gestern früh - sein Frühstück hatte aus einem harten Kanten Brot und Butter bestanden - hatte er nichts mehr gegessen, was einerseits auf einen Mangel an Zeit, andererseits auf einen Mangel an Nahrungsmitteln in der eigenen Küche zurückzuführen war. Sofern es in seiner Wohnung Mäuse gegeben hatte, waren sie bereits wegen schlechter Verpflegung ausgezogen. Oder verhungert, je nach dem wie intelligent sie waren. Und wer war Schuld an dieser Misere? Die Tochter seiner Vermieterin. Seit Neuestem war sie dermaßen erzürnt über sein Desinteresse ihr gegenüber, dass sie beschlossen hatte, nicht mehr für ihn einzukaufen. Selbstverständlich bei gleichbleibenden Mietkosten. Im Moment aber, da ihn die gelb schimmernde Fettschicht des Specks verführerisch anlächelte und der Käse seinen Duft entfaltete, konnte sie ruhig bleiben wo der Pfeffer wächst.

Während er sich eine Scheibe Brot nach der anderen abschnitt und sie dick belegte, sah Aramis ihn nur ungläubig an.

"Willst du nichts?"

"Nein, ich denke nicht!" Sie aß immer noch am Sauerkraut von letzter Nacht; schon der Geruch des Specks löste in ihrem Magen Proteste aus. Jetzt wußte sie wieder, warum Völlerei eine Sünde war. "Du solltest nicht so schlingen, glaube mir." Aramis überlegte. "Vielleicht sollten wir unserem Finder mal einen Besuch abstatten. Es kann ja kaum schaden, ihm mal auf den Zahn zu fühlen, oder?"

"Durchaus nicht, aber es dürfte sich wohl schwierig gestalten, ihn zu finden. Immerhin haben wir es hier mit einem kleinen Gauner zu tun. Und in Paris einen verlausten Dieb zu finden ist nun wirklich ein Kunststück für sich." So gesehen hatte er Recht. Es würde beinahe unmöglich sein ihn zu finden. Die meisten Pariser Kleinkriminellen waren unglaublich geschickt. Sie tauchten in der Masse unter und versteckten sich in Winkeln, von denen die meisten noch nicht einmal wussten dass es sie gab. Hinzu kam, dass sie alle gleich aussahen. Nun ja, zumindest die meisten. Unterernährt, dreckig, verlaust, dass war die Beschreibung, die auf so ziemlich jeden passte. Sie konnten also nur hoffen, dass es sich bei ihrem Finder um ein besonders häßliches oder auf andere Art aussergewöhnliches Exemplar von Tagedieb handelte.

D'Artagnan war übel. Nicht, dass er morgens schon mit diesem Gefühl im Magen aufgewacht wäre, ganz im Gegenteil. Heute früh hatte er sich prächtig gefühlt. Dieser Zustand hatte sogar bis zum Mittag angehalten, war jedoch plötzlich umgeschlagen, als er sich mit dem Elend der Pariser Randviertel konfrontiert sah. Der Dunst menschlicher und tierischer Überbleibsel, vergammelnder Lebensmittel, Schimmel und Krankheit brannte in der Nase, aus Angst vor dem Geschmack wagte er es gar nicht erst, durch den Mund zu atmen; eigentlich wollte er überhaupt nicht mehr atmen. Er war sich nicht sicher mit welchen Krankheiten man noch in solch einer menschliche Gemeinschaft - oder zumindest etwas, dass als solche gehandelt werden wollte - toleriert wurde, er wollte jedenfalls keine von ihnen haben. D'Artagnan wollte weg hier, weg von den Krüppeln und den Ausgestoßenen. Warum musste ausgerechnet er mit Porthos hierher? Genauso gut hätte doch auch Aramis den Hünen begleiten können. Oder Athos. Zugegeben, Aramis hatte heute früh wirklich eigenartig ausgesehen. Während die blasse Nase mit der roten Spitze sonst von kleinen rosigen Apfelbäckchen eingerahmt wurde war ihr Gesicht diesmal einheitlich kalkweiß, ihre Augen schimmerten glasig und bettelten förmlich nach etwas Schlaf. Athos hingegen hatte ihm nur einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter verpasst und ihm gesagt dass er auch solche Erfahrungen machen müsste und ihm viel Glück gewünscht. Athos war kein Mensch der Sorte ,Viel Glück', dass wusste D'Artagnan, für ihn gab es nur Können oder Versagen. Hätte Aramis so etwas gesagt hätte es ihn nicht weiter beunruhigt, aber sie hatte nur einen Blick voller Mitleid für ihn übrig, sofern man ihn unter den verschlafenen Lidern erkennen konnte. Mit hängendem Schultern hatte er die beiden im Hauptquartier zurückgelassen und war hinter Porthos hergetrottet ohne zu wissen, was Athos mit dem ,Viel Glück' hatte sagen wollen und ohne zu ahnen was auf ihn zukam.

Inzwischen wusste er es. Viel Glück, dass du dir nicht den Tod oder noch schlimmere Krankheiten einfängst! Einige Minuten zuvor hatte eine Maus versucht ihm in den Fuß zu beißen, scheiterte jedoch am Leder seiner Stiefel. Zu allem Überfluß hielt es Porthos auch noch für angebracht, dem pelzigen Ungeziefer die Lichter auszublasen und hatte mit einem kleinen, für seine Verhältnisse gerade noch machbaren Sprung auf der Maus gestanden. Sie schaffte es nicht einmal, ein letztes entsetztes Fiepen zu vollenden, es versank mit dem kleinen Körper im Schlamm. "Diese kleinen Mistviecher sind schlimmer als die Pest!" war alles, was Porthos zu diesem Vorfall einfiel. Nun gut, er hatte nicht wirklich unrecht, immerhin waren sie und ihre größeren Brüder die Ursache des schwarzen Todes, aber was wusste er schon davon? Für ihn und alle anderen war die Pest eine Strafe Gottes für all die kleinen irdischen Sünden, wobei angemerkt werden muss, dass Porthos sich keineswegs für sündig hielt. Es waren die anderen, und er hatte es auszubaden, wenn der Herr einmal wieder strafte. Schließlich war die fleischliche Liebe keine Sünde sondern einfach eine sehr angenehme und zwingend notwendige Sache, eine Investition für's Leben quasi. Und Geschäft war keine Sünde, es sei denn man betrog den Geschäftspartner. Das selbe galt für Speis und Trank. Der Mensch musste doch essen, um zu leben. Und um nicht auszutrocknen, musste er trinken. Basta. Er tat das alles nur um zu überleben, er sündigte nicht! Und wenn doch so tat er es heimlich, damit der liebe Herrgott es nicht mitbekommt. Das Leben konnte so einfach sein wenn man Porthos hieß

Inzwischen schob sich der einem Fass gleiche Körper durch die engen Gassen und erkundigte sich nach ihrem ehrlichen Finder. Die Beschreibung durch einen der Pariser Nachtwächter fiel wie zu erwarten dürftig aus:

Ja, er sei bei ihnen gewesen und hätte ihnen von der Leiche berichtet und ja natürlich hätten sie sich sein Äusseres gemerkt. Ziemlich verlaust, mager und dreckig bis zu den Ohren und dahinter sei er gewesen. Sein Name sei Clovis gewesen, ja, wie der Merowingerkönig hätte er geheißen und man hätte das ziemlich absurd gefunden, da er ausgesehen habe wie der Rattenkönig und nein man wisse nicht wo er sich in Paris aufhalte aber er würde wohl kaum die Nähe zum Wasser suchen. An dieser Stelle brachen sowohl der befragte Nachtwächter als auch sein Begleiter in übertrieben lautes Lachen aus, man hielt sich wohl an diesem Morgen für unsagbar witzig. "Ihr seid mir ja zwei ganz besondere Spaßvögel, vielleicht solltet ihr Narren einmal vor dem König tanzen?" Porthos brachte sie schneller als ihnen lieb war wieder zu den nüchternen Fakten. Nein, besondere Merkmale habe er nicht gehabt dieser Clovis, ausser vielleicht einer riesigen Nase, die sein gesamtes Gesicht beherrsche und alle Blicke auf sich lenke. Wie groß er gewesen sei? Vielleicht etwa fünf Fuss, man war sich da nicht mehr ganz sicher. Mehr können man ihnen aber auch nicht sagen, man werde ja schließlich nicht für die Musterung von Leuten bezahlt sondern für die Sicherung der Pariser Straßen bei Nacht, dass müsse auch ein Musketier verstehen. Natürlich verstand Porthos und zog, D'Artagnan im Schlepptau, mürrisch von dannen, um sich auf die Suche nach einem kleingroßen, helldunkelhaarigen, auffälligunauffäligen Tagedieb namens Clovis zu machen, der irgendwo in Paris zu finden sein musste. Und wo lag eigentlich dieses Merowingen?

Während Porthos verzweifelt mit einer auf einen Stock gestützten krummen Alten diskutierte, ob er ihr nun etwas Böses wolle oder nicht, versuchte D'Artagnan erfolglos, sich den toten Augen eines Blinden zu entziehen, indem er unbeteiligt in den grauen Himmel starrte.

"Was soll das heißen ich will euch ausspionieren?!"

"Du willst wissen wem ich Unterschlupf gewähre!" Ihr zahnloser Mund verstümmelte die Worte, bevor sie sie unter Husten und Krächzen hinausbellte.

"Das ist mir verdammt noch mal scheißegal, ich suche einfach nur diesen verdammten Colvis!" Langsam aber sicher gewann seine Stimme an Lautstärke. Diese starrsinnige alte Henne brachte ihn in den Wahnsinn.

"Flucht nicht in meiner Gegenwart!"

"Ich fluche wann ich will!" Jetzt hatten alle Bewohner des kleinen Gässchens etwas von ihrer Unterhalten, sofern man sie noch so nennen konnte. Ohne hinsehen zu müssen wusste D'Artagnan, dass sein Freund kurz davor war der Alten den Stock aus den Händen zu reissen und ihr damit das gebogene Kreuz gerade zu prügeln. Wenn sie nicht noch mehr Aufsehen erregen wollten musste er jetzt einschreiten.

"Komm Porthos, fragen wir jemand anders!" Immer noch völlig ungerührt starrte die Alte den vor Wut bebenden Musketier an. "Ihr werden von niemandem etwas über mich erfahren!"

"Die Alte ist doch völlig übergeschnappt!" Immer noch zeterte Porthos lautstark vor sich hin, als sie um die Ecke in die nächste Gasse bogen. Hier hatten sie wirklich nichts mehr erreicht. Nach dem lauten Wettern von Spionage war keiner mehr bereit gewesen, mit ihnen zu reden, wo es doch ohnehin schon schwer genug war, in dieser Gegend jemanden zum Sprechen zu bewegen. Also versuchte man jetzt woanders sein Glück.
 

Zur selben Zeit hatte Aramis beschlossen, dass sie Athos nicht für den Rest ihres Lebens mit durchfüttern wollte und machte sich mit ihm auf den Weg zum Einkaufen. Zwar hätte sie sich jetzt viel lieber hinter dem warmen Kamin am anderen Ende des Zimmers zusammengerollt, aber sie würde keine Nacht durchschlafen, wenn sein hungriger Magen ihn jeden Morgen in der Früh zu ihr trieb. Noch saß er friedlich neben ihr auf einer Bank und ahnte nichts von seinem Glück, aber das sollte sich in den nächsten Sekunden ändern.

"Bist du schon wieder einigermaßen warm?"

"Wieso?" Betont langsam legte er das Buch beiseite. Sie wollte etwas, soviel war klar.

"Dann könnten wir ja jetzt wieder raus an die frische Luft nicht wahr?" Ein charmantes Lächeln versuchte ihn von ihrer Meinung zu überzeugen.

"Wieso?" Gab es für ihn etwas beunruhigenderes als ihr nicht folgen zu können? Seiner Stimme nach zu urteilen nicht.

"Wir gehen einkaufen!"

"Wieso?" Diese Frage war ohne Zweifel absolut überflüssig gewesen.

"Weil ich sonst in den nächsten Jahren keine Nacht durchschlafen kann, weil ich jeden Morgen damit beschäftigt sein werde dir meine geliebte Küche anzuvertrauen und weil du das schamlos ausnutzt und mich damit wahrscheinlich am Ende ruinierst. Ich hätte nie gedacht dass ich das einmal zu dir sagen müsste, aber vielleicht sollte ich einfach nach all den Jahren wissen, dass hier nichts ungewöhnlich ist. Da ich allerdings auch nicht möchte dass du mir vom Fleisch fällst oder am Ende gar jämmerlich verhungerst wirst du jetzt mit mir einkaufen gehen. So einfach ist das!"

"In der Dienstzeit?" Athos wusste, dass der Vorwurf keineswegs bösartig gewesen war, sondern zu seinem Erstaunen sogar etwas sehr liebevolles hatte, dennoch fühlte er sich durchschaut. Er hätte das Szenario von heute zu gerne auf die folgenden Tage übertragen, aber den Gedanken konnte er jetzt wohl begraben. Sie war bereit sich für seine Versorgung alles abzufrieren was man sich nur abfrieren konnte.

"Was heißt in der Dienstzeit? Natürlich in der Dienstzeit. Immerhin sind wir nicht auf dem Markt um einzukaufen, sondern um Nachforschungen über unsere Leiche anzustellen. Jetzt hab doch mal ein bischen Fantasie."

"Entschuldige dass ich für gewöhnlich einkaufen lasse. Eigentlich bist du schuld an meiner Situation, eigentlich müsstest du allein gehen, zur Strafe."

"Ich? Wieso dass denn?"

"Aus einem ganz einfachen Grund. All die Jahre hat sie es irgendwie verkraftet, dass ich sie nicht mehr beachte als nötig. Das Mädchen hatte Hoffnung dass ich vielleicht doch irgendwann verzweifelt genug bin. Und dann stellt sich heraus dass eine gewisse Person, die ständig in meiner Nähe ist - wogegen ich weiß Gott nichts einzuwenden habe - eine Frau ist. Und schon hatte sie einen schönen Grund anzunehmen, dass das mit uns im Leben nichts wird. Ergo, sie wird sauer und sucht nach einer Form der Strafe, die ihren Intellekt nicht überansprucht."

"Und deswegen bin ich schuld? Weil jahrelang das offensichtliche nicht offensichtlich genug war?" Bevor Athos etwas erwidern konnte war sie schon aufgesprungen und hatte sich Hut und Mantel gegriffen. "Kommst du jetzt endlich?"

"Das war nicht nett von dir!"

"Ich weiß! Jetzt hol endlich deine Sachen damit wir gehen können!"

Je länger sie unterwegs waren desto weniger gefiel ihm ihre Idee. Ihm lief das Wasser aus der Nase und er hatte keine Chance, an sein Taschentuch zu kommen. Er hätte es natürlich wie alle anderen auch machen und das Übel in den Ärmel wischen können, aber seine Erziehung verbot es ihm. Gerade als er versuchte, alles so geräuschlos wie möglich hochzuziehen, wedelte ihm ein blütenweißes Taschentuch vor der Nase.

"Jetzt guck nicht so, ich hab's noch nicht benutzt...und bevor du an deinen eigenen Körperflüssigkeiten erstickst, opfere ich doch lieber eins von denen hier."

Während einige Schritte hinter ihr eine Ein-Mann-Gruppe Lieder auf ihrem Taschentuch trötete, versuchte Aramis sich auf die Stimmen der Menge zu konzentrieren. Jedoch, so sehr sie sich auch bemühte, keiner der Umstehenden schien noch an die junge Frau zu denken geschweige denn über sie zu reden. Man hatte sich inzwischen wieder anderen Themen zugewandt. Irgendwo neben sich vernahm sie etwas von einem neuen Mieter in der Place Royale, verwarf die Information jedoch wieder, nachdem sie sie für unbedeutend erklärt hatte. Also wartete sie weiterhin darauf, dass das Schnauben hinter ihr endlich eingestellt wurde und sie sich wieder bewegen konnte.

"Denk dran es auszuwaschen bevor du es mir wiedergibst!"

"Wiedergeben? Von wiedergeben war doch hier nie die Rede!"

"Du willst mir doch nicht ernsthaft auch noch meine Taschentücher klauen? Reicht es nicht dass du mir die Küche leerräumst?"

"Es gab Zeiten da haben Frauen den Männer die Lappen geradezu hinterhergeworfen! Und jetzt? Muss ich mir hier sowas anhören..."

"Hört hört, der Ritter vom leeren Küchenschrank hat gesprochen!"

Athos hatte beschlossen, sich nicht weiter auf diese Diskussion einzulassen. Er würde ohnehin den Kürzeren ziehen. Also versuchte er einfach, so würdevoll wie er nur konnte auf sie herabzusehen. Immer noch zuckten ihre Mundwinkel spöttisch, sie hatte aber beschlossen, nicht weiter in der Wunde zu bohren. Statt dessen wechselte sie das Thema: "Was brauchst du eigentlich?"

"Was Essbares! Egal was..."

"Also ein bischen präziser dürfte es schon sein...Käse? Brot? Wurst? Gemüse?"

"Ja, genau!" Er grinste.

"Also gut, ich mach dir einen Vorschlag. Wir fangen mit Brot an, gehen dann zum Fleischmarkt und von dort aus zu den Obst- und Gemüsehändlern." Sie zeichnete ihre Marschrute mit dem Finger in die Luft. "Einverstanden?" Athos nickte nur stumm. Er musste einsehen, dass er hier ohne Aramis völlig aufgeschmissen war.

IV.
 

"Ihr könnt nicht ernsthaft einen ganzen Sous für so ein kleines Brot verlangen, ihr seid gierig. Ganz abgesehen davon, dass es ziemlich hart ist. Mit ein bischen Glück ist es vielleicht einen halben Sous wert, aber niemals einen ganzen."

"Dann kauft halt wo anders!"

"Ich denke ja gar nicht daran! Verkauft ihr lieber zu einem gerechtfertigten Preis!"

"Der Preis ist gerechtfertigt!"

"Monsieur ihr macht euch lächerlich. Womit habt ihr gebacken? Goldstaub?" Aramis diskutierte bereits seit einer gefühlten Ewigkeit mit einem Bäcker aus der Rue St. Genevieve, der Straße, die zum gleichnamige Kloster auf dem gleichnamigen Hügel führte, und zog mittlerweile ein beachtliches Publikum an, während Athos immer noch nicht verstand, was an einem Sous übertrieben war. Für ihn stellte es nun wahrlich keine große Geldmenge dar. Aber Aramis würde schon ihre Gründe haben. Er hoffte lediglich, dass sich diese Diskussion nicht ewig hinziehen würde, immerhin hatte er noch einiges zu besorgen und nur noch einen halben Tag Zeit. Wenn sie allerdings vor hatte, an jedem Stand um derartig lächerliche Beträge zu feilschen, wäre das Brot verschimmelt bevor er überhaupt alles beisammen hatte.
 

Während Aramis eine persönliche Meinungsverschiedenheit ausfocht, kamen Porthos und D'Artagnan ihrem Ziel einen Schritt näher. Sie waren noch einige Zeit auf der Suche nach Hinweisen durch die engen Gassen gewatet, hatten von niemandem eine konkrete Antwort erhalten und waren kurz davor gewesen aufzugeben, als sich doch noch jemand fand, der bereit war, ihnen einen Hinweis zu geben. Eine kleine, hagere Gestalt mit wässrigen blauen Augen, die sich immer wieder nervös umsahen, und schorfigem Schädel.

"Man sagte mir, ihr sucht Clovis?"

"Was, wenn dem so wäre?" D'Artagnan bemerkte mit Erstaunen das gespielte Desinteresse, das bei der Erwähnung des Namens in Porthos' Gesicht Einzug hielt. Er war wirklich ein schlechter Schauspieler.

"Nun, dann könnte ich euch vielleicht helfen. Vorausgesetzt natürlich, ich habe auch einen Vorteil davon, nicht nur Nachteile. Ihr werdet sicherlich verstehen, dass es nicht gern gesehen wird wenn man seinesgleichen in den Rücken fällt." Wieder wanderten seine Augen durch die Gegend und fast schien es D'Artagnan, als würde jedes seine eigenen Wege gehen und in die dem anderen entgegengesetzte Richtung driften.

"Natürlich! Also?"

"Tagsüber hält er sich meistens an den Landebrücken auf, er meint er könnte dort noch etwas abfangen und zu Geld machen."

"Er bestiehlt also Kaufleute..."

"Genau..."

"Und woher weißt du das so genau? Beteiligst dich wohl am Ende noch?"

"Gott verhüte Monsieur, niemals würde ich einen hohen Herrn bestehlen. Ich mach mich krumm um zu erarbeiten, was ich zum Leben benötige." Er legte die Hände vor die Brust, als würde er jeden Moment den Herrn selbst um Unterstützung gegen diese Unterstellung bitten. Noch ein schlechter Schauspieler, ging es D'Artagnan durch den Kopf.

"Natürlich! Wo können wir euch finden, um euch eure Hilfsbereitschaft zu danken?"

"Im Gasthaus mit dem roten Hund. Wisst ihr wo ihr das findet?"

"Durchaus. Wir sind häufiger dort..."

"Fein. Fragt einfach nach Cornelis, ich werde euch erwarten!"

"Natürlich!" Cornelis und die Musketiere trennten sich so unauffällig, wie sie zusammengekommen waren, jeweils mit einem zufriedenen Ausdruck auf den Zügen. Porthos hatte die Informationen, die er besorgen sollte, und Cornelis war voller Vorfreude auf eine üppige Belohnung.

"Roter Hund...ein ziemlich dämlicher Name."

"Genauso dämlich wie sein Wirt und nicht ganz so dämlich wie seine Untermieter. Wir hatten eine Zeit lang ziemlich viel Ärger mit diesem Gesindel."

"Und was wird seine Belohnung sein?" Athos hatte Recht behalten, er machte hier wirklich viele neue Erfahrungen.

"Belohnung? Machst du Witze? Der wird zum Dank neben seinem Freund am Pranger stehen."
 

In den Hallen von Paris kam ein anderer Musketier zu neuen Erkenntnissen: Auch ein starrsinniger Bäcker wurde einmal mürbe, wenn er auf ebenso starrsinnige Kundschaft traf, die nicht bereit war, den geforderten Preis zu zahlen. Aramis hatte ihr Brot für weniger als einen halben Sous bekommen und der Auslage mit erhobenem Haupt den Rücken gekehrt, während die imposante Gestalt im mehligen Hemd sichtlich in sich zusammengesunken war. Sie hatte ihn unter lautem Jubel von Mägden und Hausfrauen in Grund und Boden geredet

"Ich bin beeindruckt..."

"Vielen Dank!"

"...auch wenn ich nicht weiß, was an einem Sous übertrieben ist."

"Normalerweise nichts, aber mit diesem Brot kannst du jemandem den Schädel einschlagen."

"Soso, und warum haben wir dann kein weicheres gekauft?" Erneut tastete er sich auf der Suche nach einem Taschentuch ab.

"Aus einem ganz einfach Grund. Du wirst zu dieser Tageszeit kein weißes Brot mehr finden, schon gar nicht hier. Aber irgendwann wirst du auch das lernen!" Weißes Brot war ein Privileg der höheren Gesellschaft von Paris, die ihre Dienerschaft bereits am frühen Morgen in die Hallen schickte, um sich die besten Angebote zu sichern. Für das gemeine Volk blieben da nur die mangelhaften Waren. Fleckiges Obst, Salatköpfe mit schlaff herunterhängenden Blättern, hartes Brot und erbärmlich stinkender Fisch waren Alltag in den Töpfen der normalsterblichen Pariser. Der vielgerühmte Geschmack exotischer Früchte entfaltete sich nicht auf der Zunge eines Gerbers oder Schusters.

Es war eigenartig. Wie konnte ein so intelligenter Mann, vertraut mit der europäischen Politik und den Lehren eines Kopernikus, der neue wissenschaftliche Theorien aufsog wie ein Schwamm und Bücher las, von denen die meisten seiner Kollegen nicht einmal die Titel verstanden, an einem so einfachen sozialen Gefüge wie einem Markt scheitern?

"Warst du je in deinem Leben auf einem richtigen Markt? Sei ehrlich!"

"Du meinst zum Einkaufen?" Endlich hatte er das kleine weiße Tuch gefunden, nach dem er schon seit Minuten gesucht hatte.

"Natürlich..."

"Nein, tut mir leid. Was diese Art Märkte angeht begrenzen sich meine Erfahrungen auf die Jagd von Taschendieben." Er schnäuzte sich gut hörbar. "Mein Interesse liegt eher bei Pferdemärkten."

Aramis seufzte. Vielleicht kannte er sich mit toten Tieren ja genau so gut aus wie mit lebenden.
 

Auch D'Artagnan erwischte sich zum wiederholten Male dabei, wie er laut seufzte.

"Porthos ich verstehe das nicht! Warum sollte dieser Clovis sich hier aufhalten? Der Fluß ist fast völlig zugefroren, also wird sich auch kein Händler mit einem Schiff hierher verirren. Demnach gibt es hier auch nichts zu klauben..." Tatsächlich war der größte Fluss Frankreichs fast vollständig von einer Eisschicht bedeckt. Nur in der Mitte hatte ein schmaler Streifen den eisigen Temperaturen getrotzt; hier wälzte sich das dunkelblaue Wasser sanft rauschend Richtung Ozean.

"Glaubst du wirklich dass ein Händler anwesend sein muss, wenn man ihn berauben will? Ich denke nicht. Sieh dich doch nur mal um. Das ganze Ufer besteht aus Speichern und Kontoren. Hier findet sich immer irgendetwas, dass man zu Geld machen kann, wenn man sich nicht erwischen lässt. Sonst landet man da drüben!" Porthos Finger, der bis dahin der Reihe der Gebäude zum Horizont gefolgt war, machte eine schnelle Bewegung zum anderen Ufer. Ihnen gegenüber streckte sich ein Turm, massiv und furchteinflößend, gen Himmel. Schnell entdeckte D'Artagnan den Holzbalken, der hoch über dem Boden aus den Steinen ragte und an dessen Ende ein langes Tau befestigt war, das im Wind hin und her schwang. D'Artagnan konnte seinem Freund nicht folgen. Was hatten Diebe mit einem Kran zu schaffen, denn darum handelte es sich ja ganz offensichtlich. Ein Kran zum Entladen von Booten, wenn auch etwas unpraktisch gebaut. Aber immerhin, es hatte ein Tau, an dem man die Waren befestigte. Vergeblich suchte er nach einem Flaschenzug. Dieser Turm war wirklich ungeeignet und vermutlich schon lange ausser Betrieb. Fragend sah er Porthos an.

"Siehst du die Schlaufe da unten?" Er deutete auf das freie Ende des Taus und sah D'Artagnan erwartungsvoll an. "Da werden sie durchgefedelt und können dann auf die Landebrücken schauen bis die Raben ihnen die Augen ausgefressen haben!" Porthos legte den Kopf schief und liess die Zunge schlaff heraushängen.

D'Artagnan hatte Mühe, den dicken Kloß herunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Bis jetzt hatte er gedacht, er kenne Paris, doch was er heute zu sehen bekommen hatte ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die vielgerühmte, schillernde Dame Paris hatte ihm ihre faulige und makabere Kehrseite gezeigt. Porthos schien dies jedoch als selbstverständlich hinzunehmen:

"Du hast Pech. Normalerweise bewegt der Wind das Seil nicht so leicht. Da hängt sonst immer ein ganz ordentliches Gewicht dran. Da sieht man dass der Turm nicht ganz grade steht. Hat Athos mir erklärt. Aber im Winter sind die Vögel einfach schneller da, um sich die besten Brocken zu sichern bevor das Fleisch friert. Und je eher sie zerfressen sind, desto eher werden sie wieder abgeknüpft. Eigentlich schade. Zerfressen sind sie immer noch die beste Abschreckung."

D'Artagnan beschloss ihm zu verschweigen, dass er für diesen Umstand recht dankbar war. Sein Interesse an toten Menschen war von Natur aus gering und für die nächste Zeit schon gedeckt. Statt dessen versuchte er seine Aufmerksamkeit auf die umliegenden Gebäude zu richten. Vielleicht hatten sie ja tatsächlich Glück und dieser Clovis ließ sich hier blicken. "Und was ist, wenn er nicht bereit ist mit uns zu reden?"

"Davon können wir ausgehen denke ich. Wir müssen ihm halt gut zureden, um ihn von unseren Absichten zu überzeugen." Das war einleuchtend. Weniger einleuchtend war, warum Porthos von ,gut zureden' sprach und sich nebenbei die Fäuste strich.
 

Derweil klopfte eine knochige Hand an die Tür des Hauptquartiers und wartete auf Einlass.

Ein älterer Herr im grauen Livree öffnete und musterte ihn aus hellen Augen. Wie diese Gestalt da vor ihm stand, in sich zusammengefallen und mit blutunterlaufenen Augen, machte er weder einen sehr autoritären noch Vertrauen erweckenden Eindruck. Vielmehr schien er dem Wahnsinn verdammt nah zu sein.

"Wen darf ich melden?"

"Ludovic Menard, Monsieur. Monsieur Cormier schickt mich."

"Kommissar Cormier?"

"Oui, Monsieur!" Er machte eine leichte Verbeugung und bemerkte so nicht, dass sich das Gesicht seines Gegenübers entspannte. Wenn der Polizeikommissar ihn schickte, konnte er zumindest nicht des Wahnsinns sein.

"Tretet ein und wartet hier unten. Ich werde Monsieur de Treville melden, dass ihr hier seid." Er ließ das Häuflein Elend am Fuß der Treppe stehen und eilte - so schnell es die müden Knochen erlaubten - in das Arbeitszimmer de Kapitäns der Musketiere im ersten Stock. Dieser war, wie so häufig in letzter Zeit, missgestimmt und nicht bereit, mit irgendjemandem zu reden, und wenn es sich dabei um den König persönlich handelte. Die Kälte war ihm schon im November in die Knochen gezogen und seit dem nicht wieder verschwunden. Vor kurzem hatte er beschlossen, die unwirtlichen Temperaturen mit einem stetig brennenden Kamin und warmem, gewürztem Wein zu bekämpfen.

Entsprechend herzlich fiel auch seine Reaktion auf den Besucher aus.

"Ein gewisser Monsieur Menard wünscht euch zu sprechen..."

"Soll wieder gehen!

"Kommissar Cormier schickt ihn."

"Dann soll er erst recht verschwinden. Ich bin nicht verantwortlich für die Unfähigkeit der Pariser Polizei."

"Wollt ihr ihn nicht wenigstens anhören. Vielleicht ist es wichtig. Er macht einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck wenn ihr mich fragt!"

"Tu ich aber nicht!" Er zögerte. "Herrgott, jetzt schickt ihn schon herein. Ihr gebt ja doch keine Ruhe!"
 

Aramis strich sich nervös über den Nasenrücken. Die Zeit rann ihnen durch die Finger und die Menschenmassen vor ihnen schienen undurchdringlich. Was war nur in dieser Stadt los? Krochen die Leute nur noch aus ihren Löchern wenn es ihnen nicht mehr sofort die Zehen abfror sondern sie eine Gnadenfrist von einigen Minuten bekamen? Oder waren all diese Leute plötzlich und unter ominösen Umständen zu Geld gekommen, dass sie jetzt in Pökelfleisch anlegten? Wohl kaum. Also sollten sie doch bitte alle ganz schnell verschwinden.

"Hier muss es heute nur so vor Taschendieben wimmeln."

"Und Gott sei Dank käme nur ein absoluter Volltrottel auf die Idee, einen Musketier zu bestehlen..." Taschendiebe waren das letzte, woran sie jetzt noch denken wollte. Diebe bedeuteten Arbeit und auf die konnte sie gerade gut verzichten.

"Entschuldigung meine Herren," Aramis spürte ein zaghaftes Tippen auf ihrer Schulter, "wären sie so freundlich mich vor zu lassen?" Sie drehte sich in die Richtung, aus der die helle Stimme kam, hatte aber Schwierigkeiten, die Sprache des jungen Mädchens vor sich als Französisch auszumachen. Die Worte klangen hart und merkwürdig in die Länge gezogen, nicht wie die ihr bekannten Formen ihrer Muttersprache. Sie kannte den etwas spröden Dialekt der Alpengegend aus ihrer Kindheit und Jugend, das betörend reine Französisch, das am Hof und entlang der Loire gesprochen wurde und anhand dessen es ihr sofort möglich war, Athos' Heimat zu erkennen, die teilweise recht derbe Aussprache der Pariser. Aber nichts von alledem klang vergleichbar mit dem, was sie hier eben gehört hatte.

Immer noch sah die kleine Person sie aus großen blauen Augen an. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht 16, schätzte Aramis. Auf keinen Fall älter. Das einfache grüne Kleid war gepflegt, der Weidenkorb schon gut gefüllt. Da fanden sich einige frische Gemüse neben warmem, duftendem Brot. Und Pfirsiche. Es war beinahe unmöglich, um diese Jahreszeit an Pfirsiche zu gelangen, ohne sich zu ruinieren.

"Entschuldige, was hast du gesagt?"

"Ich fragte, ob ihr mich vielleicht vorlassen wollt, Monsieur!" Sie machte einen leichten Knicks, ohne den Blick auch nur für den Bruchteil einer Sekunde von Aramis abzuwenden.

"Monsieur?" Athos grinste. "In wessen Diensten stehst du?"

"Mein Herr ist Graf von Rosenbaum, Monsieur." Erneut machte sie einen Knicks.

"Das erklärt einiges." Athos nickte bedächtig.

"Also für mich erklärt das gar nichts. Könntest du mich vielleicht in dein Allwissen einweihen? Ich wäre dir ewig dankbar!" Aramis registrierte den verständnislosen Ausdruck auf dem Kindergesicht, überging ihn aber gekonnt.

"Hanns Friedrich von Rosenbaum."

"Und weiter?"

"Er ist der bayrische Gesandte, der in den nächsten tagen am Hof erwartet wird."

"Bayrischer Gesandter? Haben wir nicht schon einen Gesandten aus der Gegend?" Aramis gab sich nur ungern diese Blösse, aber bei all den Gesandten, die ständig am Hofe ein- und ausgingen, hatte sie schon vor langer Zeit den Überblick verloren. Ständig wurde einer abberufen und ein neuer ernannt, dass sie es schnell aufgegeben hatte, sich deren Namen und Gesichter einzuprägen.

"Nicht aus Bayern. Das ist erst seit 1623 Kurfürstentum, also erst gut zwei Jahre."

"Und da schicken die jetzt erst jemanden, der sich beim König beliebt machen soll? Hat aber lange gedauert."

"Sagen wir mal so, wenn sie zum Handeln so lange brauchen wie zum Sprechen war das schon eine Glanzleistung, innerhalb dieser Zeit alles zu organisieren." Die zarte Gestalt im grünen Kleid nickte eifrig, schien jedoch nur die Hälfte der Unterhaltung verstanden zu haben. Vermutlich war es auch besser so.

"Dann verstehe ich aber nicht, warum ich im Palast noch nichts von seiner Ankunft gehört habe!" Wieder strich Aramis sich über die Nase.

"Die Herrschaften leben nicht im Palast." Dieser Satz war schon deutlicher zu verstehen. Für Aramis war es jedoch schon ein Wunder, dass die Bediensteten des Gesandten überhaupt ein Wort Französisch sprachen. Das war keinesfalls die Regel.

"Sondern?"

"In der Place Royale," sie dachte kurz nach. "Heißt das so? Place Royale?" Aramis nickte, auch wenn sie lieber gelacht hätte. Der Dialekt dieses Mädchens klang einfach grotesk.

"Lasst ihr mich nun vor, Monsieur?"

"Madmoiselle! Und nein, ich lasse dich nicht vor." Unter anderen Umständen hätte sie durchaus die Freundlichkeit besessen, aber im Moment war ihr einfach nur kalt und sie wollte jede Verzögerung in der Abarbeitung ihres Plans vermeiden.
 

Der alte Mann vor ihm sah tatsächlich erbärmlich aus. Hätte Treville es hier mit einem Hund und nicht mit einem Menschen zu tun gehabt, er hätte ihn erschießen lassen. Die nassen, roten Augen saßen tief in den dunklen Höhlen, die lange schmale Nase lief in einem fort, die Lippen, bis eben noch hellblau, waren blass und die Wangen eingefallen wie Dörrobst. Aber seine Kleidung war ordentlich. Kein besonders gutes Tuch, aber auch nicht schäbig.

Ganz offensichtlich fiel es dem Kapitän schwer, ihm in's Gesicht zu sehen, während er auf einen Laut wartete. Statt dessen versuchte er, sich auf Monsieur Menards Hände zu konzentrieren. Ludovic Menard hatte seine Hände im Schoß gefaltet, in der Hoffnung, so ihr Zittern zu unterdrücken. Er war gescheitert und machte jetzt den Kapitän mit den unkontrollierten Zuckungen nervös.

"Was kann ich für euch tun, Monsieur?"

"Monsieur Cormier hat mich zu euch geschickt, er sagte mir, dass ihr mir vielleicht helfen könntet."

"Das kommt auf euer Problem an. Ich hoffe ihr seid euch der Tatsache bewußt, dass wir uns nicht mit jeder Kleinigkeit befassen können, die irgendeinem Untertan seiner Majestät des Königs auf die Nieren drückt." Er wurde in den letzten Wochen nicht müde zu erwähnen, wem die Musketiere eigentlich dienten.

"Durchaus, Monsieur."

"Also? Weswegen hielt man uns für geeigneter, euch zu helfen?"

"Nun, Monsieur, meine Tochter ist gestern Abend nicht nach Hause zurückgekehrt, und ich mache mir Sorgen. Ich muss euch wohl nicht sagen, wie gefährlich diese Stadt ist, besonders bei Nacht, und ich habe Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte." Langsam wurde de Treville hellhörig. Wie viele Väter in Paris konnten ihre Tochter schon seit letzter Nacht vermissen? "Sie ist ein gutes Mädchen müsst ihr wissen. Sie ist nie einfach von zu Hause weggeblieben, meine Manon. Und auch in der Nachbarschaft hat sie keiner gesehen. In der Wäscherei war sie heute früh auch nicht. Sie arbeitet nämlich dort, müsst ihr wissen. Sie verdient uns ein kleines Zubrot, damit wir über den Winter kommen." Treville war nicht an der Lebensgeschichte der Familie Menard interessiert, also beschloss er den besorgten Vater zu unterbrechen.

"Wie alt ist eure Tochter?"

"19, Monsieur."

"Könntet ihr sie beschrieben?"

"Sehr gerne Monsieur. Manon ist ungefähr so groß wie ich," Er stand auf und Treville schätzte ihn auf knapp 5 Fuß, "helles Haar, blaue Augen und das Kleid aus dunkelbraunem Stoff. Nichts besonderes, wisst ihr, wir sind nicht so reich, dass ich ihr ein schönes Kleid kaufen könnte. Ach ja, und sie trägt eine kleine weisse Haube. Sie ist verlobt, müsst ihr wissen. Ein sehr anständiger Kerl." Trug das Mädchen eine Haube, als seine Musketiere sie fanden? Treville wusste es nicht. Aber so ein Häubchen konnte schnell verloren gehen. Es war also nicht von all zu großer Bedeutung.

"Hält sie sich vielleicht bei ihrem Verlobten auf?" Treville sah, wie sich die müden Augen vor Entrüstung weiteten.

"Monsieur, ich sagte doch bereites, dass meine Tochter ein anständiges Mädchen ist. Sie würde nicht einmal einen Gedanken an so etwas verschwenden." Die rauhe Stimme begann, sich zu überschlagen, dann wurde er wieder still. Treville kannte diese anständigen Mädchen. Man sah sie an und war sich sicher, sie könnten kein Wässerchen trüben, weil diese großen blauen Augen einen so vertrauensvoll ansahen und das blonde Haar den Heiligenschein zu ersetzen schien. Und am nächsten Tag standen sie in Uniform vor einem und...Treville schüttelte den Kopf.

"Könntet ihr mir den Namen ihres Verlobten nennen? Vielleicht erfahren wir durch ihn mehr über den - ," Treville holte tief Luft. "- Verbleib ihrer Tochter." Für Treville war klar, dass er den Namen seiner Leiche soeben auf dem Präsentierteller geliefert bekommen hatte, aber er war nicht bereit, diesen alten Mann über den Verlust seiner Tochter in Kenntnis zu setzen. Das würde er den Mitarbeitern des Hospitals überlassen, in dem seine Tochter aufbewahrt wurde.

Seit einigen Minuten schon starrte Treville fassungslos vor sich hin. Er hatte beide Hände auf die Stirn gelegt und sich dann langsam nach vorne fallen lassen, bis seine Ellenbogen auf die Tischplatte trafen. Das durfte alles nicht wahr sein. Athos hingegen wartete auf ein Lebenszeichen seines Kapitäns, das die peinliche Stille im Raum beenden würde. Nach einer Weile jedoch beschloss er, ihr selbst ein Ende zu setzen.

"Kapitän?"

"Athos sag mir, dass das alles nicht wahr ist!" Der ergraute Kopf löste sich aus der Umklammerung der Finger, die dunklen Augen suchten den Blick des Angesprochenen.

"Was, Kapitän?" Jetzt verstand er gar nichts mehr. War der Wein nicht gut gewesen? War der Kapitän der Musketiere betrunken? Oder war es die unerträgliche Hitze in seinem Büro, die ihn verwirrt erscheinen ließ?

"Heute nachmittag war ein älterer Herr hier. Der Polizeikommissar hatte ihn hierher geschickt, weil er seine Tochter suchte und Monsieur Cormier sicherlich derselben Ansicht war wie ich. Dass er der Vater des Mädchens ist, das wir am Pont Neuf gefunden haben. Er erzählte mir, dass er seine Tochter seit gestern Abend vermisst, wie sie heißt und allen möglichen Kram, der mich kein bischen interessiert hat. Du weißt, ich bin momentan dankbar für jede ruhige Minute die man mir zugesteht." Athos nickte. Das wußte jeder im Hauptquartier. "Nun, jedenfalls war ich so sehr darauf fixiert, ihn wieder loszuwerden, dass ich eine entscheidende Sache nicht beachtet habe!" Treville machte eine dramatische Pause. "Das Mädchen, von dem ich dachte es wäre seine Tochter, ist schon seit zwei Tagen tot. Ergo, das Mädchen vom Pont Neuf kann nicht die Tochter von Monsieur Menard sein. Sonst würde das bedeuten, Monsieur ist verwirrter als ich und hat nicht bemerkt, dass seine Manon auch in der Nacht davor schon gefehlt hat. Und wir beide wissen, wie unwahrscheinlich das ist."

"Das kommt darauf an, wo Monsieur sich nachts herumtreibt, meint ihr nicht? Wäre es nicht durchaus denkbar, dass er in der Nacht, bevor er das Verschwinden seiner Tochter bemerkt hat, betrunken nach Hause kam, ohne sich der Anwesenheit seiner Tochter zu vergewissern eingeschlafen ist und dann bis gestern mittag durchgeschlafen hat. Als er dann aufgewacht ist nahm er einfach an, dass seine Tochter bereits das Haus verlassen hatte, um einzukaufen oder sich mit Freundinnen zu treffen. Dann wäre es nicht weiter verwunderlich, dass er sie erst seit gestern vermisst."

"Das ist doch absurd." Treville fuchtelte abwehrend mit den Händen.

"Mindestens so absurd wie ohne jeden Grund anzunehmen, dass es sich bei der entlaufenen Tochter dieses Mannes um unsere Leiche handelt, nicht wahr? Vermutlich ist sie mit ihrem Liebhaber durchgebrannt oder ähnliches."

"Seine Beschreibung passte perfekt. Was hätte ich denn tun sollen? Ihn um ein Porträt fragen?" Er richtete sich zu voller Größe auf, um gleich darauf wieder in sich zusammenzufallen. Mit dem Liebhaber durchgebrannt? Natürlich, das war es. Er würde einfach einen seiner Musketiere zu dem jungen Mann schicken, den Monsieur Menard als den Verlobten seiner Tochter angegeben hatte. Dieser würde dann feststellen, dass dessen Wohnung leerstand und die Sache hätte sich von selbst gelöst. Doch da fiel ihm erneut Athos in's Wort:

"Wisst ihr, was meine Theorie stützt?" Athos konnte ein Grinsen nicht verbergen.

"Welche Theorie?"

"Das Monsieur in der Nacht des Verschwindens seiner Tochter gar nicht zu hause war..."

"Nein, aber du wirst es mir wohl sagen?"

"Nur zu gerne. Der Fund der Leiche hatte sich innerhalb weniger Stunden zum Stadtgespräch entwickelt. Als Aramis und ich am Fundort eintrafen, wusste bereits ihre gesamte Nachbarschaft darüber bescheit."

"Wann war das ungefähr?" Treville hob die Augenbrauen. Die Worte ,Aramis und ich' aus Athos' Mund machten ihn immer wieder nervös.

"Vormittags!" Er würde sich hüten eine konkrete Uhrzeit zu nennen. "Aber wie es nun einmal ist in dieser Stadt, Geschichten kommen und verschwinden, bevor sie sich in den Köpfen der Menschen festsetzen können. Selbst in den Hallen wurde heute kein Wort mehr über sie verloren. Wenn sich Monsieur Menard also vor zwei Tagen tatsächlich selig getrunken hat, hat er bis gestern Mittag durchgeschlafen. Und danach wird er sicherlich einen Teufel tun und vor die Tür gehen. Er wird sich in seine kleine dunkle Kammer verkrochen und darauf gewartet haben, dass sein Töchterchen nach Hause kommt und ihn bemuttert. Jedwedes Gerücht über Leichen und ähnliche Dramen dürften also spurlos an ihm vorbeigegangen sein." Regungslos endete er in seinen Überlegungen. Und während er auf eine Antwort wartete dachte er darüber nach, wie unrealistisch all das jetzt geklungen haben mag und sah er dabei zu, wie es hinter der faltigen Stirn des Kapitäns arbeitete.

"Was hast du in den Hallen verloren?" Das durfte doch nicht möglich sein. Er redete sich den Mund lahm, um seine Gedanken für den Kapitän verständlich zu machen und alles, was in seinem Hirn ankam waren die Hallen. Vielleicht sollte man diesen Mann mal für ein paar Minuten vor die Tür stellen, damit er etwas frische Luft atmen konnte.

"Wir hatten Hoffnung, noch etwas über das Mädchen zu erfahren."

"Wer sind ,Wir'?" Warum fragte er eigentlich? Die Antwort war so klar wie die Suppen, die seine Haushälterin für gewöhnlich kochte.

"Aramis und Ich. Warum?"

"Pures Interesse..." Trevilles Finger umkreisten seine Schläfen. Gab es irgendetwas, was die beiden nicht inzwischen zusammen machten? ,Hoffentlich', schoß es ihm durch den Kopf. "Gibt es etwas Neues von Porthos und D'Artagnan?"

"Ich denke schon. Zumindest hatten sie jemanden im Schlepptau, als sie vorhin hier ankamen. Genaueres weiß ich aber auch noch nicht. Soll sich einer von uns mal bei ihrem Verlobten umhören? Vielleicht weiß er ja etwas..."

"Jaja, macht das!" Seine Gestiken zeugten von deutlichem Desinteresse. "Und sag Porthos, dass er hier antanzen soll, sobald sie etwas wissen."
 

Clovis wollte schreien. Oder rennen. Oder schreiend wegrennen. Doch er traute sich weder das eine, noch das andere, geschweige denn letzteres. Statt dessen versuchte er, sich so tief wie möglich in die Stuhllehne zu drücken. Er gehörte nicht zu den Leuten, die Angst bekamen; er hatte es sich abgewöhnt. Immerhin war das letzte, was er nachts in den dunklen Ecken der Stadt brauchen konnte Angst, die ihn am Arbeiten hinderte. Angst, erwischt oder um Beute und Leben gebracht zu werden. Bisher hatte er immer Glück gehabt. Um so mehr war er jetzt verunsichert, da er sich umzingelt sah von Musketieren. Clovis wusste genau, dass sie nicht für einfache Diebstähle zuständig waren, es sei denn sie spielten sich direkt vor ihrer Nase ab. Aber diese beiden hatten ganz offensichtlich gezielt nach ihm gesucht. Und er wusste nicht warum; dass war es, was ihn am meisten beunruhigte.

"Weißt du, warum du hier bist?" Porthos wanderte vor ihm auf und ab, darum bemüht autoritär und intelligent zu wirken, während D'Artagnan und Aramis in einer Ecke saßen und schwiegen.

"Nein, Monsieur!" Clovis würde seine Hände vermissen. Wenn man erst einmal in die Fänge der Justiz geraten war, verließ man sie erst nach dem Verlust einer oder beider Hände. Im günstigsten Fall.

"Stimmt es, dass du vor zwei Tagen die Leiche einer jungen Frau gefunden hast?"

"Ja, Monsieur." Das war es? Er war hier wegen dem Mädchen? Hielt man ihn am Ende gar für den Mörder? Clovis spürte, wie sich die unsichtbare Schlinge um seinen Hals langsam zuzog.

"Wann war das?"

"Wie ihr sagtet, Monsieur. Vor zwei Tagen..."

"Ich meine die Tageszeit!"

"Gegen sechs Uhr morgens, Monsieur." Es widerstrebte ihm, sich derartig demütig gegenüber dem Musketier zu zeigen, aber wenn er seinen Kopf retten wollte, blieb ihm nicht viel übrig. Sein Leben mochte erbärmlich sein, aber es war sein leben und er hing doch sehr daran.

"Wart ihr allein?" Das war eine gute Frage. Wirklich intelligent, wie Porthos fand. Er war stolz auf sich. So stolz, dass sich für einen Moment ein dümmliches Grinsen auf seinem Gesicht breit machte, dass auch D'Artagnan und Aramis nicht verborgen blieb.

"Natürlich, Monsieur!" Natürlich war er allein gewesen. Er brauchte keine Mitwisser, die ihn jederzeit an den Pranger oder Galgen bringen konnten, um alle Schuld von sich selbst zu weisen. Schlimm genug, dass sein alter Sauffreund Cornelis über seine nicht ganz gesetzlichen Machenschaften Bescheid wusste. Nicht dass er selbst besser gewesen wäre. Cornelis pflegte sich durch's Leben zu spielen. Er betrog seine Mitspieler, wo er nur konnte und zog ihnen das Geld Säckchenweise aus den Taschen. Besonders pflegte er das Spiel mit gezinkten Karten, nachdem man ihn wiederholt mit falschen Würfeln erwischt hatte. Sicherlich hatte Cornelis ihn verpfiffen und sobald er, Clovis, diese Befragung hinter sich gebracht hatte, würde er ihm ordentlich den kranken Schädel polieren. Porthos gingen indes die Fragen aus. Er war so begeistert von seiner letzten Frage gewesen, dass er prompt alle anderen vergessen hatte. Hilfe suchend drehte er sich zu seinen beiden Freunden; immer noch schweigend und betont desinteressiert starrte der eine an die Decke, die andere aus dem Fenster in den Himmel. Es würde wohl wieder Schnee geben.

"Aramis!" Leise reden gehörte nicht zu Porthos Stärken, trotzdem versuchte er sich im Flüstern. "Aramis!" Entnervt zog er ihren Namen immer weiter in die Länge.

"Was denn?" Es war lächerlich, das gebrüllte Flüstern der beiden Musketiere hätte man mit etwas gutem Willen noch auf dem Flur hören können, dennoch ließ sie sich darauf ein. Es gab sonst schließlich nichts zu lachen.

"Was soll ich ihn fragen?"

"Frag ihn nach dem Fundort. Ob ihm irgendetwas aufgefallen ist!" Porthos nickte wissend.

"Ist dir irgendetwas besonderes aufgefallen, als du die Leiche entdeckt hast?"

"Sie war schon tot!"

"Davon gehen wir aus!" Aramis runzelte die Stirn. "Irgendwelche Fußabdrücke, Kampfspuren, Wertgegenstände die aus Versehen ihren Weg in deine Taschen gefunden haben?"

"Nein, Madmoiselle. Keine Kampfspuren. Nur ein Paar Fußabdrücke..." Als ob er sich nicht vor einem Toten ekeln würde. Wer weiß, woran sie gestorben war; er müsste ziemlich dämlich sein, würde er sein Leben für ein bischen Geld auf's Spiel setzen, Nein, Tote waren ihm definitiv zu heiß.

"Wie sahen sie aus?"

"Ich weiß es nicht mehr, ich schwöre bei Gott." Schnell bekreuzigte er sich.

"Ja ja, was auch immer. Und du bist dir ganz sicher, dass dort kein Kampf stattgefunden haben kann?"

"Ich denke schon...natürlich kann ich das nicht richtig beurteilen!"

"Natürlich nicht!" Aramis hatte genug gehört. Wenn dieser Taschendieb die Wahrheit sagte, würde sich ihre Vermutung bestätigen und das Mädchen war schon tot, bevor man sie an der Seine abgelegt hat. Das machte die Sache allerdings kein Stück einfacher. Ganz im Gegenteil, wenn dem so wäre, müssten sie den Tatort finden, ein Ding der Unmöglichkeit. Sie würde mit Athos alles weitere besprechen.

Monsieur Menard lag bewußtlos am Boden. Der Anblick seiner toten Tochter hatte ihn ohne jede Vorwarnung nach hinten kippen lassen. Mit einem dumpfen Geräusch war er auf die kalten Steine aufgeschlagen und hatte sich seit dem nicht mehr gerührt.

In der Mitte des kühlen Raumes lag Manon Menard, gewaschen und in ein einfaches Leichentuch gehüllt.

Die graue Haut wirkte wie von einer dünnen Schicht Wachs überzogen, erste dunkle Flecken hatten sich über den Körper verteilt. Nur der Kühle in dem dunklen Gemäuer war es zu verdanken, dass ihr Körper sich nicht schon aufgebläht hatte.

Bruder Claudius tätschelte vorsichtig Monsieur Menards Wangen. Er musste so schnell wie möglich dafür sorgen, dass er wieder zu sich kam, andererseits müsste er ihn in's Hospital bringen lassen, das dank des harten Winters ohnehin schon überfüllt war. Claudius wagte jedoch zu bezweifeln, dass dies der Gesundheit des alten Mannes zu Gute kommen würde. Noch schien er körperlich gesund zu sein, was sich jedoch schnell ändern konnte, käme er erst einmal in Kontakt mit den Lungen- und Magenkranken, die Opfer der Kälte geworden waren. Ehe die Gedanken des Mönches noch weiter abschweifen konnten, schlug Monsieur Menard die Augen auf.

"Geht es euch gut?"

"Nein, natürlich nicht!" Es war schwierig, unter all dem verzweifelten Schluchzen einen Satz zu finden.

Bruder Claudius zog die dünnen Augenbrauen zusammen. Seine Frage war dumm gewesen. Wie konnte er einen Vater, der sich gerade eines solchen Verlusts bewusst wurde, etwas derartig Dummes fragen. Natürlich ging es ihm nicht gut. Er versuchte es erneut: "Kann ich irgend etwas für euch tun?"

Monsieur Menard hörte ihn nicht. Er saß immer noch starr auf dem kalten Fußboden, einen dümmlichen Ausdruck im Gesicht und den Blick in's Leere gehend. Was war sein Leben jetzt noch wert? Er war kaum noch in der Lage zu arbeiten, er würde nicht genug Geld haben um zu überleben. Er würde verhungern, noch diesen Winter. Jetzt schlug er die Hände vor's Gesicht und begann bitterlich zu jammern und zu schluchzen. Rotz und Wasser liefen ihm über's Gesicht, um Sekunden später in einem seiner Hemdsärmel zu landen. Mit dem Tod seiner Tochter war sein eigenes Schicksal so gut wie besiegelt. Dort lag seine Altersversorgung auf einem steinernen Tisch, nackt, entehrt und tot wie eine Fasan auf der königlichen Speisetafel.

"Ich möchte gehen!" Nach einiger Zeit erhob er sich, immer noch heulend wie ein getretener Hund, vom Boden ohne sich die Mühe zu machen, den Dreck von den Kleidern zu klopfen und trottete in Richtung Ausgang.

"Soll euch einer der Brüder begleiten?" Claudius erhielt keine Antwort. "Oder möchtet ihr ein Mittel zur Beruhigung?" Doch Monsieur Menard hatte die Gebäude des Hospitals bereits verlassen.
 

Der Verlobte der toten Madmoiselle Menard bewohnte ein Zimmer in seinem Elternhaus - einer Kneipe - in einer engen Seitenstraße mitten im Quartier Latin. Dorthin verirrten sich regelmäßig die vielen mittellose Studenten des Stadtteils um zu trinken und sich gegenseitig die Taschen vollzuhauen mit Weibergeschichten und Scheinwissen. Anschließend zogen sie besoffen um die Häuser, weckten schlafende Nachbarn mit vulgären Gesängen und verschliefen dann den nächsten Tag, an dem sie eigentlich in einer Vorlesung hätten sitzen sollen. Die wenigsten von ihnen konnten nach dem Studium behaupten, sie hätten in Paris akademisches Wissen erlangt. Sie kamen, um Medizin und Theologie zu studieren und verließen die Stadt mit dem Wissen um Hurerei, Alkohol und Spiel. Ein Wissen, von dem sie ihr Leben lang zehren würden.

Es war inzwischen kurz nach Mittag und Aramis musste erkennen, dass sie einen Fehler begangen hatte als sie Porthos bat, sie zu begleiten. Seit einigen Minuten schon quängelte er wie ein kleines Kind. Er hatte Hunger und drohte damit, in absehbarer Zeit in Ohnmacht zu fallen, wenn er nichts zu Essen bekäme. Seine letzte Mahlzeit lag immerhin schon zwei Stunden zurück und hatte nur aus einigen Stücken Brot bestanden. Ein Mann wie er, hatte er Aramis erklärt, brauche das zur Gesunderhaltung. Und sie würde sicher nicht wollen, dass er verhungert.

Sie hatte ihm verschwiegen dass der Gedanke manchmal überaus reizvoll auf sie wirkte.

Beim Betreten der Kneipe gab Porthos' Bauch ein fröhliches Gluckern von sich. Es roch nach gebratener Ente und Klößen und Aramis wußte nur zu gut, dass ihr Freund in diesem Moment im eigenen Speichel zu ertrinken drohte.

"Darf ich den Musketieren etwas bringen?" Der Wirt war von seinem Stuhl in einer Ecke des Schankraums aufgesprungen und tänzelte mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Es war allgemein bekannt, dass die Leibwache seiner Majestät nicht nur gut aß, sonder auch gut zahlte. Was man von den Studenten wahrlich nicht behaupten konnte. Sie aßen zwar mindestens genauso gut, zahlten dafür aber um so seltener. Er roch es deutlich: Hier lauerte ein gutes Geschäft auf ihn. Und wenn es nach Porthos gegangen wäre, hätte er es auch bekommen. Aramis machte beiden schnell einen Strich durch die Rechnung: "Gehört euch dieses Haus?"

Das Strahlen verschwand aus dem dicken Gesicht des Wirts. "Ja..."

"Demzufolge seid ihr also Monsieur Evrard?"

"Ja." Er stockte. "Egal was man euch erzählt hat, ich bin ein anständiger Mensch. Ich versichere euch, ich biete nur Speis und Trank an, sonst nichts." Er faltete die Hände zu einer flehenden Geste. "Bei mir gibt es keine Mädchen, bitte glaubt mir!" Aramis hörte solche Beteuerungen nicht zum ersten Mal. Viele Gastwirte boten ihren Besuchern einen besonderen Dienst an, wohlwissend, dass es verboten war. Huren hatten sich nur in bestimmten Bereichen der Stadt aufzuhalten, in denen sie andere Menschen durch ihre Anwesenheit nicht belästigen konnten. Aber das war ihr heute egal. Er hätte den ganzen Dachboden voller käuflicher Damen haben können, deswegen war sie nicht hier.

"Ist euer Sohn im Haus?" Monsieur Evrard nickte. Sein Mund war zu trocken als das er hätte antworten können. Dafür war sein Körper schweißnass. Und seine Situation verbesserte sich keineswegs, als er die gespannte Haltung seines Gegenübers beobachtete. Aramis hatte die Arme vor der Brust verschränkt, fordernd eine Augenbraue nach oben gezogen und wippte gelangweilt mit dem Fuß auf und ab. "Könntet ihr ihn dann vielleicht holen?" Der Wirt nickte und verschwand wankend hinter einer Tür.

"Ist er betrunken?" Porthos kratze sich an der Nasenspitze.

"Nein, ich denke er hat einfach nur die Hosen voll..."
 

Bruder Claudius ließ sich langsam in den ihm angebotenen Sessel gleiten. Kapitän de Treville hatte seine Bitte um ein Gespräch abgelehnt, aber jemand anderes schien sich dafür um so mehr für ein Gespräch mit ihm zu interessieren.

Er und sein Gegenüber mussten im selben Alter sein. Bruder Claudius war ihm zwar schon häufiger begegnet, aber er hatte bis jetzt nie die Möglichkeit gehabt, ihn genauer zu betrachten. Ob sein Haar wohl auch noch so voll wäre? Mit der linken Hand fuhr er sich über die Tonsur. Wohl kaum. Sein Haar war nie so kräftig gewesen. Und nie hatte es so im Licht geglänzt. Seine ganze Erscheinung war nicht annähernd so imposant wie die des Edelmannes, der ihn nun seinerseits aus intelligenten grauen Augen musterte. Claudius selbst war so unauffällig, wie ein Mensch nur sein konnte. Die blasse Haut und die weichen Gesichtszüge ließen ihn immer etwas kränklich erscheinen; ein Eindruck, der durch den schlacksigen Körperbau noch verstärkt wurde. Nichtsdestotrotz war er ein intelligenter Mann, der nur selten krank wurde, obwohl er täglich mit Kranken zu tun hatte. Eine Sache, auf die er zu Recht stolz war. Er wußte, bei welcher Krankheit welche Pflanzen halfen und wie er Verletzungen behandeln musste, damit sie sich nicht entzündeten. Und er kannte sich mit Toten aus. Deswegen war er jetzt hier. Man hatte ihn gebeten, die junge Frau noch einmal genauer auf Flecken, Prellungen und Hautabschürfungen zu untersuchen. Es war nicht das erste Mal, dass die Musketiere oder die Polizei ihn um eine Obduktion baten, aber er verspürte jedes Mal auf's Neue eine innere Unruhe, wenn sie eine Leiche in sein Kloster brachten.

"Nun?" Athos' Stimme durchbrach die Stille.

"Verzeiht, natürlich!" Der Mönch strich sich durch den dünnen Kinnbart. "Ich bin hier, um euch die Ergebnisse meiner Untersuchung mitzuteilen. Das heißt, eigentlich wollte ich sie dem Kapitän mitteilen, aber er scheint momentan etwas...unpässlich."

"Er benimmt sich wie ein altes Weib. Ständig desinteressiert, nur mit Meckern beschäftigt und überhaupt ist die Welt so furchtbar kalt. Man mag nicht mehr in sein Büro gehen aus Angst dass man austrocknen könnte."

Claudius war überrascht über diese Antwort. Scheinbar gingen hinter den so streng geordneten Wänden des Hauptquartiers Dinge vor sich, von denen noch niemand etwas ahnte. Sollte in nächster Zeit etwa ein anderer auf dem verantwortungsvollen Sessel des Kapitäns sitzen? Denkbar war es. Dieser Athos war zwar noch sehr jung im Vergleich zu anderen, die vor ihm an die Spitze der Leibgarde getreten sind, aber wahrscheinlich auch intelligenter als die meisten von ihnen. Claudius würde die weitere Entwicklung in dieser Sache im Auge behalten. "Was ihr nicht sagt. Vielleicht ist er krank?"

"Vielleicht. Aber bis jetzt hat er keinen Arzt kommen lassen. Könntet ihr unter Umständen...? Er wird nämlich von Tag zu Tag unausstehlicher und ich möchte mich nicht ständig nur um sein Wohlergehen kümmern müssen...ausserdem bleibt seine ganze Arbeit an mir hängen."

"Ich werde mich nach unserem Gespräch um ihn kümmern. Kommen wir nun aber zu dem, weshalb ich hier bin." Vielleicht war der Musketier doch nicht so versessen auf eine Beförderung. "Ich nehme an, dass ihr über die Herkunft und Familiensituation der jungen Dame informiert seit?"

"Relativ. Verlobt, hat mit ihrem Vater zusammengelebt, wenn ich mich nicht irre." Jetzt würde sich zeigen, ob seine Theorie eine Chance hat.

"Genau. Monsieur Menard, ihr Herr Vater, war heute morgen bei mir. Er ist beim Anblick seiner Tochter in Ohnmacht gefallen und anschließend nach Hause gewankt." Athos hörte gespannt zu. Vielleicht konnte das den Kapitän ja etwas aufheitern. "Ich wollte ihm noch einen Bruder als Begleitung nachschicken, aber da war er schon verschwunden. Hoffentlich ist er sicher an sein Ziel gekommen. Es muss ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein."

"Sicher. Was habt ihr über den Tod des Mädchens herausfinden können?"

"Nun, ich habe an ihrem Körper mehrere Blutergüsse entdecken können. An den Handgelenken, den Oberarmen, am rechten Oberschenkel und zu guter Letzt am Hinterkopf. Sie muss irgendwo hart aufgeschlagen sein, eine Tischkante oder ähnliches. Dazu kommen unzählige Hautabschürfungen überall am Körper, besonders an den Handgelenken. Sie muss gefesselt worden sein."

"In ihrem Gesicht war nichts zu finden?"

"Nein Monsieur."

"Ihr sagtet sie ist auf etwas Hartes aufgeschlagen. Könnte man ihr nicht auch einen Schlag versetzt haben? Mit einem Knüppel oder etwas ähnlichem?"

"Ich halte das für unwahrscheinlich. Der Schlag liegt sehr tief, ungefähr hier." Er deutete auf den Übergang zwischen Wirbelsäule und Schädelknochen. "Hätte man sie erschlagen wollen, hätte man den Schlag sicherlich höher angesetzt. Man kann einem den Schädel nicht zertrümmern wenn man auf den Nacken einprügelt. Ich denke nicht, dass der Schlag in's Genick beabsichtigt war. Das dürfte ein Missgeschick gewesen sein."

"Was ist mit den Blessuren am Oberschenkel? Wurde sie vergewaltigt?"

"Davon können wir ausgehen denke ich. Es spricht zumindest alles dafür. Die zerrissenen Kleider, die Blutergüsse und die gefesselten Handgelenke. Des Weiteren habe ich bei ihr noch einigen Schmuck gefunden. Einen Ring und eine Kette mit Anhänger, um genau zu sein. Ein Räuber hätte sich wohl erst am Reichtum und dann am Fleisch bedient." Athos nickte. "War der Aufschlag auf was auch immer tödlich? Oder war ihr Tod tatsächlich ein Unfall?"

"Das kann ich Euch leider nicht sagen. Für einen Mann wäre der Schlag wahrscheinlich nicht gefährlich gewesen. Bei einer jungen Frau bin ich mir nicht sicher..." Athos atmete tief ein. Wieder ein Fall wie jeder andere.

"Wenn das alles war, würde ich mir jetzt gerne einmal den Kapitän ansehen. Vielleicht kann ich ihm ja helfen."
 

"Seid ihr Henry Evrard?" Aramis musterte den jungen Mann ausgiebig. Im Gegensatz zu seinem Vater war er von hohem, schlanken Wuchs und, wie sie anerkennend feststellte, durchaus ansehnlich. Sein Gesicht war schlank und wurde von einem Paar großer, grüner Augen beherrscht, die einen angenehmen Kontrast zu den kupferfarbenen Haaren bildeten.

"Ja." Er zupfte nervös an seinem Hemdsaum.

"Stimmt es, dass ihr mit Marie Menard verlobt seid?" Aramis näherte sich unausweichlich dem unangenehmsten Teil ihres Besuchs. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort.

"Ja." Ein wenig eintönig waren die Antworten der Evrard-Männer, aber somit auch für Porthos verständlich.

"Dann würde ich Euch bitte, sich hinzusetzen."

"Warum?" Er griff nach einem Stuhl und ließ sich fallen.

"Wann habt ihr sie das letzte Mal gesehen?"

"Vor einer Woche. Warum?" Langsam begann Henry, sich seine eigenen Gedanken zu den vielen Fragen der Musketiere zu machen. War ihm seine Verlobte am Ende davongelaufen? Nein, das konnte nicht sein. Schließlich war sie ihm versprochen. Und er liebte sie. Das wußte sie. Und sie hatte ihm oft genug gesagt, was sie für ihn empfindet.

"Sie ist tot!" platzte Porthos heraus. Ihm ging dieses ständige Frage und Antwort - Spiel schon seit geraumer Zeit auf die Nerven und je eher sie damit fertig waren, desto eher konnte er etwas zu essen bestellen.

Dem jungen Evrard wich jede Farbe aus dem Gesicht.

"Was sagt ihr da?" Er rang nach Luft.

"Es tut mir leid, dass Ihr es so erfahren musstet, aber mein Kollege hat Recht. Wir haben sie vorgestern früh am Pont Neuf gefunden..."

"Das war meine Manon?" Henry Evrard flüsterte. Seine Augen wanderten ohne erkennbares Ziel durch den Raum, dann blieben sie an der Eingangstür der Kneipe hängen. "Aber wie...? Wieso? Sie hat doch niemals jemandem etwas zu Leide getan..."

"Könnt Ihr uns etwas über ihren Vater erzählen?"

Der Wirt ergriff das Wort: "Der alte Menard? Der ist ein Schluckspecht vor dem Herrn. Gehört schon seit Jahren zu meinen besten Gästen.. Seit seine Frau gestorben ist, kommt er fast jeden Abend. Ausser wenn er zuviel getrunken hat. Dann schläft er seinen Rausch aus und kommt erst zwei Tage später wieder. Vor zwei Tagen war er auch hier. Da hat er ganz schön tief in's Faß geguckt. Ist irgendwann am frühen Morgen nach Hause geschlängelt. Zusammen mit ein paar Studenten. Der kann ganz hübsch singen, wie eine kleine Nachtigall. Und so schöne Lieder hat er geträllert. Von prallen Brüsten und dicken Hintern...aber das tut ja jetzt gar nichts zur Sache. Wie gesagt, er hat gerne und viel getrunken, manchmal mehr als er zahlen konnte. Aber das tun hier ja viele; er durfte dann bei mir anschreiben. Ich vergesse nichts, Madmoiselle, nichts!"

"Dann muss er ja beträchtliche Schulden bei euch gehabt haben nicht wahr?"

"Oh ja, die hatte er. Deswegen hat er meinem Jungen ja auch die Manon versprochen. Mein Junge war nämlich sehr in sie verliebt müsst ihr wissen. Er hat sie in der Wäscherei kennen gelernt und wollte sie unbedingt heiraten. Der alte Menard hat sich natürlich zuerst geweigert, schließlich verdient sie das Geld von dem er seine Saufgelage bezahlt. Aber nachdem ich ihn auf seine Schulden aufmerksam gemacht habe, haben wir einen Handel geschlossen. Er verspricht sie meinem Sohn und darf dafür den Rest seines Lebens umsonst bei mir trinken. Da konnte er natürlich nicht nein sagen..."

"Was ihr nicht sagt...Und was hielt seine Tochter von der Idee?"

"Zuerst war sie natürlich nicht begeistert davon dass ihr Vater von da an unbegrenzt saufen konnte. Aber sie mochte meinen Henry, deshalb hat sie keine Einwände gehabt. Sie sind ein wirklich hübsches Pärchen..."

"Waren..."Der Wirt machte nicht den Eindruck dass er den Sinn ihrer Worte verstanden hatte. Er schien immer noch der felsenfesten Überzeugung, sein Sohn heirate demnächst Manon Menard.

Die Tage strichen dahin, ohne dass etwas geschah. Man betrachtete den Mord an der jungen Manon Menard als einen von vielen in der Stadt und legte ihn, auf Befehl des Kapitäns, zu den Akten. Er konnte den Namen Menard nicht mehr hören. Das Mädchen war tot, ein Mörder war nicht in Sicht, und der Vater war dem Wahnsinn verfallen. Nachdem sowohl ihr Verlobter als auch der Gauner Clovis als Mörder ausgeschieden waren, war de Treville endgültig die Lust an diesem Fall vergangen. Seine Musketiere hatten schließlich andere Dinge zu erledigen, als sich um solche Lapalien zu kümmern. Statt dessen saßen sie jetzt in den Fluren und Aufenthaltsräumen und spielten Karten. Nur Athos saß, wenngleich eher unfreiwillig, in einem der Arbeitszimmer, schrieb Berichte und füllte Listen aus. Zwar trank der Kapitän den von Bruder Claudius verschriebenen Kräuteraufguß täglich, aber es wollte sich keine Besserung einstellen. Noch immer klagte er über die Kälte und das allgemeine Unwohlsein. Und so blieb es weiterhin Athos' Aufgabe, sich um die verschiedensten Angelegenheiten der Musketiere zu kümmern: Rechnungen wollten dem König vorgelegt werden, Listen mit benötigten Neuanschaffungen und Berichte über die Ereignisse der letzten Tage. Ausserdem wurde ihm die verantwortungsvolle Aufgabe zuteil, Bewerber zu begutachten und, in den meisten Fällen, sofort wieder nach Hause zu schicken.

"Mein Leben war tatsächlich schon aufregender..."

"Du Ärmster. Wir können gerne tauschen...du gehst raus in den Regen und ich mach hier den Papierkram!" Er hatte Aramis vor gut einer Stunde zu sich rufen lassen. Seitdem saß sie auf der anderen Seite des Tisches und

beobachtete, wie sein Blick immer finsterer und sein Mund immer schmaler wurde. "Du kannst dich glücklich schätzen, dass du hier im Trocknen sitzen darfst. Der Schnee hat mir zwar auch nicht gepasst, aber dieser Dauerregen ist wirklich keinen Deut besser!" Tatsächlich war das Wetter vor einer Wochen umgeschlagen: Statt jeden Tag Schnee gab es jetzt fast jeden Tag Regen. Die gefühlte Temperatur blieb jedoch die gleiche. "Und ganz unter uns gesagt solltest du dich nicht beklagen. Wenn einer der Musketiere hier vom Kapitän spricht meinen sie nicht Treville. Du weißt was das bedeutet. Du bist so gut wie ganz oben angekommen!"

"Wenn ich ganz oben bin bin ich tot. Dann sitz ich nämlich auf einer Wolke und spiel Mandoline...weiter oben kann man nicht sein." Er hob die Augenbrauen. "Ich für meinen Teil warte immer noch voller Hoffnung auf den Tag, an dem der Kapitän zu jammern und statt dessen zu arbeiten anfängt. Dann kann ich endlich wieder die Arbeit machen die ich machen möchte und er kann wieder das tun, wofür er Kapitän ist. Würde ich nämlich hinter einem Schreibtisch sitzen wollen müsste ich nicht nach Paris kommen. Das könnte ich zu Hause nämlich auch haben." Langsam ließ er die Feder in ein kleines Tintenfaß zu seiner Rechten gleiten.

"Du vergisst, dass auch Mönche keine Wunder vollbringen können...was machst du, wenn du in absehbarer Zeit seine Nachfolge antreten musst?"

"Dann würde ich sie sofort an dich weiterreichen und Paris verlassen!" Aramis versuchte vergeblich, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu finden. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen.

"Warum ich?"

"Ich halte dich für intelligent und selbstbewußt genug...ausserdem würdest du unglaublich gut aussehen hinter diesem Schreibtisch."

"Danke!" Aramis war erleichtert, als sie endlich ein Grinsen sah. In den letzten Tagen hatte sie nicht gewußt, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er kam morgens mißmutig ins Hauptquartier, wechselte einige kurze Worte zur Begrüßung und ging dann ohne Umwege in sein Arbeitszimmer, um es für den Rest des Tages nicht wieder zu verlassen. Sie sahen sich kaum und sprachen noch weniger miteinander. Entsprechend groß war dann auch das nervöse Gefühl im Bauch gewesen, als sie vor einer Stunde an seine Tür geklopft hatte. Doch kaum hatte sie vor ihm gestanden wußte sie, warum er sie zu sich gerufen hatte. Athos wurde von Schuldgefühlen geplagt und war jetzt darum bemüht sie auszulöschen, indem er Aramis wieder an seinem Leben teilhaben ließ. Natürlich erzählte er ihr nichts davon.

"Kommst du heute abend mit?"

"Wohin?"

"Ich weiß noch nicht. Wir wollen irgendwo was trinken gehen, n bischen auf den Putz hauen...."

"Ich würde gerne, aber ich fürchte ich habe keine Zeit!" Er deutete auf einen Stapel Papier. "Das alles muss morgen früh bei seiner Majestät auf dem Tisch liegen. Ich mag gar nicht daran denken, wann ich heute Nacht nach Hause komme. Von Essen möchte ich gar nicht erst sprechen..." Ein stürmisches Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

"Monsieur Athos," dem Diener fiel es sichtlich schwer, die richtige Anrede zu finden. "Kommissar Cormier wünscht euch zu sprechen!"

"Soll warten. Ich bin gerade beschäftigt!" Mit einer flüchtigen Handbewegung versuchter er ihn aus dem Raum zu schieben. Das letzte was er jetzt wollte war eine Unterhaltung mit dem streitsüchtigen Polizeikommissar.

"Er sagt es sei sehr dringend!"

"Das sagen komischerweise alle..." Athos machte eine Pause. "Jetzt lasst ihn schon rein, er wird doch nicht eher gehen..." Der Diener nickte kurz und schloß dann die Tür hinter sich. Waren denn hier alle gegen ihn?

"Soll ich gehen?" Aramis hatte das Gefühl, dass es besser war, den Raum auf schnellstem Wege zu verlassen. Monsieur Cormier ließ sich nur selten dazu herab, dem Hauptquartier einen Besuch abzustatten und wenn er es tat endete es meist in lautstarken Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Kapitän. Unter normalen Umständen würde sie Athos derartige Gefühlsausbrüche nicht zumuten. Heute sah das anders aus.

"Nein, bleib ruhig. Wer weiß, was ihm wieder querliegt..." Entspannt lehnte er sich in dem dunklen Sessel zurück und wartete auf ein erneutes Klopfen. Es wartete vergebens. Statt dessen sah er, wie die Tür aufflog und mit einem lauten Knall an der Wand zum Halten kam.

"Warum so hektisch, Monsieur Cormier?" Athos versuchte die Unhöflichkeit mit Gleichgültigkeit zu vergelten. Vielleicht sah der Kommissar ja nicht nur so dümmlich aus sondern war es auch. Dann war dieses Benehmen noch zu verzeihen.

"Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, darum." Der kleine runde Mann vor ihm pumpte wie ein Maikäfer. Er musste die Stufen hoch gerannt sein. Oder er war inzwischen so fett, dass ihn normales Gehen so anstrengte. "Ich bin lediglich gekommen, um euch etwas mitzuteilen. Nicht, um einen netten Plausch zu halten. Aber wenn Ihr mich schon so darum bittet, dann erzählt mir doch mal, seit wann ihr Kapitän der Musketiere seid?"

"Ich vertrete Monsieur de Treville lediglich, bis er wieder bei Kräften ist."

"Ach was? Was hat denn der Gute? Liegt ihm ein Furz quer? Seine Unpässlichkeit hat sich inzwischen herumgesprochen. Wenn ihr mich fragt wirft das kein sehr gutes Licht auf die Leibgarde seiner Majestät. Findet ihr nicht auch, Madmoiselle Aramis?" Cormier war in den letzten Monaten nicht müde geworden, Aramis als eine Peinlichkeit für die Musketiere und noch ganz andere Dinge zu bezeichnen. Doch nur selten hatte er den Mut, sie direkt darauf anzusprechen. Athos schätzte, das der Kommissar heute bereits ein wenig angeheitert sein musste.

"Möchtet Ihr euch über dieses Thema nicht viel lieber unter vier Augen unterhalten? Mit mir? Vor der Tür?" Monsieur Cormier schüttelte hektisch den Kopf. Soweit reichte sein angetrunkener Mut dann scheinbar doch nicht. "Fein, dann könntet Ihr uns ja jetzt vielleicht erzählen, was uns die Ehre Eures Besuches verschafft." Amüsiert beobachtete Athos, wie das kleine dicke Männlein tief Luft holte um sich aufzuplustern.

"Heute morgen kurz nach Sonnenaufgang wurde in der Seine eine Frauenleiche gefunden. Eine Alte hat sie als Tochter von Monsieur Ouvrard, dem Schmied aus der Rue St. Vincent, erkannt. Wir haben sie bereits zu eurem Leichenfledderer gebracht. Ihr wollt sie euch doch sicherlich noch einmal genau ansehen, nicht wahr?"

"Der Mann ist Mönch, ich denke nicht dass er sehr viel Freude daran hat, Leichen zu untersuchen..."

"Pah, Mönch hin oder her. Was so alles hinter den Klostermauern passiert, da..."

"....träumt ihr nachts von. Ich weiß. Aber es interessiert mich nicht, was ihr in dieser Hinsicht bevorzugt. Beschränken wir uns also auf das Wesentliche!" Athos genoß es sichtlich, die Oberhand zu haben. Ein grimmiges Lächeln lag auf seinen Lippen. "Wer hat die Leiche gefunden?"

"Das lässt sich so genau nicht mehr sagen. Einige Leute hatten etwas an der Wasseroberfläche treiben sehen und es irgendwie aus dem Wasser gefischt. Und wie dass dann nun einmal so ist, haben sich gleich mehrere Leute um das tote Ding versammelt. Darunter auch die von mir bereits erwähnte Alte. Die wohnt wohl in der selben Straße wie das Mädchen und hat sie sofort wiedererkannt. Und den Rest überlassen wir euch!" Triumphierend verschränkte er die viel zu kurzen Arme vor der Brust.

"Moment. Ist das alles? Die Leiche schwamm in der Seine und ist die Tochter eines Schmieds? Mehr habt ihr nicht zu bieten? Wollt Ihr mich zum Narren halten?"

"Macht das Beste draus!" Monsieur Cormier spürte, dass es Zeit war für ihn zu gehen. Die Luft in diesem Raum wurde zunehmend dünner und auf dem Schreibtisch des Musketiers fanden sich genug Dinge, mit denen er nach ihm werfen könnte. Und er würde treffen, dass wußte auch der dumme Polizeikommissar. "Ich empfehle mich. Einen schönen Tag wünsche ich noch!" Er machte einen leichten Knicks und tänzelte dann aus dem Zimmer. Dann hörte er nur noch ein lautes Poltern. Athos hatte mit einem der Siegel nach ihm geschmissen, wohl wissend, dass es zu spät war, ihn noch zu erwischen.
 

Bereits eine Stunde später standen sie vor den Toren des Klosters. Athos hatte zwar protestiert als Aramis nach Hut und Mantel gegriffen hatte, fügte sich dann aber widerwillig.

Bruder Laurentius, ein älterer, hagerer Mönch, saß in seiner kleinen Stube neben dem Tor und notierte, dass soeben, um etwa zwei Uhr nachmittags, zwei Musketiere passiert hätten mit der Begründung, Bruder Claudius in einer dringenden Angelegenheit sprechen zu müssen. Das Buch, in dem er alle Personen, die das Kloster betraten und wieder verließen, war bereits zu beachtlicher Dicke angeschwollen. Er schien seine Aufgabe überaus genau zu nehmen. Vielleicht, dachte Aramis, kann er uns ja helfen.

"Sagt einmal Bruder..." Sie sah ihm interessiert über die Schulter. "Notiert ihr wirklich jeden, der durch dieses Tor geht?"

"Jeden, Monsieur!" Sichtlich stolz ließ er seine Hände über die Seiten gleiten. Der alte Mönch verdrängte die Tatsache, dass Aramis eine Frau war. Für ihn war es absolut widernatürlich und eine Gotteslästerung ohne Gleichen, dass diese Frau in Männerkleidern durch die Welt lief. Aber das sollte nicht seine Sorge sein. Das eigene Seelenheil lag ihm wesentlich mehr am Herzen als das dieser Person. "Es ist noch keiner durch dieses Tor gegangen der nicht von mir bemerkt worden wäre."

"Sehr gut. Und ihr notiert euch auch immer die Tageszeit?"

"Aber selbstverständlich...warum fragt ihr?"

"Nun, vielleicht könntet ihr uns in einer Angelegenheit weiterhelfen. Heute früh sollen einige Polizisten hiergewesen sein. Könnt ihr uns sagen wann das etwa war?"

"Ist das die dringende Angelegenheit, wegen der ihr Bruder Claudius sprechen wollt?"

"Genau so ist es!"

"Dann lasst mich nachsehen." Die knochigen Finger fuhren langsam über das Papier. "Ah, hier ist. Polizeikommissar Cormier und drei weitere Polizisten. Absicht ist ein dringendes Gespräch mit Bruder Claudius, jaja. Das war gegen acht Uhr heute früh!" Seine Augen strahlten.

"Hatten sie etwas bei sich?"

"Ja, sie hatten eine Sackkarre, auf der irgendetwas drauflag. Sie wollten mir natürlich nicht sagen was es ist, aber ich bin ja nicht dumm. Wenn dieses Ding auf der Sackkarre ungefähr so groß ist wie ein Mensch, und diese Leute zu Bruder Claudius wollen, na was kann das wohl für ein Ding sein?" Aramis lachte leise. Die Pariser Polizei bestand tatsächlich aus ausgemachten Trotteln.

"Wann sind sie wieder gegangen?"

"Kurz darauf, eine halbe Stunde später. Ist das wichtig?"

"Vielleicht..." Wer konnte das jetzt schon sagen? Aramis jedenfalls nicht, und Athos, seinem Blick nach zu urteilen, auch nicht. "Ist Bruder Claudius in seiner Kräuterkammer?"

"Nein nein, er hat sich sofort nach ihrer Ankunft an der Leiche zu schaffen gemacht. Er erwartet euch sicher schon..."
 

In der Tat schien Claudius kein Stück überrascht, die beiden Musketiere in seinem Kellergewölbe zu sehen. Er stand hinter dem steinernen Tisch, auf dem die Tochter des Schmieds lag. Das Leichentuch lag sorgfältig gefaltet über einer Stuhllehne am anderen Ende des Raumes. Um den Mönch herum standen mehrere Kerzen, die in dem kalten Raum gespenstische Schatten an die Wand malten, eine weitere Kerze hielt er in der linken Hand, um mögliche Spuren besser erkennen zu können. So schlich er ein ums andere Mal um den Tisch, bis er abrupt stehen blieb. Dann winkte er Athos zu sich. "Kommt her und seht es euch an. Und dann sagt mir, was ihr schlussfolgert." Belustigt stellte Aramis fest dass er gehorchte wie ein kleiner Junge.

"Blaue Flecken, fast ausschließlich an den selben Stellen wie bei der Menard." Er ergriff die rechte Hand des toten Mädchens, um sie sich genauer anzusehen. "Hautabschürfungen..." Gerade wollte er den Kopf des Mädchens anheben, um nach weiteren Blutergüssen zu suchen, als sein Blick auf ihren Hals fiel. "Sie wurde erwürgt. Oder zumindest hat man es versucht." Bruder Claudius nickte bestätigend.

"Erfolgreich!"

"Wir haben also das selbe Schema. Ein junges Mädchen, vergewaltigt und ermordet. Die Verletzungen sprechen ziemlich eindeutig für den selben Täter...was meinst du Aramis?" Aramis hörte ihn nicht. Sie sah nur den jungen Frauenkörper und die kalte Genauigkeit, mit der Athos ihn untersucht hatte. Kein Wort über das noch immer hübsche Gesicht des Mädchens, keine Anmerkung darüber, dass sie höchstens sechzehn Jahre alt war, schöne blonde Locken und eine nette Figur hatte.

"Aramis?"

"Ja...ja, du hast sicher recht." Das hätte jedem anderen gereicht. Für Athos jedoch war diese Antwort mehr als unbefriedigend.

"Kannst du dich überhaupt an die Frage erinnern?" Warum konnte sie auch nie auf ihn hören. Er hatte von Anfang an gesagt, dass dieser Anblick nichts für sie wäre. Aber Aramis musste es ja wieder einmal besser wissen. Sie musste es sich selbst beweisen. Jetzt schüttelte sie nur noch den Kopf.

"Ihr behandelt sie wie ein Stück Fleisch!"

"Aber dass ist sie doch." Bruder Claudius fiel ihr ins Wort. "Das was ihr hier seht ist nur noch eine sterbliche Hülle, kein Mensch." Gerne wäre er noch weiter gegangen und hätte die fleischliche Hülle als Hort der Sünden bezeichnet, aber er wollte sich weder mit ihr, noch mit ihrem älteren Kollegen auf eine theologische Diskussion einlassen. Dafür erschienen ihm beide nicht gottesfürchtig genug. Statt dessen beliess er es dabei.

"Ich meinte, dass diese Leiche und die der jungen Menard den selben Mörder haben, wie man an den identischen Verletzungsmustern erkennen kann." Dieses Mal wartete Athos auf ein bestätigendes Nicken. "Es sieht also tatsächlich so aus, als wäre der Schlag auf den Hinterkopf bei der Menard ein Unfall gewesen. Vermutlich hätte man sie sonst auch stranguliert..."

Aramis strich sich über die Nasenspitze. Sie versuchte, die Leiche mit den Augen des Mönchs zu sehen und musste feststellen, dass es einiges leichter machte. "Das heißt also wir haben innerhalb von drei Wochen zwei Leichen mit dem selben Mörder. Was hilft uns diese Erkenntnis?"

"Vorerst nicht viel, denke ich. Morgen werden wir Monsieur Ouvrard einen Besuch abstatten und dann sehen wir weiter!"

Bis wir bei Monsieur Ouvrard sind wird es ein Weilchen dauern, vielleicht kommst du bis dahin ja wieder zu dir." Erst einmal musste er sich allerdings etwas anziehen, wenngleich Aramis dankbar feststellte, dass das ständige hinter dem Schreibtisch sitzen seiner Statur noch nicht geschadet hatte. Nicht auszudenken dass er eines Tages aussehen könnte wie der Kapitän. Oder noch viel schlimmer, wie Porthos.
 

Unter normalen Umständen war der Schmied ein überaus unterhaltsamer Zeitgenosse. Er war ein Geschichtenerzähler, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Pferde zu beschlagen und Messer zu schleifen. Die Leute kamen nicht zu ihm, weil er großartige Arbeit leistete, sondern weil sie etwas erzählt bekommen wollten. Märchen, Alltagsweisenheiten, Geschichten, die zu unglaublich klangen um wahr zu sein aber so gut erzählt waren, dass man sie einfach glauben wollte. Als die Musketiere ihn jedoch an diesem Morgen besuchten war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Zusammengekauert saß die sonst so große Gestalt auf einem Hocker in der hintersten Ecke seiner Schmiede und kratzte gedankenverloren Striche in den lehmigen Boden. Er musste es bereits erfahren haben.

"Monsieur Ouvrard?" Aramis klopfte leicht an einem der Holzbalken, die die Schmiede von der Straße abtrennten. Eine richtige Tür gab es hier nicht.

Der Angesprochene schaute langsam auf und gab den Blick auf ein verheultes, aufgedunsenes und unrasiertes Gesicht frei; das graue Haar stand in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab und verschlimmerte den völlig verwahrlosten Eindruck noch. Dann erhob er sich.

"Bleibt ruhig sitzen Monsieur!" Athos war nicht gewillt, der schwerfälligen Gestalt im Notfall wieder auf die Beine zu helfen. Dann sollte er doch lieber auf seinem Hocker sitzen bleiben. "Wir möchten mit euch über eure Tochter sprechen..."

Die Unterlippe des Schmiedes begann zu zittern, bevor er in lautes Schluchzen verfiel.

"Wie alt war eure Tochter?"

"Siebzehn...nächsten Monat wäre sie Achtzehn geworden." Das Schluchzen wurde noch heftiger.

"Wisst Ihr, ob jemand ein spezielles Interesse an ihr gehabt haben könnte?"

"Henriette war ein hübsches Kind, sicherlich gab es einige Bewerber. Einige hatten sogar schon bei mir persönlich vorgesprochen. Ist das so wichtig?" Seine roten Augen wurden größer. Er hatte keine Ahnung worauf der Musketier anspielen könnte.

"Vielleicht. Habt ihr einen von ihnen besonders barsch abgewiesen?"

"Nein...ich denke nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern." Sein Körper bebte mit jedem Schluchzer.

"Hat einer der Herren besonders auffällig reagiert, als ihr seine Bitte abgelehnt habt?"

"Nein..."

"Hatte eure Tochter vielleicht einen Liebhaber oder Verehrer, dem sie ein Versprechen gemacht hat das sie nicht halten konnte? Wisst ihr darüber vielleicht etwas?" War es denn möglich dass man diesem Trauerkloß jede Information einzeln aus der großen Nase ziehen musste? Athos konnte nicht verhindern dass sich seine rechte Hand langsam zur Faust ballte.

"Nein...wieso stellt ihr mir all diese Fragen?"

"Weil eure Tochter einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist und es unsere Aufgabe ist, dieses zu lösen!"

"Was soll das heißen?"

"Das soll heißen, dass sie -" Seine Hand landete krachend am nächstgelegenen Balken.

"Athos!" Aramis holte tief Luft. Ihrer Meinung nach war es keineswegs nötig, dass er das Schicksal seiner Tochter in allen Einzelheiten erfuhr. Jetzt übernahm sie das Ruder: "Eure Tochter wurde ermordet, dass wollte mein Kollege damit ausdrücken. Und um den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen brauchen wir leider einige Informationen von euch. Könnt ihr euch also an irgendetwas erinnern? Hat sie vielleicht mal einen Mann erwähnt?"

"Nein..."

"Sagt euch der Name Menard etwas?"

"Nie gehört, nein...wer ist das?"

"Nicht so wichtig..."

"Warum fragt ihr dann danach?"

"Weil es wichtig hätte sein können wenn ihr ihn gekannt hättet!" Athos riss langsam der Geduldsfaden. Dieser Mann wußte scheinbar nichts über seine Tochter ausser ihr Alter.

"Wann habt ihr eure Tochter das letzte Mal gesehen?" Vielleicht wußte er dass wenigstens.

"Vor drei Tagen. Beim Frühstück. Danach wollte sie in die Hallen zum Einkaufen."

"Und seit dem ist sie verschwunden?" Der Schmied nickte müde und streifte die Hände an der schweren Lederschürze ab. "Gibt es sonst noch jemandem, mit dem wir über eure Tochter reden können? Eure Frau zum Beispiel?"

"Meine Frau ist für niemanden zu sprechen...sie betet, wißt ihr?" Athos wußte keineswegs. Das Mädchen war tot, was half es da noch zu beten. Sie würde wohl kaum von den Toten wieder auferstehen. Er wandte sich zu Aramis: "Ich denke wir können gehen. Hier hören wir eh nichts Neues..."
 

Aramis war keineswegs zufrieden mit dem Ausgang dieses Gesprächs. Der Schmied hatte ihr Leid getan und beim Gedanken an den splitternden Balken begann ihre Hand zu schmerzen.

"Du hast ihm Unrecht getan!" Lange hatte sie überlegt, wie sie das Thema anschneiden sollte und hatte sich schlußendlich dafür entschieden, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen.

"Hab' ich das?" Athos blieb stehen. "Dann sage mir doch bitte was ich statt dessen hätte tun sollen? Hätte ich ihm meine Schulter anbieten sollen, damit er sich mal richtig ausheulen kann? Oder ihn vielleicht auf ein Bier einladen, damit er sich endlich an irgend etwas erinnert? Tut mir Leid, aber dafür habe ich im Moment wirklich nicht die Zeit, geschweige denn Lust!" Vergeblich versuchte er, seiner Stimme eine normale Lautstärke zu verleihen.

"Der Mann hat gerade seine Tochter verloren, entschuldige! Was erwartest du? Das er dir freudestrahlend entgegenläuft und dir voller Dankbarkeit alles unter die Nase reibt was sein Kind jemals gesagt und getan hat? Was ist los mit dir?"

"Nichts..." Hektisch begann er, seine Manteltaschen zu durchwühlen. "Ich bin einfach nur müde." Kaum hatte er den Satz beendet durchfuhr ein heftiges Niesen seinen Körper.

"Und erkältet wie mir scheint." Aramis sah, wie er aus einer der Taschen ein feines weißes Tuch zog und ihr Herz begann höher zu schlagen.

"Eigentlich wollte ich es dir wiedergeben, aber ich fürchte ich benötige es noch eine Weile..." Entschuldigend zog er die Augenbrauen nach oben. "Ich hatte es sogar schon waschen lassen."

"Behalte es einfach, ja?"

"Jetzt also doch?" Aramis lachte. Wenigstens hatte ihn das auf andere Gedanken gebracht. Und solange er das Taschentuch nicht als Pfand betrachtete war es ihr relativ egal, was er damit anstellte.

Ludwig XIII. von Frankreich war von Geburt an von schwacher Gesundheit gewesen. Bereits in den ersten Monaten seines Lebens schrieb sein Leibarzt von Flechten und suppenden Schorfwucherungen, die auf mangelnde Sauberkeit zurückzuführen waren. So war es nicht verwunderlich, dass er auch heute, als Folge des feuchten Wetters der letzten Wochen, unter starken Hustenanfällen litt. Es verging kein Satz, an dessen Ende nicht mindestens ein schwaches Hüsteln stand. Athos hoffte, dass seiner Majestät unter diesen Umständen die schwerfälligen Atemgeräusche des Musketiers entgingen. Aramis hatte Recht behalten. In der vergangenen Nacht hatte sich die Erkältung endgültig seines Körpers bemächtigt und raubte ihm nun zusätzlich Schlaf und Kraft. Er stand in der Mitte des königlichen Arbeitszimmers und ließ seinen Blick durch eines der Fenster in die Ferne schweifen. Ohne genau zu wissen, wonach er suchte, wanderten seine Augen über die sandigen Wege, die zwischen den Grünanlagen des Parks verliefen. Es war schon fast Mittag und dennoch war die gesamte Anlage wie leer gefegt. Sie würde sich vermutlich erst nach der Mahlzeit mit Menschen füllen. Dann aber sah er eine kleine Menschengruppe hinter einer Hecke auftauchen. Es dauerte keinen Atemzug zu erraten, um wen es sich dort handelte. Athos erkannte das Honigblond auf eine Entfernung von hundert Fuß und heute schien es besonders intensiv. Oder es war sein schlechtes Gewissen, dass ihm soetwas einreden wollte. Er musste mit ihr reden. Ihr sagen, dass es ihm leid tat dass er ihr gegenüber so laut geworden war. Aber die Möglichkeiten waren immer noch gering. Athos überlegte. Um diese Zeit gab es nur einen Grund, warum sie im Park unterwegs war: Ihre Majestät machte einen Spaziergang. Die Königin, dass musste er sich schmerzlich eingestehen, hätte er ohne ihre Begleitung immer noch nicht erkannt. Vielleicht hatte er im Anschluß an das Gespräch mit seiner Majestät noch einen Augenblick Zeit, sein Gewissen zu erleichtern.

"Warum ich euch habe rufen lassen", der König holte ihn in sein Arbeitszimmer zurück, "ist Folgendes: Euch ist sicherlich schon zu Ohren gekommen, dass sich der Kurfürstliche Gesandte aus Bayern, Hanns Friedrich Graf von Rosenbaum, in Paris aufhält. Der Gesandte hat es abgelehnt, hier im Louvre zu wohnen..." Ludwig verzog das Gesicht zu einer abwertenden Fratze. "Wir haben ihm dies gestattet. Monsieur wohnt nun in der Place Royale, wodurch ihm einige unschöne Dinge, die in dieser unserer Hauptstadt Paris vorgefallen sind, natürlich nicht verborgen blieben. Ihm ist bereits vor einigen Wochen etwas über einen Mord zu Ohren gekommen, in dem meine Leibgarde, die Musketiere, erfolglos ermittelt haben. Gestern sprach er mich erneut auf einen solchen Vorfall hin an, in dem meine Musketiere ebenfalls scheinbar erfolglos ermitteln. Jetzt frage ich euch, Monsieur Athos, da ihr zur Zeit die Leitung über meine Leibgarde habt wie man mir mitteilte, was gedenkt ihr dagegen zu unternehmen?" Athos überlegte lange, was er sagen sollte. Der König schien derartig in seinem Stolz verletzt dass er darüber sogar das Husten vergaß. Der Ruf Frankreichs und der seiner vielgerühmten Leibgarde stand auf dem Spiel, und der König würde dieses Spiel nicht verlieren.

"Wir versuchen unser Möglichstes, Majestät, allerdings gestalten sich die Nachforschungen als sehr schwierig. Wir haben keine Spuren und die Verwandten der Opfer sind auch nicht in jedem Fall hilfreich. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben, was meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich ist. Und mehr als Verdächtige zu verhören und Angehörige zu befragen können wir derzeit nicht tun." Der König nickte. Dann wies er Athos an, sich zu setzen.

"Wäret ihr bereit, dem Grafen dass gleiche zu erzählen?" Verschwörerisch faltete er die schlanken Hände vor dem Gesicht.

"Selbstverständlich!" Athos hatte eine unangenehme Vorahnung davon, was jetzt folgen würde.

"Und wäret ihr vielleicht bereit, diese Geschichte noch ein kleines bisschen....nun ja, sagen wir auszuschmücken?"

"Ich denke ich verstehe nicht ganz, Euer Hoheit?" Er verstand sehr wohl. Er konnte es nur nicht glauben.

"Ihr versteht mich Athos. Ich weiß dass ihr wesentlich intelligenter seid als die meisten an diesem Hof. Vielleicht sogar intelligenter als ich. Oder als Richelieu. Ihr zeigt es nur nicht." Ludwig machte eine lange Atempause, die durch ein gequältes Husten beendet wurde. "Ihr würdet einen sehr guten Diplomaten abgeben, wißt ihr? Ihr wißt genau, wann ihr eurem Gegenüber überlegen seid, aber ihr zeigt es nie. Manchmal glaube ich, ihr seid ein Mensch völlig frei von Emotionen." Athos schwieg. Er war voller Emotionen, derer er gerne habhaft geworden wäre. In einem Punkt jedoch hatte sein König Recht. Er verstand es, seine Emotionen für sich zu behalten. Auch jetzt.

"Werdet ihr Frankreich diesen Dienst erweisen?" Ludwigs Stimme ertrank in Pathos.

"Ich werde darüber nachdenken..."

"Ich bin mir sicher, das ihr das werdet. Lasst uns über etwas anderes reden: Wie kommt es, dass ihr seit einiger Zeit in der Rolle des Kapitäns auftretet?"
 

Gedankenverloren beobachtete Aramis, wie eine Spinne ihre Fäden zwischen zwei Ästen einer Rose sponn. Das war das schöne an Spaziergängen mit der Königin. Sie waren sowohl körperlich als auch geistig verhältnismäßig anspruchslos. Weder ihre Majestät noch Constanze machten sich Gedanken über Politik oder die Abgründe des menschlichen Handels. Bei genauerer Betrachtung, dachte sie, lagen beide Dinge oft beunruhigend nah bei einander. Aber hier schien nichts von alledem zu existieren. Keine Kriege, keine Morde, kein Hunger und keine Krankheit. Nicht einmal Sorgen gab es hier. Die Welt im Garten des Louvre glich dem Paradies. Bis zum Mittag. Dann würden sie wieder in Scharen hier flanieren, um zu sehen und, was viel wichtiger war, gesehen zu werden. Nach einer ausgedehnten Mahlzeit wurden hier große und kleine Intrigen geplant, wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt und wurden höfische Karrieren zerstört. Dann verwandelte sich das Paradies in eine gepuderte Hölle, die Aramis nicht selten anwiderte. Doch noch waren sie unter sich. Die Königin, die Zofe und die Leibgardistin. Aramis lachte leise auf.

"Was ist so unterhaltsam?" Constance trat einen Schritt näher an sie heran.

"Nichts..." Sie winkte ab.

"Momentan scheint euch Musketiere sehr viel Nichts zu interessieren. D'Artagnan gibt mir immer die gleiche Antwort wenn ich ihn etwas frage"

"Vielleicht kommt das ja auch auf die Frage an."

"Ich stelle ihm so viele verschieden Fragen, und jedes Mal bekomme ich die gleiche Antwort. Das kann doch nun wirklich nicht mehr normal sein..." Trotzig schob sie die Unterlippe vor. "...wozu sind wir denn verheiratet frage ich dich? Mit mir kann er doch jederzeit reden. Manchmal denke ich, er geht morgens gar nicht zur Arbeit sondern treibt sich irgendwo herum!"

"Wenn es nur das ist, da kann ich dich beruhigen. Gestern war er jedenfalls da, und die Tage davor auch..." Aramis hatte Mühe sich zu beherrschen. D'Artagnan und Constance waren gerade seit zwei Monaten verheiratet und die junge Frau vor ihr führte sich auf als wäre all das schon eine Ewigkeit her.

"Mach dich nicht lustig über mich, Aramis. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen was das für ein Gefühl ist, wenn der eigene Ehemann nicht mit einem reden will..."

"Athos redet momentan auch nicht sehr viel..."

"Das ist doch etwas völlig anderes. Ihr beide seid ja nicht mal ein Paar, geschweige denn verheiratet. Ihr seid Freunde! Und Athos war sowieso noch nie ein Freund vieler Worte..." Warum sollte er auch, ging es Aramis durch den Kopf. Er braucht nicht viele Worte um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen.

"Trotzdem reden wir zur Zeit kaum mit einander. Vielleicht ist D'Artagnan einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wir haben momentan alle ziemlich viel zu tun. Und du kennst ihn doch, er zerbricht sich über jede Kleinigkeit den Kopf. Das geht vorbei, glaub mir!" Constance nickte mißmutig. Eigentlich hatte sie gehofft, dass Aramis ihren Mann unauffällig ausfragen würde, aber diese verschwendete keinen Gedanken an etwas Vergleichbares.

"Du hältst mich für hysterisch, oder?"

"Was?" Wieder musste Aramis lachen. "Nein, wieso?"

"Weil ich mir so viele Gedanken über unsere Ehe machen..."

"Ich würde es beunruhigender finden wenn du dir keine machen würdest!" Sie machte eine kurze Pause. "Nachdem ihr geheiratet habt, habe ich ziemlich viel nachgedacht. Über mich und Francois und wie naiv ich damals gewesen bin. Ich habe mir niemals Gedanken über unsere Beziehung gemacht, als er noch gelebt hat. Ich war blind und habe immer die Augen vor den Problemen verschlossen, die früher oder später auf mich zukommen mussten. Ich war mit einem Mann verlobt, von dem mein Vormund nicht einmal wußte, dass er existierte, der vorgab katholisch zu sein obwohl er Protestant war und der mir niemals erzählt hat, dass er den Zwillingsbruder des Königs versteckt hält. Es gab soviel, was ich nicht wußte oder nicht wissen wollte. In solchen Momenten habe ich mir immer gesagt, dass es schon irgendwie werden wird, und dass sich alle Probleme von selber lösen werden. Irgendwann, irgendwie. Es ist völlig in Ordnung, wenn du dir Gedanken machst..." Ihr Blick folgte der Spinne, die sich langsam abseilte.

"Das tut mir leid."

"Was?"

"Das du wegen uns soviel darüber nachdenken musstest."

"Nein. Es war bitter nötig."
 

Zufrieden lauschte Ludwig, wie sich die Schritte des Musketiers rasch entfernten. Er war sich sicher, dass er zu seiner vollsten Zufriedenheit handeln würde. Bevor Athos sich von ihm verabschiedet hatte, hatte er einen letzten Blick in den Garten geworfen, um sich zu vergewissern, dass die Königin noch immer spazieren ging. Sie ging nicht nur immer noch spazieren, sie stand sogar immer noch an der selben Stelle. Jetzt übersprang er einzelne Stufen, um nicht noch mehr seiner wertvollen Zeit zu vergeuden; das Gespräch mit Seiner Majestät war ohnehin unnötig lang gewesen. Warum ließ er sich die Leidensgeschichte des Kapitäns nicht von jemandem erzählen der Zeit dafür hatte. Zum Beispiel von Treville persönlich. Der hatte schließlich schon seit Wochen nichts anderes zu tun als stillzusitzen und Tee zu trinken. Prüfend sah er ein letztes Mal in die Richtung, in der er das kleine Grüppchen vermutete, dann verlangsamte er seine Schritte. Man musste nicht sehen, dass er es eilig hatte. Es genügte vollkommen, dass man es hörte. Seine Lunge tat ihren Unmut über soviel Stress mit schmerzhaften Stichen kund, sein Herz schlug deutlich schneller als noch vor einer Minute. Sein gesamter Körper schrie nach einer Pause. Athos jedoch zog es vor, ihn zu überhören.

"Kann ich dich kurz sprechen? Unter vier Augen?" Athos konnte ein leichtes Schnaufen nicht unterdrücken, als er an ihr vorüberging. Er blieb nicht stehen, um auf eine Antwort zu warten, er setzte ganz einfach voraus, dass Aramis ihm folgen würde. Und wurde nicht enttäuscht.

Als sie ausser Hörweite waren, warf Aramis einen letzten prüfenden Blick über die Schulter, mehr auf Gewohnheit als auf Vorsicht begründet.

"Ich wollte mich für mein Benehmen gestern entschuldigen. Es tut mir leid dass ich dich angebrüllt habe..."

"Schon vergessen!" Sie konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass das seine größte Sorge war. "Ich weiß ich sage dir das nicht zum ersten Mal, aber du siehst fürchterlich aus. Noch schlimmer als gestern..." Erneut warf sie einen Blick über die Schulter. Constance und die Königin hatten sich einige Schritte entfernt und waren mit den ersten Frühblühern beschäftigt. Diese Chance galt es zu nutzen. Bevor Athos wußte wie ihm geschah, hatte Aramis den rechten Handschuh ausgezogen und die Hand auf seine Stirn gelegt. "Du hast Fieber..."

"Halb so wild. Ich muss nur wieder hinter meinen Schreibtisch, dann beruhigt sich das von selbst."

"Du musst nirgendwohin! Du wirst jetzt nach Hause gehen, dich in dein Bett legen und schlafen. Und heute Nachmittag komm' ich vorbei und seh' nach, wie es dir geht. Haben wir uns verstanden?" Ihr Tonfall erstickte jeden Widerspruch schon im Keim. Athos versuchte es trotzdem:

"Und was ist mit der Arbeit, die auf mich wartet?"

"Die wird dir schon nicht weglaufen..."

"Ausserdem hatte ich gerade eine Unterredung mit dem König. Er meinte ich solle so schnell wie möglich den Ruf der Musketiere wiederherstellen und -"

"...so wie du im Moment aussiehst wird dir das sicherlich auch gelingen. Der Stolz der königlichen Leibgarde, ein kurzatmiger Kerl mit glasigen Augen, der sich kaum auf den Beinen halten kann. Ja, ich denke du hast Recht. Du wirst unseren Ruf völlig ändern...vermutlich nicht in Ludwigs Sinne, aber immerhin!"

"Wer sonst sollte es denn tun, wenn nicht ich?" Athos' Stimme wurde leiser. Sie hatte Recht. Aber der Gedanke, tatenlos herumzuliegen hatte ihm noch nie gefallen und jetzt, da einige Straßen weiter so viel Arbeit auf ihn wartete, gefiel er ihm noch um Einiges weniger.

"Ich zum Beispiel! Sag mir einfach wo ich hingehen muss und was ich zu tun habe. Den Rest schaffe ich dann auch allein.

Aramis fühlte sich ein wenig verloren in dem großen, lichtdurchfluteten Salon. Ausser einer kleinen, grün gepolsterten Bank aus Kirschholz, einigen Skulpturen aus Marmor und einem einsamen Stilleben, dass eine wenig stilvoll gedeckte Festtafel zeigte, war der Raum leer. Schadenfroh stellte sie fest, dass der Stoff der Polsterung beim besten Willen nicht zu der dunkelroten Samttapete und den kupferfarbenen Vorhängen passen wollte. Dafür passte er hervorragend zu dem Ölschinken , der einige Schritte entfernt von ihr hing und ihr den Appetit verdarb und den kleinen fetten Putten. Aber vielleicht war das ja der bajuvarische Geschmack.

Die Bayern schienen ihr an sich ein ziemlich merkwürdiges Völkchen zu sein. Der Hausangestellte, der ihr die Tür geöffnet hatte, war zwar jung, aber mürrisch wie ein alter Mann gewesen. Als sie sich vorstellen wollte, hatte er nur den Kopf geschüttelt und sie dann mit einer müden Handbewegung hereingebeten. Nachdem er etwas gesagt hatte - zumindest glaubte Aramis, dass er etwas hatte sagen wollen - dass in ihren Ohren geklungen hatte wie betrunkenes Lallen, war er von dannen geschlürft.

Sie war so in Gedanken über die bayrische Lebensart vertieft, dass sie beinahe überhört hätte, wie jemand die Tür hinter ihr öffnete. Aramis fuhr herum.

"Bonjour Monsieur!" Das Mädchen vor ihr machte einen eleganten Knicks.

"Bonjour..." Es dauerte einige Zeit, bis Aramis sich daran erinnerte, woher sie das Mädchen mit dem merkwürdigen Dialekt und den blonden Zöpfen kannte. "Du bist das Mädchen aus den Hallen, nicht wahr?"

"Oui Monsieur!" Das hübsche Gesicht wippte auf und ab.

"Madmoiselle..." Aramis korrigierte ihre Gegenüber inzwischen automatisch, um Mißverständnisse zu vermeiden.

"Oh verzeiht, ich wußte nicht...ihr seid der erste, der mich berichtigt..." Ihre Wangen röteten sich.

"Liegt wohl daran, dass du es das erste Mal falsch machst." Aramis lächelte. Gerne hätte sie die plötzliche Neugier des Mädchens gestillt, die aus großen blauen Augen sprach, aber sie würde kaum genügend Zeit dafür finden. "Ich will dich nicht bei der Arbeit stören!"

"Ich arbeite nicht, Madmoiselle. Ich komme gerade vom Einkaufen. Ich bin ausschließlich in der Küche bschäftigt, wißt ihr? Naja, und da hab ich den Fredl getroffen. Fredl hat mir erzählt, dass jemand im Salon wartet und da dachte ich mir..."

"Ist das dieser Bursche, der mich hereingelassen hat?" Aramis verstand nicht recht, was sie ihr sagen wollte. Dieses Kind redete zu viel, als es Hauspersonal eigentlich nicht gestattet war. Genau genommen hatten Bedienstete gar nicht mit den Gästen zu reden, sondern lediglich Befehle entgegenzunehmen. Hier sah man das scheinbar anders.

"Oui, Madmoiselle. Eigentlich heißt er ja Ferdinand, aber wir nennen ihn alle Fredl. Passt besser. Er ist ein wenig...wie sagt man...langsam." Ihr Finger vollführte kreisende Bewegungen vor ihrer Stirn. "Deswegen spricht er auch kein Französisch. Er arbeitet für unsere Herrschaft weil er der Sohn der Köchin ist. Sonst tät er schon längst auf der Straße sitzen, der Depp." Aramis lief es bei diesem sprachlichen Fehltritt kalt den Rücken runter. "Ich habe ihn gefragt ob die Herrschaften über euren Besuch informiert sind und er meinte, dass er ja nicht wissen konnte dass Ihr zum Herrn Grafen wollt. Und deswegen bin ich jetzt hier. Als ob ihr einen anderen grund haben könntet." Die Worte sprudelten wie aus einem Wasserfall aus ihr heraus. Wenn auch ein langsamer Wasserfall, dachte Aramis belustigt. "Ich werde dem Herrn Grafen Bescheid sagen, dass ihr wartet! Das heißt, erst muss ich ja euren Namen wissen." Sie kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

"Aramis, Musketier des Königs. Seine Majestät schickt mich." Erneut wurden die Augen des Mädchens groß vor Staunen. Dann nickte sie, raffte ihre Röcke und lief an ihr vorbei und aus dem Raum. Die groben Lederschuhe waren auf den Holzbohlen kaum zu hören.
 

Wenig später betrat sie das Arbeitszimmer des Grafen, der sie mit offenen Armen empfing. Ihr erster Blick fiel, nach den farblichen Irrtümern im Salon, auf die Einrichtung. Hier waren die Wände in einem dunklen Blau gehalten, die Vorhänge waren fast weiß. Alles in allem sah es hier nur unwesentlich besser aus als in dem Raum zuvor.

"Monsieur Aramis, ich bin erfreut endlich eure Bekanntschaft machen zu dürfen." Überrascht über diese stürmische Begrüßung viel ihre obligatorische Verbeugung weniger elegant aus als es sonst der Fall war.

"Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Aramis hatte sich den kurfürstlichen Gesandten anders vorgestellt. Er unterschied sich bei weitem von seinen Kollegen aus anderen Ländern. Die meisten von ihnen hatten die Blüte ihrer Jahre bereits lange überschritten und gaben sich am französischen Hof der Völlerei hin, die ihre Körper aufgehen ließ wie Hefe. Hanns Friedrich von Rosenbaum jedoch war ein Bild von einem Mann: Groß und schlank, mit gut ausgeprägten Schultern und einem schmalen Gesicht, das von dunkelblondem, welligem Haare eingerahmt wurde. Er konnte nicht viel älter sein als sie selbst, vielleicht fünfundzwanzig. "Ihr müsst meinen Angestellten entschuldigen. Er ist ein ziemlicher Trottel und wird seine Strafe erhalten. Das selbe gilt für mein bescheidenes Heim. Ich weiß das einiges noch nicht perfekt ist. Die passenden Möbel sind noch nicht fertig." Er wies sie an, sich zu setzen. "Nun Monsieur, was verschafft mir die Ehre eures Besuches?"

"Madmoiselle!" Aramis konnte das Wort aus ihrem Munde nicht mehr hören. Irgendwann würde sie es als Zettel bei sich tragen und bei jeder passenden Gelegenheit herumreichen. Ihr Gegenüber schien durch diese Korrektur wenig beeindruckt.

"Dann ist es nicht nur ein Gerücht?" Er lehnte sich ins einem Sessel etwas nach vorne. "Ihr müsst wissen, euer Ruf eilt euch voraus. Vor ein paar Wochen hörte ich euren Namen zufällig in einem Gespräch...nicht dass es mich sonderlich interessiert hätte, versteht sich. Man unterhielt sich wirklich sehr angeregt über euch und ich war etwas irritiert, dass man von euch als Madmoiselle sprach, wo ich doch vorher deutlich vernommen hatte, dass ihr Musketier seid. Ich hielt es für einen Scherz verbitterter alter Weiber. Und, wenn ihr mir diese Anmerkung gestattet, eure Erscheinung verhärtete meinen Verdacht noch. Aber in Anbetracht dieser Umstände entschuldige ich mich natürlich für meinen Irrtum." Sein Lächeln zeigte eine Reihe makelloser weißer Zähne. "Aber nun zurück zu meiner Frage. Was verschafft mir die Ehre?"

"Seine Majestät der König schickt mich. Oder vielmehr mein Vorgesetzter. Eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen mit euch zu sprechen, aber da er kurzfristig schwer erkrankt ist, habe ich mich dieser Aufgabe angenommen."

"Euer Vorgesetzter? Ihr meint sicher Kapitän de Treville. So war doch sein Name, nicht wahr?"

"Nein, der Kapitän ist schon längere Zeit unpäßlich. Ich spreche von seiner Vertretung." Der Graf nickte interessiert. "Ach, jetzt erinnere ich mich. Ein gewisser...na, wie war noch gleich sein Name. Ich erinnere mich dass der König ihn häufig in unseren Gesprächen erwähnte. Es klang etwas kurios..." Bedächtig kratzte er sich am Kinn. Er zog die Worte genauso in die Länge wie das kleine Dienstmädchen, wodurch seine Erscheinung etwas an Glanz verlor.

"Athos." In wie weit dieser Name nun kurios klingen sollte war Aramis ein Rätsel. Aber sollte sich jemand mit dem Namen Hanns ruhig seine Gedanken darüber machen.

"Ja genau, so lautete sein Name. Seine Majestät erzählte mir, dass er sich zur Zeit um die Belange der Leibgarde kümmert. Und wer ist nun bis zu seiner Genesung dafür verantwortlich?" Aramis fand es erstaunlich, wie gut er über die Musketiere informiert war, zumal er erst seit vier Wochen in Paris lebte.

"Niemand. Die schriftlichen Arbeiten werden warten müssen, bis er oder Kapitän de Treville wieder dienstfähig sind. Bis dahin beschränken wir uns auf dass Wesentliche: Den Schutz seiner Majestät."

"Seine Majestät erzählte mir ebenfalls, dass seine Leibgarde mit einigen Morden beschäftigt ist, die sich vor einigen Tagen und Wochen zugetragen haben..." Die goldbraunen Augen musterten sie von Kopf bis Fuß und ruhten dann auf ihrem Gesicht, gespannt auf eine Reaktion. In diesem Moment bemerkte sie die Ähnlichkeit zu einem Raubvogel. Nicht nur die Augen ließen ihn wie einen Jäger aussehen, auch die Nase, die einem Schnabel mehr als nur ähnlich sah.

"Deswegen bin ich zu euch gekommen. Der König ist der Ansicht, dass ihr unsere Situation am besten verstehen könnt, wenn sie einer von uns erläutert."

"Ich bin gespannt." Das war er tatsächlich. Aramis erzählte ihm das, wovon sie sicher sein konnte, dass es ihm nicht sehr viel weiterhalf und ihm nicht die Möglichkeit gab, eine Schwachstelle in der Arbeitsweise der Musketiere zu finden. Sie und Athos hatten sich im Vorfeld auf den ungefähren Wortlaut ihrer Geschichte geeinigt und großzügig einige Ereignisse und Fakten gestrichen. Aramis behielt für sich, dass beide Leichen durch den selben Mann zu Tode gekommen zu sein schienen, dass der Vater des ersten Opfers ein alter Schluckspecht war und dass sie einen kleinen Dieb namens Clovis irrtümlich für den Mörder gehalten hatten. Ihr Gesicht machte den Anschein, als würde sie dem Gesandten etwas über das Wetter der vergangenen Woche erzählen, doch hinter ihrer Stirn arbeitete sie auf Hochtouren. Jedes einzelne Wort musste bedächtig gewählt werden, sie durfte keine Widersprüche aufkommen lassen. Wie froh war sie, wenn dieses Gespräch beendet war.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Aramis hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, aber nicht, wie jemand das Zimmer betrat. Erst ein leises Rascheln hinter ihrem Stuhl ließ erkennen, dass tatsächlich jemand eingetreten war.

"Meine Gattin!" Die Stimme des Grafen wirkte plötzlich kälter. Und auch sein Blick verfinsterte sich. Es war keine große Veränderung, aber sie war groß genug, um von Aramis bemerkt zu werden. "Madmoiselle Aramis." Aramis erhob und verbeugte sich mit der nötigen Zurückhaltung. Nachdem sich die Gräfin in einen zweiten Sessel links von ihr hatte gleiten lassen, nahm auch Aramis wieder ihren Platz ein, jedoch ohne den Blick von der jungen Frau abzuwenden. Alles an ihr erschien Aramis majestätisch. Ihre aufrechte Haltung, die schlanken Hände, die, im Schoß gefaltet, soviel Ruhe ausstrahlten, der zarte Hals mit dem schlichten Collier, der kleine volle Mund, die ungewöhnliche Nase, die großen hellen Augen, die hohen geschwungenen Augenbrauen, die ihrem Gesicht den Ausdruck der Erhabenheit gaben und schlußendlich die kunstvoll gesteckte Frisur. Aramis verstand nicht, warum der Gesandte seine schöne Frau mit soviel Kälte strafte. Auch jetzt, da sie fast neben ihm saß, würdigte er sie keines Blickes.

"Madmoiselle Aramis. Ich habe von euch gehört." Die Stimme der Gräfin schmiegte sich warm und sanft in Aramis' Ohr.

"Tatsächlich? Ihr seid heute schon die zweite Person, von der ich das höre..." Aramis bekam tatsächlich den Eindruck, dass sie ohne ihr Wissen ein beliebtes Thema bei Hofe war.

"Eure Geschichte erscheint mir auch durchaus erzählens- und hörenswert. Wenn sie denn stimmt, wie ich sie gehört habe...eine Dame bei Hofe hat sie mir erzählt."

"Mit Verlaub, Madame, die Damen bei Hofe erzählen viel. Die meisten von ihnen sind geprägt durch Schundromane in denen sich alles nur um Liebe und Leid dreht. Und sie sind geradezu versessen darauf, ihre Leben wie eines dieser Heftchen zu gestalten. Oder, wenn nötig, dass von anderen. Das ist der grund, warum es im Louvre so viele Intrigen gibt. Vermutlich haben sie viel gehört, was sich so nie zugetragen hat. Aber der Kern der Geschichte wird vermutlich noch stimmen...zumindest hoffe ich das. Ich habe nicht vor, als Walküre in die Geschichte der Schundliteratur einzugehen."

"Nun, vielleicht wollt ihr sie mir selbst einmal erzählen. Dann kann ich mir ja ein Bild darüber machen, was Erfindung ist und was nicht. Wenn ihr einmal die Zeit findet würde ich mich sehr freuen."

"Ich werde zumindest darüber nachdenken..."
 

Nach dem Eintreffen der Hausherrin hatte das Gespräch zwischen Aramis und dem Gesandten ein relativ rasches Ende gefunden. Seine Gesprächsbereitschaft war in ihrer Gegenwart von Minute zu Minute gesunken und Aramis wollte das frostige Klima nicht noch weiter nähren. Dennoch hatte das kurze Gespräch gereicht, um die junge Frau sympathisch zu finden. Aramis hatte sich für das nette Gespräch bedankt und anschließend höflich aber bestimmt das Appartment derer von Rosenbaum verlassen.

Zurück auf der belebten Straße schlug sie den Weg Richtung Hauptquartier ein. Dort würde sie ihr Pferd satteln und zum Kloster St. Genevieve reiten, um bei Schwester Clementine, einer alten Vertrauten, etwas Salbe und einige Kräuter abzuholen.

Bereits beim Betreten seiner Wohnung ahnte Aramis Schlimmes. Sie hatte erwartet, dass sich das Chaos des Vortages noch verschlimmert hätte, aber statt dessen war es hier so sauber wie schon lange nicht mehr. Keine Bücher, die auf Tisch und Fußboden verteilt waren, keine schmutzigen Bretter, Teller und Messer. Ungläubig riss sie einzelne Schranktüren auf. Dort standen sie, sauber übereinander gestapelt oder aneinandergereiht.

Sie warf einen prüfenden Blick in den Kamin. Die Scheite sahen aus, als wären sie erst vor kurzem ins Feuer geworden worden. Mit leisem Zischen und Knistern wärmten sie Lese- und Schlafzimmer, dessen Tür einen handbreiten Spalt offen stand.

Im Schlafzimmer war es so dunkel, wie es die Vorhänge um diese Tageszeit zuließen. Das Licht kroch durch jede noch so kleine Öffnung. Auch hier war es verdächtig ordentlich. Die Stiefel standen geputzt neben dem alten Kleiderschrank in der hinteren Ecke des Zimmers, die Uniform hing gefaltet über einem Stuhl neben dem Bett. Der Gedanke, dass hier jemand aufgeräumt haben könnte, gefiel Aramis ganz und gar nicht.

Athos lag, halb bäuchlings, halb seitlich, auf der rechten Hälfte des kunstvoll gearbeiteten Doppelbettes und gab leise pfeifende Atemgeräusche von sich.

"Tu nicht so als würdest du tief und fest schlafen..." Sie setzte sich neben ihm aufs Bett und fühlte seine Stirn. "Du glühst immer noch...kein Wunder, wenn du eben erst schlafen gegangen bist. Habe ich nicht ausdrücklich gesagt...?" Mit der linken Hand strich sie ihm eine Strähne aus dem Gesicht. "Ausserdem hättest du dir wenigstens ein Hemd anziehen sollen!" Da war sie wieder, die Mutterhenne. Langsam wurden ihre diese Predigten zu einer unangenehmen Angewohnheit. Es kostete sie viel Überwindung, nicht auch noch die Vorhänge des Himmelbettes zu erwähnen. Aramis war sich sicher dass es besser gewesen wäre, hätte er sie zugezogen.

"Ich weiß doch..." kam die mürrische Antwort. Langsam öffneten sich die Augen einen Spalt breit und sahen sie vorwurfsvoll an. "Ich konnte nicht schlafen."

"Du wolltest nicht. Wie sonst lässt es sich erklären, dass deine Wohnung so aussieht." Sie grinste. "Ich habe dich durchschaut mein Lieber. Erst hast du deine Bücher in den Schrank einsortiert. Alphabetisch, wie immer, schließlich sind deine Bücher kleine Heiligtümer die es zu hegen gilt. Dann hast du alles andere aufgesammelt, was noch auf dem Boden verstreut lag und anschließend hast du abgewaschen. Dass erklärt auch die Pfütze unter deinem Fenster, in die ich vorhin fast getreten wäre. Des weiteren hast du dann noch ein Feuer im Kamin entzündet. Warum du das gemacht hast ist mir allerdings schleierhaft. Bei deinem Fieber müsste dir auch so ziemlich heiß sein. Und zu guter Letzt bist du dann noch einmal zu deinem Bücherschrank gegangen, um noch etwas im Bett zu lesen."

"Sehr gut kombiniert!" Athos lächelte müde.

"Vielen Dank. Was liest du schönes?" Aramis ließ sich nach hinten fallen um nach dem Buch zu greifen, dass immer noch neben ihm auf einem Kissen lag. Mit Müh und Not bekam sie den dicken Ledereinband zu fassen.

"Sei vorsichtig damit..." Aramis lachte. Den Hinweis hätte er sich wirklich sparen können. Interessiert drehte sie das Buch hin und her, konnte aber weder einen Titel noch einen Verfasser entdecken.

"Woher hast du es?" Sie sah auf ihren Kollegen herunter, der sich immer noch kein Stück bewegt hatte.

"Von einem alten Schulfreund. Er hat es mir vor kurzem aus Italien geschickt weil er meinte, dass ich mich dafür begeistern könnte." Hastig überflog Aramis die erste Seite, um enttäuscht feststellen zu müssen, dass sie kein Wort von dem verstand, was dort stand.

"Latein...herrlich. Worum geht es?"

"Um verschiedene Theorien, was die Erde und die Sterne betrifft. Kopernikus, Galilei und Männer, von denen ich vorher noch nie gehört habe, die aber teilweise sehr interessante Thesen aufstellen." Aramis' neugieriges Gesicht lies ihn schmunzeln. Es war eines der Dinge, die er so an ihr schätzte. Sie konnte sich für Dinge begeistern, die andere ohne nachzudenken ablehnten.

"Und wieso zum Teufel hast du einen Schulfreund in Italien?" Während sie diese Frage stellte beschloß Athos, sich auf den Rücken zu drehen und stellte wie zu erwarten fest, dass es ihm die Atmung um einiges erleichterte.

"Weil besagter Freund, den ich noch aus meiner Zeit in der Klosterschule kenne, mit zwanzig eine Reise nach Venedig gemacht hat. Und wie das nun mal so ist mit den schönen, freizügigen venezianischen Frauen hat er sich Hals über Kopf in eine verliebt, sie geheiratet und lebt seitdem als Kaufmann ein unglaublich ruhiges Leben...im Gegensatz zu mir, was ihn jedes Mal aufs Neue zu erheitern scheint. Er hat nicht viel zu tun, weil das Geschäft immer noch von seinem inzwischen unnatürlich alten Schwiegervater geführt wird, und deshalb reist er hin und wieder mit seiner Frau und den drei oder vier Kindern durch das Land - natürlich unter dem Vorwand, neue Geschäftsmöglichkeiten ausfindig zu machen - und manchmal findet er auch ein paar Bücher für mich."

"Und was gibst du ihm dafür?"

"Die Genugtuung dass ich immer noch Musketier und unverheiratet bin!" Sein Lachen ging nahtlos in Husten über. "Entschuldige..." Athos räusperte sich, dann sprach er weiter: "Er hat mich eingeladen, ihn einmal zu besuchen wenn ich die Zeit dazu finde."

"Und warum tust du es nicht?" Aramis genoss ihre Unterhaltung. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte es kein so ungezwungenes Gespräch mehr zwischen ihnen gegeben. Fast hätte sie darüber das prall gefüllte Ledersäckchen mit den Arzneien vergessen, dass an ihrem Gürtel hing.

"Er hat mir eine Bedingung gestellt...ich soll meine Frau mitbringen. Und da es an einer solchen bisher noch mangelt wie du ja weißt, werde ich auch nicht nach Italien reisen. Er ist grausam genug mich vor seiner Haustür stehen zu lassen wenn ich alleine komm."

"Merkwürdiger Freund..." Aramis löste den Knoten um ihren Gürtel. "Ich war vorhin bei Schwester Clementine. Sie hat mir einige Sachen für dich mitgegeben von denen sie meint, dass sie dich recht schnell wieder auf die Beine bringen würden." Athos verdrehte die Augen. Die Arzneien der Nonne erzielten zwar durchaus den gewünschten Erfolg, hatten aber einen unangenehmen Nachteil: Nach ihrer Anwendung stank der Patient wie ein Kräutergarten im Hochsommer. Aramis schwörte seit ihrer Ankunft in Paris auf die alte Frau, die nicht nur Mittelchen gegen Erkältung und Magenbeschwerden herstellte, sondern sich auch in der Behandlung von Wunden sehr gut auskannte. Für seine Kollegin aber hatte sie über Jahre hinweg noch ganz andere, entscheidende Vorteile gegenüber den Badern und Medizinern der Stadt gehabt: Verschwiegenheit und Toleranz. Bei ihrem ersten Besuch im Kloster St. Genevieve hatte die Nonne Aramis schwören müssen, Stillschweigen über ihre Identität zu bewahren. Seitdem hatte sie sich sowohl um das körperliche als auch seelische Leid der jungen Frau gekümmert. Wenn sie etwas zu beichten hatte, ging sie dorthin wo sie nicht in die Verlegenheit kam, ihre Situation erklären zu müssen. "Und das wäre?"

"Zum einen getrocknete Kamille. Entweder du nimmst sie als richtiges Bad oder du gießt sie mit heißem Wasser auf und inhalierst die entstehenden Dämpfe. Sie meinte die zweite Methode wäre besser, aber dass müsstest du selbst entscheiden. Dann natürlich jede Menge Kräutertees und zu guter Letzt ein kleiner Topf mit einer Kräutersalbe für Rücken und Brust. Frage mich nicht was da alles drin ist, ich weiß es nicht. Schwester Clementine hat es mir gesagt und mir erklärt, wofür das alles gut ist, aber soviele Namen kann ich mir beim besten Willen nicht merken. Es soll wohl unter anderem beruhigend wirken. Damit du endlich einmal schläfst! Ich denke sie weiß was sie tut. Ach und noch etwas: Kein Bier, kein Wein! Strickte Anweisung von Clementine und mir."

"Ihr seid grausam..." Athos schloß die Augen. Er hatte Kopfschmerzen und jetzt doch ein wenig das Bedürfnis zu schlafen. "Hoffentlich geht das bald vorbei."

"Das kommt wohl ganz darauf an wie du dich verhältst. Wenn du einfach nur liegen bleibst und vor allem nicht liest dürftest du wohl ziemlich schnell wieder einsatzbereit sein. Ich schätze in drei Tagen. Wenn du ruhig bleibst, wie gesagt."

"Du bist schlimmer als meine Amme es je hätte sein können..."

"Du scheinst es aber nicht anders zu verstehen." Aramis zog ein kleines irdenes Töpfchen aus dem Beutel und entfernte den Korken. Sofort erfüllte ein würziger Geruch das Zimmer.

"Dieses Zeug stinkt. Und ich sage das obwohl meine Nase voll ist und ich sonst nichts rieche. Unter keinen Umständen schmier ich mir sowas auf die Haut!"

"Fein, das hätte ich sowieso für dich gemacht. Oder willst du mir erzählen dass du dir deinen Rücken selbst einschmieren kannst? Das hätte ich dann nämlich gerne mit eigenen Augen gesehen!" Athos glaubte nicht richtig zu verstehen. Sie wollte was? "Wenn du dich also für einen Moment aufrichten könntest?" Sollte er dafür diese stinkende Tinktur über sich ergehen lassen? Athos beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Auf einmal war er hellwach und sah Aramis dabei zu, wie sie ihre Stiefel neben seine stellte.

"Halten!" Sie drückte ihm den kleinen Topf in die Hand, setzte sich hinter ihm aufs Kissen und strich ihm die Haare aus dem Nacken.

"Ich hoffe du bist dir der Tatsache bewußt dass mein gesamtes Bettzeug nach Kräuterbeet riechen wird..." Bereits nach wenigen Sekunden war er sich sicher, dass er den beißenden Geruch angesichts der angenehmen Behandlung ertragen könnte. Ihre Hände strichen langsam erst über die Schulterblätter, dann die Wirbelsäule entlang und den Nacken hinauf. Sie erzeugten ein angenehmes Kribbeln auf seiner Haut.

"Selbstverständlich. Ich werde dafür sorgen dass sie jeden Tag gewechselt wird. Das wird sowieso nötig sein, schließlich schwitzt du wie ein Tier und das möchte ich weder dir noch mir zumuten."

"Du willst mich also noch häufiger beehren?"

"Natürlich, irgend jemand muss dir ja den Rücken einbalsamieren..."

"Nur Tote werden einbalsamiert...soweit bin ich noch nicht. Aber wo wir schon davon reden, wie war dein Gespräch mit dem Gesandten?" Athos zog die Schulterblätter zusammen. Selbst seine Muskeln versagten ihm heute den Dienst.

"Besser als erwartet. Allerdings scheinen diese Bayern einen etwas eigenartigen Geschmack zu haben. Aber das wirst du wahrscheinlich noch selbst sehen. Nun ja, ich musste feststellen dass besagter Graf sich sehr gut mit uns auskannte. Er kannte sowohl mich als auch dich und den Kapitän, was mich doch etwas verwundert hat. Ich habe ihm jedenfalls das erzählt, was wir vorher vereinbart hatten."

"Wie würdest du ihn einschätzen?"

"Er ist ein Schönling. Sehr von sich überzeugt. Vielleicht zu Recht, dass kann ich nach so kurzer Zeit nicht sagen. Ich denke allerdings er ist zu jung um wichtige Beziehungen zu haben...nicht wirklich wichtig also."

"Zu jung? Inwiefern?"

"Er ist jünger als du, was ich eigentlich nicht erwartet hätte. Ich war mir bis jetzt eigentlich ziemlich sicher dass die Aufgaben eines Gesandten ein gewisses Maß an Reife und Erfahrung voraussetzen. Er lässt beides ein bisschen vermissen."

"Herrgott das klingt ja als wäre ich sonst wie alt!" Mindestens so alt wie er sich im Moment fühlte, schoß es ihm durch den Kopf. Seine Arme wurden von Minute zu Minute schwerer, genauso wie sein Kopf.

"Entschuldige, dass machen die Umstände...du weißt schon, bettlägerig, pflegebedürftig, viel Tee, jede Menge Kräuter...erinnere mich daran dass ich dir nachher noch ein paar kalte Umschläge hole!"

"Wenn mein müder alter Verstand dass denn noch zulässt werde ich das vielleicht tun, ja." Genüßlich schloß er die Augen. Langsam aber sicher wurde aus ihrer Kräuterbehandlung eine entspannende Massage.

"Ausserdem" Aramis machte eine dramatische Pause. "habe ich die Gräfin von Rosenbaum kennengelernt."

"Und?"

"Eine unheimlich schöne Frau. Sie könnte genauso gut die Kurfürstin persönlich sein."

"Höre ich da etwa Worte der Bewunderung? Seit wann hast du positive Worte für eine Frau übrig?"

"Du hättest sie sehen müssen, dann würdest du verstehen was ich meine. Ihre Nase ist besonders hübsch. Eigenwillig, aber hübsch..."

"Das verstehe ich nicht. Deine Nase ist doch auch sehr hübsch." Dieses Kraut musste ihm das Hirn vernebelt haben.

"Hübsch groß vielleicht...aber wie gesagt, eine hübsche Frau. Dürfte am Hof noch für reichlich Gesprächsstoff sorgen. Zumal zwischen ihr und ihrem Gatten ein etwas...kühles...Verhältnis zu bestehen scheint. Man spricht nicht mit einander. Aber Madame hat ebenfalls schon von mir gehört. Alles in allem hat man mir den Eindruck vermittelt dass der gesamte Hofstaat ständig nur über mich spricht. Ich dachte eigentlich dass das Thema längst passé wäre. So kann man sich irren." Abschließend strich sie noch einmal seine Wirbelsäule entlang. "Die Brust kriegst du allein hin, oder?" Umständlich kletterte Aramis aus dem Bett. "Wo finde ich bei dir ein paar Tücher?"

Athos wies auf den Schrank: "Linke Tür." Mit lautem Ächzen ließ er sich nach hinten fallen.

"Was jetzt?" Aramis fuhr herum.

"Ich könnte schlafen..."

"Dann tu's doch." Sie lachte. "Lass dich durch mich nicht aufhalten. Ich komm schon allein zurecht..." Als sie sich das nächste Mal umdrehte, gab Athos bereits ein leises, gleichmäßiges Schnarchen von sich. Also griff sie erneut zu dem kleinen Töpfchen und wandte sich der Vorderseite ihres Freundes zu.

Clovis stand schwer seufzend vor dem, was einmal seine spärliche Einrichtung gewesen war. Die Strohfüllung seiner Matratze lag über den ganzen Boden verstreut, teilweise begraben unter Brettern, die einmal ein Bettgestell vorgetäuscht hatten und Beinen, die einmal zu einem Tisch gehört hatten.

Die Pariser Polizei hatte den ,Roten Hund' vor wenigen Minuten verlassen und nur einem Glücksfall war es zu verdanken, dass sie nicht auch Clovis abgeführt hatten. Er war eben erst von den Hallen zurückgekehrt und hatte schon von weitem das Chaos vor der Kneipe sehen können. Die Tür war aus den Angeln gehoben worden und lag nun mitten auf der Straße, zusammen mit ein paar Spielkarten und Tonscherben.

Sein Freund Cornelis hatte alle Mieter mit seiner Gier in´s Verderben gestürzt. Sie würden in den Hallen zur Schau gestellt und mit faulen Eiern und schlimmerem beworfen werden. Clovis bekreuzigte sich hektisch und machte dann auf dem Absatz kehrt. Vielleicht fand er in einer der Straßenrinnen noch etwas faules Gemüse.
 

Aramis indessen las interessiert den Brief, der zusammen mit dem Buch aus Italien gekommen sein musste, immer mit einem Ohr an der Schlafzimmertür, um nicht überrascht zu werden:

"Mein lieber Armand,

Mit Bestürzen habe ich deinen letzten Brief gelesen. Mehrmals sogar, weil ich seinen Inhalt nicht glauben konnte.

Kurze Zeit vor seiner Ankunft hier in Venedig war ich verreist in dem festen Glauben, nie wieder einen Brief von dir zu erhalten. Ich hielt dich tatsächlich schon für tot, so lange hatte ich nichts von dir gehört. Wie lange war es her? Ein halbes Jahr? Um so glücklicher war ich, nach meiner Rückkehr einen Brief mit deinem Siegel auf meinem Schreibtisch zu finden. Wenngleich ich sagen muss, dass mir einiges darin doch sehr unwahrscheinlich erscheint. Wie dem auch sei: Ich denke ich muss dir glauben. Wo du doch nie ein Freud spektakulärer Märchen warst. Mir bleibt also nur, mich über die Zustände in meinem Vaterland zu wundern. Allerdings hätte ich auch niemals gedacht, dass du dich einmal so für ein Weibsbild einsetzt. Noch dazu völlig frei von Hintergedanken. Ich hoffe, dass sich der Fall zum Zeitpunkt, da du diesen Brief liest, bereits zu euren Gunsten aufgeklärt hat. Darf ich euren sagen? Ich meine, es so verstanden zu haben.

Nun, wie dem auch sei, auch hier in Italien tut sich derzeit einiges. Die heilige Kirche zieht, wie du vielleicht schon aus anderen Quellen vernommen hast, in den Krieg gegen die neue Wissenschaft. So etwas spricht sich ja doch relativ schnell herum. Besonders, da du ja in einer Stadt mit Universität lebst. Hast du dich eigentlich jemals wieder in eine Vorlesung geschlichen? Aber zurück zum Thema: Man hält es für sinnvoll, großen Geistern wie Galilei Verbote aufzuerlegen, um ihre revolutionären Erkenntnisse zu unterdrücken und die gefährdete Christenheit vor solch ketzerischen Botschaften zu bewahren. Als ob die Christenheit nicht auf sich selbst aufpassen könnte. Der Heilige Vater scheint uns tatsächlich für völlig hilflos zu halten. In Anbetracht dieser momentanen Situation möchte ich dich daher auch bitten, mit dem beigelegten Buch vorsichtig umzugehen. Sollte es den falschen Leuten in deinem Besitz auffallen, dürftest du schnell erneuten Kontakt mit der Inquisition haben, sofern das andere Verfahren überhaupt schon abgeschlossen ist. Deswegen dürftest du vergeblich nach einem Titel suchen. Ich erhielt das Buch von einem Mönch hier in Venedig. Wie du ja weißt, verfassen viele der neuen Wissenschaftler ihre Werke in ihrer Landessprache. Um eine verständliche Sammlung dieser Schriften zu verlegen, hat man sie in´s Lateinische übersetzt. Ich denke nicht, dass dir eine deutsche Ausgabe der kopernikanischen Theorien geholfen hätte. Wo ich schon davon spreche, dieses Buch enthält Auszüge aus Kopernikus´ "De revlutionibus", dass sich bis zu seiner so genannten Korrektur auf dem vatikanischen Index befindet. Ich möchte dich noch einmal dazu ermahnen, es unter keinen Umständen den falschen Leuten in die Hände fallen zu lassen. Du bist mir ein zu teurer Freund, als dass ich dich wegen etwas derartigem in den Fängern der Gerichtsbarkeit sehen möchte. Vielleicht sage ich dir das alles aber auch völlig zu Unrecht.

Kommen wir nun aber zu etwas erfreulicherem. Es macht nun doch langsam den Anschein, als würde mein lieber alter Schwiegervater endlich - Gott verhüte dass meine wundervolle Frau dies liest - das Zeitliche segnen. Natürlich wäre dies ein tragischer Tag für meine Familie, aber ich muss dir gestehen, dass dieser alte Mann mir ein ums andere mal den Verstand zu rauben droht. Er hält mich für komplett unfähig, dieser greise Narr. Mein Vater hat mich gelehrt, eine gesamte Grafschaft zu verwalten und mein Herr Schwiegervater unterstellt mir, ich könnte nicht einmal ein kleines Geschäft regieren. Ich sage dir, es wird Zeit.

Mein Bruder hat mich vor einiger Zeit mit seiner Anwesenheit beehrt. Du hattest Recht, sein Weib ist wirklich ein garstiges Stück. Während ihres gesamten Aufenthaltes gab es kaum einen Moment, in dem sie sich von ihrem Taschentuch getrennt hätte, aus Angst vor der Pest. Das ist ein halbes Jahrhundert her! Seit mehreren Jahrzehnten ist diese Stadt frei von jeder Seuche geblieben, was bildet dieses Weibsstück sich ein? Und dann hättest du sehen sollen, wie sie meine Frau die ganze Zeit beobachtet hat. Als hätte ich sie auf der Straße aufgelesen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie eine Cousine von dir sein soll.

..."

Hektisch faltete Aramis den Brief zusammen, als sie im Nebenzimmer ein leises Husten vernahm. Wo hatte er gelegen? Und vor allem wie? Sie konnte sich nicht erinnern und beschloss daher, ihn einfach fallen zu lassen. Mit einem letzten Schups mit der Fußspitze landete das gefaltete Stück Papier unter dem Tisch. Im selben Moment öffnete sich hinter ihr die Schlafzimmertür.

"Du bist ja immer noch hier?" Athos wischte sich verschlafen über die Augen und ließ dann einen prüfenden Blick auf den Tisch fallen.

"Was? Jaja, ich...ich habe...ich war in Gedanken versunken." Sie kratzte sich am Hinterkopf.

"Wo ist der Brief?"

"Welcher Brief?" Aramis sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wie unglaubwürdig mochte das jetzt geklungen haben?

"Du weißt schon...der aus Italien, der vorhin noch dort auf dem Tisch gelegen hat. Der über das Buch, die Kirche, den Tod und meine Cousine." Er hob die Augenbrauen.

"Achso, der Brief. Ich weiß auch nicht." Nur für einen kurzen Augenblick wanderten ihre Augen unter den Tisch, aber es genügte, um Athos den entscheidenden Hinweis zu geben.

"Du bist zu neugierig, weißt du das?" Aramis nickte betreten.

"Als ob du besser wärst. Nur dass du deine Neugier mit verbotenen Büchern stillst..." Für einen Moment hielt sie inne. "Ist das nicht unglaublich riskant?"

"Nicht mehr als sich als Mann zu verkleiden...ich denke sogar dass ich mit einer Abmahnung davonkommen würde, sollte man mich jemals dabei erwischen. Und das Risiko bin ich bereit einzugehen. Es gibt einfach zu viele Dinge die wir noch nicht wissen und von der die Kirche aus welchen Gründen auch immer will, dass wir sie niemals erfahren. Du hast es ja selbst gelesen. Man verbietet uns Kopernikus, weil seine Lehre nicht mit der Bibel übereinstimmt. Gleichzeitig entwickelt ein Mann in Italien ein Teleskop, mit dem er genau das nachweist, was uns die Kirche als Irrlehre verkaufen will. Er entkräftet die Bibel und nimmt der Kirche damit ihre Macht. Rom hat

Angst und geht jetzt wie ein verschrecktes Tier zum letzten verzweifelten Angriff über. Damit mögen sie ja bei anderen Erfolg haben, aber ich bin wirklich zu alt für Märchen." Aramis musste mit Erstaunen feststellen, dass die Mittelchen von Schwester Clementine schneller wirkten als ihr lieb war.
 

Die Stimmung in den Hallen war großartig. War man hier fremd hätte man meinen können, es wäre ein Festtag. Aus allen Gassen strömten gut gelaunte Menschen in die Hallen, schwatzend, lachend und singend, viele von ihnen mit Körben oder kleinen Beuteln unter den Armen. Schloss man sich einer dieser Gruppen an, gelangte man auf einen freien Platz im Zentrum des Marktes. Dort ragte über die Köpfe der Menschen hinaus ein Pranger, der den Parisern mit schöner Regelmäßigkeit ein wenig Erheiterung bescherte. Clovis erkannte sie alle. Den einbeinigen Mattheo, der vor Wut Gift und Galle auf die umstehenden Massen spie und ihm noch eine warme Mahlzeit schuldete, den alten Jean, der sich selbst als Koch im ,Roten Hund' bezeichnete obwohl er die meiste Zeit besoffen in der Ecke lag, und auch Cornelis war unter ihnen. Wenigstens hatte ihn die gerechte Strafe ereilt, schoß es Clovis durch den Kopf.

Über seinem linken Auge klebten noch einige Eierschalen und von allen Seiten verfluchten ihn seine Mitgefangenen. Die größte Strafe würde ihm jedoch noch bevorstehen. Dann nämlich, wenn ihre Zeit am Pranger zu Ende war. Cornelis würde sich wohl eine neue Stadt suchen müssen.

Über dem Geschehen in den Hallen trohnte Polizeikommisar Cormier, dem die erfolgreiche Ausräumung der Spelunke über seine Pleiten am Vortag hinweghalf. Die Musketiere, dieser elendige Haufen verwöhnter Adelssprößlinge, raubten ihm den Ruhm, den er so gerne für die Polizei und vor allem für sich selbst wollte. Überall in Frankreich sprach man von Monsieur de Treville und seinen großartigen Musketieren; niemand kannte jedoch einen Cormier. Kein junger Man kam nach Paris um Polizist zu werden. Nein, Musketier wollte man sein. Warum das so war lag für Cormier klar auf der Hand. Die Frauen waren es. Das elendige, klatschsüchtige Weibsvolk. Das die Garde des Königs einen Schlag bei den Frauen hatte war bekannt. Nur so konnte ihr Ruhm begründet sein. Das Weibsvolk gab sich romantischen Träumereien hin von schönen, heldenhaften jungen Adligen und die gab es ja bekanntlich zu Hauf bei den Musketieren. Und andererseits wollten - so zumindest die Meinung des Polizeikommissars - die meisten jungen Männer nicht des aufopferungsvollen Einsatzes für den König wegen, sondern für die Zuneigung der Frauen Mitglied in Treville´s Haufen werden. Wein, Weib und Sünde waren bei den Musketieren Tageswerk. Das hatte man ja gerade erst in jüngster Zeit gesehen. Das die Inquisition am Ende von dieser Hexe in Männerkleidung abgelassen hat konnte für Cormier nur mit dem Teufel zugegangen sein. Er hasste sie. Er hatte sie schon gehasst, als er sie noch für einen Mann gehalten hatte. Damals, weil er so beliebt war bei den Frauen - selbst bei seiner eigenen -, und jetzt, weil er eine war. Wie gerne hätte er sie brennen sehen. Sie hätte allen Musketieren geschadet und ihn selbst, und natürlich auch die Polizei, in einem strahlenden Licht dastehen lassen.

Cormier zählte wahrlich nicht zu den hellsten Köpfen seiner Zeit. Ganz im Gegenteil, in seinem Kopf herrschte sogar ziemliche Finsternis. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, war er ein folgsames Schäfchen seiner Kirche.

Einem Zufall war es zu verdanken, dass D´Artagnan und Aramis an diesem ungewöhnlich warmen Märzmorgen in der Nähe des Friedhofs waren, auf dem die Beisetzung Henriette Ouvrards stattfand. Kaum hörbar wehten die Worte des kleinen gebückten Geistlichen zu ihnen herüber, kaum hörbar das Schluchzen der ebenfalls gebeugten Mutter des toten Mädchens. Daneben, wie ein Fels und heute fast doppelt so groß wie seine Frau, stand der Schmied Ouvrard. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass er geistig abwesend war. Wahrscheinlich war er eher damit beschäftigt sich selbst zu bemitleiden als seine Tochter. Hinter ihnen reihten sich weitere Verwandte des Mädchens. Aramis erkannte einen unter ihnen als den jüngeren Bruder der Toten. Ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere, als würde ein dringendes Bedürfnis seine Aufmerksamkeit verlangen.

Sie beobachteten das Geschehen aus einiger Entfernung, bis die Trauergesellschaft sich anschickte, in alle Richtungen auseinanderzugehen. Ein Teil von ihnen würde sich am Nachmittag erneut im Hause Ouvrard einfinden, um einen bescheidenen Leichenschmaus einzunehmen.

"Komm mit!" Sie packte D´Artagnan am Handgelenk und zog ihn hinter sich her.

"Wo wollen wir denn hin?" Angesichts der ruckartigen Bewegung wäre er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert.

"Zu ihm!" Aramis deutete auf den jungen Ouvrardsproß, der nervös hinter seinem Vater hertänzelte. "Monsieur?" Der Hufschmied schien sie kaum wahrzunehmen. Aramis bedauerte die Entwicklung, die er nach dem Tod des Mädchens durchgemacht hatte. Zwar entwich ihm ein leises Brummen, sein Blick ging jedoch weiterhin stur ins Leere. "Ich würde mich gerne mit eurem Sohn unterhalten." Wieder erhielt sie nur ein Brummen als Antwort. Dann, von einer Sekunde auf die andere, klärte sich sein Blick und er starrte Aramis an.

"Warum?"
 

Es hatte D´Artagnan einige Mühe gekostet, den tobenden Klotz zu beruhigen. Seine Tochter hätte keinen Umgang hatte er gebrüllt, und was Aramis denn einfiele, derartige Andeutungen zu machen. Seine Tochter sei ein anständiges Kind gewesen und was könnte ihr Bruder schon von all dem wissen, der sei ja selbst zum Pinkeln zu dämlich, wie man ja sehen könnte.

In der Tat bewegte sich der junge Ouvrard reichlich kurios vorwärts. Die Hände in die Hosenbeine gekrallt, die Beine beim Laufen kreuzend, tänzelte er vorwärts. Sie hatten sich vom Rest der Trauergemeinschaft getrennt und waren in die andere Richtung gegangen.

"Hatte eure Schwester Kontakt mit Männern?"

"Wie bitte?" Olivier Ouvrard kniff die ohnehin schon kleinen Augen zu Schlitzen zusammen.

"Ob sie Verehrer oder ähnliches hatte..."

"Ich muss pinkeln verdammt, seht Ihr das nicht?"

"Es ist nicht zu übersehen!"

"Und warum haltet ihr mich dann auf?" Er war genauso hitzig wie sein Vater.

"Weil wir einige Fragen an euch haben, darum..."

"Könnt ihr die nicht ein anderes Mal stellen?"

"Nicht wenn ich sie jetzt stellen kann. Wenn ihr also ein so dringendes Bedürfnis habt, warum entledigt ihr euch nicht endlich dieses Drucks?"

"Ich soll was?" Für einen Moment hörte er auf zu tänzeln. "Vor euch? Ich denke nicht daran!" Er schüttelte wild den Kopf und brachte so die dunklen Locken durcheinander, die bis eben noch gebändigt auf seinem Kopf gelegen hatten.

"Stellt euch nicht so an. Ihr seht lächerlich aus wie ihr hier über die Straße tanzt wie ein Narr in Sonntagskleidung." Aramis deutete auf eine schmale Gasse. "Ich warte hier. D´Artagnan begleitet euch, damit ihr den Weg zurück nicht vergesst vor lauter Erleichterung."

Etwas peinlich berührt lauschte D´Artagnan dem nicht enden wollenden Plätschern neben sich. Er vermied es tunlichst, den Jungen direkt anzusehen. Am liebsten hätte er Aramis dafür verflucht, dass seine Stiefel jetzt in einer schlammigen Pfütze aus Pisse und allem möglichen anderen Dreck standen und bei jeder Bewegung schmatzende Geräusche erzeugten.

"Sie hatte einen Verehrer." Olivier sprang übertrieben auf und ab, um sich auch der letzten Tropfen zu erleichtern.

"Wie bitte?" Jetzt starrte D´Artagnan ihn an.

"Meine Schwester hatte einen Verehrer. Er lebt irgendwo am anderen Ende von Paris. Sie haben sich heimlich getroffen. Meistens ausserhalb der Stadtmauern, wo sie sich sicher fühlten. Fast jede Woche. Sie hat nicht darüber geredet, verständlicherweise. Vater hätte sie ins Kloster geschickt, wenn er davon erfahren hätte." Er nestelte nervös in seinem Schritt.

"Und woher weißt du es dann?"

"Ich bin ihr Bruder. Natürlich hat es mich interessiert, was sie so häufig ausserhalb der Stadt zu tun hat. Sie hat immer gesagt, dass sie Kräuter sammeln wolle. Bis zum Winter. Dann ging sie einfach so. Was hätte sie auch sagen sollen? Also bin ich ihr eines Tages gefolgt. Kurz vorm Tor haben sie sich getroffen und haben dann gemeinsam passiert."

"Was geschah danach?"

"Weiß ich nicht. Bin in der Stadt geblieben. Ihr versteht sicher, dass ich meine Schwester nicht dabei erwischen wollte, wie sie mit diesem Kerl Unzucht treibt!"

"Habt ihr ihr das denn zugetraut?"

"Sie ist eine Frau. Ich traue es jeder Frau zu. Sie sind schwach und nur zu leicht bereit, sich jedem hinzugeben, der ihnen das Blaue vom Himmel verspricht."

"Könnte eure Schwester ihm ein Versprechen gemacht haben, dass zu halten sie nicht in der Lage war?"

"Ihr meint ein Eheversprechen?" Die dreckigen Finger fuhren über einen krummen Nasenrücken, der kaum zum Alter des Jungen passen wollte.

"Zum Beispiel."

"Nein, ich glaube nicht. Aber mir hat sie ja auch nicht alles erzählt." Er hob resigniert die Schultern. "Und ehrlich gesagt halte ich sie auch nicht für so dumm."

"Wisst ihr, wo wir ihn finden könnten?"

"Henriette sprach häufig von St. Séverin. Ich nehme an, er wird dort in einer Seitengasse hausen. Würde auch erklären, warum er sich nie unserem Vater vorgestellt hat. Papa hätte nicht zugelassen, dass ein armer Schlucker sie heiratet. Fragt mal nach einem gewissen Julien Victor. Ich glaube so war sein Name. Sonst noch was?" Olivier Ouvrard wippte unruhig mit der Fußspitze auf und ab. Angewidert beobachtete D´Artagnan, wie der aufgespritzte Schlamm von seinen Stiefeln perlte.

"Nein, ich denke fürs Erste war es das. Aber wir werden bei Gelegenheit auf euch zurückkommen."
 

Aramis sah ihn fragend an. "Wo hast du den Jungen gelassen?"

"Hab ihn nach Hause geschickt, sonst hätte er mir wahrscheinlich aus Protest direkt auf die Stiefel gepinkelt. Furchtbarer Bengel..."

"Hör sich einer das an. Er ist höchstens vier Jahre jünger als du! Ich schätze, du warst nicht viel besser als er."

"Aber ich hätte vermutlich eine bessere Meinung von meiner Schwester gehabt!"

"Warum?"

"Weil er seiner Schwester einige unschöne Dinge unterstellt. Sie soll sich vor den Stadtmauern mit hübscher Regelmässigkeit mit einem Mann vergnügt haben. Wenn man ihm glauben darf. Ihre Eltern haben angeblich nichts davon gewusst, im Gegensatz zu ihm. Aber warum sollte er seine Schwester einfach ihrem Schicksal überlassen? Ich meine, es wäre doch logischer, wenn er mit seinen Eltern gesprochen hätte."

"Und was denkst du, hätten sie dann unternommen? Ihr Vater wäre vermutlich durchgedreht, hätte sie geprügelt oder ähnliches. Ihre Mutter wäre vielleicht zu einer Freundin gegangen, hätte ihr ihr Leid geschildert, die wiederum hätte es einer anderen Freundin erzählt und irgendwann hätte es die ganze Nachbarschaft gewusst. Er hätte das Mädchen niemals verheiraten können. Noch schlimmer, wenn er sie verstoßen hätte: Du kannst dir ihr Schicksal vorstellen. Vielleicht hätte der Henker sie dann noch geheiratet. Ihre Tageseinnahmen wären so oder so an ihn gefallen. Ihr Bruder wollte aus der ganzen Sache schlicht einen Vorteil ziehen. Stell dir doch nur mal vor: Seine Schwester legt ein skandalöses Verhalten an den Tag und muss mit der Rache ihrer Eltern rechnen. Jeder, der von ihrem kleinen Geheimnis weiß, ist eine Gefahr für sie. Ihr Bruder weiß das nur zu gut. Also konfrontiert er sie mit den Fakten. Sie hat zwei Möglichkeiten. Sie hofft, dass ihr Bruder seine Drohung auf keinen Fall wahr macht, oder sie geht auf sein Angebot ein. Wer weiß, um was für einen Gefallen es sich dabei gehandelt hat. In seinem Alter dürfte sein Wunsch nicht viel unschuldiger gewesen sein als das Treiben seiner Schwester."

"Du hast nicht zufällig einen Bruder?" D´Artagnan grinste.

"Wie kommst du nur darauf?" Ihre Augen strahlten. "Er hat mir das Reiten beigebracht. Heimlich. Im Gegenzug habe ich ihn verteidigt, wenn er sich herumgetrieben hat. Besonders später, als er in fremden Haushalten die Dienstmädchen und reichen Töchter verführt hat. Wir hatten einander ziemlich gut unter Kontrolle." Sie blies sich eine Strähne aus der Stirn. Schon seit einigen Wochen hatte D´Artagnan das Gefühl, dass ihre Haare immer länger wurden.

"Hm...wo liegt St. Séverin?"

"Im Quartier Latin. Solltest du aber langsam wissen."

"Hmhm. Dann müssen wir jetzt zum Quartier Latin. Der Junge meinte, wir würden dort ihren Liebhaber finden."

"In St. Séverin?" Aramis starrte ihn ungläubig an. Eine Liebschaft zu haben war eine Sache. Eine Liebschaft mit einem Mann der Kirche eine völlig andere.

"Nein, natürlich nicht. Aber in einer der Seitengassen um die Kirche herum. Sein Name lautet Julien Victor oder ähnlich. Jetzt müssen wir ihn nur noch finden."

"Nicht jetzt. Ich habe Athos versprochen, dass ich nach dem Mittag nach ihm sehe und ihm etwas zu essen mitbringe. Ich muss also auch noch bei einer Garküche vorbeisehen." Aramis sah zum Himmel und kniff die Augen zusammen. "Ich muss mich wohl etwas beeilen." Sie drehte sich um und marschierte direkt in die Richtung, in der Athos Wohnung lag.
 

"Warum rennst du denn so?" D´Artagnan hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Aus einem ihm unerfindlichen Grund hielt er es für angebracht, ihr zu folgen.

"Weil es jetzt kurz vor zwölf ist. Ich habe mit Madame Gervis abgesprochen, dass sie oder ihre Tochter gegen zwei Uhr sein Bett neu beziehen. Ich will ihn auf gar keinen Fall mit seiner Vermieterin oder ihrer Tochter allein lassen. Die haben beide ein Feingefühl wie die Metzger!"

"Und es hat natürlich nichts damit zu tun, dass die Tochter alles tun würde, um Athos für sich zu gewinnen."

"Natürlich nicht. Zum einen unterstelle ich ihm einen besseren Geschmack und zum anderen ist es seine Sache, von wem er sich gewinnen lässt."

"Natürlich..."

"Hör auf damit!" Unvermittelt blieb Aramis stehen. "Wir sind da." Ihr Finger deutete auf einen offenen Fensterladen, aus dem ununterbrochen weißer Dampf hervorquoll.

"Und überhaupt, warum müssen sie ausgerechnet jetzt sein Bett wechseln? Kann das nicht warten bis er wieder gesund ist?"

"Eben nicht. Ich habe ihm eine Salbe besorgt, die ganz übel klebt und stinkt. Aber sie scheint zu helfen. Jedenfalls will ich einfach vermeiden, dass er irgendwann an den Kräuterdämpfen erstickt." Sie sah in das schwarze, dampfende Loch und entschied sich, gegen den rissigen Rahmen zu klopfen. Unter ihren Fingerknöcheln löste sich die blassblaue Farbe und glitt in kleinen Fetzen zu Boden. Irgendwo aus der Schwärze rief eine Stimme: "Komme gleich!" Dann löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Zuerst eine weiße Haube, dann ein weißes rundes Gesicht und schließlich der Rest des Körpers, geschnürt in ein zu enges Kleid, das farblich zum Fensterrahmen passte. "Was darf´s sein die Herrschaften?" Ihr Gesicht legte sich in unzählige kleine Lachfalten.

"Ist noch etwas gebratener Fisch übrig?"

"Selbstverständlich. Wie viele sollen´s denn sein?"

"Zwei oder drei. Je nachdem, wie groß sie sind. Sagt einmal, ihr bekommt doch sicherlich einiges mit von dem, was in der Stadt so passiert. Ist euch zufällig etwas über den Tod einer gewissen Henriette Ouvrard zu Ohren gekommen?" Aramis beobachtete kritisch, wie die Köchin einige Fische in der Hand abwog, ein paar von ihnen wieder weglegte und andere im einfallenden Licht der Straße hin- und herdrehte. Sie wusste sehr wohl, dass die Musketiere bereit waren, für Qualität zu zahlen.

"Das arme Ding, das sie vor kurzem aus der Seine gefischt haben?" Sie wartete auf ein Nicken und sprach dann weiter. "Nicht viel. Einige Leute sagen, sie wäre freiwillig ins Wasser gegangen und ihre Familie hätte versucht, es wie einen Mord aussehen zu lassen. Andere sprechen vom Teufel..."

"Nichts Konkretes also. Könntet ihr mir den Fisch einwickeln?" Geschichten vom Teufel kannte Aramis zu Genüge und ihr Glaube an selbigen war zu gering, als dass sie ihnen irgendeine Form von Aufmerksamkeit schenken würde. Der einzige ihr bekannte Teufel trug die Kutte eines Kardinals und führte dem französischen König nur zu gerne die Hand in Staatsangelegenheiten. Und selbst dieser Teufel war keine Ausgeburt der Hölle, sondern ein Geschöpf erschaffen aus Machtgier.

Das Fischfett durchweichte allmählich den dünnen Stoff und verlieh ihm eine gelbliche Färbung. Es wurde höchste Zeit, dass sie Athos´ Wohnung erreichten, sonst würde sie morgen ohne Handschuhe zum Dienst erscheinen müssen. Aramis sprach einige milde Flüche auf D´Artagnan, der ihre Schritte durch ständige Sticheleien gebremst hatte. Im Hausflur angekommen übersprang sie jede zweite Stufe, dicht gefolgt vom schnaufenden D´Artagnan.

„Zieh die Stiefel aus, bevor du reinkommst!“ Ihr Ton ließ keine Widerworte zu, also fügte sich der junge Mann in das Schicksal des Unterwürfigen und begann, an seinen Stiefeln herumzuzerren. Aramis hingegen trat sofort ein.

„Und warum lässt du deine an?“ D´Artagnan sah verwundert von seinen Füßen auf.

„Weil ich nicht bis zu den Knöcheln in Jauche gestanden habe, deshalb! Und jetzt Ruhe.“ Sie legte einen Finger an die Lippen und spähte in den Raum. Der große schwere Sessel war verwaist, der Kamin kalt und leer. Sollte er sich tatsächlich an ihre Anweisungen gehalten haben? Auf Zehenspitzen schlich sie zum Schlafzimmer – angesichts der alten, knarrenden Bohlen kein leichtes Unterfangen – und spähte ins Innere. Ein Schwall aus verschiedensten Kräuterdüften strömte ihr entgegen. Zufrieden stellte sie fest, dass, abgesehen von leisem, gleichmäßigem Schnarchen, alles ruhig und dunkel war. Dann winkte sie D´Artagnan zu sich.

„Such dir einen Topf und wärm die Fische noch mal ein wenig auf. Und dann schneid ein wenig Brot. Ich glaube nicht, dass ihm soviel Fett auf leeren Magen bekommt…“

„Und du?“ D´Artagnan griff widerwillig nach dem Fisch.

„Ich werde versuchen ihn aufzuwecken. Dann werden wir sehen, wie lange wir noch auf ihn verzichten müssen.“

D´Artagnan wartete, bis sie völlig in dem angrenzenden Raum verschwunden war und ging anschließend Richtung Küche. Wie gerne würde er jetzt Mäuschen spielen. Aber nein, stattdessen sollte er in einer fremden Küche nach Töpfen und Brot suchen. Er sah sich um. Die Räume waren nicht von einander abgetrennt. Vom Herd aus hatte man freie Sicht auf den Sessel, auf den er sich schon immer einmal hatte setzen wollen aber nicht den Mut dazu fand, dahinter die Regale mit sorgfältig aufgereihten Büchern, links davon die Tür, hinter der Aramis vor zwei Minuten verschwunden war. Von hier aus gesehen wirkte die Wohnung nahezu spärlich eingerichtet. Trat man jedoch durch die Wohnungstür hinein, strahlte sie eine unaussprechliche Würde aus, die einen automatisch in gedämpftem Ton reden ließ. Genaugenommen erschien sie ihm wie sein Besitzer. Still und über jeden Zweifel erhaben. D´Artagnan wandte sich wieder der Küche zu. Einen Topf sollte er finden. Nur wo?
 

Tief sog Aramis den Duft der Kräuter ein. Sie rochen tatsächlich nach Sommer. Ein Blick aufs Bett ließ sie lächeln. Als sie die Vorhänge zurückgezogen hatte hatte sie befürchtet, dass seine Stirn immer noch schweißnass glänzen würde, aber sie tat es nicht. Eine leichte Berührung bestätigte ihre Vermutung. Das Fieber war über Nacht zurückgegangen, seine Temperatur erschien ihr wieder normal.

Vorsichtig setzte sie sich neben ihm aufs Bett. Ihre Finger strichen über die ihr zugewandte Handfläche und verursachten ein leichtes Zucken. Wieder und wieder strich sie auf und ab, bis die Hand endlich mit einem letzten Zucken zurückgezogen wurde und Athos seinen Unmut mit einem tiefen Brummen kundtat.

„Bist du wach?“ Aramis deutete das nachfolgende Brummen als ja. „Wir haben dir etwas zu essen mitgebracht. Hast du Hunger?“

„Wer sind wir?“ Langsam wich die Müdigkeit und er sah aus zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung.

„D´Artagnan und ich. Er ist in der Küche. Soll ich die Vorhänge wieder etwas zuziehen oder geht es so?“

„Nein.“ Athos überlegte. „Nein, es geht schon. Aber du könntest mir eine Schüssel Wasser bringen, wenn es dir keine Umstände macht…“ Er strich sich mit der Hand über die Wangen. „Und ein Messer.“

„Du musst dich unseretwegen wirklich nicht rasieren. Nicht davon zu reden, dass ich beim besten Willen keinen Bartwuchs erkennen kann.“

„Um euch geht es mir dabei auch nicht…“

„Sondern? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du deiner lieben Vermieterin zu Liebe zum Messer greifst?“ Aramis brach in schallendes Lachen aus. „Das ist nicht dein Ernst!“ In ihren Augenwinkeln standen kleine Tränen. „Bist du so einsam?“

„Ihre Tochter kauft nicht mehr für mich ein, weil sie rasend ist vor Eifersucht. Da kann es nicht schaden, ihr ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken…“ Eins nach dem anderen lösten sich seine Beine aus der liebevollen warmen Umklammerung der Bettdecke, um dann doch unentschlossen auf dem Bett liegen zu bleiben. „…und wo wir gerade von Aufmerksamkeit sprechen: Wolltest du mir nicht etwas Wasser bringen?“

„Nein. Du hast gesagt ich könnte, wenn es mir keine Umstände macht. Von mehr war nicht die Rede. Aber ich vermute ohnehin, dass D´Artagnan meine Hilfe benötigt. Bin gleich wieder da.“ Aramis stand ruckartig auf und tänzelte, immer noch belustigt, aus dem Zimmer.
 

D´Artagnan, zur Hälfte in einem der unteren Schränke verschwunden, sah sich verwundert über die Schulter: „Was ist so erheiternd, wenn die Frage gestattet ist?“

„Ach weißt du, ich glaube es geht ihm schon sehr viel besser.“

„Ich verstehe nicht recht?“ Nein, D´Artagnan verstand nicht. Er verstand nicht, was diese Aussage mit dem breiten Grinsen auf ihrem Gesicht und dem auf die Zehenspitzen verlegten trippelnden Gang zu tun hatte.

„Nun, Athos ist bereits wieder in der Lage, seine Wirkung auf die holde Weiblichkeit zu seinem Vorteil einsetzen zu wollen und Befehle zu erteilen. Und jetzt hätte er gerne eine Schüssel, Wasser und ein Messer, um sein umschwärmtes Antlitz dem Besuch einer jungen Dame mit Einfluss gerecht werden zu lassen.“ Wieder entfuhr ihr ein lautes Lachen und D´Artagnan meinte, einen gehässigen Unterton darin erkennen zu können. Verstanden hatte er trotzdem nicht viel.

Eine knappe halbe Stunde später saß ihm besagtes umschwärmtes Antlitz gegenüber und machte nicht den Eindruck, als hätte es gestern um diese Zeit noch gebrannt wie trockenes Holz. Verglichen mit dem, was er in den letzten Tagen von Athos gesehen hatte, sah er tatsächlich eher aus, als wäre er gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen.

„Wann kommst du zurück?“ Normalerweise war es nicht seine Art, derartig mit der Tür ins Haus zu fallen, aber D´Artagnan hatte in letzter Zeit das unangenehme Gefühl, nicht mehr ausreichend am Leben seiner Freunde teilzuhaben. Ein Gefühl, das ihn schon den ganzen Winter begleitet hatte und sich an diesem Tag noch verstärkt hatte. Und es beschränkte sich deutlich auf diese beiden Personen, mit denen er in diesem Moment an einem Tisch saß, aber zu denen er doch nicht dazuzugehören schien. Zum wiederholten Male versuchte er sich nun einzureden, dass es selbstverständlich war, nach allem, was die beiden im letzten Jahr gemeinsam durchgestanden hatten. Er und Porthos waren nur sprach- und hilflose Nebenfiguren gewesen in einem Spiel um Leben und Tod, während diese beiden die Hauptrollen bekleidet hatten. Wer ausser den beiden wusste schon, was in dem dunklen Kerker, in dem sie ihrem sicheren Tod entgegensah, für Worte gefallen waren. Sicher war nur, dass sie inzwischen weit mehr verband als der bloße Dienst bei den Musketieren. Sie redeten mit einander, ohne das ein Wort ihre Lippen verließ. Sie führten vermehrt Gespräche unter vier Augen. Sie wichen einander kaum mehr von der Seite. All das ließ sie für D´Artagnan in eine gewisse Ferne rücken. Ein Raum, zu dem nur sie einen Schlüssel besaßen. Und er wusste, dass nicht nur er beunruhigt war. Er konnte es in de Trevilles Gesicht lesen. Der Kapitän zuckte zusammen, wenn ihre Namen in einem Atemzug genannt wurden. Zugegeben beruhten Treville´s Ängste mehr auf väterlicher Sorge um Aramis als auf der Befürchtung, dass ihre enge Freundschaft zu zerbrechen drohte, aber D´Artagnan sah sich in dem Gefühl bestätigt, dass die beiden immer enger zusammenrückten.

„Wenn es nach mir ginge schon morgen. Aber ich fürchte, dass ich das nicht zu entscheiden habe.“

„Sehr richtig. Du solltest froh sein, dass du die Möglichkeit hast, diesem Schreibtisch für ein paar Tage zu entkommen. Von mir aus lies deinen Kopernikus weiter, aber bleib um Himmels Willen noch einen Tag zu Hause!“ Aramis hob drohend den Zeigefinger. „Du wirst noch schnell genug wieder ungenießbar.“

„Entschuldigt, aber: Was ist ein Kopernikus?“ Wie aus der Ferne hörten sie D´Artagnan´s Versuch, Teil ihrer Unterhaltung zu werden. Und wie aus einem Mund erhielt er eine Antwort:

“Niemand!“ Sie wechselten einen kurzen Blick: „Nichts!“ Ein energisches Klopfen hielt sie davon ab, nach weiteren Ausflüchten zu suchen. „Ich gehe!“ Schon war Aramis auf dem Weg zur Tür, öffnete sie schwungvoll und lächelte der Hausherrin entgegen: „Ihr seid zu früh, Madame!“

„Wir müssen alle sehen, wie wir unseren Tag einteilen, nicht wahr Madmoiselle?“ Die Antwort der älteren Dame fiel wie zu erwarten kühl aus, wurde jedoch noch durch den eisigen Blick ihrer Tochter übertroffen. Sie machte wahrlich keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die vermeintliche Konkurrenz. „Wollt Ihr uns nun hereinlassen oder sollen wir ewig hier in der Tür stehen.“

„Selbstverständlich nicht.“ Mit einer eleganten Armbewegung winkte sie die beiden Frauen herein.

„Pfui Teufel, wie riecht es denn hier?“ Aramis musste zugeben, dass die Mischung aus diversen Kräutern, gebratenem Fisch und dem im Kamin vor sich hin rauchenden Holz gewöhnungsbedürftig war, aber nach einiger Zeit gewöhnte man sich daran. Es roch bei weitem noch nicht so schlimm wie in den unzähligen Kneipen der Stadt. Aber was wusste eine auf Ordnung und Sauberkeit erpichte Hauswirtin schon von Kneipen? Sie beobachtete, wie das ausladende Hinterteil von einem Fenster zum anderen wippte, diese voller Entrüstung aufriss und sich Athos´ Brauen bei jedem weiteren Fenster enger zusammenzogen.

„Madame, wenn es euch nichts ausmacht, ich habe Feuer im Kamin.“

„Ja, das riecht man. Ihr werdet doch sicher verstehen, dass ich diesen Geruch nicht auf ewig in den Wänden haben möchte! Wie soll ich die Wohnung denn sonst vermieten!“

„Ich hatte nicht vor, in nächster Zeit auszuziehen…“
 

D´Artagnan war heilfroh, als er wieder unter freiem Himmel stand. Noch einmal wanderte sein Blick zu den Fenstern im zweiten Stock, die, inzwischen wieder fest verschlossen, den leicht bewölkten Nachmittagshimmel reflektierten. „Diese Frauen sind ja wahre Furien…“

„Wem sagst du das?

„Wie kann er so einer nur schöne Augen machen?“

„Es ist dir aufgefallen?“ Aramis schmunzelte.

„Wie hätte ich es übersehen können? Bist du deswegen gar nicht beunruhigt?“

„Deswegen? Oh nein, beim besten Willen nicht. Bei genauerer Betrachtung tut sie mir sogar ein wenig leid.“

„Das verstehe ich nicht…“ Aramis umfasste seine Schultern und schob in vorwärts:

„Lass uns zu St. Séverin gehen. Ich erkläre es dir unterwegs.“

Kurze Zeit später durchdrang grelles Lachen den allgemeinen Lärm auf der Straße zur Kirche im Quartier Latin.

Julien Victor war kein sonderlich schöner Mann. Er hätte einer sein können – die hellen grünen Augen im dunklen Gesicht sprachen dafür. Der Allmächtige jedoch hatte es vorgezogen, seine Nase nach links anstatt geradeaus wachsen zu lassen. Vielleicht hatte aber auch eine Faust nachgeholfen, Aramis war sich noch nicht sicher. Er sah zumindest nicht aus, als wäre er einer gepflegten Schlägerei unter Studienkollegen abgeneigt. Er saß ihnen auf dem einzigen Stuhl in der auch sonst spärlich möblierten Kammer gegenüber und pulte gedankenverloren an einem Splitter in der Unterseite der Sitzfläche.

„Henriette Ouvrard? Sagt mir nichts! Nie gehört.“

„Ihr Bruder behauptet etwas anderes. Er hat uns erzählt, dass ihr Madmoiselle Ouvrard…“ D´Artagnan zögerte „…nun ja, dass ihr ihr nahe standet.“

„Ich sagte es doch schon. Ich kenne weder dieses Mädchen noch den Bengel.“

„Und woher kennt der Junge dann euren Namen?“

„Was weiß ich. Er hat ihn sich vermutlich ausgedacht.“ Er machte ein fahrige Handbewegung.

„Und hat sich auch gleich noch ausgedacht, wo wir euch finden? Wohl kaum! Der Junge hat uns erzählt, dass ihr euch regelmäßig mit Madmoiselle Ouvrard vor der Stadt getroffen habt. Das klingt nicht so, als würdet ihr sie nicht kennen.“

„Ich sagte doch bereits, ich kenne sie nicht!“

“Was sagt euch der Name Manon Menard?“ Diese Frage verwirrte nicht nur Julien Victor, auch D´Artagnan sah seine Kollegin verständnislos an.

„Wie bitte?“

„Manon Menard. Kennt ihr sie?“ Zufrieden beobachtete Aramis, wie die Stirn ihres Gegenübers zu glänzen begann.

„Warum fragt ihr so etwas?“ Seine Hand löste sich von dem kleinen abstehenden Stück Holz und traf sich mit der anderen im Schoß, um diese nervös zu kneten.

„Weil es mich interessiert, Monsieur. Ist euch warm?“

„Nein, es geht schon…ich war für einen Moment nur etwas verwirrt.“ Er fuhr sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht.

„Ich verstehe. Kommen wir noch einmal auf Henriette Ouvrard zu sprechen. Wann habt ihr sie das letzte Mal getroffen?“

„Wie ich bereits sagte, ich kenne…“ Weiter kam er nicht. Ein lauter Knall lähmte seinen Körper.

„Monsieur Victor, ihr stellt meine Geduld auf eine harte Probe. Und wenn ihr nicht wollt, dass diese Hand beim nächsten Mal euer Gesicht trifft, beantwortet ihr jetzt endlich unsere Fragen!“ Aramis hoffte inständig, dass ihre Drohung Wirkung zeigen würde, denn noch einen Aufprall dieser Art würde ihre Hand ihr nicht verzeihen. „Wann habt ihr sie das letzte Mal getroffen?“

„Vor zehn Tagen.“ Julien Victor sackte merklich zusammen, seine Stimme verlor an Festigkeit.

„Wo?“

„Am Tor St. Honoré.“

„Und danach?“

„Wir haben passiert und sind spazieren gegangen.“ D´Artagnan hob fragend die Augenbrauen.

„Ihr Bruder hat uns etwas anderes erzählt!“

„Ach, was weiß denn ihr elendiger Bruder schon? Er ist ein kleiner Giftzwerg ohne jedes Talent für irgendetwas und dämlich obendrein. Er hat ständig nur das eine im Sinn, wie alle in seinem Alter.“

„Ihr kennt ihn also doch?“

„Ich habe ihn ein paar Mal gesehen, wenn er mit seinen Freunden durch die Stadt geschlichen ist. Das meiste weiß ich aber von seiner Schwester. Sie erzählt viel von ihm…“ Er seufzte. „Es ist nicht so wie er es euch vielleicht geschildert hat. Wie gesagt, er ist ein dummer Junge, der ständig nur fliegende Röcke und pralle Brüste im Kopf hat. Er glaubte ganz genau zu wissen, was wir ausserhalb der Stadtmauern tun. Aber so war es nicht. Wir haben nichts getan. Wir haben viel geredet. Meist über uns. Unsere Zukunft. Wisst ihr, ich wollte sie heiraten, sobald ich mein Studium beendet hatte. Wer würde seine Tochter schon einem Studenten zur Frau geben. Einem, der sich ja sowieso nur herumtreibt und all sein Geld für Weiber und Spiele hergibt. So denken doch die Leute!“ Nicht zu Unrecht, ging es D´Artagnan durch den Kopf. Es war nicht selten, dass die Musketiere auf ihren nächtlichen Gängen durch die Stadt auf betrunkene und singende Studenten trafen. „Ich liebe sie, wirklich. Nichts wünschte ich mir mehr, als das sie mich heiraten würde. Aber dann, bei unserem letzten Treffen…Sie hat gesagt, wir könnten uns nicht mehr treffen. Ihr Bruder wüsste über uns Bescheid und hätte gedroht, sie zu verraten…“ Seine Augen nahmen einen weinerlichen Ausdruck an.

„Und da habt ihr sie umgebracht!“ So triumphierend, wie es im einen Moment aus D´Artagnan heraus gebrochen war, so erschrocken fuhr er sich im nächsten Moment über den Mund. Er wusste, was Aramis ihm in diesem Moment für einen Blick zuwerfen würde und vermied es daher tunlichst, ihr in die Augen zu sehen.

„Was sagt ihr?“ Julien Victor sprang von seinem Stuhl auf, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht verzerrt, ließ sich jedoch gleich wieder zurückfallen, als ihm seine Knie den Dienst versagten. Seine Augen wanderten ziellos durch den Raum und blieben schließlich an Aramis hängen. „Was meint er damit? Ist ihr etwas passiert?“

„Sie ist tot. Man hat ihre Leiche in der Seine gefunden.“ Aramis machte eine Pause, um den jungen Mann zu mustern. Seine Augen hatten jeglichen Ausdruck verloren, der dünne Körper zitterte und seine Hände hatten sich in den Stuhl gekrallt, als könnte er so das aufkommende Gefühl von Schwindel unterdrücken.

„Und ihr glaubt, ich hätte sie…?“ Seine Stimme war nur mehr eine Aneinanderreihung von wimmernden Lauten. „Aber ich habe sie geliebt. Niemals hätte ich ihr etwas getan!“

„Sie wollte euch verlassen, dass habt ihr selbst gesagt.“

„Aber deswegen hätte ich sie doch nicht umgebracht. In einem Jahr habe ich mein Studium abgeschlossen. Dann hätte ich ihren Vater in aller Form um ihre Hand gebeten. Versteht ihr? Sie hat sich nicht meinetwegen von mir getrennt, sondern um uns zu schützen…was ist schon ein Jahr der Trennung gegen eine viele Jahre währende Ehe?“

„Was ist mit Manon Menard? Ihr habt meine Frage nach ihr nicht beantwortet.“ D´Artagnan sah Aramis verwundert an. Hörte er in ihrer Stimme etwa so etwas mit Mitgefühl?

„Sie war die Verlobte eines Freundes von mir, Henri Evrard. Er wohnt nur ein paar Straßen von hier entfernt im Haus seiner Eltern. Ich habe Manon nur ein paar Mal gesehen, als sie ihren sturzbetrunkenen Vater aus der Kneipe der Evrards abgeholt hat. Seit ihrem Tod ist er nicht mehr derselbe…“

„Wie lange kennt ihr Monsieur Evrard schon?“ Julien überlegte so angestrengt, wie sein verstörter Geist es in diesem Moment zuließ.

„Seit 2 Jahren etwa. Das Wirtshaus ist bei Studenten recht beliebt müsst ihr wissen…“

„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen, ja. Ihr wart dort also des Öfteren Gast?“ Julien nickte. „Wird dort auch gespielt?“

„Natürlich. Aber die Einsätze sind gering, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt.“

„Habt ihr oder Monsieur Evrard an solchen Spielen teilgenommen?“

„Nein, ich kann mich nicht erinnern, Henri einmal spielen gesehen zu haben. Und ich selbst besitze nichts, womit ich spielen könnte. Es reicht gerade, um die Miete zu zahlen.“

„Ich verstehe…“ Aramis fuhr sich über den Nasenrücken. „Wann und wie habt ihr Henriette Ouvrard kennen gelernt? War das auch bei den Evrards?“

„Nein. Das war…lasst mich überlegen…vor etwas über einem Jahr. Wir sind in den Hallen in einander gelaufen. Sie hatte es eilig und ich war mit dem Kopf woanders. Sie hat sich nur kurz entschuldigt und ist dann weitergelaufen, aber ich konnte sie nicht mehr vergessen. Sie hatte so ein Leuchten in den Augen…Ich wusste, dass ich sie wieder sehen muss. Also habe ich jeden Tag in den Hallen nach ihr gesucht…“

„Und sie letzten Endes auch gefunden, wie mir scheint.“ Er nickte.

„Zuerst war sie etwas verunsichert, als ich ihr anbot, ihre Einkäufe für sie zu tragen. Aber nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten…“

„Von da an habt ihr euch heimlich getroffen?“ Wieder nickte er. „Wisst ihr, ob sie noch andere Verehrer ausser euch hatte? Jemand, der vielleicht von euren Treffen erfahren haben könnte?“

„Nein, Madmoiselle, so etwas hat sie nie erwähnt…“ Das Strahlen, was sich für einige Momente in seine Augen geschlichen hatte, als er an ihre erste Begegnung zurückdachte, verschwand wieder, als er bemerkte, dass seine Erinnerung alles war, was ihm von ihr geblieben war.

„Wollt ihr, dass ich euch den Weg zu Monsieur Evrard zeige?“ Schwankend erhob er sich.

„Nein, nicht nötig, wir hatten bereits das Vergnügen.“ Aramis bedeutete ihrem jüngeren Kollegen mit einer Handbewegung, dass es Zeit wäre zu gehen, und rückte ihren Hut zurecht. „Wir danken euch für eure Hilfe, Monsieur.“ Als sie bereits in der Tür stand, drehte sie sich noch einmal zu dem zusammengesunkenen Häuflein Mensch um: „Es tut mir Leid, dass ihr es so erfahren musstet.“
 

Lange Zeit herrschte Schweigen auf ihrem Weg zurück ins Hauptquartier. Erst als sie ihr Ziel fast erreicht hatten, fand D´Artagnan die Sprache wieder, die ihm nach seinem plötzlichen Ausbruch abhanden gekommen war:

“Glaubst du, er ist unschuldig?“

„Ich bin mir sogar sicher. Dieser Mann hat weder Henriette Ouvrard noch Manon Menard auf dem Gewissen.“

„Und was ist mit dem Schweißausbruch, nachdem du die Menard erwähnt hast? Damit, dass Henriette Ouvrard ihn verlassen wollte?“

„Er kannte Manon Menard, er wusste, was mit ihr passiert war. Und vermutlich hat ihm sein Freund auch erzählt, dass wir deswegen bei ihm waren. Er dürfte wohl angenommen haben, dass irgendjemand in dem Zusammenhang seinen Namen genannt und ihn womöglich als Täter ins Spiel gebracht hat. Das ist für mich noch kein Beweis, dass er es getan hat. Und was Henriette Ouvrard angeht…er wusste nichts von ihrem Tod. Er hat bereits am Anfang unseres Gesprächs deutlich gemacht, dass er ein mehr als schlechter Schauspieler ist. Aber seine Reaktion auf ihren Tod war für mich Beweis genug, dass er unschuldig ist. Hätte er uns nur etwas vormachen wollen, wäre er wahrscheinlich laut jammernd in Tränen ausgebrochen, wie es jeder drittklassige Komödiendarsteller tut. Keiner von denen ist in der Lage, das tiefe Loch darzustellen, in das du fällst. Und deshalb jammern und wimmern und schreien sie wie am Spieß. Aber so läuft es nicht…“

Hanns Friedrich von Rosenbaum musterte die junge Frau, die ihm in der Küche seines Hauses gegenüberstand, mit ausserordentlichem Interesse. Sie war keine Schönheit, dass musste er sich eingestehen, aber wenigstens war sie nicht so häßlich, dass man fürchten musste zu erblinden, wenn man ihr begegnete. Die grauen Augen standen zu nah bei einander und vermittelten den Eindruck, sie würde ein wenig schielen. Die Nase war lang wie der Rest des Gesichts und himmelwärts gerichtet, der Mund klein und spitz. Das Haar, zu einem Zopf geflochten und als Kranz um den Kopf gelegt, war blond, aber ebenfalls wenig betörend. Für den Geschmack des Grafen war es zu stumpf. Ihr fast schon ins schlacksige abdriftende Körper steckte in einem für ihre zukünftige Postition zu feinen Kleid. Es ließ sie nicht aussehen wie eine Dame von Stand, aber es war aus teurem Tuch gemacht, um den schlichten Schnitt aufzuwerten. Zu teuer für eine Küchenhilfe. Darüber würde er noch einmal mit ihr reden müssen. Vertraulich. In seinem Arbeitszimmer. Er würde ihr einfühlsam erklären, dass sie dieses Gewand nach Möglichkeit ablegen sollte, wenn sie in seinem Haushalt arbeite. Er würde es ihr langsam erklären, denn sie schien nicht nur beim Aussehen vom Herrn benachteiligt worden zu sein, sondern auch beim Verstand. Aber darüber würde er sicherlich hinwegsehen können, wenn sie sich nur gut in seinen Haushalt einfügte. Alles in allem, befand der bayrische Gesandte, hätte er sicherlich Verwendung für dieses neunzehnjährige Wesen, das ihn so hoffnungsvoll ansah. Er nickte erst der stämmigen Köchin, dann ihrer zukünftigen Gehilfin aufmunternd zu. "Ihr fangt gleich morgen früh an! Willkommen!" Er schenkte ihr ein Lächeln, dass sowohl seine weißen Zähne als auch seine Bernsteinaugen strahlen ließ, und verließ die Küche.

Caroline Gervis konnte ihr Glück kaum fassen. Sie würde im Hause eines Grafen arbeiten. Eines Diplomaten sogar. Wenn das ihre Freundinnen erfuhren, sie würden vor Neid erblassen. Wenn Monsieur Athos davon erfuhr, er würde sich ihr um den Hals werfen und sie anflehen, ihm zu verzeihen. Aber sie würde ihn abweisen. Warum sollte sie sich mit einem Grafen zufrieden geben, der sein Leben lieber als Musketier fristete, wenn sie doch einen adligen Diplomaten haben konnte, der überdies auch noch jünger war und genau so gut aussah? Dem sie ganz offensichtlich gefallen hatte, denn keine andere Vermutung ließ das Lächeln zum Abschied zu. Dass sie nur eine Bürgerliche und der Graf verheiratet war, war nur ein kleiner Stolperstein auf ihrem Weg an die Spitze der Pariser Gesellschaft. Bald würde sie aus der Küche an die Tafel des Hausherrn wechseln; dann würden andere für sie das Gemüse schneiden.

Zufrieden lächelnd bog sie in die Rue St. Denis ein, den Gedanken im Hinterkopf, dass sie heute zum letzten Mal gezwungen war, das Bettzeug eines kranken Musketiers zu wechseln.
 

Madame Sylvestre, seit vielen Jahren Witwe und seit beinahe ebenso langer Zeit Wirtschafterin im Hause de Treville, war ebenfalls voller Hoffnung, nicht länger einen angeschlagenen Leibgardisten seiner Majestät bemuttern zu müssen. Über Wochen hatte sie ausschließlich Flüssiges in jeder erdenklichen Form kochen dürfen: fette Brotsuppen, fette Kohlsuppen, fette Rübensuppen, fette Fleischbrühen. Nur fett musste es sein. Denn, da war sich der Kapitän der Musketiere sicher, nur eine fette Suppe war der Gesundheit eines Mannes seiner Statur dienlich. Und ständig diese streng riechenden Kräuteraufgüsse. Was hätte sie in den vergangenen Tagen und Wochen nicht alles darum gegeben, irgendein erdenkliches Geflügel zu braten, angereichert mit kräftigen Gewürzen und einem ganzen Becher schweren Rotweins für die Soße, ein paar getrockneten Pflaumen vielleicht oder gebackenen Äpfeln. Irgendetwas, dass ihr Können als Köchin widerspiegelte. Dann plötzlich, an diesem Morgen, Julie Sylvestre hatte bereits den Topf mit den Resten der gestrigen Suppe über das Feuer gehängt, hatte der Kapitän der Musketiere höchstselbst und halbnackt in der Küche gestanden und verkündet, er wünsche sich heute etwas anderes. Eine Buchweizengrütze vielleicht. Sie solle sich etwas Schönes einfallen lassen.

"Und er hat wirklich gesagt, er würde morgen früh wie gewohnt an seinem Schreibtisch sitzen? Und sich all der Dinge widmen, die in letzter Zeit liegen geblieben sind?"

"Aber ja, wenn ich es dir doch sag. Er wollte etwas ordentliches zu Essen, und als ich ihn fragte, ob er wie jeden Morgen seinen Kräuteraufguss dazu trinken wolle, hat er gesagt Ja, ein letztes Mal werde er dieses scheußliche Zeug wohl noch verkraften. Das waren seine Worte, so wahr ich hier vor dir sitze, Mädchen."

"Klingt, als ginge es ihm tatsächlich besser. Aber das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe."

"Er hat jedenfalls seinen Appetit wiedergefunden, soviel kann ich dir versichern. Wenn ich ihm in absehbarer Zeit noch einmal Suppe vorsetze, hat er gesagt, dann schmeißt er mich raus und sucht sich eine neue Köchin. Ist doch eine Unverschämtheit. Erst nicht genug davon kriegen können und mir das jetzt auch noch vorwerfen. Männer... Aber wem erzähl ich das? Also, jedenfalls hat sich Monsieur zum Mittag etwas vernünftiges gewünscht, etwas festes. Egal was es kostet. Also hab´ ich ihm ein Karnickel besorgt. Einen richtigen Brocken. Den isst er niemals auf, egal wie hungrig er ist."

Aramis wurde hellhörig. "Ihr macht Hasenbraten?"

"Einen ganz besonders leckeren. Mit Rotwein und Speck. Du sollst nicht glauben, wie zart er dann wird. Eigentlich gehören ja auch noch frische Pilze dazu, aber zu dieser Jahreszeit..." Madame Sylvestre hob die schweren Schultern und ließ sie sofort wieder fallen. "Aber wenn das nichts Vernünftiges ist, dann weiß ich mir auch nicht mehr zu helfen."

"Was meint ihr, bliebe da auch noch etwas für einen erkälteten Musketier auf dem Weg der Besserung übrig? Zur Stärkung?"

"Na, aber sicher doch, Mädchen!" Sie zwinkerte. "Muss der alte Griesgram ja nicht erfahren, nicht wahr?"

Mühsam und schnaufend schob sie sich zwischen Bank und Tisch hervor, strich Röcke und Schürze glatt und griff nach dem Korb, in dem, unter Gemüse verborgen, ein toter Hase auf ein Bad in einem süffigen Wein aus dem Anjou wartete.
 

Die Sonne hatte gerade den Zenit durchschritten, als Simon Tournier sich weit vor den Toren der Stadt an das linke Ufer der Seine setzte, um, mehr zum Zeitvertreib denn aus Hunger, ein paar Fische zu fangen. Er breitete die abgetragene Jacke auf dem jungen Gras aus und ließ sich mit Ächzen und unter Knacken seiner Knie darauf sinken. Dies war sein Lieblingsplatz. Hierher kam er jedes Frühjahr, um dem Lärm der zu neuem Leben erwachenden Stadt und vor allem derm Anblick junger Frauen zu entkommen, die unter den ersten wärmenden Strahlen des Jahres prüften, ob die Wirkung ihrer Reize über die Wintermonate erhalten geblieben war. Monsieur Tournier machte sich nicht sonderlich viel aus jungen Frauen. Sie waren ihm zu albern und zu geschwätzig. Aus diesem Grund hatte er es bisher auch vermieden zu heiraten. Er würde warten, bis eine Frau nach seinem Geschmack einen geliebten Gatten zu beweinen hatte und sich dann als tröstende Schulter erweisen. Simon Tournier hatte sich schon früh vorgenommen, sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Inzwischen war er beinahe vierzig, sah jedoch aus wie beinahe fünfzig, und hatte die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Er trieb durch das Leben wie ein Stück Holz auf der Seine, was für sein Verständnis von der Welt nicht einmal eine Beleidigung gewesen wäre.

Auf seinem Weg hatte er sich einen trockenen Ast von einem Baum abgebrochen und begann nun, ihn von kleineren Zweigen zu befreien. Das Messer in seiner Hand war stumpf, aber es erfüllte seinen Zweck. Aus seiner Hosentasche zog er ein dünnes Seil und ein fleckiges Tuch. Darin eingewickelt lag der selbst zurechtgebogene Haken. Bedächtig knotete er erst das Seil an der Rute fest, dann den Haken an dem Seil. Er konnte nicht leugnen, dass der nun folgende Schritt ihm jedes Mal aufs Neue ein gewissen Vergnügen bereitete: Aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel zog er einen kleinen sich windenden Wurm, um anschließend den rostigen Haken hindurch zu schieben. "Kaum das Licht der Welt erblickt, trittst du auch schon wieder vor deinen Schöpfer, du Glückswurm..."flüsterte er höhnisch. Simon Tournier holte aus und schleuderte den Wurm samt Haken aufs Wasser. Jetzt begann für ihn der gemütliche Teil des Tages. Er ließ sich nach hinten fallen und sah die Wolken vorüberziehen. Sein Griff um die Angel lockerte sich, denn zu dieser Jahreszeit biss hier nur selten ein Fisch an. Also beschloss er, ein wenig zu dösen. Kaum war er in das Reich der Träume versunken, zerrte ihn das Zittern seiner Angel auch schon wieder in die Realität. Sein Lebtag hatte er noch nicht so schnell einen Fisch an der Leine gehabt. Sofort umfasste er die Rute fester, sprang auf und begann zu ziehen. Dem Gewicht nach musste das ein riesiges Exemplar sein. Er hatte Mühe, einen Schritt nach hinten zu tun, ohne die Angel zu zerbrechen oder sie an den Fluß zu verlieren. Sein Fang wehrte sich hartnäckig, an die Oberfläche zu kommen oder sich geschlagen zu geben. Monsieur Tournier stellte sich auf ein langes Kräftemessen ein. Er fühlte sich wie einer der Seemänner, denen man nachsagte, sie würden hoch im Norden, in den kalten Meeren, gegen unvorstellbare Kreaturen gigantischen Ausmaßes kämpften. Für einen Moment bildete er sich ein, mit seinem Triumph über den Giganten der Seine auch den ältesten Fischer beeindrucken zu können. Er musste dieses Spiel nur noch zu einem für ihn glücklichen Abschluss bringen. Schritt für Schritt entfernte er sich vom feuchten Flußufer, darauf bedacht, den Zug auf das Seil nicht zu stark werden zu lassen. Auf keinen Fall konnte er den Verlust dieses Brockens riskieren. Er musste ihn zermürben, den Fisch müde werden lassen. Nach einiger Zeit spürte Simon Tournier, wie der Widerstand schwächer wurde. Behutsam zog er an der Schnurr. Jetzt war keinerlei Gegenwehr mehr zu spüren. Was für ein ungeheuerlich großer Fisch das sein musste. Schon bei dem Gedanken daran, was für Köstlichkeiten er mit einem einzigen Fisch dieses Gewichts zubereiten konnte, trieb ihm das Wasser im Mund zusammen. Langsam trat sein Fang an die Oberfläche. In dem Moment, als Simon Tournier bewusst wurde, was er dort am Haken hatte, verging ihm der Appetit für unbestimmte Zeit.

Renée Caspar, geboren in der ersten Woche des siebzehnten Jahrhunderts und seither nur "die Stille" genannt, konnte nicht von sich behaupten, dass ihr Leben glücklich verlaufen war. Nach einer von menschlicher und körperlicher Kälte und Hunger geprägten Kindheit kam sie mit acht Jahren bei einem Kaufmann, oder besser gesagt in seiner Küche, als niedere Magd unter. Im zarten Alter von Vierzehn verfiel sie eben dort den Versprechungen eines jungen Lastenträgers. Wochen später hatte er ihr nicht nur die Unschuld sondern auch die Hoffnung auf ein moralisches Leben genommen. Als das Mädchen plötzlich eine Schwangerschaft offenbarte und um Heirat bat, verweigerte er die Hochzeit und leugnete vor aller Leute Ohren, jemals Kontakt mit dieser dummen Henne gehabt zu haben. Wer konnte schließlich sagen, wem sie sich noch an den Hals geworfen hatte. Angesichts dieser Schamlosigkeit wurde Renée Caspar gebeten, das Haus des Kaufmanns, oder besser gesagt dessen Küche, umgehend zu verlassen. Sie nahm es schweigend hin. Unverheiratet schwanger und mittellos hielt das Leben nicht viele Optionen für sie bereit. Sie könnte in kürzester Zeit verhungern oder erfrieren. Vielleicht, dass was bei ihrer schwachen Konstitution und ihrer zarten Gestalt nicht sehr wahrscheinlich, würde sie irgendwie bis zur Geburt ihres Bastards überleben und diese oder das Wochenbett würde sie dann dahinraffen. So oder so, der Tod wirkte auf die junge Renée nicht sonderlich verlockend. Sie war zu oft getreten worden, um nicht noch ein paar mehr Tritte erdulden zu können. So kam es, dass sie nach nicht einmal zwei Tagen des Hungerns vor Madame Paradis´ Tür stand. Madame wurde von ihren Mädchen nur Maman genannt und die meisten Pariser traten regelmäßig durch die Tür zum Paradies, die sich in einer nicht völlig heruntergekommenen Gasse am Rande des Quartier Latin befand und, ganz wie der wahre Garten Eden, jeden hereinließ, der nur genug Geld vorzuweisen hatte. Das heißt, sofern dieser Jemand männlicher Natur war. Für Frauen gab es nur einen Hintereingang, der, einmal durchschritten, sich nicht wieder öffnete. Eben dieser Hintereingang also hatte sich vor Jahren vor Renée Caspar aufgetan. Madame Paradis hatte sie lange gemustert, wie sie da vor ihr gestanden hatte: Das Mädchen war zu jung. Und vor allem war das Mädchen zu schwanger. Zugegeben, es sollte ja Männer geben, die eine besondere Freude an derartigen Dingen verspürten, aber Madame Paradis erschien der Gedanke zu grotesk, um ihn weiter zu verfolgen. So etwas würde es in ihrem Haus nicht geben. Genau genommen hatte sie also keinerlei Verwendung für Madmoiselle Caspar. Dennoch nahm sie sie auf. Nicht aus Mitleid, sondern aus purer Berechnung. Noch mochte das Mädchen schwanger sein, aber solche Dinge konnten sich bekanntlich recht schnell ändern. Der Mittel gab es viele und niemand kannte sich auf diesem Gebiet besser aus als eine fürsorgliche Hurenmutter. Und sollte das junge Dinge die Austreibung überleben würde es sich für Madame Paradis mit Sicherheit lohnen. Renée Caspar war zwar hübsch und, soweit sie das unter diesen Umständen beurteilen konnte, körperlich attraktiv, doch weit entfernt davon, einen wolllüstigen Eindruck zu machen, wie es bei den meisten ihrer Mädchen der Fall war. Für einige Männer wäre sie sicherlich leichter mit dem Gewissen vereinbar. Ihr Gespür sollte sich schon wenige Monate später als goldrichtig erweisen: Einige Gäste des Paradieses verlangten schon bald ausschließlich nach dem schweigsamen blonden Mädchen.

Renée Caspar hatte sich, wie bereits ihr gesamtes Leben, in ihr Schicksal gefügt ohne zu protestieren. Eines Tages war sie aufgewacht und das Kind war verschwunden. Als wäre sie nie schwanger gewesen. Wie viele Tage sie im Fieber gelegen und mit dem Tod gerungen hatte, nachdem man ihr die bittere Suppe zu trinken gegeben hatte, sie wußte es nicht und es war ihr egal. Genau so egal wie die Frage, wo es geblieben sei. Was hätte es auch gebracht? Sie hatte ein Dach, unter dem sie schlafen konnte, und eine Hurenmutter, die sie vor dem Verhungern bewahrte. Und als wäre das nicht schon genug des Glücks sorgte Madame Paradis auch noch dafür, dass ihre Mädchen nicht geschlagen wurden. Versuchte es der eine oder andere Freier im Rausch doch einmal, wurde er von wütenden Huren aus dem Haus geprügelt, gekratzt und getreten. So lebte Renée also von einem Freier zum nächsten, ohne besondere Freude zu verspüren oder sich selbst in ihrer Situation zu bedauern. Bis man sie vor zwei Tagen mit einem Würgegriff und einem anschließendenWurf in die Seine aus ihrem Dasein riss.
 

Es war eng in Bruder Claudius´ Keller. Er und vier Männer, von denen einer keiner war und der andere Platz für zwei beanspruchte, drängten sich um einen kalten aufgehenden Körper, der den fischigen faulen Geruch der Seine und seinen eigenen beißend süßlichen Duft ausströmte.

"Hier stinkt´s ganz schön!" Porthos verzog das Gesicht zu etwas, das wohl nach Ekel aussehen sollte, in seiner Gesamtheit aber wirkte, als müsse er jeden Moment heftig niesen.

"Du hast Grund zur Klage. Wenigstens musst du nicht auch noch deine Ausdünstungen ertragen..." Bereits gestern Abend im "Goldenen Bock" hatte D´Artagnan geahnt, dass die Unmengen Zwiebeln, die sein Kamerad in sich hineinschaufelte, ein Nachspiel haben würden. Zwiebeln förderten die Manneskraft, hatte Porthos ihm erklärt. Doch was, so fragte er sich jetzt, brachte dem Koloss all die Manneskraft, wenn jede Frau angesichts dieses Gestanks sofort das Bewußtsein verlor? Er blickte in die Runde und stellte fest, dass auch Aramis unauffällig einige Schritte von seiner Seite gewichen war. Und Athos? Er war weitestgehend wieder hergestellt, lediglich sein Geruchssinn hatte sich noch nicht wieder vollständig regeneriert. "Der Glückliche.", schoss es D´Artagnan durch den Kopf.

"Das gleiche Schema?" Athos sah den Mönch über den Tisch hinweg an.

"Beinahe. Es gibt keine Spuren an den Gelenken. Sie wurde also offenbar nicht gefesselt. Und soweit ich das beurteilen kann fand auch keine Vergewaltigung statt."

"Aber Bruder," platzte es aus Porthos heraus, "ihr habt doch nicht etwa.... nachgesehen?" Ein großes dümmliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

"Porthos!" Athos´ Finger deutete auf die Treppe hinter sich.

"Schon gut, schon gut. Tut mir leid." Er hob beschwichtigend die Hände.

Der Mönch, dankbar für die ihn umgebende Dunkelheit, die seine aufsteigende Röte verbarg, räusperte sich: "Um eure Frage zu beantworten, Monsieur, doch, dass habe ich. Aber wenn ihr meinem Urteil nicht traut, gestatte ich euch selbstverständlich, euch selbst zu überzeugen."

"Nein, danke, das ist wirklich nicht nötig."

"In der Tat. Das ist wirklich nicht nötig." murmelte Athos.

"Ich denke, sie ist verheiratet." setzte Bruder Claudius unbeirrt fort.

"Wie kommt ihr darauf?" Athos bemerkte, wie der Mönch weiter in den unbeleuchteten Teil des Kellers zurückwich.

"Nunja, sie... Ihr Zustand lässt diese Vermutung zu."

"Sie war eine Hure." Aramis sagte es so sachlich, dass Claudius für einen Moment die Bedeutung des Wortes Hure vergass. Dann begann er hektisch, sich zu bekreuzigen. Auf Athos´ fragenden Blick hin fuhr sie fort: "Ich habe sie hin und wieder im Paradies gesehen."

"Ich muss doch sehr bitten!" Bruder Claudius bekreuzigte sich erneut.

"Und was machsr ausgerechnet du im Paradies?" Diese Frage war allerdings berechtigt, wie der Mönch erzürnt feststelle. Eine sündige Seele wie die ihre hatte im Paradies nun wirklich nichts verloren.

"Im Gegensatz zu euch? Informationen einholen. Eigentlich solltet ihr Madames Damen viel besser kennen als ich."

D´Artagnan atmete tief durch. Das war wahrlich nicht der richtige Ort für solche Sticheleien.

"Ich kann schließlich nicht alle diese Mädchen kennen! Zumal unser Mörder einen denkbar schlechten Geschmack hat..." Porthos verschränkte die Arme vor der Brust.

"Warum?" Es war nicht so, dass es Aramis tatsächlich interessiert hätte, was ihr gewichtiger Kolloge unter schlechtem Geschmack verstand. Aber ein Reflex brachte die Frage über ihre Lippen.

"Sieh sie dir doch an. Diese blasse Haut, die blonden Haare, die wässrigen Augen. Und zu allem Überfluss auch noch so dünn. Alle drei." Er sah Aramis an und überlegte, warum er so ein schlechtes Gefühl hatte, was seine letzten Worte betraf. Da fiel es ihm plötzlich wieder ein und er begann, heftig mit den Armen wedelnd: "Versteh mich bitte nicht falsch. Nichts gegen dich als Person, aber als Frau...also..."

Wie benommen ließ Athos den Arm der Leiche sinken und starrte Porthos an.

"Guck du mich nicht auch noch so an!" dröhnte es durch den Keller.

"Ist dir klar, was du da gerade gesagr hast?"

"Ja, ich hab´ Aramis beleidigt. Aber es war nicht so gemeint. Ich seh sie doch gar nicht als Frau..." Hinter ihm ertönte ein Räuspert. "Ich meine...ach, vergesst doch einfach, was ich gesagt habe!"

"Keineswegs! Dir ist scheinbar wirklich nicht klar, was du gerade erkannt hast. Der Mörder dieser Mädchen scheint nach einem bestimmten Muster vorzugehen."

"Tut er das?" Porthos war irritiert. Für ihn hatte der Mörder nach wie vor schlichtweg einen furchtbaren Geschmack in Bezug auf Frauen. Wenn er sich an üppigen Brünetten vergangen hätte, wäre das für ihn zumindest nachvollziehbar gewesen. Diese Frauen konnten einem Mann durchaus den Verstand rauben. Aber diese unscheinbaren Mädchen? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. An denen gab es nun wahrlich nichts, was ein echter Mann interessant oder sogar mordenswert finden könnte. Gab es das Wort mordenswert überhaupt? Porthos grübelte.

"Ich habe die ganze Zeit nach einem Zusammenhang zwischen den dreien gesucht, aber das offensichtliche wollte mir einfach nicht auffallen." Athos schüttelte ungläubig den Kopf. Ungläubig über seine eigene Blindheit und die Leichtigkeit, mit der Porthos darauf gestossen war.

"Aber könnte das nicht auch ein Zufall gewesen sein?" Aramis war näher an den kalten Körper von Renée Caspar herangetreten, um ihn noch einmal zu betrachten.

"Ich denke nicht. Es ist die einzige Gemeinsamkeit, die alle Mädchen haben. Sie kommen aus unterschiedlichen Kreisen, sind unterschiedlich alt und keins der ersten beiden Mädchen dürfte Kontakt zu ihr hier gehabt haben."

"Und was, wenn diese hier gar nicht unserem Mörder zum Opfer gefallen ist sondern irgendeinem Freier, der nicht zahlen wollte? Davon gibt es meines Wissens genug in der Stadt."

"Sagtest du nicht, sie arbeitet bei Madame Paradis?" Athos strich sich gedankenverloren den Bart. "Sie lässt niemanden gehen, der nicht bezahlt hat. Frag nur einige unserer Kollegen."

"Ausserdem", mischte Porthos sich ein, "arbeiten die Süßen vom Paradies nicht auf der Straße."

"Ganz offensichtlich wurde sie aber genau dort umgebracht. Und dass das nicht am hellen Tag von Statten gegangen sein wird dürfte uns allen klar sein. Also?" Aramis legte die Stirn in Falten.

"Statten wir Madame Paradis einen Besuch ab." Zu Bruder Claudius, der die vergangenen Minuten stumm in der Dunkelheit verbracht hatte und jetzt gemessen wieder ins Licht trat, sagte Athos: "Könntet Ihr sie noch einen Tag hier verwaren?"

Der Mönch nickte unwillig. Eine Hure. Hier in seinem Keller. Er würde heute lange beten müssen.

Es war für niemanden erstaunlich, dass Porthos sich sofort bereit erklärte, die Befragung in Madame Paradis´ Haus zu übernehmen. Es hatte, zu seinem Ärger, jedoch auch niemand Zweifel daran, dass er seine Aufgabe bereits beim Übertreten der Schwelle vergessen haben würde. So machte man sich also zu viert auf den Weg in die Rue de la Harpe. Zwischenzeitlich hatte sich der Himmel bedeckt und entließ einen Regen, der die warme Frühjahrsluft wieder abkühlte und die Pariser Straßen unter Wasser setzte. Vor der Kirche St. Severin saß ein Häuflein Mensch, gehüllt in eine Decke, von der man annehmen konnte, dass sie seine Behausung darstellte. Unweigerlich musste Aramis an Julien Victor denken, den mittellosen Studenten, den sie seelisch zerschlagen in seiner unwirtlichen Dachkammer nur wenige Schirtte von hier zurückgelassen hatten und dessen Schmerz sie so gut nachvollziehen konnte.

"Dieser Fall führt uns erstaunlich oft hierher." Ihre Stimme war leise, als hätte sie zu sich selbst gesprochen.

"Inwiefern?" Athos betrachtete sie aus dem Augenwinkel.

"Nun, Henry Evrard, der Verlobte von Manon Menard, lebt keine 3 Minuten von hier entfernt bei seinen Eltern. Sie betreiben das Wirtshaus "Beim alten Jakob". Julien Victor wohnt dort drüben," ihre Hand wies in eine Seitenstraße zu ihrer linken, "er hat Henriette Ouvrard mehrere Monate, bis zu ihrem Tod, erfolgreich den Hof gemacht. Und Madmoiselle Caspar war ebenfalls hier beheimatet."

"Du meinst, der Kerl sucht seine Opfer gezielt hier im Quartier?"

"Sprich doch noch ein wenig lauter Porthos, ich bin sicher dass man dich in dem Keller dort hinten noch nicht gehört hat!"

"Danke, Athos. Ich würde es zumindest nicht ausschließen wollen." fuhr Aramis fort.

"Aber Henriette Ouvrard war vielleicht niemals hier. Wo sie doch ihre Beziehung so gut wie möglich geheim halten wollte." gab D´Artagnan zu bedenken.

"Genau das ist es, was mich so unsicher macht. Er müsste seinen Opfern vermutlich lange Zeit nachstellen, um..."

"Wir sind da!" Porthos´ strahlte. Er betrachtete das Schild über dem Eingang zum "Paradies", eine erstaunlich realistische und zugleich zweideutige Darstellung eines halben Apfels, mit der gleichen Entrücktheit, die andere Menschen Heiligenbildern entgegenbrachten. Seine drei Freunde hatten weniger Begeisterung für dieses im Wind schaukelnde nasse Brett übrig. Sie traten durch die niedrige Tür und ließen ihn allein im Regen stehen. Im Inneren umfing sie ein Duftgemisch aus Lavendel, schwerem Rotwein, gebratenem Schwein und Moschus. Nichts, was Aramis´ Meinung nach besonders verführerisch roch, aber es war zumindest nicht unangenehm. Die im Raum versammelten Mädchen hatten hoffnungsvoll aufgesehen, als die Tür geöffnet wurde. Sie waren nicht beschäftigt und vertrieben sich die Zeit bis zum nächsten Freier mit Geschnatter und einer Tasse des Getränks, das Aramis bisher nur aus den Gemächern der Königin gekannt hatte: Schokolade. Die Geschäfte mussten aussergewöhnlich gut laufen. Wahrscheinlich, so vermutete sie, wären die Damen beim Anblick von D´Artagnan, Athos und Porthos, der sich soeben durch den Türrahmen drückte, sofort aufgesprungen, wäre sie nicht dabei gewesen. Die Anwesenheit des weiblichen Musketiers hielt sie zurück. Man musterte sie einige Zeit schweigend, warf Porthos, der angesichts dieser Vielfalt unverschämt grinste, hin und wieder ein Zwinkern zu und nippte an dem heißen Getränk. Vereinzeltes Seufzen und Stöhnen aus den oberen Stockwerken durchbrach die Stille. Schließlich erhob sich eines der Mädchen, kaum 18 Jahre alt, und ging zielstrebig auf Porthos zu. Wenn D´Artagnan es nicht besser gewußt hätte, er hätte vermutet, dass Mädchen wäre von Gott selbst nach Porthos´ Wünschen geschaffen worden. Kastanienbraune Locken umrahmten ein rundes Gesicht mit tiefen Grübchen und fielen einladend in das üppige Dekoletée, das von einem zu knapp sitzenden Kleid gehalten wurde.

"Kann ich euch behilflich sein, Monsieur Porthos?" Ihre liebliche Stimme lies keinen Zweifel daran, dass beide sich bereits näher kannten.

"Wir suchen die Herrin des Hauses." Athos ließ seinen Kollegen gar nicht erst zu Wort kommen, was dieser ihm mit einem empörten Grunzen dankte.

"Sehr wohl Monsieur." Sie machte einen Knicks und wand sich zum gehen, nicht jedoch ohne Porthos noch einmal auffällig zuzuzwinkern.

"Elendiger Spielverderber." Der Koloss schmollte wie ein Kind, dem man die Süßigkeiten verbot.

"Muss ich dich erst daran erinnern, warum wir hier sind?"

"Natürlich nicht, Kapitän!" Porthos salutierte.

"Meine Herren, euch schickt der Himmel!" Schneller als Kleider und Anstand, sofern man in ihrem Fall davon sprechen konnte, es eigentlich erlauben würden, kam Madame Paradis die Treppe herunter- und auf sie zu geeilt. Schwer atmend kam sie vor ihnen zum Stehen, wobei ihr Brustkorb sich auf beeindruckende Weise hob und senkte. "Ich benötige dringend eure Hilfe.", brachte sie schnaufend hervor. "Eines meiner Mädchen ist verschwunden!" Das Mädchen mit den kastanienbraunen Locken, dass deutlich langsamer hinter seiner Hurenmutter die Treppe heruntergeschritten war, nahm wieder ihre alte Position auf einem Sofa neben dem Ofen ein.

"Renée Caspar?" Athos Stimme klang beinahe fürsorglich. "Ihretwegen sind wir hier."

"Ihr wißt davon?" Madame Paradis´ Augen weiteten sich vor Staunen und für einen Moment glaubte Aramis, so etwas wie Hoffnung aufblitzen zu sehen. "Hat Monsieur Carreau euch informiert?"

"Monsieur Carreau? Polizeilieutnant Carreau?" Jetzt waren es Athos´Augen, die sich weiteten.

"Aber ja, eben der. Hat er nicht mit euch gesprochen?" Athos schüttelte den Kopf.

"Woher wißt ihr dann von Renée?" Ihre Stimme klang plötzlich mißtrauisch.

Athos sah sich um. Ausser ihnen befanden sich acht Mädchen im Raum. Das machte 16 Ohren, die nicht alles hören sollten, was er zu sagen hat. Nicht jetzt. Zumal eine von ihnen seinem fülligen Kollegen eindeutige Zeichen gab. "Können wir uns irgendwo ungestört mit euch unterhalten?"

"Monsieur, wir sind hier in jedem Raum ungestört, wenn ihr es nur wünscht."

"Das glaube ich euch auf´s Wort. Also, wenn ihr voraus gehen wollt?"
 

Madame Paradis´ Arbeitszimmer war nicht dazu bestimmt, Gäste zu empfangen. Entsprechend schmucklos erschien es im schwachen Kerzenlicht. Die Wände waren dunkel vertäfelt, ein Fenster schien es nicht zu geben. Statt dessen hing ein Bild über der Wand, dessen Motiv keine Zweifel an Madames Geschäft ließen. Eine Gruppe Nymphen und einige Soldaten, verwoben zu einem einzigen Haufen nackten Fleisches. Der Lavendelduft der Empfangshalle war hier kaum noch wahrnehmbar. Er wurde ersetzt durch Leder und Holz.

"Ich würde euch gerne eine Sitzgelegenheit anbieten, aber wie ihr seht..." Sie hob entschuldigend die Schultern. Ausser einem Schreibtisch, einem Stuhl, einem Regal voller Pergamentrollen und jenem obszönen Gemälde war der Raum leer. "Normalerweise hat hier niemand Zutritt."

"Nur keine Umstände." Athos winkte ab.

"Also gut, warum wolltet ihr, dass meine Mädchen uns nicht zuhören?" Madame Paradis ließ sich in den Stuhl sinken und faltete die Hände auf dem Tisch. Sie war eine Frau Ende vierzig, größer als die meisten Mädchen, die für sie arbeiteten, und man konnte sie durchaus als kurvig bezeichnen, jedoch ohne dass sie schwerfällig wirkte. Sie war durchaus schön, wenngleich eine große Narbe sich über ihre Stirn erstreckte. Als junge Frau war sie von ihrem betrunkenen Mann blutig geschlagen worden und hatte anschließend das Leben als Hure ihm vorgezogen. Trotz ihrer Reife wollte das Bild von der überlegenen Geschäftsfrau nicht zu ihr passen.

"Wir wollen sie nicht beunruhigen, das ist alles." D´Artagnan ahnte, dass sein Versuch, die Spannug zwischen Athos und der Hausherrin zu lockern, zum Scheitern verurteilt war.

"Und was sollte sie eurer Meinung nach beunruhigen, Monsieur Athos?" Der lederne Bezug ihres Stuhles knarrte, als sie sich vorbeugte.

"Die Tatsache, dass man Renée Caspar, Hure aus dem Hause einer gewissen Madame Paradis, heute Mittag mausetot aus der Seine gefischt hat womöglich." Athos Hände setzten hart auf der Tischplatte auf.

"Renée ist tot?" Die schlanken Hände glitten auseinander, als ihr Körper für wenige Sekunden jegliche Spannung verlor.

"Das kann man wohl sagen!"

"Porthos!" D´Artagnans Ellenbogen landete unsanft in einer massigen Hüfte.

"Madame, ihr sagt, ihr währet ihretwegen bei Monsieur Carreau gewesen, habe ich das richtig verstanden?" Nun war es an Aramis, die Situation zu entschärfen.

"Ja. Sie war am Abend plötzlich spurlos verschwunden. Anfangs habe ich mir nichts dabei gedacht. Es wäre ja durchaus möglich gewesen, dass sie einen Freier hatte und ungesehen mit ihm in eines der Zimmer gegangen ist. Sowas kommt durchaus vor, wenn so viel Betrieb ist wie vor zwei Tagen..."

"Eure Geschäfte laufen gut, nicht wahr?"

"Sehr gut sogar, Madmoiselle."

"Würdet ihr sagen, dass ihr mehr Kunden habt, seit ihr Schokolade anbietet?"

"Ach, es ist euch aufgefallen. Nun, wir haben tatsächlich einige neue Stammkunden gewinnen können. Wißt ihr, ein Kunde probiert dieses Wundergetränk und erzählt seinem Geschäftspartner davon. Dieser möchte es natürlich auch einmal kosten und seine herrliche Wirkung genießen und kommt ebenso zu uns. Da ihr es erkannt habt, wißt ihr sicherlich auch um seine Wirkung?" Die Hurenmutter sah sie herausfordernd an.

"Man sagt ihm eine aphrodisierende Wirkung nach, wenn ich mich nicht täusche..."

"Ihr täuscht euch keineswegs. Einige meiner Gäste werden davon spitz wie die Jagdhunde." Sie kicherte. "Ihr solltet es einmal probieren."

"Och, so etwas haben wir doch nicht nötig. Ich für meinen Teil bin im vollen Besitz meiner Mannes..."

"Porthos, raus!" Zum wiederholten Male am heutigen Tag wies Athos ihm die Tür.

"Aber ich wollte doch nur..."

"Raus!" Nach wie vor klang seine Stimme beherrscht.

"Schon gut, schon gut." D´Artagnan war sich sicher, dass Porthos nur sehr kurz schmollen würde. Das Mädchen mit den kastanienfarbenen Locken würde ihn sicherlich schnell zu trösten wissen. Zunächst einmal drückte dieser seine Enttäuschung mit einem lauten Knall der Tür aus.

"Kommen wir also wieder zum Wesentlichen...ihr wart bei Monsieur Carreau und habt ihm berichtet, dass Renée Caspar verschwunden ist."

"Genau so war es, Monsieur."

"Und dann?"

"Dann? Er hat mich ausgelacht und gesagt, wenn ich nicht besser auf meine Nutten achten würde, wäre das mein Problem, nicht das seinige oder das der Polizei. Ich solle mich zum Teufel scheren, das waren seine Worte. Was kümmere ihn eine verschwundene Hure." Madame Paradis atmete tief ein und ihre Augen begannen, wütend zu funkeln. "Wenn ich ihm jedoch für einige Minuten zu Diensten seien könnte, würde er es sich vielleicht noch einmal überlegen. Dieser kleine schmierige Sohn einer reudigen Hündin, am liebsten hätte ich ihm..." Ihre Hände ballten sich zu zitternden Fäusten. In diesem Moment entdeckte Aramis an der Wand hinter Madames Schreibtisch ein Kruzifix. Vermutlich war es nur Zufall, dass der Gekreuzigte sein Gesicht sowohl vom Anblick des menschlichen Knotens auf dem Gemälde als auch von Madame abwendete.

"Tut euch nur keinen Zwang an! Wir haben nichts gehört..." Zum ersten Mal seit Betreten des Raumes schaffte es Athos, ihr ein Lächeln zu entlocken.

"Ausserdem sagte er, ich könne mich ja an die Musketiere seiner Majestät wenden. Die hätten in letzter Zeit häufiger mit Mädchen zu tun."

"Und ihr habt geglaubt, er hätte mit uns darüber gesprochen..." Sie nickte Aramis zu.

"Ist euch in letzter Zeit etwas an ihr aufgefallen? Hatte sie sich verändert?"

"Nein, eigentlich nicht. Sie war immer sehr schweigsam und unauffällig. Aber sie hat ihre Arbeit gut gemacht und ihre Freier wußten ihre Art sehr zu schätzen. Und das ist alles, was ich will. Zufriedene Mädchen und zufriedene Kunden."

"Ihr denkt also nicht, dass sie vielleicht unglücklich war?"

"Worauf wollt ihr hinaus, Madmoiselle? Glaubt ihr, dass sie von sich aus ins Wasser gegangen ist?" Madame Paradis, deren Vorname ironischerweise der der heiligen Jungfrau war, klangt empört. "Ich habe dieses Mädchen vor Jahren bei mir aufgenommen. Damals hätte sie mehr Grund gehabt, sich zu ertränken, glaubt mir."

"Ich möchte lediglich ausschließen, dass sie aus freien Stücken in den Tod gegangen ist, das ist alles. Ihr sagtet, dass ihr in letzter Zeit einige neue Kunden gewonnen habt. Ist euch an dem einen oder anderen etwas sonderbares aufgefallen? Bestimmte Vorlieben? Gewisse Verhaltensweisen?"

"Nein, eigentlich nicht. Wisst ihr, jeder Mann hat so seine Vorlieben. Monsieur Porthos mag die lebenslustigen Brünetten, ein anderer die schweigsamen Blassen. Manche Männer sind da engstirniger als andere. Und auffällig hat sich bisher keiner meiner Gäste gezeigt, wenn er nicht gerade sturzbetrunken und mit heruntergelassener Hose die Treppe runtergefallen ist. Das heißt...", sie machte eine kurze Denkpause, "doch, da war etwas. Vor einigen Wochen hatte ich einen neuen Gast. Ein schöner Mann, sehr gepflegt, mit einem Akzent, den ich bisher nicht kannte. Beim Bezahlen hat er mir eine Münze untergeschoben, die nichts wert ist. Ich nehme an, dass es ein Versehen war, denn seitdem hat er immer richtig gezahlt und den Mädchen häufig sogar noch etwas zugesteckt. Wartet, ich habe es zur Seite gelegt!" Marie Paradis sprang auf und riss eine Schublade ihres Tisches auf. Nach kurzem, geräuschvollen Suchen fand sie das kleine Stoffbeutelchen. Sie öffnete es und holte die Münze hervor. "Das ist sie. Sagt mir, was ich damit anfangen soll. Sie ist absolut wertlos. Ich bekomme nichts dafür. Vielleicht ein altes Brot, weil der Bäcker nur das Gold sieht und nicht die Prägung, aber was soll ich mit altem Brot?" Athos nahm ihr die Münze ab und drehte sie im Kerzenlicht. Er war sich sicher, den ursprünglichen Besitzer dieses Geldes zu kennen. Zumindest seinen Namen. Bevor er jedoch einen Verdacht äussern konnte, wurde die Tür aufgerissen und Porthos stand schnaufend vor ihnen.

"Aramis, dieser Kerl ist hier. Dieser... na, du weißt schon. Der Verlobte. Von der Leiche." Seine Hände vollführten unkontrollierte Bewegungen in alle Himmelsrichtungen.

"Henry Evrard? Meinst du den?" Wildes Nicken bestätigte ihre Vermutung.

"Der Verlobte von Manon Menard?" Athos sah sie ungläubig an.

"Es scheint so zu sein." Sie sah Porthos lange an, nicht sicher, ob sie auf ihre folgende Frage nicht wieder eine überflüssige Antwort erhalten würde. "Ist er gerade erst gekommen?"

"Ist eben gerade zur Tür herein. Er sitzt unten und schlürft hoffentlich etwas von diesem braunen Gebräu, dass ich mir gerade bestellt hatte. Henriette hat mir versprochen, ihn zu beschäftigen, während ich euch hole."

Henry Evrard, Verlobter der toten Manon Menard und somit, wenn man es genau betrachtete, Witwer, genoss die Aufmerksamkeit des üppigen Mädchens mit Namen Henriette in vollen Zügen und frei von Hintergedanken. Er hatte nicht gesehen, wie sie geradewegs die Tür zu einem Zimmer im ersten Stock geöffnet hatte, um dieses unter verführerischem Kichern im Arm des Musketiers Porthos zu betreten. Wie Porthos noch einen letzten Blick in den Salon geworfen und sich die prankenartige Hand vor den Mund geschlagen hatte, um nicht vor Schreck laut aufzuschreien. Und er hatte ebenfalls nicht gesehen, wie das Mädchen mit dem schelmischen Lächeln Instruktionen ins Ohr geflüstert bekam, die nur den einen Zweck hatten, ihn hinzuhalten. Und so nippte er hin und wieder an der heißen Schokolade, die ihm als Aufmerksamkeit des Hauses angeboten worden war und somit nicht nur hervorragend schmeckte, sondern auch noch umsonst war, und zwickte Henriette abwechseln in die linke und die rechte Gesäßhälfte. All das war zwar nicht der Grund, weswegen er hergekommen war, aber er würde sich nicht beklagen. Zumal sein Geist schon vor dem Betreten des Paradieses von einer gehörigen Portion Alkohol vernebelt worden war. Zu seiner eigenen Überraschung lichtete sich der Schleier binnen zweier Sekunden, als er die vier Musketiere vor sich wahrnahm. Vor Schreck vergaß er sogar, das Stück Hintern zwischen seinen Fingern zu entlassen.

"Henry, richtig?" Porhos ließ sich neben ihm auf die gepolsterte Bank fallen. "Also euch hätte ich ja nicht hier erwartet!" Bestimmt griff er nach der schlanken Hand, die immer noch seinen Lieblingskörper umschloss, um sie kräftig zu schütteln. "Ihr gestattet doch sicherlich, dass ich euch dieses bezaubernde Wesen abnehme? Sie dürfte ohnehin nicht euren Geschmack treffen, nicht wahr?"

"Wie bitte?" Der Angesprochen war immer noch bewegungsunfähig und machte keine Anstalten, den weichen Leib für sich zu beanspruchen.

"Ich meine, eure Verlobte war ja ein völlig anderer Schlag Frau. Da könnt ihr an diesem Engelchen hier ja gar keinen Gefallen finden, nicht wahr?" Porthos drückte ihr mit lautem Schmatzen einen feuchten Kuss auf die Wange. "Ihr solltet euch an Mädchen wie Renée Caspar halten!" Seine drei Freunde beobachteten das Schauspiel voller Staunen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war Porthos ganz offensichtlich dabei, den jungen Mann neben sich in ein Gespräch zu verwickeln, in dessen Verlauf sich dieser womöglich als Täter zu erkennen gab. Und das erstaunlichste daran war, dass besagter Porthos sich seiner Sache völlig bewusst zu sein schien.

Langsam gewann Henry Evrard an Haltung: "Was meint ihr?"

"Na, ihr wißt doch sicher, worauf ich hinaus will. Kennt ihr Mademoiselle Caspar?"

"Ja, natürlich kenne ich sie. Wir...sind und schon häufiger begegnet."

Athos hielt den Atem an. Mit nur einem Satz konnte sein für gewöhnlich unter mangelndem Gespür leidender Kollege alles zunichte machen.

"Was ihr nicht sagt." Porthos strich sich über das unrasierte Kinn. "Wußte ich doch, dass ihr mehr für die Blonden übrig habt!" Kameradschaftlich klopfte er ihm auf die Schulter, während Athos hörbar ausatmete. "Wisst ihr was? Ich mache euch einen Vorschlag. Ich lade euch ein. Ein Krug Wein für jeden von uns. Für euch einen, für mich einen. Und Madame bringt uns noch etwas feines, mit dem wir unsere knurrenden Mägen füllen können. Was sagt ihr dazu?"

Henry Evrard war sichtlich skeptisch. Er kannte den dicken Kerl kaum, warum also wollte dieser ihm etwas spendieren? "Ich dachte mir, jetzt, da ihr euch in dieser schwierigen Situation befindet, könntet ihr ein bischen Aufmunterung gut gebrauchen. Also, was sagt ihr? Wollt ihr etwa den besten Wein des Hauses ausschlagen?" Das allerdings war ein Argument, dass den ohnehin schon nicht mehr nüchternen jungen Mann überzeugte: "Und ihr bezahlt?"

"Den vollen Preis!"

Während nun also Porthos den schwankenden Henry am Arm packte, um ihn freundschaftlich schnatternd die Treppe hinaufzuführen, blickte Athos verwirrt in die Runde. "Ich muss mir das gerade eingeblidet haben." Er sah Aramis fragend an. "Hattet ihr etwas dergleichen besprochen?"

Aramis hob entschuldigend die Schultern: "Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ganz offensichtlich ist unser werter Porthos gerade über sich hinaus gewachsen." Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.

"Wenn die Herrschaften die Anmerkung gestatten, ihr unterschätzt Monsieur Porthos sehr oft, wie mir scheint." Henriette stämmte die Hände in die üppigen Hüften und atmete betont tief ein, als wolle sie sich aufblähen wie ein zum Kampf bereiter Hahn. Nur Bruchteile später ließ sie die Luft mit einem lauten Schnaufen wieder entweichen und machte, mit hoch erhobenem Kopf, auf dem Absatz kehrt, um den Wein für ihren gerissenen Lieblingsgast und sein ahnungsloses Opfer zu holen.
 

Nach dem Schauspiel im Salon hatte Madame Paradis den verbliebenen Musketieren schweigend zu verstehen gegeben, dass sie sie noch einmal in ihrem Arbeitszimmer sprechen wolle.

"Kennt ihr diesen jungen Mann?" Statt sich erneut hinter ihrem Schreibtisch in Sicherheit zu wiegen, blieb sie jetzt davor stehen, nur eine Hand auf das dunkle Holz gestützt.

"Wir hatten vor einigen Wochen das erste Mal mit ihm zu tun.", beantwortete Aramis die besorgte Frage. "Er war mit dem ersten Opfer dieser Mordserie verlobt. Ihr Name war Manon Menard. Ihr kennt sie nicht zufällig?"

"Oh, nein nein. Wenn diese Manon nicht bei mir gearbeitet hat, dann kenne ich sie nicht. Wißt ihr, die anständigen Mädchen machen einen weiten Bogen um mich. Wenn man sie mit mir zusammen sehen würde, wäre ihr Ruf verständlicherweise ruiniert."

Athos brummte verstehend. "Ist Monsieur Evrard schon lange Gast bei euch?"

"Nun, was heißt lang? Er war im Februar das erste Mal hier. Sturzbetrunken."

"Wann im Februar?"

"Ihr stellt wirklich die unmöglichsten Fragen, Monsieur! Wisst Ihr noch den genauen Tag, an dem ihr das letzte Mal Gast in meinem Hause wart? Aber nun gut, lasst mich überlegen." Madame Paradis strich sich nachdenklich über den Nacken. "Es muss um den zwanzigsten herum gewesen sein. Ja, ich glaube, so war es. Wie gesagt, er war sturzbetrunken und gab teils unverständliche Laute von sich. Gejault wie ein Hund hat er. Eigentlich wollte ich ihn hinauswerfen lassen, weil ich mir Sorgen um das Wohlbefinden meiner anderen Gäste gemacht habe, aber einige meiner Mädchen meinten, er sähe so traurig aus und bräuchte ein wenig Zuwendung. Und nachdem er mir versichern konnte, dass er zahlungsfähig sei, habe ich ihn den Mädchen überlassen. Seitdem kommt er recht häufig. Nüchtern habe ich ihn allerdings nie erlebt."

Wieder brummte Athos etwas zur Bestätigung. Manon Menard wurde am fünfzehnten des Monats gefunden. Es wäre also nicht unwahrscheinlich, dass er, entsetzt ob seiner eigenen Grausamkeit, dem Rausch verfallen ist und nach einem Ersatz sucht. Aber warum hätte er seine Verlobte umbringen sollen? Und im Anschluss weitere Mädchen, die der Menard ähnlich sehen. Es wollte sich einfach nicht sinnvoll zusammenfügen.

"Das also meinte dieser Julien, als er sagte, dass sein Freund sich nach dem Tod seiner geliebten Manon verändert hätte." aus D´Artagnan sprach Mitleid.

"Es scheint so..." Aramis nickte. "Monsieur Evrard gehörte nicht zufällig zu den Männern, die bevorzugt nach Renée Caspar verlangt haben?"

"Ihr sagt es! Nachdem er Renée das erste Mal gesehen hatte, wollte er von meinen anderen Mädchen nichts mehr wissen. So sehr sie ihn auch umgarnten, er hat immer gewartet, bis sie Zeit für ihn hatte. Aber wie ich bereits erwähnt hatte, bildet er in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Verzeiht mir, wenn ich erneut Monsieur Porthos als Beispiel heranziehe: Er würde es gar nicht wagen, einem anderen Mädchen als Henriette seine Aufmerksam zu schenken. Sie würde rasen vor Eifersucht. Nun, und dieser junge Mann, wie war noch gleich sein Name, war bei Leibe nicht der einzige Stammkunden von Renée."

"Tatsächlich?" Athos zögerte einen Moment. "Kennt ihr die Namen dieser Herren?"

"Oh, die wenigsten meiner Gäste verraten mir ihren Namen. Einige wenige kennt man, weil sie stadtbekannt sind, so wie Ihr, und noch weniger verraten mir aus freien Stücken ihre Namen. Manchen hört man auch aus Gesprächen heraus. Aber das sind wirklich Ausnahmen. Ich kann euch vielleicht zwei oder drei Namen geben, mehr nicht." Sie hob bedauernd die Schultern.

"Ich denke, dass reicht für´s erste."

Flink wie ein Spatz war Madame Paradis hinter den Schreibtisch getreten. Sie nahm ein abgerissenes Stück Pergament aus einer Schublade, tauchte die Feder in das kleine Tintenfaß und kratze drei Namen darauf. "Mehr kann ich diesbezüglich leider nicht für euch tun, Monsieur. Aber," sprach sie jetzt auch an D´Artagnan und Aramis gewandt, "wenn ihr gestattet, seid doch meine Gäste, bis Monsieur Porthos sein Gespräch beendet hat." Ihre Hand wies freundlich auf die Tür zum Flur. "Vielleicht möchtet ihr ja tatsächlich einmal eine Schokolade probieren. Sie schmeckt wirklich ausgezeichnet, dafür verbürge ich mich."

Auf dem Weg zur Treppe blieb Aramis urplötzlich stehen und legte ein Ohr an die Tür zu ihrer Rechten. Dröhnendes Lachen und durch Lallen nahezu vollständig entstellte Wörter drangen durch das Holz.

"Kannst du etwas hören?" Athos trat nun seinerseits näher heran.

"Nicht viel. Entweder macht er seine Sache verdammt gut und verstellt sich, oder er trinkt gerade Bruderschaft mit Monsieur Evrard und hat morgen früh alles wieder vergessen." Das beste hoffend begaben sich die drei zur Untätigkeit Verdammten in den Salon, um dort zumindest einen kleinen Schluck dieses viel gerühmten Getränks zu nehmen.

"Schmeckt irgendwie seltsam.", bemerkte D´Artagnan schnell, atmete den Geruch tief ein und nippte zur Sicherheit noch einmal prüfend an der gewürzten braunen Flüssigkeit. "Da bleibe ich lieber beim Wein."

"Ich denke, die wenigsten trinken es wegen des Geschmacks.", erwiderte Athos lachend.

"Wie meinst du das?"

"Wie Aramis bereits bemerkt hatte, sagt man der Schokolade eine anregende Wirkung nach, wenn du verstehst, worauf ich hinaus will. Deswegen trinkt man sie hier. Deswegen trinkt man sie am Spanischen Hof und deswegen trinkt man sie wohl auch im Louvre. Korrigiere mich, wenn ich falsch liegen, Aramis." Seine Stimme war gedämpft.

"Ihre Majestät trinkt regelmäßig eine Tasse, ob allerdings aus Gewohnheit oder mit Hintergedanken kann ich dir nicht sagen."

"Die Königin?" Vor Schreck hatte D´Artagnan seine Stimme unötig erhoben, was sogleich mit forschem Zischen seiner zwei Kollegen quittiert wurde. "Entschuldigt. Aber warum die Königin?"

"Warum nicht?" Aramis wirkte belustigt. "Sie hat das Getränk aus ihrer Heimat an den Hof gebracht, ich kann mir also durchaus vorstellen, dass sie es aus reiner Heimatverbundenheit trinkt."

"Ja aber...die Wirkung!" Er war immer noch aufgewühlt.

"Merkst du denn was?", schaltete sich Athos ein.

Für einen Moment saß D´Artagnan reglos da und erforschte sein Innerstes nach etwas, das wie plötzlich aufkommendes körperliches Verlangen wirkte. Dann fand er seine Sprache wieder: "Nein, bis jetzt nicht. Mir ist ein bischen warm, aber sonst nichts."

Seine Freunde grinsten. "Na bitte."

"Dann ist das alles nur ein Gerücht?"

"Ich denke, man muss daran glauben, um es zu spüren, wie bei so vielen Sachen."

"Hm." D´Artagnan war in sich zusammengesunken und starrte Athos an. Was wohl die anderen Sachen waren?

In diesem Moment polterte es über ihnen. Eine Tür flog auf, ein Krug zersplitterte und zwei tiefe Männerstimmen gröhlten ein von Schnaufen und Kichern unterbrochenes Lied, dass sich nur noch an der Melodie erkennen lies. Langsam wankte das Duo die Treppe hinunter. Hin und wieder trat einer von beiden statt auf eine Stufe ins Leere und musste dann vom anderen mühsam vor einem Sturz bewahrt werden. Aramis konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren beleibten Freund das letzte mal derart besoffen gesehen hatte. Sie ahnte das Schlimmste. Ein Blick in die Gesichter ihrer Freunde ließ erahnen, dass es ihnen ähnlich ging. Statt auf sie hielten die beiden Weinseligen auf die Haustür zu. Beherzt griff Henry Evrard nach dem Türknauf und verfehlte um mindestens eine Handbreit. Es brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich die Tür geöffnet hatte. Sofort ließ er sich aus der stützenden Umarmung des Musketiers gleiten und kippte auf die Straße. Nur der Türgriff, der noch immer fest in seiner Hand lag, verhinderte, dass er mit dem Gesicht voran im Schlamm der aufgeweichten Straße landete. Kichernd richtete er sich wieder auf und lallte etwas, was Athos als einen Abschiedsgruß an Porthos deutete. Dieser antwortete nicht weniger undeutlich, aber wesentlich lauter, winkte ausgelassen, verlor dabei das Gleichgewicht und stolperte seinem neu gefundenen Saufbruder ein paar Schritte hinterher. Am liebsten hätte Athos sein Gesicht in den Händen vergraben. Dieser versoffene Trottel hatte es tatsächlich mal wieder geschafft, einen anfänglich vielversprechenden Plan zunichte zu machen. Da jedoch brach Porthos unvermittelt das Winken ab, drehte sich geschickt um seine eigene Achse und verschloss kichernd die Tür.

"Der ist voll wie eine Jauchegrube!", posaunte er, plötzlich wieder klar verständlich. "Jetzt habe ich aber wirklich Durst."

Wenig von dem, was Porthos von Henry Evrard erfahren hatte, war neu oder besonders aufschlußreich gewesen. Nach dem Tod seiner Verlobten hatte er jegliche Selbstbeherrschung verloren. Nachts schlief er kaum, von Weinkrämpfen und Alpträumen geplagt, am Tage dann betrank er sich hemmungslos im Keller seines Elternhauses. Auf der Suche nach Ablenkung war er schon wenige Tage nach Manons Tod zum ersten Mal ins Paradies gestolpert. Dort hatten sich Madames Damen liebevoll, wie er es nannte, um ihn gekümmert, wobei eine ihm ganz besonderns ins Auge gefallen war. Fortan suchte er so oft wie nur eben möglich Trost bei der jungen Renée Caspar.

"Angeblich", brachte Porthos zwischen einem kräftigen Schluck Wein und einem Entenschenkel hervor, "hat er sich immer nur mit ihr unterhalten. Sie würde ihm immer so gut zuhören, hat er gesagt."

"Aber bezahlt hat er trotzdem?" D´Artagnan strich sich fragend über die Stirn.

"Anscheinend. Er hätte wohl auch keine andere Wahl gehabt. Wenn man es genau nimmt, hat er das Mädchen von der Arbeit abgehalten. Und ich wage zu bezweifeln, dass Madame darüber in Kenntnis war."

"Hast du ihm erklärt, dass wir ihn verdächtigen?" fragte Athos.

"Ganz ehrlich, ich bin mir nicht mal sicher, ob er sich der Tatsache bewußt ist, dass sein Mädchen hier tot ist. Ich habe ihn darauf angesprochen, aber er muss schon so betrunken gewesen sein, ich glaube er dachte ich würde von seiner Verlobten reden. Und wenn ich das so sagen darf, der Kerl nuschelt ganz gewaltig, wenn er betrunken und verheult ist. So ganz verstanden hab´ ich ihn nicht, was das angeht."

Athos schnaubte. Bis auf einen geselligen Nachmittag und eine Liste mit gerade einmal drei Namen hatte ihnen dieser Tag nicht viel gebracht. "Du hast nicht zufällig herausgefunden, wann er das letzte Mal hier war?"

"Er sagte, er wäre seit Montag nicht hier gewesen. Das macht fünf Tage bis heute. Sollten wir aber vielleicht noch mal überprüfen?!"

"Allerdings. Du hättest doch sicher nichts dagegen, morgen Mittag einmal bei seinen Eltern vorbeizusehen?"

"Oh, keineswegs." Porthos strahlte bei dem Gedanken, dem Gasthaus der Evrards ganz offiziell einen Besuch abstatten zu dürfen. "Du kannst dich voll und ganz auf mich verlassen."

"Sehr schön. Und wir werden uns den Herren auf der Liste zuwenden sowie dem ursprünglichen Besitzer dieser Münze." Athos legte beides auf den kleinen Tisch vor sich und begutachtete die magere Ausbeute des Tages.

"Du kennst ihn?"

"Ich? Nein! Aber du. Ich werde morgen früh die Gelegenheit nutzen, um mir ein Bild von diesem scheinbar so gut informierten Schönling zu machen. D´Artagnan, du wirst uns begleiten." Dieser nickte.

Athos entfaltete das kleine Stück Pergament und las die in hektischen Schwüngen verfassten Namen. Er kannte sie alle drei: Luc Renard, angesehener und erfolgreicher Kaufmann. Urbain Bonnefoix, Händler teurer Tuche. Tristan Vidal, Musketier seiner Majestät des Königs von Frankreich. Schweigend reichte er die Liste weiter.
 

Am nächsten Morgen war Aramis viel zu früh auf den Beinen. Die Erkenntnisse des letzten Tages hatten sie kaum schlafen lassen und besonders die Tatsache, dass einer ihrer Kollegen urplötzlich in der Liste der möglichen Verdächtigen aufgetaucht war, beunruhigte sie. Nervös lief sie in ihrem Schlafzimmer auf und ab, blieb hin und wieder vor dem breiten Bleiglasfenster stehen, um in die schwach voranschreitende Dämmerung hinauszusehen, und griff schließlich zur Uniformjacke, die sie letzte Nacht unachtsam auf die Truhe am Fußende ihres Bettes hatte fallen lassen. Der Duft des Paradieses hing noch immer daran. Ein kurzer Blick in den Spiegel sollte gewährleisten, dass alles an seinem rechten Fleck saß. Sie wollte sich schon wieder von ihrem eigenen Anblick lösen, als sie in der Bewegung verharrte. Unsicher tat sie erneut einen Schritt auf ihr Spiegelbild zu, um es sich genauer anzusehen. In gewisser Weise sah sie den drei Mädchen nicht unähnlich, so schwer es ihr fiel, sich diese Tatsache einzugestehen. Aramis fuhr sich prüfend durchs Haar, drehte ihren Kopf, um sich selbst im Halbprofil sehen zu können, zog die Kerze neben sich etwas näher heran und strich mit dem Finger über eine kleine, unauffällige Narbe, die eine Platzwunde vor einigen Jahren an ihrer Unterlippe zurückgelassen hatte. War sie wirklich wie die drei Toten? Nein, unmöglich. Vielleicht war sie es einmal gewesen. Vor ihrer Zeit als Aramis. Das war vorbei. Sie blies die Kerze aus und verlies das Haus mit einer Tasche voll Brot, Butter und Käse.
 

In einem anderen Haus der Stadt hatte D´Artagnan ebenso schlecht geschlafen. Er war am Abend von seiner jungen Frau begrüßt worden und hatte ein Stechen im ganzen Körper verspürt, als er in ihre strahlenden blauen Augen sah und ihr durch das weißblonde Haar strich. Unweigerlich sah er das vom Alkohol aufgedunsene Gesicht des jungen Henri Evrard, der mit seiner Liebe auch jeden Lebensmut verloren hatte. Beim gemeinsamen Abendessen hatte er geschwiegen, hatte versucht, seine Gedanken zu ordnen und sich selbst immer wieder zu sagen, dass für Constanze keine Gefahr bestand. Sie war eine verheiratete Frau. Keines der Opfer war das. Und sie war nicht mit irgendjemandem verheiratet, sondern mit einem Musketier. Nur ein völlig Irrer würde es wagen... In diesem Moment fiel ihm ein, dass der Mörder dreier Frauen wahrscheinlich genau das war. Ein Wahnsinniger, der einen mörderischen Hass auf einen bestimmten Frauentypus hegte und alles daran setzte, sie zu vernichten.

Die halbe Nacht hatte er schlaflos neben ihr gelegen, sie im Mondlicht mit einer Mischung aus Stolz und Sorge betrachtet und jedem noch so kleinen Geräusch von der Straße gelauscht, bis er in den frühen Stunden des Tages in einen kurzen, unruhigen Schlaf fiel. Ein beängstigend realistischer Alptraum ließ ihn nur wenig später schweißgebadet hochfahren und jeden Gedanken an Schlaf verdrängen. Prüfend sah er neben sich. Constanze war noch da, unversehrt und friedlich schlafend. Er hauchte einen Kuss auf ihre Wange, atmete einen zarten Hauch von Lavendelseife ein, den ihr Haar verströmte, und rutschte aus dem Bett.
 

Für Athos endete die Nacht, als die Sonne sich als große rote Scheibe über den Horizont schob und den Himmel rosig leuchten lies. Zwar war er immer noch von völliger Finsternis umgeben, doch im Nebenzimmer herrschte bereits gedämpfte Betriebsamkeit. Seine leise ins Schloß fallende Wohnungstür hatte ihn geweckt, ein ebenfalls leises Knarren des Holzbodens hatte ihm bestätigt, dass sein Gehör ihn beim ersten Geräusch nicht getäuscht hatte. Ein plötzliches Klappern erinnerte ihn daran, dass er die Schublade seines Küchenschranks richten lassen musste. Sie klemmte, sehr zum Missfallen seines frühmorgendlichen Besuchers. Athos richtete sich auf, zog den Betthimmel zur Seite, spürte, wie sich die feinen Härchen auf seiner Haut aufstellten und nahm zur Kenntnis, dass durch ein Loch zwischen den Vorhängen schwaches Licht fiel. Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. Vielleicht sollte er sich einfach wieder hinlegen und so tun, als hätte er nichts mitbekommen. Sie würde ihn ohnehin wecken, wenn sie gefunden hatte, was sie suchte. Andererseits war ein ähnlicher Versuch seinerseits vor einigen Wochen bereits an ihrem Scharfsinn gescheitert. Er konnte sich also genau so gut etwas anziehen und seine Neugier befriedigen, warum um alles in der Welt sie im Halbdunkel durch Paris gelaufen war und nun in seiner Küche herumwühlte. Es war keineswegs so, dass er nicht eine Ahnung gehabt hätte. Sie hatten gestern abend noch lange im Paradies gesessen und die Köpfe zusammengesteckt, ohne Madame gute Gäste zu sein. Porthos´ Schauspiel hatte für Aufregung unter den leichten Mädchen gesorgt und die anschließenden verhärteten Gesichter der Musketiere drohten das Geschäft zu ruinieren. Ausser verdünntem Bier hatten sie nichts getrunken, zu angeschlagen waren die Gemüter angesichts der vor ihnen stehenden Aufgabe. Einen der ihren solcher Verbrechen zu verdächtigen schien jedem von ihnen unmöglich und dennoch mussten sie nicht nur ihn, sondern auch seine Frau befragen. Doch wie befragt man eine Ehefrau nach dem Verhältnis ihres Mannes zu einer Hure? Und nach ihrem Eheleben? Schweren Herzens hatte Aramis sich bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen, und man war sich einig, dass dies die beste aller möglichen Lösungen war. Unter Frauen führte so ein Gespräch vielleicht eher zum gewünschten Erfolg. D´Artagnan hatte seine Freunde gleich darauf verlassen, daran erinnernd, dass er frisch verheiratet sei und ein derartiger Ort entsprechend unpassend. Die zurückgelassenen Musketiere hatten sich schließlich erneut mit der Herrin des Hauses in ihrem Arbeitszimmer zusammengefunden, um das weitere Vorgehen bezüglich Renée Caspar zu besprechen. Schweigend hatte man zu vorgerückter Stunde den Heimweg angetreten. Beim Verlassen des Paradieses hatte Aramis einen kurzen Blick aus dem Fenster in die Dunkelheit geworfen. Zumindest schien es so. Athos war es jedoch eher vorgekommen, als wollte sie sich ihrer eigenen Erscheinung im schwachen Spiegelbild versichern. Niemals hätte sie zugegeben, dass Porthos´ Worte sie in igendeiner Form getroffen hatten, und dennoch schien genau das der Fall zu sein. Bevor Athos sich jedoch weitere Gedanken darüber machen konnte, bemächtigte sich ein verführerischer Geruch seiner Sinne. Er musste unter seiner Tür hindurchgekrochen sein und versprach nun gebratene Eier mit Speck und Zwiebeln zum Frühstück. Nun, wenigsten wußte sie, wie man ihn angemessen für eine zu kurze Nacht entschädigte.
 

Der letzte der vier Freunde schlief um diese Uhrzeit noch tief und fest. Nachdem er sich am Pont Saint-Michel von Athos und Aramis verabschiedet hatte, weil er, wie er behauptete, noch seinen Bruder in dessen Haus auf dem Petit Pont besuchen wollte. Tatsächlich jedoch schlug er am Petit Pont nicht den Weg in Richtung der Île de la Cité ein sondern bog nach rechts in die Grand´rue Saint Jacques um von dort über einen Umweg wieder ins Paradies zu laufen. Henriette hatte ihm eine Stunde zuvor unter vielsagendem Augenzwinkern eine Überraschung versprochen und er war keineswegs gewillt gewesen, sich diese entgehen zu lassen. Erst Stunden später fiel er, beschwippst und in jeder Hinsicht befriedigt, in sein eigenes Bett.
 

Marie Paradis hatte ihre Mädchen am frühen Morgen im Salon zusammengerufen. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob und wenn ja wie sie ihnen vom Tod einer der ihren berichten sollte und war am Ende zu dem Schluß gekommen, dass sie nur so zu möglichen Hinweisen kommen konnte. Und das war es, was sie wollte. Wenn sie ihren Teil dazu beitragen konnte, dass man den Mörder eines ihrer Schützlinge, denn das waren die Mädchen trotz allem für sie, zur Strecke brachte, dann tat sie genau das. Sie musste wissen, ob einer von ihnen in den vergangenen Tagen und Wochen etwas aufgefallen war, ob Renée ihnen Geheimnisse anvertraut hatte oder sie etwas gehört hätten, was nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war. Zudem mussten sie alle dazu angehalten werden, Gesprächen unter Kunden zu folgen, wann immer sich die Gelegenheit bot. Der jungen Henri Evrard hatte für´s erste Hausverbot. Ein zerschlagener Krug, Lärm und beschmutztes Mobiliar mussten als Begründung ausreichen.
 

Die intensiven Aromen waren inzwischen in jeden Winkel seines Schlafzimmers gekrochen und erschwerten Athos eine konzentrierte Rasur. Etwas in ihm trieb ihn zur Eile, vermutlich sein Magen, der ihn darauf hinweisen wollte, dass er nichts zum Abendessen bekommen hatte; der Rest von ihm versuchte mit allen Mitteln, die Haltung zu wahren. Dann, endlich, fiel mit den letzten Stoppeln auch die Selbstbeherrschung. Eilig knöpfte er seine Hose zu, warf sich ein Hemd über, fuhr sich ordnend durchs Haar, atmete tief ein - nicht ohne noch einmal prüfend die Zutaten zu analysieren - und öffnete in aller Ruhe die Tür zu seinem Wohnraum. Für einen kurzen Moment war sein Innerstes überfordert von all den Sinneseindrücken, die sich ihm offenbarten. Die Gerüche vom Herd, das Holz im Kamin, das neben einer gehörigen Portion Rus einen Hauch von Tannenwald verbreitete, diverse Bienenwachskerzen, die den Raum zusammen mit dem schwachen Licht des Morgens in gelbes und blaues Licht tauchten sowie die kalte Luft, die durch zwei weit geöffnete Fenster ins Innere drang und Athos wie ein Sprung in die Seine vorkam. Für gewöhnlich gab es nichts von alledem in seiner Wohnung, wenn er aufstand. Für gewöhnlich war es kühl, roch es ein wenig nach Holz und war es relativ finster, abhängig davon, wie viel Licht die Vorhänge ins Innere liessen. Er würde sich nicht beschweren, keineswegs, denn für gewöhnlich gab es für ihn kein so reichhaltiges Frühstück. Und sobald sich der Rus gelegt hatte, würden auch die Fenster wieder geschlossen werden und eine angenehme Wärme den Raum erfüllen. Athos beschloß, sich bis dahin in der Nähe eines Feuers aufzuhalten. Wortlos passierte er den Esstisch und blieb vor dem Herd stehen. Die Pfanne mit dem Eiern stand noch auf dem Rost, ein Holzlöffel lag auf dem gemauerten Rand. Wie sollte er da der Versuchung wiederstehen? Als Kind hatte man ihm regelmäßig mit dem Kochlöffel auf die Finger gehauen, wenn er aus den Töpfen klaute. In anderen gehobenen Haushalten wäre es unvorstellbar gewesen, dass die Hausangestellten die Kinder der Herrschaften schlugen, aber sein Vater hatte es als eine gute Möglichkeit betrachtet, seinen Kindern den Respekt vor Menschen jeden Standes beizubringen. Das hatte ihn allerdings nicht daran gehindert, immer wieder seine Nase in dampfende Töpfe zu halten. Viele schmerzhafte Misserfolge brachten ihm ein Reaktionsvermögen ein, dass nicht zu dem ruhigen, zurückgezogenen Kind gepasst hatte, das er gewesen war. Man, genauer gesagt seine Amme, hatte ihm auch beigebracht, dass man als Mann seines Standes den Mund nicht zu voll nehmen sollte. Eingedenk der Tatsache, dass sie nicht hier war und somit weder das eine noch das andere bestraft werden würde, vergass er beide Regeln und fuhr mit dem Löffel großzügig durch die Pfanne.

Zufrieden den großzügigen Bissen herunterschluckend drehte er sich um; mit zwei Schritten stand er neben ihr am Küchentisch. Noch immer hatte keiner von ihnen auch nur ein Wort gesprochen. Statt dessen beobachtete Athos, wie das Messer in ihrer Hand auf dem Brett beeindruckend schnell auf und ab wippte und hin und wieder eine Drehung in ihrer Hand vollführte. Vor sechs Jahren war sie durch seine harte Schule gegangen. Sie hatten bei Null anfangen müssen. Um so erstaunter war er damals gewesen, wie rasant ihre Entwicklung verlief. Nie wieder hatte er jemanden so hart an sich arbeiten sehen. Athos kam nicht umhin sie zu bewundern.

"Hast du mich nicht wahrgenommen oder ignorierst du mich einfach?" Er löste seinen Blick von den schlanken Händen und sah ihr direkt ins Gesicht.

"Um ehrlich zu sein, ich habe dich ignoriert. Käse?" Sie strahlte. Aber das einzige, was ihm dem Moment auffiel, waren ihre geröteten Augen.

"Was ist passiert?"

"Hm?" Aramis sah ihn für einen Augenblick verständnislos an. "Achso." Sie zuckte mit den Schultern. "Zwiebeln..."

"Verstehe..." Nachdenklich kaute er auf der Scheibe Käse. "Du hast wenig geschlafen letzte Nacht?"

"Hm." Schweigend betrachtete sie das Messer in ihrer Hand.

"Willst du darüber reden?" Sie schüttelte den Kopf. Es gab keinen Grund, darüner zu sprechen. Sie hatte die halbe Nacht damit zugebracht, nach einer Lösung für den Fall zu suchen. Erfolglos. Es gabt nichts zu bereden. Dann brach es doch aus ihr hervor: "Hast du einen Verdacht?"

"Nein, absolut nicht. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir keine Schritt vorwärts kommen. Wir können nur hoffen, dass wir heute irgendetwas erfahren, was wir nicht schon in irgendeiner Form wissen."

Ein zaghaftes Klopfen ließ sie innehalten.

"Wer da?" Von einer Sekunde zur anderen hatte seine Stimme einen herrischen Ton angenommen.

"D´Artagnan."

"Die Tür ist offen, komm rein!" Zögerlich öffnete sich die Tür und D´Artagnan steckte den Kopf herein. Er sah sich nach allen Richtungen um, bis er den Hausherren sah. Und zu seiner Überraschung nicht nur ihn. Sein Gesicht ´hellte sichtlich auf.

"Guten Morgen, Athos. Aramis!" Er trat ein, schloß die Tür und deutete eine Verbeugung an.

"Guten Morgen! Warum so förmlich?" Aramis konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.

"Ich dachte dass wäre so üblich, wenn man der Dame des Hauses begegnet." Mit einem verschmitzen Grinsen beobachtete er, wie ein Gesicht vor Schreck erstarrte und das andere damenhaft errötete.

Etwas früher als es höflich gewesen wäre klopften die Musketiere an die Tür zur Wohnung des bayrischen Botschafters am Place Royale. Die Arkaden schützten sie vor dem strömenden Regen, der wenige Minuten zuvor eingesetzt hatte. Einige Schritte rechts von ihnen saß eine Gestalt und schnarchte friedlich vor sich hin. Schon bald würde ein pflichtbewußter Hausangestellter dafür Sorge tragen, dass seine Herrschaften nicht mit einem solchen Anblick konfrontiert werden. Zögerlich öffnete sich die Tür einen Spalt weit und ein unordentlich livrierter Diener spähte hinaus. Seine zusammengekniffenen Augen ließen vermuten, dass man ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Nach einer kurzen Musterung des frühmorgendlichen Besuchs ließ er sich schließlich zu einer Frage hinreissen:

"Die Herren wünschen?" Es klang, als wolle er ihnen im nächsten Moment voller Verachtung vor die Füße spucken. Ihre Erscheinung rechtfertigte keineswegs ein Klopfen auf dieser Seite des Hauses. Keine teuren Stoffe, kein Schmuck, nicht einmal die Degen waren aussergewöhnlich gearbeitet. Der Dienstboteneingang wäre passender gewesen. Er warf einen schnellen Blick an ihnen vorbei auf den Platz, konnte jedoch keine Kutsche oder ähnliches entdecken.

"Wir wollen mit Eurem Herrn reden!" Athos ließ sich nicht durch das abwertene Gebaren des alternden Dieners beirren.

"Er schläft noch!"

"Dann weckt Ihr ihn!"

"Und warum sollte ich das tun?"

"Weil wir genau jetzt mit ihm reden möchten." Seine Stimme bekam einen scharfen Unterton.

"Und wer seid Ihr, dass Ihr das möchtet?" Der kleine Mann im Livrée war bereits im Begriff die Tür zu schließen, als diese von einer pfeilschnell ausgestreckten Hand aufgehalten wurde.

"Athos, Aramis und D´Artagnan. Musketiere seiner Majestät des Königs von Frankreich. Und wir würden jetzt wirklich gerne mit dem Grafen reden." Der Diener machte eine unwillige Verbeugung und winkte sie anschließend ins Innere des Hauses. Sie hatten kaum die Schwelle überschritten, als er die Tür hinter ihnen geräuschvoll ins Schloss fallen ließ.

"In welcher Angelegenheit darf ich die Herrschaften melden?" Völlig ohne Eile umrundete er die Musketiere, um zur Treppe zu gelangen.

"Sagt ihm einfach, dass wir uns mit ihm unterhalten möchten." Erneut neigte sich der Diener etwas nach vorn, verzog zum wiederholten Male das Gesicht und machte sich anschließend daran, die Stufen zu erklimmen. Keinem der drei war entgangen, dass er dabei das rechte Bein nachzog.

"Sehr zuvorkommend.", brummte D´Artagnan. Er löste seinen Blick von der Treppe und sah sich um. Die Halle war beinahe vollständig leer, untypisch für einen Raum, der einen ersten Eindruck von seinen Besitzern vermitteln soll. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass in diesem Haus gar keine Besucher erwartet wurden. Umso ungewöhnlicher, da es sich hierbei um das Haus eines Botschafters handelte. Für gewöhnlich fanden in solchen Häusern Gespräche zwischen Diplomaten statt, Empfänge, um das Ansehen des eigenen Fürstentums zu steigern und Kontakte zu knüpfen. Doch alles, was dieser Raum zu bieten hatte war eine kleine Bank neben der Treppe, tannengrün gepolstert. Zu D´Artagnans Rechten führte eine Tür in ein anderes Zimmer, aus dem eine rege Geräuschkulisse zu ihnen drang. Scheppern und Poltern ließen vermuten, dass es sich hierbei um die Küche handelte. Ein lautes Fluchen ließ schließlich keinen Zweifel mehr zu: "Zwiebeln, Mädchen! Weißt du, was Zwiebeln sind? Ja? Dann bring sie mir gefälligst und steh nicht dämlich in der Gegend herum, verdammt!" Für eine Sekunde war es fast still um sie herum, dann ließ ein Knall sie zusammenfahren."Herrgott Mädchen benutz deine Augen, dafür hat der Herr sie dir gegeben!"

"Klingt nach einer strengen Köchin." D´Artagnan musste unweigerlich an die Herrin über Töpfe, Pfannen und Vorratskammern im Hause Bonacieux denken.

"Für gewöhnlich sind das die besten..."

"Dann sollte ich in Zukunft vielleicht strenger sein, wenn du mir die Zutaten vom Brett klaust!"

"So habe ich das nicht gemeint!" Athos hob abwehrend die Hände. Da waren vom oberen Stockwerk gedämpfte Geräusche zu hören. Sofort verstummten sie in ihrer Unterhaltung. Dann vernahmen sie die unregelmäßigen Schritte des Dieners, die sich auf die Treppe zu und herunter bewegten.

"Man ist jetzt bereit, Euch zu empfangen. Wenn Ihr mir also folgen möchtet..."

Hanns Friedrich Graf von Rosenbaum stand hinter seinem Schreibtisch und richtete seinen Hemdkragen, mit einem Augen immer die offene Tür beobachtend. Er war keineswegs begeistert gewesen als er durch lautes Klopfen geweckt wurde. Bis in den frühen Morgen hinein war er ein paar Häuser entfernt zu Gast gewesen und hatte sowohl dem Wein als auch den Frauen gut zugesprochen. Kurz zuvor hatten er und der Gastgeber ein kleines Handelsabkommen getroffen, dass dem bayrischen Fürstenhaus einige erlesene französische Waren und dem französischen Handelspartner ein feines Sümmchen zukommen ließen. All das änderte leider nichts daran, dass er in diesem Moment von unsäglichen Kopfschmerzen geplagt wurde. Als die Musketiere im Türrahmen auftauchten zupfte er ein letztes Mal an seinem rechten Ärmel und setzte dann sein entwaffnendstes Lächeln auf. Die drei blieben vor dem Zimmer stehen und für einen kurzen Moment sahen sich der Vertreter des Kurfürstentums Bayern und der Musketier Athos abschätzend in die Augen. Das Lächeln des Grafen geriet für den Bruchteil einer Sekunde ins Wanken, kaum wahrnehmbar, während das Gesicht seines Gegenüber keinen Zweifel daran ließ, dass er sich seiner Wirkung und seiner Position sicher war.

"Tretet ein!" Er breitete die Hände aus und winkte direkt ab, als Athos eine Verbeugung andeutete. "Oh, bitte, halten wir uns nicht mit Förmlichkeiten auf. Ich bin sicher, dass es einen wichtigen Grund für Euren frühen Besuch gibt. Ihr seid Athos, nehme ich an?" Der angesprochene nickte. Der Blick des Gesandten wanderte weiter, und sein höfliches Lächeln wurde zu einem knabenhaften Grinsen, dass nicht in sein Gesicht passte. "Mademoiselle Aramis, ich freue mich, euch erneut in meinem Haus als Gast begrüßen zu dürfen. Es hat sich nicht all zu viel verändert, fürchte ich." Seine Schultern wippten entschuldigend auf und ab.

"Nun, wie ich sehe habt ihr jetzt einen Vogel."

"Wie meinen?" Irritiert folgte er ihrem Blick in eine Ecke des Zimmers. "Ach, natürlich." Neben dem Fenster saß ein Falke mit leicht geöffneten Schwingen, in Angriffsstellung auf einem Ast installiert. "Ein schönes Tier, nicht wahr? Er war ein ausgesprochen guter Jäger. Ihr solltet das Fasanenpärchen in meinem Schlafgemach sehen." Er wandte sich wieder seinen Gästen zu. "Und ihr seid..."

"D´Artagnan, Monsieur." Der Graf brummte etwas, wie um zu zeigen, dass er schon einmal von ihm gehört hatte.

"Aber nun wollen wir zum Wesentlichen kommen, nicht wahr? Jakob, hol noch einen Stuhl für Monsieur D´Artagnan." Der Diener, der nach wie vor vor der offenen Tür gestanden hatte, nickte knapp und ging, nicht sonderlich eilend, nach einem verfügbaren Stuhl suchen. "Bitte, setzt euch, Monsieur. Nur keine falsche Zurückhaltung." Hanns Friedrich von Rosenbaum sah Athos herausfordernd an.

"Ein wirklich schöner Vogel. Etwas klein vielleicht." Erneut erwiderte er den Blick ohne ein Anzeichen von Unterwerfung. "Ein Männchen?" Er nahm auf dem ihm angebotenen Armlehnstuhl Platz.

"Wie kommt ihr darauf?" Der Graf setzte sich ebenfalls.

"Es ist eine Eigenart der Wanderfalken, dass die Weibchen die Männchen überragen." Athos ließ das Wissen um diesen Umstand mit einer Handbewegung als selbstverständlich im Raum stehen.

"Ihr seht mich erstaunt, Monsieur." Er holte gerade Luft, um einen neuen Satz zu beginnen, als erst der grimmige Diener mit einem Stuhl in den Händen und direkt hinter ihm eine junge Hausangestellte in der Tür standen und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. "Ah, mein Frühstück. Ich hoffe Ihr habt nichts dagegen, wenn ich esse, während wir uns unterhalten? Komm nur her, Mädchen. Stell es hier auf den Tisch. Jakob, stell den Stuhl doch bitte einfach neben Mademoiselle Aramis ab." Er tat wie ihm geheißen, verneigte sich abermals und verließ das Zimmer. Das Mädchen stand immer noch in der Tür und blickte unsicher auf die Rückseiten der Stühle zwischen sich und ihrem Herrn. "Nur zu, ich gestatte es." Zögerlich setzte sie sich in Bewegung, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Dennoch fühlte sie deutlich die Blicke aller Anwesenden auf sich ruhen und ihr langes Gesicht begann zu glühen. Sie umrundete den Schreibtisch und stellte das Tablett neben ein paar ungeordneten Blättern und einem Tintenfäßchen ab. Die Hand zitterte, als sie verdünnten Wein in den Becher füllte, um ihn dem Grafen zu reichen.

"Gibt es einen bestimmten Grund, warum du meine Gäste wie Luft behandelst?" Seine Hand griff nach dem dünnen Unterarm des Mädchens.

"Nein, Monsieur."

"Nun denn. Bitte."

"Verzeiht mir meine Unaufmerksamkeit." Sie sah auf, in die vor Staunen aufgerissenen Augen D´Artagnans und Aramis´ und in die gleichgültigen Augen Athos´, knickste höflich und machte sich dann wieder zitternd daran, ihrem Herrn das Frühstück aufzudecken. Nervös blickte sie noch einmal zu Athos und stellte mit Schrecken fest, dass er jeden ihrer Handgriffe genau beobachtete. Sie atmete tief ein, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich die Röte in ihrem Gesicht noch verstärkte. Noch vor wenigen Wochen hatte sie diesem Mann triumphierend erklärt, dass die Zeit niederer Arbeiten für sie vorbei sei, dass sie am nächsten Tag schon die Kammerdienerin der Gräfin von Rosenbaum wäre. Und nun reichte sie vor seinen Augen dem Grafen das Frühstück und benahm sich wie ein Tölpel, vom Glanz der Gräfin keine Spur. Endlich war alles angerichtet. Sie verbeugte sich knapp und schlich dann gesenkten Hauptes aus dem Zimmer, die Tür hinter sich schließend.

"Ihr müsst sie entschuldigen, sie ist noch neu in meinem Haushalt." Der Graf hob entschuldigend die Hände.

"Nur keine Sorge. Mademoiselle Gervis war mir gegenüber noch nie so höflich wie heute." Athos konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

"Ihr kennt sie?"

"Sie hat bis vor kurzem meine Wäsche gewaschen." Das Gesicht des Botschafters zeugte von Verständnislosikgkeit. "Ihre Mutter ist meine Vermieterin.", fügte er erklärend hinzu, woraufhin der Graf verstehend nickte.

"Kommen wir also nun endlich zu dem Grund Eures Besuches." Er schob sich ein Stück kaltes Fleisch in den Mund.

"Wie ihr wisst, hat es in letzter Zeit einige ungeklärte Frauenmorde in der Stadt gegeben. Vielleicht habt ihr auch schon davon gehört, dass der letzte dieser Morde erst wenige Tage zurückliegt. Man hat die Leiche gestern gefunden. Es handelt sich um eine gewisse Renée Caspar. Sagt euch der Name etwas?"

"Nein, ich denke nicht." Er wischte sich das Fett von den Lippen. "Sollte ich sie denn kennen? War sie eine bekannte Frau? Eine reiche Bürgerin? Oder gar eine Mätresse?" Die Bernsteinaugen funkelten bei dem Gedanken daran.

"Nein, weder das eine noch das andere. Sie gehörte zu Madame Paradis´ Mädchen." Athos´ Augen begannen ebenfalls zu funkeln, was allerdings dem Anblick des sich verschluckenden bayrischen Schönlings zuzuschreiben war. "Madame sagte uns, Ihr wäret ein treuer Kunde Mademoiselle Caspars gewesen." Er ließ die letzte Äusserung unkommentiert im Raum stehen und wartete auf eine Reaktion. Ohne enttäuscht zu werden.

"Ach, das stille Ding. Und nun glaubt ihr also, ich hätte das Mädchen auf dem Gewissen. Welch raffinierter Gedanke, Monsieur Athos. Nur vergesst Ihr dabei so einiges! Ich möchte nur einmal darauf hinweisen, dass ich -"

"Ich kann mich nicht erinnern, etwas derartiges behauptet zu haben! Wenn ihr mich also weiter ausführen lassen wollt! Wann habt ihr Mademoiselle Caspar das letzte Mal gesehen?"

"Vor vier Tagen." Er überlegte einen Moment, während er versuchte, mit der Zunge eine Fleischfaser aus den Zähnen zu ziehen."Ja, vor vier Tagen. Es war schon recht spät am Abend. Ich habe mich von einem meiner Bediensteten aus dem Paradies abholen lassen. Ich traue den Laternenträgern in dieser Stadt nicht. Ihr wißt sicherlich warum." Athos wußte es. Zwar gab es vereinzelt an den Anfängen und Enden einzelner Straßen fest installierte Laternen, doch im Großen und Ganzen war es in der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit finster wie in einem Erdloch. Besonders wenn wie vor vier Tagen kein Mond am Himmel stand. Viele Gauner nutzten die Möglichkeit, sich mit einer (meist gestohlenen) Laterne als Führer durch die nächtliche Stadt anzubieten, nur um dann im entscheidenden Moment die Kerze zu löschen, dem Kunden mit der Lampe eins über den Schädel zu ziehen und ihn anschließend all seiner Habseligkeitn zu berauben.

"Hat euer Diener Jakob euch nach Hause geleitet?"

"Oh, nein nein." Er fuchtelte wild mit den Händern vorm Gesicht. "Versteht mich nicht falsch, Jakob ist mein ältester und treuester Diener, aber vor wem sollte er mich im Ernstfall schützen? Nein, der Sohn meiner Köchin hat mich gegen Mitternacht im Paradies abgeholt."

"Ferdinand?" Aramis sah den Grafen an, der ihren Blick ebenso verwundert erwiderte.

"Ihr kennt ihn?"

"Er ist mir bei meinem letzten Besuch aufgefallen." Sie benötigte einige Sekunden, um das richtige Wort zu finden.

"Nun ja, er ist vielleicht kein besonders helles Licht, aber er kann ordentlich zupacken. Im Falle eines Überfalls weiß ich ihn lieber an meiner Seite als jemanden mit Schmalz im Kopf statt in den Armen."

"Und ist euch an dem Abend irgend etwas aufgefallen? Benahm sich Mademoiselle Caspar ungewöhnlich? Anders als sonst?"

"Nein, eigentlich nicht. Sie war still wie immer. Naja, wie soll ich sagen..." Er sah aus dem Fenster in den stahlblauen Morgenhimmel. "Es ist mir etwas unangenehm darüber zu reden, wenn...nun ja..."

"Macht Euch meinetwegen nur keine Gedanken. Nach sechs Jahren im Kreise geltungsbedürftiger Männer gibt es kaum noch etwas, was ich nicht schon gehört hätte." Aramis´ Stimme klang nüchtern, doch hätte er sie angesehen wäre ihm im nöchsten Augenblick ein spöttisches Grinsen aufgefallen.

"Also schön. Wir haben nicht viel mit einander geredet. Versteht ihr? Dafür habe ich nicht gezahlt. Ich hatte ein Bedürfnis zu befriedigen, mehr nicht. Wenn ich Gespräche führen will treffe ich mich mit Männern auf ein Glas Wein. Sie hat mich gefragt, wie es mir geht, ich habe ihre geantwortet. Sie hat mich gefragt, wonach mir der Sinn steht, ich habe es ihr gesagt. Viel mehr nicht. Wir haben getan, weswegen ich gekommen war, anschließend habe ich ihr etwas Geld zugesteckt und mich wieder angezogen. Dann hat sie mich in den Salon gebracht, wo ich Madame Paradis den üblichen Betrag gezahlt habe. Wir haben uns verabschiedet, sie sagte 'Bis zum nächsten Mal.' und ich habe das Haus zusammen mit Ferdinand verlassen. Das war´s. Sie hatte gleich danach den nächsten Kunden. Sie ist mit ihm die Treppe hoch noch bevor ich durch die Tür nach draussen verschwunden war." Er machte eine fahrige Handbewegung, als wäre es ihm egal.

"Kanntet Ihr ihn?"

"Ich? Nein! Woher denn? Ich bin seit etwas über einem Monat in dieser Stadt. Ich habe Pflichten und nur wenig Zeit, Leute ausserhalb dieser kennen zu lernen."

"Könntet ihr ihn wenigstens beschreiben?" Athos´ sah sich in seiner ersten Einschätzung des Botschafters bestätigt. Ein oberflächlicher, arroganter Emporkömmling, der sich in seinem eigenen Glanz sonnte.

"Oh, nichts leichter als das. Ein dickes Männlein, schwitzend und schnaufend wie ein Ochse. Gut einen Kopf kleiner als ich. Ungesunde Hautfarbe, leicht gelblich, wenn das Licht mich nicht getäuscht hat. Schien ziemlich viel Geld zu haben. Die Mädchen hingen ihm jedenfalls in Trauben um den Hals. Alles in allem kein besonders schöner Anblick." Die drei Musketiere sahen einander prüfend an.

"Klingt nach Bonnefoix." D´Artagnan sprach aus, was offensichtlich alle drei dachten. Seine beiden Freunde nickten. Der Tuchhändler stand ohnehin auf ihrer Liste, also würden sie ihm als nächstes einen Besuch abstatten.

"Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?" Hanns Friedrich von Rosenbaum schnippte eine getrocknete Traube über den Tisch.

"Wir würden uns gerne noch mit Eurem nächtlichen Begleiter unterhalten, wenn Ihr nichts dagegen habt.", beantwortete Aramis seine aus reiner Höflichkeit gestellte Frage. Ihr war bewußt, dass es beinahe unmöglich sein würde, ohne einen Übersetzer und viel guten Willen ein Gespräch mit diesem jungen Burschen zu führen. Sie wollte es trotzdem versuchen und hoffte inständig, dass das Mädchen aus der Küche im Haus war.

Sie waren schon im Gehen begriffen, als Athos sich noch einmal umdrehte: "Ach, eine Frage hätte ich da noch. Ich dachte, Ihr seid verheiratet?"

"Eine reine Formsache."

In der Küche des Hauses von Rosenbaum war die Sicht getrübt. Rauch vom Herd und der Dampf, der aus zwei Töpfen aufstieg, gaben der Luft einen milchigen grauen Schleier. Der Geruch frisch gebackenen süßen Kuchens verband sich mit dem von in Butter schwimmenden Zwiebeln, Kräutern, gebratenem Fleisch und menschlichen Ausdünstungen. Es knisterte und knackte in allen Ecken. Hier wurde Holz ins Feuer geworfen, dort wurden Knochen durchtrennt, in einer Nische wurde ein Topf geschrubbt. Und über all diesen Geräuschen thronte die Stimme der Köchin, nicht sonderlich schön, aber kräftig und keine Widerworte akzeptierend. Sie gab ihre Kommandos von einem Tisch in der Mitte des Raumes aus, vor sich ein Brett mit getrockneten Kräutern, einen Mörser aus Stein, Rüben und in der Hand ein stattliches Messer. Die Schürze, stramm über den üppigen Leib geschnürt, war voller Flecken: Blut, Fett und Soße bildeten ein zufälliges Muster. Beim Anblick ihres Herrn wischten ihre Hände ordnend über den ehemals hellen Stoff und fügten einige neue Schlieren hinzu. Sie deutete eine Verbeugung an. Mit offener Neugier musterte sie anschließend die unbekannten Gestalten in seinem Rücken. Drei hochgewachsene, schöne Männer, wenngleich sehr unterschiedlich, wann bekam sie in ihrem kleinen Universum so etwas schon einmal zu Gesicht? Viel Zeit blieb ihr für den Genuss dieses Anblicks jedoch nicht.

"Wo steckt dein Sohn?" Der Graf hätte gerne noch einige Attribute wie "nichtsnutzig" und "dämlich" hinzugefügt, aber er schätzte seine Köchin und wußte, dass an der Beschränktheit des Jungen der Vater schuld war. Dieser war selbst kein helles Licht gewesen und wurde in der Blüte seiner Jahre und im Vollrausch von einem Pferdehuf ins Jenseits befördert.

"Er wird wohl in der Vorratskammer sein. Er sollte dort einige Dinge in Ordnung bringen." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Ihr Sohn hatte in der letzten Nacht auf der Suche nach etwas Hochprozentigem einiges um- und heruntergeschmissen und war am frühen Morgen von seiner tobenden Mutter aufgefunden worden. Der Graf sah prüfend in die Runde und alle nickten.

"Dann geht einer von euch runter und holt ihn her! Diese Herrschaften möchten sich mit ihm unterhalten." Die Musketiere verstanden kein Wort von dem, was der Gesandte und sein Personal sprachen, waren sich nicht sicher ob sie überhaupt sprachen oder nur seltsame Laute von sich gaben, nickten aber bestätigend, als die Hand des Grafen auf sie wies. Einer der Küchenjungen, eine schmale Gestalt mit zu langen Armen, machte sich schleunigst daran, die schmale Treppe in die Speisekammer hienabzusteigen. Doch kaum war er verschwunden, war er auch schon wieder aufgetaucht, in der Hand eine fast vollständig niedergebrannte Kerze, und schüttelte vielsagend den Kopf.

Athos bemerkte, wie sich der Rücken des Hausherrn versteifte und die Fäuste sich etwas fester schlossen. Auch wenn er die Sprache, die ihre Lippen formten, nicht verstand, ihre Körpersrpache war eindeutig.

"Sucht ihn! Wenn ihr ihn gefunden habt übergebt ihr ihn den Herrschaften. Wenn sie mit ihm fertig sind schickt ihr in zu mir." Er machte auf der Stelle kehrt und verließ die Küche. "Wenn Ihr gestattet werde ich mich zurückziehen. Man wird ihn gleich zu Euch bringen." In seinen Augen stand die blanke Wut. Während sich die Tür zur Eingangshalle schloß, wurde der Dienstboteneingang, der direkt auf die Straße führte, geöffnet. Eine zarte Gestalt huschte herein, war jedoch nicht schnell genug, um allen Regen auszusperren. Unentschlossen stand sie da, das Wasser perlte von ihrem Umhang ab und bildete eine Pfütze. Die derben Lederschuhe waren dunkel vom Wasser, dass sie aufgesogen hatten. Schließlich lüftete sie den Umhang und präsentierte einen Korb, der fast vollständig trocken war. Die Kapuze wurde zurückgeworfen und ein strahlendes Lächeln kam zum Vorschein. Wasser lief aus dem blonden Haar, ein Wassertropfen hing an der zierlichen Nasenspitze. Der Junge mit den langen Armen eilte herbei, um ihr den Korb abzunehmen und seinen Inhalt in der Küche zu verteilen. Die Köchin selbst befreite sie aus dem triefenden Umhang und hing ihn zwischen Kellen und Schöpflöffeln an dem Rauchabzug des Herds auf. Zwar war die Kleidung darunter ebenfalls nass, aber das schien das Mädchen nicht zu stören. Sie sah sich suchend um, bemerkte schnell das küchenfremde, aber doch bekannte Gesicht des Musketieres Aramis und kam strahlend auf sie zu.

"Bonjour, Monsieur." Sie stutzte. "Verzeiht, ich meine natürlich Mademoiselle! Aramis, nicht wahr?" Ihr Lächeln entblößte strahlend weiße Zähne und war nicht nur Aramis vorbehalten. Den älteren der beiden Männer kannte sie vom Sehen. Er war Mademoiselles Begleiter bei ihrer ersten Begegnung gewesen und musste demnach ebenfalls ein netter Mensch sein, auch wenn er recht streng wirkte. Der andere erschien ihr von sich aus nett.

"Richtig. Und ich denke es ist an der Zeit, dass ich deinen Namen erfahre." Aramis konnte nicht anders als ebenfalls zu lächeln.

"Emma, Mademoiselle." Sie machte einen tiefen Knicks.

"Also, Emma. Wir sind froh, dass du da bist. Monsieur Athos kennst du ja bereits, der junge Mann hier ist D´Artagnan. Wir sind Musketiere des Königs und aus einem bestimmten Grund hier. Wir haben uns wegen eines bestimmten Problems mit deinem Herrn unterhalten und möchten jetzt mit Ferdinand darüber reden. Der Graf ist zur Zeit leider etwas...nun, sagen wir, er ist etwas missgestimmt, was den Jungen angeht. Und wir wollen nicht, dass er ihm gegenüber handgreiflich wird. Also brauchen wir dich. Du musst für uns übersetzen. Es ist wichtig, dass sowohl unsere Fragen als auch seine Antworten richtig wiedergegeben werden. Traust du dir das zu?" Das Mädchen überlegte einen Moment. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

"Hat Fredl was angestellt?" Sie sah Aramis mit sorgenvollen Augen an und wirkte plötzlich um Jahre älter.

"Nun, zumindest nichts, was uns beschäftigen würde."

"Dann mache ich es." Zögerlich hellte sich ihr Blick auf. "Wo steckt er denn?"

Der Sohn der Köchin lag zusammengerollt auf seinem Strohlager unter dem Dach und hörte, wie der Regen auf das Dach prasselte. Seine linke Gesichtshälfte brannte noch von dem Schlag, den seine Mutter ihm am Morgen in der Speisekammer verpasst hatte, nachdem sie ihn benebelt in einer Ecke gefunden hatte. Anschließend war er auf die Straße gerannt und hatte alles erbrochen, was er noch im Magen hatte. Jetzt dröhnte sein Schädel und in seinem Magen rumorte es. Er hatte Hunger. Und vor allem hatte er Durst. Der Geschmack von Magensäure, Wein und Dörrfleisch hatte sich auf seine Zunge gelegt und wollte mit frischem Wein bekämpft werden. Er hätte in der Speisekammer das Risiko eingehen sollen, erwischt zu werden, nachdem seine Mutter ihn dazu verdonnert hatte, das von ihm angerichtete Chaos zu beseitigen, bevor der Graf etwas davon mitbekäme. Statt dessen hatte er sich bei der ersten Gelegenheit aus der Kammer und durch das gesamte Haus bis ins Dach geschlichen. Früher oder später würden sie sein Verschwinden bemerken und ihn vermutlich zuerst hier oben suchen. Dann würde die Hölle über ihn herreinbrechen. Schon hörte er Schritte auf der Treppe zur Schlafkammer der Hausangestellten. Sie kamen näher, blieben aber vor der Tür stehen. Ferdinand hielt die Luft an. Die Klinke wurde herunter gedrück und das Brett flog geräuschvoll auf.

"Fredl! Was zum Henker tust du hier?" Der Junge mit den langen Arm stand schwer atmend in der Tür.

"Was glaubst du denn was ich hier tu, na?" Er richtete sich halb auf, den Kopf in beiden Händen, aus Angst, er könnte zerspringen.

"Sie suchen dich überall!"

"Und? Sollen sie doch!" Er ließ sich wieder zurückfallen, noch enger zusammengerollt als vorher.

"Der Herr ist verdammt wütend!" Seine Stimme zitterte.

"Mir egal!"

"In der Küche warten drei Soldaten auf dich..." Er war kaum noch zu hören, aber seine Worte hallten klar und deutlich im Gehör des Angesprochenen wieder. Mit einem Ruck saß er aufrecht.

"Soldaten? Warum?" Sein Gegnüber hob die Schultern. "Jetzt sag schon, oder ich hau dir eine rein!" Er versuchte aufzuspringen und auf ihn zuzulaufen, schaffte es aber nicht einmal, festen Stand zu gewinnen.

"Ich weiß es nicht. Vielleicht will er dich ja in die Armee abschieben, weil er die Schnauze voll hat von deinen Fehltritten. Geh halt runter wenn du es unbedingt wissen willst." Sicherheitshalber hatte er einen Schritt aus dem Raum getan. Der schwankende Gang des Kraftpakets ließ ihn jedoch wieder auf ihn zugehen: "Soll ich dir helfen?"

"Verpiss dich. Damit ist uns allen geholfen!" Er stieß ihn zur Seite und machte sich daran, die Stufen bis in die Küche zu überwinden. Als er gerade die unterste Stufe erreicht hatte, sah er die drei Musketiere und atmete tief durch. Sie wirkten nicht sonderlich aufgebracht. Im Gegensatz zu seiner Mutter, deren Stimme aus dem Hintergrund zu ihm herüberdrang: "Du brauchst gar nicht so blöde dort rumzustehen und dich zu verstecken! Ich hab deine dreckigen Füße genau gesehn. Sieh zu, dass du hierher kommst, damit ich dir deinen Rausch austreiben kann!" Sie schien noch wütender als heute morgen. Unweigerlich zog er den Kopf so weit wie möglich zwischen die Schultern und machte sich wie ein geprügelter Hund auf den Weg zu seiner nächsten Bestrafung. Er wagte es nicht, einem der Anwesenden in die Augen zu sehen. Die Schande darüber, dass ausgerechnet seine Mutter derartig mit ihm umsprang, machte ihn rasend. Gleichzeitig wäre er jedoch am liebsten im Boden versunken. Vor seiner Mutter blieb er stehen. Sie hatte sich zu voller Größe aufgerichtet und die mächtigen Arme vor der Brust verschränkt, war jedoch immer noch einen ganzen Kopf kleiner als ihr Sohn in seiner reumütigen Haltung. Sie holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige auf die Hälfte des Gesichts, die sie am Morgen verschont hatte. Dann drehte sie sich um und strafte ihn mit Nichtachtung. Das Mittagsgericht für die Herrschaften war wichtiger als dieses missratene Kind. Schließlich war es jetzt an ihr, den Grafen zu besänftigen, damit er ihren Sohn nicht als billige Arbeitskraft auf ein Schiff nach Indien oder Weißderteufelwohin verkaufte. Wäre er nicht ihr einziges Kind, sie hätte ihn wahrscheinlich selbst schon mehrere Male an den Erstbesten verkauft. Oder ihn in ein Kloster gegeben, damit er wenigstens eine schwache Aussicht auf ein ewiges Leben im Paradies hätte. Die für beide unangenehme Stille wurde durch ein kurzes, forderndes Räuspern unterbrochen. Der junge Mann drehte sich um. Nur widerwillig hob er den Kopf, aber der letzte Funke Verstand in den Tiefen seines vernebelten Geistes sagte ihm, dass es besser wäre, einem bewaffneten Mann, zumal einem Soldaten, in die Augen zu sehen, wenn dieser etwas von ihm verlangte. Also sah er ihn an, mit aller Unterwürfigkeit, die er in diesem Moment aufbringen konnte, und aller Wut, die die Strafe seiner Mutter vor aller Augen in ihm entfacht hat. Neben dem Mann, der ganz offensichtlich geräuspert hatte, bemerkte er jemanden, der ihm bekannt vorkam. Er überlegte angestrengt, dann fiel es ihm wieder ein: Der blonde Schönling, der vor einigen Tagen schon einmal bei dem Grafen gewesen war.

"Nun?" Athos sah ihn herausfordernd an. Er wußte, dass sein Gegenüber ihn nicht verstand, aber Stimmlage und Mimik taten das ihrige, um sein geringes Interesse an dem gerade vollführten Schauspiel zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig riss seine Stimme das Mädchen Emma aus seinen Gedanken. Sie hatte am Feuer gestanden und betont desinteressiert in der Suppe herumgerührt, die darüber hing. Auseinandersetzungen zwischen Ferdinand und seiner Mutter waren an der Tagesordnung, dennoch war es ihr jedes Mal aufs Neue unangenehm, Zeuge davon zu werden. Eilig legte sie den großen Holzlöffel zur Seite.

"Fredl, die Herrschaften sind Musketiere des Königs. Sie möchten mit dir reden...", begann sie zögerlich.

"Ach, und was geht dich das an?", bellte er zurück.

"Sag ihm, dass ich deutlich härter zuschlagen werde als seine Mutter, wenn er sich nicht benimmt." Emma sah entsetzt zu Athos auf, nickte aber schließlich und übersetzte. Die Fingerknöchel des Angesprochenen traten deutlich hervor, aber er schwieg. Athos wies auf einen Hocker und er setzte sich.

"Wenn du dich denn ein wenig beruhigt hast, können wir uns vielleicht wie vernünftige Menschen unterhalten." Athos machte eine Pause, um seiner Übersetzerin etwas Zeit zu geben. Ihm war klar, dass sie sich hüten würde, ihn wortwörtlich wiederzugeben, aber Ferdinands Gesichtsausdruck nach stimmte der Inhalt: Er nickte stumm.

"Schön. Wir wollen dich auch gar nicht lange aufhalten, du scheinst wichtige Dinge zu tun zu haben." Athos bemerkte, wie die Mutter des Jungen ihn anfunkelte. Offensichtlich war ihr Französisch deutlich besser als das des Sohnes. "Also: Du hast deinen Herrn vor vier Tagen nachts aus dem Haus mit dem Namen Paradies abgeholt. Stimmt das?" Ferdinand zuckte mit den Schultern. "Sag ihm, dass es das Haus mit dem halben Apfel über der Tür ist." Jetzt nickte er. "Wann war das? Um welche Uhrzeit, meine ich."

"Gegen Mitternacht. Er sagt, die Nachtwächter haben ihn angepöbelt, aber er hat nichts verstanden und ist einfach weitergegangen. Auf dem Rückweg ist er mit dem Herrn Grafen den selben Leuten begegnet und sie haben dem Herrn gesagt, sie haben gedacht er, also der Fredl, sei taub und stumm oder dämlich oder etwas dergleichen." Sie zwinkerte Athos verschwörerisch zu. "Naja, so ganz unrecht haben sie ja nicht."

"Was sagst du ihm da, na?" Ferdinands Stimme hatte wieder an Selbstbewußtsein gewonnen.

"Nichts, ich habe nur von den Nachtwachen gesprochen."

"Frag ihn doch bitte noch, ob ihm etwas aufgefallen ist, während er auf euren Herrn gewartet hat." Die Antwort hatte keiner Übersetzung bedurft. Ferdinand schüttelte bedauernd den Kopf und sagte wohl etwas wie "Nichts, was mich interessiert hätte.". Seine Hand machte eine wegwerfende Bewegung. Zur gleichen Zeit betrat Caroline Gervis die Küche. Sie trug das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr des Grafen in beiden Händen und versuchte dabei, an selbigem vorbei auf den Boden zu sehen, um nicht auszurutschen oder zu stolpern. Für einen kurzen Moment blickte sie auf, sah Athos und lief aufs Neue für jeden sichtbar hochrot an. Vergessen waren die Gefahren, die auf dem schmutzigen Küchenboden lauerten. Sie wollte so schnell wie irgend möglich aus dem Blickfeld aller Anwesenden verschwinden und trat dabei auf ein vergessenes Stück Schwarte. Vor Schreck riss sie die Arme in die Höhe, das Tablett mit dem Silbergeschirr verteilte sich mit leutem Knallen auf dem Boden und sie selbst konnte sich mit Müh und Not an einer Tischkante halten. Caroline sah sich um, sah in entsetzte Gesichter, verfluchte diesen Tag, rappelte sich auf und lief laut schreiend hinaus in den Regen.

"Ich denke, wir gehen jetzt lieber." Aramis strich sich verlegen durchs Haar. "Er kann verschwinden." Sie sah die Erleichterung in Emmas Gesicht und das Mädchen tat ihr leid. Sie hoffte inständig, dass dieses unschuldige Wesen, irgendwo zwischen naivem Kind und verantwortungsvoller junger Frau, nicht seine Wut über ihren Besuch ertragen musste. Grummelnd zog der Sohn der Köchin in die Vorratskammer, um die Aufgabe zu erfüllen, die man ihm vor Stunden schon aufgetragen hatte, nicht wissend, dass sich in wenigen Minuten der Zorn des Grafen ein weiteres Mal über ihn ergiesen würde.

"Ich begleite euch nach draussen!" Ihr Gesicht hatte schon wieder das unverwechselbare Lächeln aufgesetzt, dass jeden für sich einnahm.

Paris war groß, eng bebaut und ein Fremder konnte sich in dieser Metropole nur zu leicht verlieren. Mit diesem Problem sah sich auch Charles de Saint-Martin konfrontiert. In seinen dreißig Lebensjahren war er einmal in Paris gewesen. Und dieses eine Mal lag elf Jahre zurück. Zu allem Überfluß hatte er während dieses einen Aufenthalts dem Alkohol viel zu stark zugesprochen. Er konnte sich an nichts erinnern. Paris war ihm eine große Unbekannte. Und doch, er musste in die Rue St. Denis.

Nachdem er einige Zeit durch Gassen mit niedrigen Häuschen und Straßen mit Stadtpalästen gestreift war, musste er sich eingestehen, dass er ohne fremde Hilfe nicht an sein Ziel kommen würde. Die kommende Nacht kündigte sich bereits an und er wollte unter keinen Umständen in der Dunkelheit durch die Stadt irren. Er versuchte, sein Französisch so einheimisch wie möglich klingen zu lassen und sprach eine Gruppe junger Frauen an, die aufgeregt mit einander tuschelten. Sie kicherten, als er sie nach dem Weg fragte, gaben dann aber ausführlich Auskunft, wie er am schnellsten nicht nur zu der von ihm gesuchten Straße, sondern sogar zum richtigen Haus fand. Es befand sich gar nicht weit von seinem jetzigen Standpunkt entfernt, allerdings hätte er es dort wohl nicht vermutet.

Das Haus war gepflegt, hatte mehrere Stockwerke und große Fenster. Trotzdem war es nicht das, was er erwartet hatte. Und wo sollte er sein Pferd unterstellen?Er beschloss, das Risiko einzugehen und es unangebunden auf der Straße stehen zu lassen, während er vorsichtig in den Hausflur spähte. Wie zu erwarten war alles still und dunkel. Er blickte auf eine Treppe und eine Tür am ersten Absatz. Noch einmal warf er einen prüfenden Blick auf sein Pferd, dann trat er ein. Leise stieg er die ersten Stufen hinauf. Durch die Tür konnte er gedämpfte Stimmen hören. Ein Mann sprach über den Kauf eines Pferdes. Ein anderer antwortete ihm. Riet ihm von dem Händler, der ein Halsabschneider und Wurstverkäufer sei, ab. Aber keine der zwei Stimmen war die, die er suchte. Also stieg er weiter die Treppe hinauf. Im nächsten Stockwerk stand er wieder vor einer Tür. Diesmal war alles still. Keine Stimmen. Er klopfte, zunächst zögerlich, dann immer lauter. "Armand, bist du da? Ich bin's, Charles." Aber hinter der Tür blieb es weiter still. Er klopfte erneut. Diesmal tat sich etwas. Allerdings nicht in der von ihm erwarteten Weise. Ein Stockwerk über ihm öffnete sich die Tür.

"Monsieur, was ist das für ein Lärm? Habt Ihr keinen Anstand?" Ein Kopf ragte über das Geländer und sah ihn vorwurfsvoll an.

"Verzeiht, Madame. Ich suche einen Freund, der in diesem Haus wohnen soll. Könnt Ihr mir vielleicht sagen..."

"Wer soll denn dieser Freund sein? In diesem Haus wohnen nur anständige französische Leute. Woher kommt ihr? Der Schweiz?"

"Zur Zeit? Aus Venedig, Madame. Aber geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort nahe Orléans. Ich hoffe, dass macht mich zu einem anständigen Franzosen?" Der Kopf über ihm schnaubte verächtlich.

"Nun ja. Und wen sucht Ihr nun?"

"Monsieur...Athos, Madame."

"Ach, Monsieur Athos. Da habt Ihr Pech. Der wird so bald nicht nach Hause kommen."

"Warum? Was ist mit ihm?"

"Nichts, nichts. Es ist nur... Wollt Ihr nicht herauf kommen und in meiner Wohnung auf ihn warten?"

"Schrecklich gerne, Madame, aber mein Pferd steht draussen und ich würde es nur ungerne verlieren, wenn Ihr versteht, was ich meine."

"Aber natürlich. Ihr könnt es drei Häuser die Straße runter unterstellen. Sagt, dass Madame Gervis Euch schickt. Und dann kommt wieder. Ich warte auf Euch." Madame Gervis legte ihr gewinnenstes Lächeln auf und verschwand.
 

"Und Ihr seid also ein Freund von Monsieur Athos?" Während der Fremde mit Namen Charles sein Pferd in einem benachbarten Stall untergebracht hatte, hatte Madame Gervis ihren Ausschnitt zurecht gerückt. Man konnte ja nie wissen.

"Ja, das kann man so sagen." Er nippte an dem sauren Wein, den die Hausherrin ihm bereit gestellt hatte.

"Und woher kennt Ihr ihn?"

"Oh, das ist eine lange Geschichte. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Klosterschule. Wir hatten ziemlich viel Spaß, damals."

"Und Ihr kommt aus Venedig? Wie aufregend." Er nickte. "Wisst Ihr denn überhaupt, was hier in den letzten Monaten passiert ist? Mit Monsieur Athos, meine ich?" Sie rückte ihren Stuhl etwas näher an ihn heran und stellte dabei fest, dass ihn ein leicht holziger Duft umgab. Aber für jemanden, der von Venedig bis nach Paris auf einem Pferd gereist war, war das wahrscheinlich gar nicht mal schlecht.

"Oh, ja. Ja. Das heißt, der letzte Brief, den ich von ihm erhalten habe, ist noch im alten Jahr bei mir eingetroffen. Ich bin also nicht ganz so gut unterrichtet wie Ihr, nehme ich an."

"So, dann wisst ihr also, dass Monsieur Athos in eine unangenehme Sache verwickelt wurde?" Sie wartete sein Nicken kaum ab. "Wenn Ihr mich fragt, dass wäre ja überhaupt nicht nötig gewesen. Wie man sich nur so in Gefahr begeben kann für so eine... Person. Das verstehe ich bis heute nicht."

"Was meint Ihr?" Interessiert beobachtete Charles, wie sich rote Flecken auf Hals und Dekolleté der älteren Frau ausbreiteten.

"Ach, dieses widernatürliche Weibsbild, diese Aramis. Ein schreckliche Person. Sie macht Eurem Freund ständig schöne Augen. Ekelhaft, sage ich euch. Eine Frau, die sich erdreistet, sich als Mann auszugeben, kann man sich so etwas vorstellen? Aber wenn es nur das wäre. Unverschämt ist sie. Vorlaut. Aber mir ist schon klar, warum. So etwas findet natürlich keinen Mann. Sie ist frustriert und lässt das an anderen Frauen aus. Richtigen Frauen, meine ich. Versteht ihr? Wie dem auch sei, es gefällt mir gar nicht, dass diese Person permanent in meinem Haus ein und aus geht. Vielleicht könntet Ihr eurem Freund da ein wenig ins Gewissen reden? Es geht ja schließlich auch um seinen Ruf." Sie klapperte unschuldig mit den Wimpern.

Gerade, als ihr Gast etwas erwidern wollte, hörte er ein Stockwerk tiefer eine Tür zuschlagen. "Ah, ich glaube, er ist da. Dann werde ich wohl besser gehen." Charles sprang schneller auf, als es höflich gewesen wäre und verneigte sich. "Habt vielen Dank für den Wein und Eure Gastfreundschaft."

"Oh, bitte, bleibt doch noch einen Moment. Euer Freund möchte sich sicherlich erst einmal entspannen." Madame Gervis war nun ebenfalls aufgesprungen und wies mit einer theatralischen Geste erneut auf das Sofa.

"Nein, ich denke, ich sollte gleich zu ihm gehen. Nur um sicher zu stellen, dass ich mir nicht noch eine Bleibe für die Nacht suchen muss. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt?" Er klemmte sich seinen Hut unter den Arm und ging Richtung Tür.

"Ach, Monsieur? Ihr könnt natürlich auch bei mir ein Plätzchen zum schlafen finden. Auf dem Dachboden gibt es noch eine kleine Kammer, die ich euch gerne herrichte." Sie sah ihn erwartungsvoll an.

"Vielen Dank. Ich werde darauf zurück kommen, wenn die Notwendigkeit besteht. Bis dahin wünsche ich euch eine angenehme Nachtruhe, Madame."

Sein Herz begann höher zu schlagen, als er die Stufen nach unten ging. Er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und wußte nicht, was ihn erwarten würde. Zuletzt hatten sie sich vor zehn Jahren gegenüber gestanden, irgendwo in der südlichen Schweiz, als sich ihre Wege trennten. Er hatte ihn gebeten, mit ihm nach Italien zu reisen, aber sein Freund hatte andere Pläne. Er wollte nach Paris zurück kehren, in die Stadt, die sie ein Jahr zuvor gemeinsam erkundet hatten. Während Charles von dieser Erkundung nur ein stechender Kopfschmerz im Gedächtnis geblieben war, brandte Armand geradezu darauf, endlich wieder einen Fuß in diese Stadt des Lernens und der Laster setzen zu können. Von Paris aus waren sie in die Niederlande gereist, hatten anschließend einige deutsche Fürstentümer durchquert und fanden sich schließlich südlich der Alpen wieder.

"Wie kannst du wissen, dass nicht Florenz viel interessanter ist als dein dämliches Paris?", hatte er ihn immer wieder gefragt. Und immer wieder hatte er die selbe Antwort bekommen.: "Ich weiß es nicht."

"Aber wie kannst du dich dann so entscheiden? Gib mir doch wenigstens eine Chance. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du später immer noch nach Paris gehen. Glaube mir, du wirst dich irgendwann ärgern! Ausserdem ist es viel zu gefährllich, alleine zurück zu reisen. Wenn sie dich unterwegs ausrauben und umbringen, erwarte kein Mitgefühl von mir, hörst du?" Jetzt, mit einigen Jahren Abstand, musste er über seine eigenen Worte schmunzeln. Sein Freund hätte ohnehin alleine zurück reisen müssen, nachdem ihn diese bezaubernde Venezianerin um den Finger gewickelt hatte. Er atmete noch einmal tief durch, dann klopfte er.

"Ja?", brummte es hinter der Tür.

"Armand? Ich bin es, Charles."

"Charles wer?"

"Charles wer! Charles de Saint-Martin natürlich." In der Wohnung regte sich etwas. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, ohne das jemand zu sehen war. Und schließlich, mit einigem Schwung, flog sie vollkommen auf. Das Erstaunen auf beiden Seiten war groß.

"Was zum Teufel machst du hier? Ist etwas passiert?" Athos hatte erwartet, dass ihm jemand einen schlechten Streich spielen würde. Aber dieser Mann vor seiner Tür war ganz eindeutig Charles de Saint-Martin. Etwas runder, als er ihn in Erinnerung hatte, aber doch ganz klar sein Jugendfreund.

"Aber nicht doch. Armand, gütiger Gott, du siehst..." Er suchte nach einem passenden Wort. "...blendend aus. Was ist mit dir passiert?" Er umarmte ihn stürmisch, nur um ihn wenige Sekunden später schon wieder von sich zu drücken. "Unfassbar. Ich glaube, auf der Straße hätte ich dich nicht erkannt."

"Das ist sehr schmeichelhaft, aber beantworte mir doch erstmal meine Frage." Er warf einen prüfenden Blick in den Hausflur und schloß die Tür.

"Ich wollte dich besuchen. Was denkst du denn?" Er drehte sich in dem großen Raum hin und her. Es war wirklich anders, als er es sich vorgestellt hatte.

"Du nimmst den weiten Weg auf dich, nur um mich zu besuchen? Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich dir das glaube. Also?"

"Also." Charles grinste ihn an. "Deine letzten Briefe haben mich wirklich besorgt. Und in einer Woche beginnt der Markt von St. Germain. Also habe ich die Gelegenheit genutzt und meinen Schwiegervater gebeten, nach Paris reisen zu dürfen, um geschäftliche Kontakte zu knüpfen. Er hätte mich sonst niemals gehen lassen. Ich wollte sicher gehen, dass es dir gut geht, nach allem was du mir geschrieben hast. Siehst du, wir haben uns so lange nicht gesehen, und ich hatte viele Jahre schon den Wunsch, einmal zu sehen, wie es dir ergangen ist. Dass du dich so prächtig entwickelt hast, konnte ich natürlich nicht im entferntesten ahnen. Meine Güte."

"Deine Frau ist in Venedig geblieben?"

"Aber ja. Was soll ich sagen? Wir erwarten unser fünftes Kind. Diese Reise wäre viel zu riskant gewesen. Welch ein Glück." Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

"Das fünfte? Du gibst dir richtig Mühe, was?"

"Was soll ich sagen? Ich liebe meine Frau mit jeder Faser meines Körpers." Er lachte schelmisch.

"Ich hätte sie wirklich gerne kennen gelernt. Wein?"

"Ja, gerne. Ich hoffe, er ist aus der Heimat?" Mit Schaudern dachte er an den Wein zurück, den er vor wenigen Minuten noch bei Madame Gervis getrunken hatte. "Du weißt, mein Angebot gilt nach wie vor."

"Aber nur in Verbindung mit einer Frau, wenn ich mich richtig erinnere." Er füllte zwei Becher und reichte Charles einen.

"Selbstverständlich. Aber das sollte für dich doch keine Schwierigkeit darstellen, oder etwa doch?"

"Was meinst du?" Athos ließ sich in seinen Sessel fallen und bot Charles einen Platz ihm gegenüber an.

"Mein lieber Freund, ich habe Augen und ich habe Ohren. Ich erinnere mich noch genau. Du warst einmal ein schmaler, blasser Kerl, der sich seiner Wirkung auf Frauen überhaupt nicht bewußt war. Und jetzt? Sieh dich an. Die Mädchen in dieser Stadt kichern, wenn sie deinen Namen hören. Mir scheint, du musst dir nur die beste aussuchen."

"Was interessieren mich die Pariser Mädchen, Charles. Mit denen hat man nur Probleme." Athos machte eine fahrige Handbewegung. Für einen Moment war es still.

"Was ist mit dieser Aramis? Der viel beschriebenen? Zu männlich? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Die Dame von dort oben sagte, sie würde dir ständig schöne Augen machen?"

"Du hast mit Madame Gervis gesprochen? Was hat das alte Lästermaul dir erzählt?" Er versuchte, seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, aber Charles hörte deutlich den aggressiven Unterton.

"Lass es mich so sagen: Sie scheint nicht gut auf deinen Schützling zu sprechen zu sein."

"Sie hasst sie." Wieder der aggressive Unterton. "Hauptsächlich wegen ihrer Tochter. Lange Geschichte. Lass dir einfach gesagt sein, dass Aramis mir keineswegs schöne Augen macht. Und zu männlich ist sie sicherlich nicht. Ganz im Gegenteil."

"Du hast dich also nicht blenden lassen?"

"Ich hatte gar keine Gelegenheit dazu. Als ich sie das erste Mal im Hof unseres Hauptquartiers habe stehen sehen war mir klar, dass da etwas Merkwürdiges vor sich ging. Und ehe ich mich's versah stand ich vor Kapitän de Treville, der mir den angeblichen Jungen als Aramis vorstellte. Du wirst ihn trainieren, waren seine Worte. Dann hatte er sie hinaus geschickt und mich lange angesehen. Er ist ein Mädchen, habe ich zu ihm gesagt. Und er hat mir geantwortet: Ich weiß. Ich möchte, dass du sie so sehr schikanierst, dass sie aufgibt. Ich kann sie nicht wegschicken. Das war seine Begründung. Er kann es einfach nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das schockiert hat. Da ist dieses sechzehnjährige Mädchen, dass, wie er sagte, einen schweren Schicksalsschlag hinter sich hat und deswegen als Mann, das muss man sich einmal vorstellen, neu anfangen will und er wälzt die Verantwortung für diese Entscheidung auf mich ab. Und ich soll dann die undankbare Aufgabe übernehmen, sie zu brechen. Das Ende der Geschichte war, dass ich dieses Mädchen nicht brechen konnte. Sie hat wirklich alles auf sich genommen und zu meiner Überraschung schnell gelernt. Mir wurde klar, dass sie ein wirklich guter Soldat werden könnte. Aber mir war auch klar, dass diese Lüge, die wir aufbauten, sie umbringen konnte, wenn man sie erwischte." Athos´ Blick verdunkelte sich.

"Und dann?"

"Ich habe lange mit dem Kapitän diskutiert. Für ihn war lediglich interessant, dass sie so viel Biss hat. Die beiden hatten eine Abmachung. Sobald ihre Verkleidung auffliegt, würde er sie fallen lassen und jedes Wissen um ihr Geheimnis leugnen."

"Verständlich, wenn du mich fragst."

"Sicherlich. Es war das Beste für ihn und die Musketiere. Nicht für sie, dass ist klar. Aber damals... Ich konnte nicht verstehen, warum er sie trotz meiner heftigen Bedenken aufgenommen hat. Im Nachhinein bin ich natürlich froh darüber. Sie hat uns ein ums andere Mal den Arsch gerettet. Ich aber war in den letzten sechs Jahren viel zu oft angespannt, weil ich mir Sorgen um sie machen musste. Pass auf sie auf, ich vertraue sie dir an, hat der Kapitän zu mir gesagt. Als ob ich das nicht aus eigenem Antrieb getan hätte. Ein sechzehnjähriges Mädchen. Es war Wahnsinn."

Charles wurde durch das leise Zuschnappen des Türschlosses geweckt. Sofort begann sein Herz zu rasen. Hatte Armand nicht am Abend zuvor die Tür verschlossen? Warum hatte er so misstrauisch in den Flur gespäht, bevor er ihn in seine Wohnung gelassen hatte. Plötzlich kreisten dutzende Gedanken in seinem Kopf. Die Inquisition, sie war hinter seinem Freund her und jetzt waren sie in seiner Wohnung! Er hörte gedämpfte Schritte, die sich zielsicher auf den Esstisch zu bewegten, und begann zu zittern. In der Dunkelheit hatte er Schwierigkeiten zu erkennen, wer soeben tatsächlich die Wohnung seines Freundes betreten hatte, und er war nicht mutig genug, es auf eigene Faust heraus zu finden. Er zog es vor, sich schlafend zu stellen, ein Auge offen und darauf hoffend, dass der Eindringling ihn nicht bemerkte. Wenn nur seine Zähne nicht so hart auf einander schlagen würden.

Die Schritte kamen aus der Küche zurück, immer noch leise, immer noch zielstrebig. Für einen Moment schien es, als kämen sie direkt auf Charles zu, dann schlugen sie jedoch eine andere Richtung ein. Charles zitterte jetzt noch mehr. Seine Finger krallten sich in das Fell, auf dem er zum Schutz gegen die Kälte lag. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre hysterisch schreiend und mit den Armen fuchtelnd aufgesprungen. Er war wirklich kein mutiger Mann, ohne Erfahrung mit Gefahrensituationen, aber jemand hatte ihm einmal erzählt, dass man auf diese Weise wilde Tiere verscheuchen könnte, wenn sie einen überraschen. Seine Augen begannen sich gerade an die Dunkelheit zu gewöhnen, als einer der Vorhänge an der gegenüber liegenden Wand zurückgezogen wurde. Das erste Tageslicht fiel schüchtern in den großen Raum und gab allen Dingen Form und Farbe. Jetzt sah er den Eindringling. Zunächst nur von hinten, im Gegenlicht, schlank und von normaler Größe. Niemand, den er nicht bezwingen könnte, wenn er, der wohlgenährte Charles de St. Martin, ihn hinterhältig von hinten überrumpeln würde. Um sich selbst Mut zu machen, sog er seine Lungen bis zum Bersten voll mit Luft. Beim Anblick des Degens jedoch, den der Unbekannte bei sich trug, wich aller kurzzeitig aufgeflammter Mut wieder von ihm. Der Eindringling setzte sich wieder in Bewegung, ging in Richtung des zweiten Fensters und öffnete auch dort die Vorhänge. Charles war verwirrt. Welcher Einbrecher würde in aller Ruhe erst alle Vorhänge öffnen, bevor er nach etwas oder jemandem sucht? Keiner, das war sicher. Das Szenario erinnerte ihn eher an ein Ritual, dass er aus seinem eigenen Haus kannte. Und da plötzlich dämmerte es ihm. Fast hätte er vor Begeisterung ein Jauchzen hervor gestoßen, besann sich jedoch schnell eines Besseren und zog sich die Decke noch ein Stück weiter über den Kopf. Eigentlich schlief er ja tief und fest und war genau genommen auch gar nicht da. Seine Augen aber folgten dem Besuch auf dem Weg ins Schlafzimmer.

Athos beantwortete das Klopfen an der Tür mit einem missmutigen Murren. Der Abend war länger geworden als erwartet und er fühlte sich bei weitem nicht so lebendig wie es für gewöhnlich der Fall war. Wie spät war es? War er nicht eben erst ins Bett gegangen? Wie viel Wein hatte er getrunken? Hoffentlich war Charles nicht nackt. Er fuhr hoch, nicht ohne ein leichtes Stechen im Schädel zu verspüren. Hoffentlich benahm sich Charles nicht wie Charles!

„Bist du wach?“ Aramis steckte den Kopf durch die Tür und sprach mit dem Bettvorhang.

„Leidlich, ja.“, anwortete dieser. „Wie spät ist es?“

„Sieben Uhr, wie immer. Hast du dich etwa betrunken?“ Sie riss die Vorhänge auf und öffnete das Fenster.

„Nein, warum?“

„Hast du etwas an?

„Was? Ja! Eine Hose. Warum?“ Schon wurde der Bettvorhang zur Seite gezogen und sie steckte ihren Kopf herein. Der Begriff der Gnade schien ihr an diesem Morgen fremd zu sein.

„Deine Wohnung stinkt, als hätte jemand ein Fass darin ausgeschüttet, und auf deinem Fußboden liegt ein mindestens halbnackter Mann, der so tut, als würde er schlafen. Ich verzichte darauf, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen, aber dass Alkohol in großen Mengen in Spiel war, dessen bin ich mir sicher.“ Ein Zwinkern begleitete ihr entwaffnendes Lächeln. „Ich habe dir Eier mitgebracht. Madame Bofiz hat es mal wieder zu gut mit mir gemeint und mir einen ganzen Korb voll vor die Tür gestellt.“

„Mir soll´s recht sein!“ Athos kratzte sich verlegen die blanke Brust. „Der Kerl auf dem Bärenfell ist übrigens Charles, mein Freund aus Venedig.“

„Der Charles? Und du hast ihn ohne seine Frau bei dir aufgenommen? Es scheint ein gewisses Ungleichgewicht in eurer Freundschaft zu geben!“ Sie hob die Brauen.

„Sie ist schwanger.“ Er senkte seine Stimme. „Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass er seiner Frau keine Chance lässt, das Bett jemals zu verlassen. Ich habe das Gefühl, dass im Zusammenhang mit ihr immer das Wort `Schwanger´ fällt. Für einen kurzen Moment habe ich sogar überlegt, ob sie vielleicht keine Beine hat und ihm einfach nicht entkommen kann!“ Aramis brach in lautes Gelächter aus. Sein Tonfall war so ernst wie er es immer war, doch in der steinernen Miene regte sich ein spöttischer Funke.

„Du bist ja immer noch betrunken!“

„Ich verbitte mir solche Unterstellungen. Beschwipst vielleicht, betrunken nicht mehr.“ Energisch hob er die Bettdecke an und schwang die Beine aus dem Bett. „Entschuldige mich für einen Moment!“ Der Fußboden war kalt, doch er gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen, als er barfuss zur Tür lief und in das Wohnzimmer rief: „Charles, zieh dir etwas an, es ist eine Dame anwesend!“ Im Hintergrund hörte er Aramis kichern.
 

Schnell stellte sich heraus, dass die beiden Freunde unterschiedlicher kaum sein konnten. Was Athos an Ruhe und Ernsthaftigkeit nach aussen trug, war bei Charles überschwängliche Empfindung. Jede seiner Regungen war in seinem Gesicht lesbar, jeder Gedanke wurde auf seiner Zunge herumgetragen, bereit, im erstbesten Moment über die Lippen zu rutschen. Verstärkt wurden diese Eigenschaften noch durch seine Erleichterung darüber, dass er an diesem Morgen nicht einem kaltblütigen Überfall zum Opfer gefallen war, sondern ein warmes Frühstück bekam.

„Mademoiselle, ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Euch endlich persönlich kennen zu lernen!“ Charles saß ihr am Küchentisch gegenüber und strahlte sie an. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie ihn seit einiger Zeit tonlos musterte. Nicht abschätzig, aber doch mit einer gewissen Reserviertheit, die er einfach auf militärische Routine schob. Charles nahm nur wenig persönlich. Statt dessen hatte er im Gegenzug sie gemustert. Nicht mit den Augen eines Soldaten, nichts lag ihm ferner. Hier war sein Urteil als Mann gefragt. Und nach kurzer Überlegung - dem Ausblenden der Uniform und unter Einbeziehung des Lachens, dass ihr entfuhr, nachdem Athos von Charles Begegnung mit Madame Gervis erzählt hatte - kam er zu dem Schluss, dass der Musketier Aramis tatsächlich eine schöne Frau war. Niemand, mit dem er seine eigene Frau betrügen würde, so eine Frau gab es nicht, aber doch eine Frau, die, als solche herausgeputzt, so manchem Mann den Kopf verdrehen könnte. Und sein Freund Armand bildete da keine Ausnahme, auch wenn er es im Verlauf des gestrigen Abends mehrfach abgestritten hatte. Charles konnte es ihm ansehen, es stand in großen Lettern auf seiner Stirn. Heute früh noch deutlicher als gestern. Nur schien es außer ihm niemand zu sehen, auch sie nicht. „Armand hat mir viel von Euch geschrieben!“

„Charles…“

„Was denn? Stimmt doch? Ich kann Euch versichern, es waren nur gute Dinge! Immerhin ist Armand ein Mann ritterlicher Tugenden.“ Er zwinkerte und schaffte es so, Aramis für eine Sekunde zu irritieren. „Er ist sogar so zuvorkommend, dass er mir nicht einmal sagen wollte, wie es ihm gelungen ist, euch aus den Klauen der Inquisition zu befreien. Dabei interessiert es mich brennend!“ Aramis lächelte bei der Erinnerung daran. Der Vorfall hatte eine groteske Wendung genommen, die durch das wiederholte Berichten darüber immer lächerlicher wurde.

„Nun, um ehrlich zu sein: Sie sind einfach wieder gegangen.“ Aramis hob entschuldigend die Schultern, so als täte es ihr leid, dass sie keine fesselndere Antwort zu bieten hatte. Athos, der sich in dem Moment zu beiden an den Tisch setzte, schüttelte den Kopf, als er Charles ungläubigen Blick bemerkte.

„Ich bitte euch, die Heilige Inquisition geht doch nicht einfach wieder. Wenn ich es unter keinen Umständen erfahren darf, dann sagt es mir nicht. Aber bindet mir keinen Bären auf!“ Eingeschnappt verschränkte er die dicklichen Arme vor der Brust.

„Glaubt es oder glaubt es nicht. Irgendjemand, wir wissen nicht genau wer, aber wir haben einen Verdacht, informierte die Heilige Inquisition über meinen Fall, muss dabei schrecklich übertrieben haben, die sendete darauf zwei ihrer fähigen Beamten nach Paris, dort wurde ihnen der Fall noch einmal von einem sachlichen Standpunkt aus erläutert und nach einigen Tagen, oder besser Wochen, des Abwägens, ob die Heilige Inquisition bei dieser Geschichte überhaupt eine Rolle spielt, entschied man sich, mich der weltlichen Gerichtsbarkeit zu überlassen. Worüber ich mehr als dankbar war, wie ihr euch vorstellen könnt.“

„Also hattest du damit gar nichts zu tun?“ Charles wirkte fast ein wenig enttäuscht darüber, dass sein Freund kein Wunder vollbracht hatte. Athos schnaubte verächtlich: „Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, zwei Inquisitoren davon zu überzeugen, dass die Anschuldigungen, wegen derer sie gekommen waren, aus der Luft gegriffen sind? Ich hatte einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Es brauchte mehr als einen hochrangigen Bürgen, damit sie irgendwann wieder abzogen. Glücklicherweise schuldeten genau diese Leute Aramis auch mehr als einen Gefallen.“ Bevor Charles näher darauf eingehen konnte, klopfte es hektisch an der Tür. Ohne auf eine Einladung zu warten, riss Porthos die Tür auf und stand mitten im Raum, sprachlos, starrend, plötzlich über seinen eigenen Vorstoß und die Anzahl der bereits Anwesenden erstaunt. Dann sah er Athos, der zunächst missbilligend die Tür und dann ihn betrachtete. „Entschuldige, ich wollte nicht stören.“ Er zog hastig den Hut vom Kopf. „Es gibt wieder eine Leiche!“ Hinter ihm tauchte D´Artagnan auf, ebenfalls irritiert von der Szenerie, die sich beiden bot. Ohne darauf einzugehen, erhob sich Athos.

„Charles, das sind Porthos und D´Artagnan, Freunde und ebenfalls Musketiere.“ Charles nickte beiden zu. „Das ist Charles de Saint-Martin, ein Jugendfreund und Tuchhändler aus Venedig, er ist für einige Zeit mein Gast.“ Die beiden Musketiere nickten ebenfalls, blickten aber noch genau so irritiert drein wie vorher. Ein Jugendfreund? Es überstieg Porthos Vorstellung, dass Athos neben ihnen überhaupt Freunde haben könnte. Und auch D´Artagnan schien der Gedanke sichtlich schwer zu fallen. Athos existierte für ihn nur innerhalb des Mikrokosmos, den die Musketiere bildeten. Schon der bloße Gedanke, dass Athos ein Leben vor seiner militärischen Laufbahn hatte, hatte ihn irritiert. Der Name Armand de la Fère, der im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Aramis das erste Mal gefallen war, klang ihm nach wie vor fremd. Und doch schien es dieses Leben gegeben zu haben. Und dieser Mann, der sich gerade genüsslich die letzten Krümel Rührei einverleibte, war Zeuge gewesen. D´Artagnan ertappte sich dabei, wie er den Fremden bewunderte.

„Setzt euch einen Moment, ich bin gleich soweit.“ Entschuldigend deutete Athos auf seine Kleidung. Er trug noch immer nur seine Unterkleider, um seinen Rock beim Kochen nicht zu beschmutzen. „Nehmt euch etwas zu Essen, wenn ihr hungrig seid, es ist noch genug da.“ Porthos ließ sich nicht zweimal einladen. Er griff sich die Pfanne, machte es sich auf Athos´ verwaistem Stuhl bequem und begann zu löffeln. „Guten Appetit!“ Charles grinste.

„Besten Dank, den hab ich!“, grinste Porthos zurück. D´Artagnan blickte noch einmal über seine Schulter, ob Athos auch wirklich den Raum verlassen hatte, und machte einen flinken Satz auf den Tuchhändler zu. „Und Ihr kennt Athos woher?“ Aramis vergrub ihr Gesicht in den Händen. Die zwei waren unmöglich.

„Aus der Klosterschule. Das ist jetzt schon, lasst mich nachrechnen, 16 Jahre her. Da haben wir uns kennen gelernt. Er hat mir in Latein auf die Sprünge geholfen. Und noch in so einigen anderen Dingen. Schulisch, meine ich. Er hat schon immer gerne seine Nase in Bücher gesteckt. Ich hingegen hatte gerade angefangen, mich für andere Dinge zu begeistern. Ihr versteht?“ Charles grinste erneut.

„Ich verstehe euch voll und ganz.“ lachte Porthos.

„Eigentlich hatten wir nicht viel gemeinsam, damals. Armand war schrecklich ernst für sein Alter und die Klosterbrüder hätten alles getan, um ihn für immer bei sich zu behalten. Sie haben ihn regelrecht umworben. Aber er war sich seiner Verpflichtung als Erstgeborener überaus bewusst. Wer weiß, vielleicht wäre er sonst wirklich im Kloster geblieben. Kaum vorstellbar, wenn ich ihn mir heute ansehe. Ich hingegen wäre lieber gestern als heute dort herausgekommen.“

„Er war also schon immer so?“

„Oh ja. Die Ernsthaftigkeit, die natürliche Autorität, der Wissensdrang, er ist das Ebenbild seines Vaters. Und wahrscheinlich auch all seiner anderen Ahnen. Ich hatte vorhin schon einmal erwähnt, bevor ihr gekommen seid, dass ich Armand für einen der letzten wahrhaft ritterlichen Männer halte.“

„Das stimmt allerdings.“, brachte Porthos aus vollen Wangen hervor. „Als ich damals zu den Musketieren gestoßen bin, war Athos gerade einmal ein Jahr dabei, aber trotzdem hat ihn jeder behandelt, als hätte er etwas zu sagen. Was er gesagt hat, wurde gemacht, ohne das jemand ihn angezweifelt hätte.“

„Genau das meine ich. Es liegt ihm einfach im Blut. Und wenn ich ehrlich bin, konnte ich ihn deshalb am Anfang überhaupt nicht leiden.“ D´Artagnan lachte. „Weiß er davon?“

„Oh, da bin ich mir sicher. Er wird es gemerkt haben. Ich war gezwungen, mir in Latein helfen zu lassen, um nicht ständig Schläge von den Mönchen zu kassieren. Also ließ ich mich wohl oder übel auf ihn ein. Er war streng, manchmal quälte er mich stundenlang mit der gleichen Textpassage. Aber er schlug mich nicht. Obwohl ich es verdient gehabt hätte: ich habe ihn wirklich pausenlos provoziert, ihm die widerlichsten Dinge an den Kopf geworfen. Er machte trotzdem weiter, bis ich meine Lektionen beherrschte. Und ich hasste ihn nur noch mehr, seiner stoischen Ruhe wegen. Im Laufe der Zeit stellte ich aber fest, dass er gar nicht das brave Schoßhündchen der Mönche war, als das ihn meine Freunde gerne darstellten. Ganz im Gegenteil, einige seiner Kommentare waren erschreckend kritisch. Also begann ich, ihm zuzuhören, lieh mir seine Bücher, und fing tatsächlich an, ihn zu bewundern. Aber sein päpstlicher Lebenswandel regte mich nach wie vor auf. Ich zwang ihn, die Bücher Bücher sein zu lassen und statt dessen hin und wieder das Leben zu genießen. Auf einer Wiese liegen, ohne darüber nachzudenken, was sich um was dreht. Sich einfach mal einen verdammten Hasen schießen. Im Fluss schwimmen. Mädchen unverschämte Sachen nachrufen - das hat er allerdings nie gemacht -, solche Sachen. Leicht war es nicht, aber am Ende, Jahre später, sind wir gemeinsam durch Europa gereist. Und so eine Reise macht man nicht mit irgendjemandem.“ Seine Augen leuchteten glasig, als würde er vor Rührung eine Träne vergießen wollen. „Manchmal waren wir einfach nur ziemlich betrunken. Er nicht so sehr wie ich, zum Glück, sonst hätte man uns wahrscheinlich unser letztes Hemd geklaut, aber auch ganz respektabel.“ Hinter sich hörte Charles ein Räuspern.

„Wir sollten gehen,“ Athos, jetzt vollständig gekleidet, deutete mit dem Kopf zur Tür, „bevor Charles sich noch um Kopf und Kragen redet!“

Der Morgen versprach einem angenehm milden Tag zu weichen. In der Höhe trafen die ersten Sonnenstrahlen auf Hauswände, blasse Wolken schoben sich über die Schluchten der Stadt hinweg und ein einzelner Spatz nahm ein Sandbad unter einer Eiche. In der Rue Saint Denis schoben sich zwei Menschengrüppchen durch das Gewimmel aus Frauen auf dem Weg zum Markt, Handwerkern auf dem Weg zur Arbeit und Tagedieben, die versuchten, den Inhalt ihrer Taschen an die Vorbeilaufenden zu verkaufen. Charles lief einige Zeit neben seinem Jugendfreund und seiner blonden Begleitung her, blickte hin und wieder interessiert nach links und rechts, ließ sich aber recht bald unauffällig zurückfallen. Das Gespräch der beiden interessierte ihn wenig, sie unterhielten sich über den bisherigen Stand ihrer Ermittlungen. Dazu konnte er nichts beitragen, also beschloss er, sich um andere, augenscheinlich dringliche Dinge zu kümmern. Er schlenderte betont langsam, bis Porthos und D´Artagnan endlich auf seiner Höhe erschienen. Als kannte er sie schon seit Jahren legte er seine Arme um ihre Schultern und grinste sie breit an. „Monsieur Porthos, Monsieur D´Artagnan, ich möchte euch sagen, ich freue mich, dass ich euch endlich kennen lernen durfte.“ Porthos, nichts ahnend und unschuldig, grinste zurück. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hätte nicht erwartet, dass Athos so nette Kerle kennt. Von uns einmal abgesehen.“ Es bestand kein Zweifel daran, Porthos mochte den Venezianer. Was nicht verwunderlich war. Abgesehen von der Gelehrigkeit des einen waren sie sich erstaunlich ähnlich. D´Artagnan hingegen war irritiert angesichts des vertrauten Umgangs, den Charles an den Tag legte. Ganz zu schweigen von dem hinterhältigen Funkeln in seinen Augen. „Ihr kennt meinen Freund Armand doch schon eine gute Zeit, nicht wahr?“ Seine neuen Bekanntschaften nickten. „Und Mademoiselle Aramis kennt ihr auch schon eine Weile?“ Wieder nickten Porthos und D´Artagnan im Gleichtakt, der eine strahlend, der andere misstrauisch. „Dann sagt mir doch einmal, was ihr davon haltet!“ Seine Hand fuchtelte wild in Richtung der beiden Musketiere, die in einem immer größer werdenden Abstand vor ihnen herliefen. „Wovon?“ Porthos folgte jeder einzelnen hektischen Bewegung der derben Hand mit den Augen. "Na, von denen!" „Ach, die beiden Täubchen!“ Porthos zuckte mit den Schultern, „was soll man davon schon halten?“ D´Artagnan seinerseits hob entschuldigend die Hände, sagte jedoch kein Wort. „Aber ihr seht es doch auch, oder? Ich meine, die beiden, also…“ Charles versuchte, sie durch die Bewegung seiner Hände näher an einander zu rücken. „Natürlich sehen wir es. Man müsste blind und dämlich sein, um es nicht zu sehen. Sogar die Leute auf der Straße sehen es. Seht euch nur dieses arme Ding dort an. So hübsch und üppig, eine Augenweide, und er würdigt sie keines Blickes. Geht an ihr vorbei, als wäre sie gar nicht da. Seht euch das Unverständnis in ihrem Gesicht an. Und den aufkeimenden Neid. Armes Ding!“ Als sie selbst auf einer Höhe mit der übergangenen Magd waren, winkte Porthos ihr zu und rief „Keine Sorge mein Kind, du bist ganz bezaubernd.“ Sie wusste nicht recht, was der Hüne meinte, errötete aber leicht und schlug gespielt schüchtern die Augen nieder. Und, als hätte es diesen Zwischenfall nich gegeben, sagte er zu Charles: „Aber man darf in der Angelegenheit ja keine Andeutungen machen, sonst gnade einem Gott!“ Porthos drehte die Augen dramatisch zum Himmel. „Absolut. Athos reagiert da allerdings deutlich unangenehmer. Aramis wird manchmal nur rot. Das ist schon fast unterhaltsam, wenn sie einen danach nicht ansehen würde, als wolle sie einen direkt in die Hölle befördern.“ Charles nickte verstehend. „Und niemand hat bisher versucht, an diesem, na, ich nenne es einmal Zustand, etwas zu ändern?“

„Auf keinen Fall, so sehr ich sie auch mag. Das sollen die Zwei mal schön unter sich ausmachen. Sie sind schließlich erwachsene Menschen. Und wenn keiner von beiden den Mund auf bekommt, dann ist es doch nicht an uns, sie bei der Hand zu nehmen und zu sagen Hier, dies ist dein Partner fürs Leben oder auch nur für eine Nacht, wie es euch auch immer gefällt. Das fällt am Ende nur auf uns zurück, nein, nein, nein! Ich halte mich da raus.“

„Monsieur Porthos, ich muss mich wundern!“

"Worüber"

"Ich hielt euch für einen besseren Freund!" Er sah ihm an, das dieser Vorwurf Porthos tief getroffen hatte. "Wie könnt ihr wollen, dass dieses Trauerspiel sich ewig fortsetzt?"

"Will ich ja gar nicht." Der Koloss klang wie ein Kind, dass zähneknirschend seine Schuld eingestand. "Ich sage nur, dass es am Ende uns schadet, wenn etwas schief geht."

"Porthos hat recht. Wir funktionieren hervoragend als Einheit. Eine Änderung in unserem Verhältnis zueinander hat noch nie zu etwas Gutem geführt."

Charles schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, dass sehe ich anders. Von einer Einheit kann man wohl kaum reden. Oder wie erklärt ihr euch, dass ihr hier und eure Kameraden dort vorne sind, offensichtlich ohne einen Gedanken an euch zu verschwenden? Monsieur und Madmoiselle sind so sehr damit beschäftigt, einander so nahe wie möglich zu sein ohne sich zu nahe zu kommen, dass für euch zwei kein Platz ist. Was wollt ihr also tun? Warten, dass einer von ihnen das Interesse verliert? Also bitte!"

"Aber ist es nicht genauso schädlich, wenn wir ihnen helfen? Wenn erst einmal alle Dämme gebrochen sind? Was passiert denn, wenn die beiden letztendlich...naja, ihr wisst schon."

"Was soll schon passieren? Sie werden heiraten und viele Kinder bekommen vermutlich. Was man eben macht, wenn man als Mann und Frau zusammenkommt. Und der Mann die Frau nicht bezahlt." Charles hielt diese Frage für vollkommen überflüssig.

"Aber damit wäre uns nicht geholfen. Es wird dann immer noch nicht so sein wie früher." Porthos sprach immer noch im Tonfall des ertappten Kindes.

"Herrje! Darum geht es doch gar nicht. Etwas weniger Egoismus, meine Herren." Charles riss entgeistert die Arme empor und wurde plötzlich so laut, dass nicht nur die Umstehenden ihn entgeistert ansahen, sondern auch Athos und Aramis sich kurz nach ihnen umdrehten. Sofort senkte sich seine Stimme wieder. "Glaubt ihr wirklich, ihr könntet die Entwicklung rückgängig machen? Könnt ihr nicht. Ihr könnt lediglich den nächsten Schritt verzögern und dabei zusehen, wie die beiden weiterhin um einander herumtänzeln, oder ihr könnt die Balz beschleunigen. Letzteres erscheint mir weniger grausam. Also?"

Während Charles und die zwei Musketiere noch immer die Köpfe zusammensteckten und dabei immer langsamer zu werden schienen, erreichten Athos und Aramis den Punkt, an dem die Rue St. Denis auf die Rue aux Ours traf. Dort stellten sie sich an eine Häuserecke und warteten betont geduldig darauf, dass der Rest ihrer kleinen Gruppe aufholen würde.

"Ich weiß nicht, ob es besonders klug von dir war, ihn mitzunehmen." Aramis hob eine Augenbraue. Sie hatte ihren Blick auf die Straße gerichtet, er sah es trotz allem. "Ich bereue sogar, ihm die Tür geöffnet zu haben." Er schnaubte belustigt. "Seinetwegen verliert ihr noch jeden Respekt vor mir." Er mochte Charles, daran gab es nichts zu rütteln. Und er hatte den Abend genossen, an dem sie zusammengesessen hatten, beide um Jahre älter als bei ihrem letzten Gespräch, und Charles ihm in schillernden Farben und ausufernden Gesten von seinem Leben erzählt hatte, während er geschwiegen und hin und wieder gelacht hatte. Er hatte ihn beneidet, wie er zärtlich von seiner Frau und seinen Kinder gesprochen hatte. Er musste lachen bei dem Anblick, wie Charles vor Anspannung verkrampft auf seinem Stuhl gesessen hatte, als er die abenteuerlichen Geschichten des Musketiers Athos hörte und sich mehrfach versichern ließ, dass sich all das wahrlich so zugetragen hatte, selbst wennn er einige der Geschichten schon aus Briefen kannte. Es beruhigte ihn, dass Charles sich kein bischen verändert hatte. Selbst, als das Thema zum wiederholten Male auf Frauen kam, nahm er es ihm nicht übel, denn sie waren schon immer Charles liebstes Thema. Doch im Unterschied zu ihm redete Athos nicht sonderlich gerne über Frauen. Besonders nicht über solche, die ihn aus dem emotionalen Gleichgewicht brachten. Er sah sich also mehrfach dazu gezwungen, jegliches amouröses Interesse an gewissen Frauenzimmern zu leugnen. Und er wußte nur zu gut, worüber der Venezianer mit seinen Freunden tuschelte - ein kurzes Beobachten seiner Gesten hatte genügt - ließ sich davon aber nicht beunruhigen. Er konnte in D´Artagnans nervösen Blicken lesen, dass er es nicht wagte, sich auf Charles Seite zu schlagen. Und Porthos? Er hatte das Kinn störrisch vorgeschoben - was auch immer Charles vorgeschlagen hatte, er stieß auf Unwillen. Und Athos war sich sicher, dass es dabei bleiben würde. Er konnte gelegentliche Spötteleien dulden, was er aber nicht übergehen würde wären Einmischungen in sein Verhältnis zu Aramis, seien sie auch noch so gut gemeint. Das war für jeden offensichtlich, nur hatte Charles es noch nicht akzeptiert.

Als die drei endlich zum Kopf der Gruppe aufgeschlossen hatten waren sie bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. D´Artagnan lächelte verlegen in Aramis´ Richtung und kratzte sich am Hinterkopf, wie er es immer tat, wenn er eine Dummheit begangen zu haben glaubte. "Wir müssen in die Rue aus Coiffieres." sagte Porthos schnell, um keine unangenehmen Fragen aufkommen zu lassen.
 

Vor dem Eingang zur Badestube Monsieur Baudins hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ein Passieren der Straße unmöglich machte. Männer und Frauen schoben einander hin und her, Kinder krochen zwischen ihren Beinen herum und Menschen, die auf dem Weg zum Place de Grève waren oder aus dessen Richtung kamen, blieben neugierig stehen und wurden Teil des pulsierenden Haufens. Einige von ihnen wurden gegen Häuserwände gedrückt und drohten zu ersticken, doch im nächsten Moment wogte die Einheit in die entgegengesetze Richtung und ließ ihnen einen Moment Zeit, tief einzuatmen. Moinsieur Baudin selber, ein hagerer Mann, der die Blüte seiner Jahre bereits hinter sich gelassen hatte, betrachtete das Schauspiel hinter einem milchigen Fenster, dass er unter Anstrengungen geschlossen hatte, als sich das Gerücht von dem sterbenden Mädchen in seinem Haus in der Nachbarschaft verbreitete und die ersten neugierigen Köpfe in seine Stube gesteckt wurden. Bisher hatte sich kein einziger zahlender Kunde zu ihm gewagt, und wenn nicht bald jemand die Leiche mitnahm oder wenigstens das schaulustige Gesindel verjagte, würde er heute auch keinen einzigen mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte die Stadtwache schon vor Stunden informiert, seither hatte sich niemand bei ihm gemeldet. Der Polizeikommisar hatte, als die Ansammlung vor seiner Tür noch weniger Personen zählte, kurz spöttisch hereingespäht und mit einem hämischen Lachen verkündet, dass das nicht seine Aufgabe wäre, dann war er weitergewatschelt in Richtung Rathaus. Dem würde Monsieur Baudin keinen einzigen Zahn mehr ziehen. Und wenn es sich doch nicht vermeiden ließe, würde er das Prozedere besonders schmerzhaft gestalten. In gehässige Gedanken versunken hörte der Bader nicht, wie sich lautstarker Protest vor seinem Haus erhob. Erst als es mehrfach laut und bestimmt klopfte schreckte er auf. Er riss die Tür auf und sah vor sich die lang erwartete Hilfe in Form von vier Musketieren. "Ihr seid spät!", platzte es unwirsch aus ihm heraus. Trotzdem winkte er sie eifrig in das Innere seiner Badestube. Dort war es kalt, denn Monsieur Baudin hatte sich nicht getraut, ein Feuer zu entzünden, aus Angst, die Leiche auf seinem Fußboden könnte sofort zu faulen beginnen. Der Bader kannte sich mit den Lebenden ganz passabel aus, doch über die Prozesse nach ihrem Ableben wußte er nichts. Er hatte Angst für giftigen Ausdünstungen, die von der Toten ausgehen könnten, sobald sie zu warm würde. Lieber hatte er über Stunden in seinem eigenen Haus gefroren. Die Fenster waren bis auf das eine, durch das er auf die Straße gestarrt hatte, verdunkelt. Nur einige Kerzen brannten. Aufgereiht hinter der Tür standen mehrere Holzwannen, die um diese Tageszeit für gewöhnlich mit dampfendem Wasser gefüllt waren, heute aber leer zu bleiben schienen. Daneben standen zwei Bänke und ein Hocker sowie ein Tisch, auf dem sich allerlei Schröpfgläser befanden. Monsieur Baudin hatte offensichtlich bereits am Abend alles für den neuen Tag vorbereitet.

"Sie liegt da hinten." Sein knochiger Finger deutete auf eine Ecke im hinteren Teil des Raums, in die kaum Licht fiel.

"Wir könnten etwas mehr Licht gebrauchen." sagte Aramis, eher zu sich selbst als zu dem Bader. Dieser nickte jedoch, griff nach einer Laterne und bestückte sie mit einer dicken Kerze. Dann ging er voraus. "Ich werde gleich noch die Fenster öffnen, wenn es euch nichts ausmacht. Ich wollte lediglich vermeiden, dass die Leute mir durch die Fenster kriechen." Die bessere Sicht ließ Aramis vereinzelte dunkle Flecken auf dem Boden erkennen. Sie führten zu einer der Bänke, endeten aber kurz vorher in einem großen verwischten Fleck. "Monsieur Baudin, wie oft säubert ihr eure Stube?"

"Erst gestern! Ich hatte am Abend noch einen eitrigen Patienten behandelt und der Geruch war hundserbärmlich. Ich nehme an, ihr spielt auf das Blut an. Das gehört zu ihr." Der Bader stellte die Laterne vor sich auf den Boden. Sie leuchtete in das blutige Gesicht einer jungen Frau. "Ich öffne die Fenster."

"Porthos, besorge jemanden, der sie zu Bruder Claudius bringt. Und nimm bitte Charles mit, ich möchte nicht, dass er die ganze Zeit dort draussen vor der Tür steht." Porthos nickte und verschwand. Er wollte sich ohnehin noch einmal mit dem Venezianer unterhalten und dies war die perfekte Gelegenheit.

Athos ging vor dem leblosen Körper in die Knie und seine verbliebenen Kollegen taten es ihm gleich. Monsieur Baudin hatte sie auf einem hellen Tuch aufgebahrt, mit dem er bis dahin vermutlich die rauhen Wannen ausgelegt hatte. Deutlich zu erkennen war darauf ein großer getrockneter Blutfleck unter ihrem Kopf. Verklebte Haare lagen darauf. Offensichtlich war, dass ihr das Blut aus Ohren und Nase gelaufen war. "Ich glaube, jemand hat ihr den Schädel gebrochen.", flüsterte der Bader, als er an ihnen vorbei in den angrenzden Raum ging, um auch dort die Fenster zu öffnen. "Das glaube ich auch." Athos nickte. Prüfend tastete er ihre Nase ab, die ebenfalls gebrochen zu sein schien. "Aber wie ist sie zu euch gekommen?" Ihr Kleid war fleckig von Blut und an mehreren Stellen aufgerissen. Sie trug keine Schuhe mehr und musste sie auch schon vor einigen Stunden verloren haben, denn ihre Füße waren schmutzig und ihre Sohlen blutig. Sie war barfuß geflohen.

"Ich weiß es nicht. Es war mitten in der Nacht, ich hatte schon geschlafen, als es plötzlich wie wild an meiner Tür hämmert. Ich schlafe in einem Zimmer direkt über diesem Raum, mein Bett steht an der Aussenwand. So habe ich nicht nur das Klopfen gehört, sondern auch ihr entsetzliches Wimmern und Schluchzen. Ich bin natürlich sofort zu Tür geeilt, um sie herein zu lassen. Sie ist mir direkt in die Arme gestolpert, hat sich dann aber von mir losgerissen und ist auf den Tisch zu. Sie hat es nicht bis dahin geschafft, wie ihr den Flecken entnehmen könnt. Weiß Gott, wie sie es bis hierher geschafft hat in ihrem Zustand. Natürlich wollte ich ihr helfen, deswegen habe ich versucht, sie anzusprechen, aber sie hat mich kaum wahrgenommen. Ich habe sie dann hierher gelegt, um sie zu versorgen, aber das Blut lief immer weiter und wenn jemand aus den Ohren blutet ist das kein gutes Zeichen. Ich habe dann nur noch versucht, sie zu beruhigen. Ich wollte nach einem Priester schicken, aber sie hat sich an meinem Hemd festgekrallt, um Hilfe gefleht und verwirrtes Zeug geflüstert."

"Was genau?"

"Das meiste habe ich nicht verstanden, aber sie sagte etwas wie 'Marcel' oder 'Martel' und 'fremd'. Ich wollte sie noch fragen, wer ihr das angetan hat, aber da hat sie schon kaum noch geatmet. Armes Mädchen."

"Ihr kennt sie nicht?" Athos ertastete am Hinterkopf eine Schwellung an beinahe der gleichen Stelle, an der sie auch schon bei den vorhergehenden Leichen Schlagspuren gefunden hatten. Im Gegensatz zu den anderen hatte der Schlag bei ihr jedoch nicht zum sofortigen Tod geführt, weswegen der Täter wohl erneut zuschlug, diesmal jedoch mit der Faust, und ihr so die Nase brach.

"Bedaure. Vielleicht habe ich sie schon einmal hier gesehen, aber ich kann mich nicht an sie erinnern."

"Warum wollte sie dann ausgerechnet zu euch? Euer Haus befindet sich nicht an einem der Straßenenden und ihr seid wahrlich nicht der einzige Wundarzt in der Straße."

"Aber der Beste, wenn ihr erlaubt!" Er richtete sich zu voller Größe auf, fiel dann aber sofort wieder in sich zusammen. "Jedoch, bei einem Fall wie diesem kann selbst ich nichts mehr tun." In seinem Blick lag echtes Mitgefühl. Die junge Frau hatte in seinen Händen ihr Leben ausgehaucht und es hatte sich für ihn wie eine Ewigkeit angefühlt, bis sie ihren Kampf endgültig verloren hatte und ihre Augen brachen. Die weit aufgerissenen blauen Augen, die ihn aus all dem Rot in ihrem Gesicht beängstigend grell angestarrt hatten. In den ihm verbleibenden Lebensjahren war es dieses Bild, dass ihn nachts in seinen Träumen verfolgen würde. In diesem Moment ahnte er es bereits und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. "Könntet ihr sie vielleicht..."

"Sie wird gleich abgeholt werden, keine Sorge." Die Musketiere richteten sich wieder auf. "Wir werden in der Zwischenzeit dafür sorgen, dass die Meute vor eurem Haus sich auflöst."
 

Zwei Laienbrüder mit einem flachen Karren kamen schließlich, um die Frauenleiche abzuholen. Porthos und Charles fehlten. "Der Musketier Porthos lässt euch ausrichten, sie würden euch im Hauptquartier erwarten."
 

Tatsächlich saßen Charles und Porthos in einem Aufenthaltsraum im Erdgeschoss des Hauptquartiers und steckten erneut die Köpfe zusammen. Charles hatte dabei so lange auf Porthos eingeredet, bis dieser es für das einzig richtige hielt, seinen beiden "Täubchen" unter die Arme zu greifen. Jetzt galt es nur noch, auch D´Artagnan von der absoluten Notwendigkeit ihres Handelns zu überzeugen. Doch bis dieser eintraf, ergingen sie sich in Details, wie es anzustellen wäre, dass Athos und Aramis endlich ihre Gefühle für einander gestanden. Vielleicht, so überlegte Charles, könnte man sie in einem Zimmer einschließen. Nein, das würde nicht funktionieren, stellte Porthos fest, derartiges war ihnen schon oft genug passiert. Ohne Folgen. Und wenn man sie betrunken machen würde? Im Rausch machten Menschen bekanntlich die unglaublichsten Dinge. Nein, wieder winkte Porthos ab, zum einen war es äusserst schwer, Athos betrunken zu machen und zum anderen wurde Aramis vor allem müde, wenn sie zu viel getrunken hatte. Und selbst wenn sie einmal betrunken waren, hatte Athos bisher stets den Anstand besessen, sie nach Hause zu bringen und anschließend in seine eigene Wohnung zu laufen. "Verdammt, das gibt es doch gar nicht. Ich sage, wir entführen beide und binden sie an einander fest. Gesicht an Gesicht." Charles drückte seine Handflächen gegeneinander und spitzte die Lippen zum Kuss. "Wenn sie einander nicht mehr entkommen können, wird sich das schon von selbst klären." Porthos brach in schallendes Gelächter aus. Die Vorstellung war grotesk. Nein, sie würden subtiler vorgehen müssen, soviel war klar. Und dafür brauchten sie D´Artagnan. Zwar war Charles durchaus ein Mann der kleinen Liebesbekundungen, doch kannten die beiden Musketiere ihre Freunde besser als er. Daher kamen sie überein, sich am Abend zu dritt in einem Wirtshaus in Porthos´ unmittelbarer Nachbarschaft zu treffen. Gerade besiegelten sie ihren Beschluss mit einem Handschlag, als die Tür geöffnet wurde. Instinktiv drückte Porthos den Arm seines Komplizen auf den Tisch. "Gewonnen! Ich sagte ja, im Armdrücken bin ich ungeschlagen!" Er zwinkerte unauffällig.

"Ich war abgelenkt!", protestierte Charles lautstark. "Ich fordere eine Revanche!"

"Ein anderes Mal vielleicht." Porthos wendete sich an seine gerade eingetroffenen Freunde: "Setzt euch. Habt ihr etwas neues herausfinden können?"

"Nicht viel. Der Bader kannte sie nicht und mit den paar Wortfetzen, die er aufschnappen konnte bevor sie starb, kommen wir wohl nicht sehr weit." Athos schob sich resigniert den Hut in den Nacken. "Marcel oder Martel. Fremd. Ich werde daraus nicht schlau."

"Ich kenne nur einen Martel in Paris, aber der ist alles andere als fremd.", fügte Aramis hinzu. Ihre Kollegen nickten. Louis Martel war Goldschmied und hatte Werkstatt und Geschäft auf dem Pont Notre-Dame. Seine Schmuckstücke waren beliebt in den höheren Kreisen, die sich den Juwelier des Königs nicht leisten konnten. Er verstand es wie kaum ein zweiter in der Stadt, ausgefallene Schmuckstücke mit Perlen und Emaille herzustellen, und war auch sonst für seine filigrane Arbeit geschätzt. Er hatte die Werkstatt vor mehreren Jahrzehnten von seinem Vater übernommen, als fremd konnte er also wahrlich nicht bezeichnet werden. "Vielleicht war nicht der Täter fremd, vielleicht ist sie es?"

"Das würde immerhin erklären, warum sie nachts allein unterwegs war. Wäre ich eine Frau, würde mir das im Leben nicht einfallen. Nachts alleine durch Paris laufen. Viel zu gefährlich!" Porthos kreiste mit dem Zeigefinger vor seiner Stirn.

"Jetzt hör sich einer das an.", seufzte Aramis.

"Bei dir ist das was anderes. Du bist du. Das weißt du doch."

"Das beruhigt mich ungemein."

"Sie kann nicht fremd sein.", lenkte Athos ein. Es war ihm anzusehen, dass sich in seinem Kopf ein Bild ergab. "Wo auch immer sie herkam, sie hat sich zielgerichtet das Haus von Monsieur Baudin ausgesucht, um Hilfe zu erhalten. Sie wußte, wo sie in der Stadt einen guten Wundarzt findet, und das sogar in ihrem Zustand. Nein, ich denke sie meinte ganz klar Monsieur Martel. Und seine Werkstatt ist nicht sehr weit von der Badestube entfernt."

"Dann gehen wir also? Sehr schön, wir sollten unterwegs etwas essen. Ich habe Hunger."

Genüsslich lutschte Porthos an einem Knochen. An ihm klebten noch einige Fetzen einer Ente, die gut und gerne gereicht hätte, zwei erwachsene Männer über alle Maßen zu sättigen. Porthos jedoch hatte es vorgezogen, sich alleine den Bauch vollzuschlagen. Während dieses Verhalten bei seinen Freunden nur noch müdes Kopfschütteln verursachte, war Charles zutiefst beeindruckt angesichts der schieren Völlerei, die sich vor seinen Augen abspielte. Er war nahe daran, sich zu bekreuzigen. Noch nie hatte er einen einzelnen Menschen solche Mengen verschlingen gesehen, ohne dass dieser sich zwischendurch Platz durch ein herzhaftes Erbrechen geschafft hätte. Sie hatten in einem niedrigen, rauchigen Wirtshaus Platz gefunden, das gerade einmal Raum für ein Dutzend Männer, einen runden Wirt und ein schmächtiges Schankmädchen bot. Porthos hatte schmatzend von seinem Besuch bei der Wirtsfamilie Evrard berichtet und ihren Sohn Henry bemitleidet, der scheinbar immer noch vollkommen dem Alkohol verfallen war, um seine Trauer zu ertränken. "Der arme Junge braucht ein liebes Mädchen, dass sich um ihn kümmert. Aber seine Eltern haben bestätigt, dass er an dem Abend, als Renée Caspar ermordet wurde, völlig betrunken auf dem Dachboden umhergetaumelt ist." Als er die fragenden Gesichter seiner Freunde bemerkte, fügte er hinzu: "Sie hatten ihn dort eingeschlossen, damit er nicht ihre gesamten Vorräte vernichtet und sich selbst tot säuft."

"Das klingt ja fürchterlich!" Charles schauderte. "Der arme Mann braucht wirklich ein wenig Zuwendung wie mir scheint."

"Der arme Mann braucht eine Familie, die ihn nicht behandeln wie ein Tier. Zu einer Hure gehen zu müssen, damit einem jemand in seinem Schmerz zuhört, während die Eltern nur ums liebe Geschäft besorgt sind erscheint mir die eigentliche Tragödie zu sein." Athos drehte grimmig seinen Becher zwischen den Fingern. "Aber so wissen wir wenigstens, dass wir Evrard von unserer Liste nehmen können. Gleiches gilt übrigens auch für unseren Vidal. Ich bin gestern abend die Dienstpläne der letzten Wochen durchgegangen; bis auf einen Abend war Vidal in jeder Tatnacht entweder im Louvre oder an einem der Tore postiert. Dir bleibt also ein unangenehmes Gespräch erspart." Aamis neben ihm schnaufte erleichtert.

"Bleiben also noch Renard und Bonnefoix. Und möglicherweise Martel. Das wird sich gleich zeigen." Porthos sprang von seinem Hocker auf, stopfte sich noch schnell das letzte Stück Brot zwischen die Zähne und marschierte los.
 

Für gewöhnlich fuhr Monsieur Martels Kundschaft mit einer mehr oder minder prunkvollen Kutsche vor oder ließ zumindest durch einen beflissenen Diener erkennen, dass sie über das nötige Vermögen verfügte, um seine Aufmerksamkeit zu verdienen. Entsprechend verwirrt war er, als sich nacheinander 5 Männer in seinem Verkaufsraum versammelten und den eigentlich recht großzügig bemessenen Raum dunkel und beengt wirken ließen. Er kannte ihre Gesichter und wußte, dass sie nicht gekommen waren, um Geschäfte mit ihm zu machen. Seine Hände begannen zu zittern während sie versuchten, ruhig und souverän ein perlen- und kristallbehangenes Collier um den Hals einer zahlungskräftigen, aber leicht zu verstimmenden Kundin zu legen. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Schmuckstück im Nacken zu schließen. Immer wieder sah er nervös zu den ungebetenen Besuchern auf, griff dann nach dem venezianischen Spiegel und legte ihn in die bereits ungeduldig zuckende Hand der älteren Frau. Ihre fleischigen Finger machten deutlich, dass sie in diesem Leben noch keinen schweren Griff selbst gemacht hatten. Ein Saphirring schnitt sich in das Fleisch. Er mochte ihr Ehering sein, der einmal gepasst hatte und jetzt bis zu ihrem Tod nicht mehr zu entfernen war. Um einen besseren Eindruck zu bekommen, erhob sie sich und ging, etwas plump, zu einem Fenster am anderen Ende des Raumes. Wortlos betrachtete sie das Schmuckstück um ihren Hals im Spiegel. Eine einzelne Perle, verbunden mit einem eckig geschliffenen klaren Kristall, drohte zwischen ihren Brüsten zu verschwinden, sichtlich zum Gefallen der Trägerin.

"Ein sehr schönes Stück, Meister Martel. Morgen werde ich jemanden zu Ihnen schicken, um es abzuholen. Und die Steine kommen wirklich aus den fernen holländischen Gebieten? Oder sagt Ihr das nur, um einen höheren Preis zu bekommen?"

"Aber nein, Madame, ich versichere euch, sie wurden per Schiff viele Wochen bis nach Paris gebracht. Ich gebe euch mein Wort als ehrbarer Handwerker." Monsieur Martel war ein unverschämter Lügner, wenn er Hoffnung hatte, dass seine Kunden darauf herein fallen würden. Im Falle der betuchten Madame hatte er keine Bedenken. Sie wollte seine Geschichte glauben, um ihrerseits mit den Steinen prahlen zu können. Viel Geld, wenig Verstand, das waren seine liebsten Kunden. Dass Madame von dem unpassenden Besuch völlig unbeeindruckt geblieben war beruhigte ihn. Wenn er nur sein Geschäft zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte, durften seinetwegen 20 Soldaten in diesem Raum stehen und ungeduldig die Augen verdrehen.

"Nun gut, nehmen Sie es mir wieder ab. Ich schicke Ihnen also morgen jemanden mit dem verabredeten Betrag und sie verpacken es hübsch mit allem drum und dran und geben es demjenigen mit. Wie gehabt."

"Wie immer, Madame." Er machte einen erfüchtigen Knicks, nahm ihr das Schmuckstück ab und legte es sorgsam in eine verschließbare Kiste. Seine Kundin schickte sich an zu gehen, sah den geraden Weg zur Tür jedoch verstellt.

"Monsieur, Ihr steht im Weg." Sie starrte Porthos empört an.

"Verzeiht, edle Dame! Ich fürchte, Ihr werdet um mich herumschweben müssen." Belustigt betrachtete er ihr empört zitterndes Kinn. Tatsächlich wäre sie ohne Schwierigkeiten zur Tür gelangt, wenn sie einen kaum nennenswerten Bogen um den Musketier gelaufen wäre. Dafür fehlte ihr jedoch jedes Verständnis.

"Porthos!" Der Befehlston wischte ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Ein kaum verständliches "Alter Spielverderber!" entwich dem Hünen. Betont langsam und in betont kleinen Schritten wich er zur Seite, ihr herablassendes Schnauben aus emporgereckter Nase quittierte er mit einem vernehmlichen "Krämersweib", das er mit seinem charmantesten Lächeln servierte.

"Mein Gatte ist Beamter!" Ihre Stimme überschlug sich vor Empörung.

"Und zwar ein ganz besonders toller!" Er lächelte immer noch. 'Dein Mann bezahlt dir die teuren Steinchen doch nur, damit er guten Gewissen zu den Paradiesmädchen laufen kann, wann immer du ihn nervst. Und das scheint verdammmt oft der Fall zu sein, so oft wie ich ihn dort antreffe. Aber davon weißt du natürlich nichts, nicht wahr? Und solange er dich aushält, siehst und riechst du auch nichts verdächtiges. Dein Mann ist schließlich Beamter.' Zum Abschluss huschte noch ein "Du fettes Suppenhühnchen!" durch seine Gedanken, dann richtete er seinen Blick an die Decke, das zuvorkommende Lächeln noch immer auf den Lippen. Im Schatten der Tür tauchte jetzt ein hagere Gestalt auf, die der üppigen Madame einen Mantel umlegte und sie nach draussen geleitete.

"Mein Gatte wird sich über euch beschweren, Musketier! Beim König!" Sprach es und verschwand, das Haupt erhoben wie eine Königin.

"Sicherlich. Wenn er es irgendwann einmal in Rufweite des Königs schaffen sollte, bitteschön." Porthos´ Bauch bebte vor unterdrücktem Gelächter.

"Monsieur, ich verbiete mir diesen Ton gegenüber meinen Kundinnen!" Meister Martel versuchte, empört zu klingen. Seine Stimme war laut genug, dass Madame auf der Straße noch das Gefühl vermittelt wurde, der unverschämte Musketier Porthos würde zumindest an dieser Stelle getadelt werden. Leider konnte sie das strahlende Gesicht Monsieur Martels dabei nicht sehen. Zufrieden maschierte sie davon, den stummen Diener im Schlepptau.

"Meine Herren, womit kann ich euch behilflich sein?" Nichts war mehr übrig von der Nervosität vergangener Minuten. Er verschloss das Kästchen mit dem Halsschmuck, dessen tatsächlicher Wert wahrscheinlich nur die Hälfte von dem betrug, was er der Beamtengattin berechnete, und schob es in ein kleines, ebenfalls verschließbares Fach in seiner Ausstellungsvitrine.

Keiner der Musketiere machte Anstalten, auf die Frage des Schmuckmachers einzugehen. Man sah abwechselnd einander und schließlich Athos an, der allerdings abwinkte und statt dessen D´Artagnan mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass er den Anfang machen sollte. Überrascht angesichts dieses untypischen Verhaltens stammelte er zunächst einige unzusammenhängende Worte, um einen guten Anfang zu finden, entschied sich aber endlich für den direkten Weg: "Letzte Nacht wurde eine junge Frau hier in der Gegend offenbar überfallen und schwer verletzt. Sie konnte sich bis zu dem Haus des Baders Baudin retten, verstarb dort aber am frühen Morgen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es zwischen ihr und Euch eine Verbindung irgendeiner Art gibt." Monsieur Martel hatte aufmerksam zugehört, auf seinem weißer werdenden Gesicht eine Mischung aus Bestürzung und Verwirrung.

"Was für eine Verbindung?" Nervös tastete er nach einem Hocker hinter sich und ließ sich fallen, als er ihn endlich zu fassen bekam.

"Das wissen wir leider nicht. Der Bader sagte, sie hätte entweder Marcel oder Martel gemurmelt, bevor sie starb. Auf Grund der Nähe der Badestube zu eurem Haus erschien es uns angebracht, euch um Hilfe zu bitten."

"Vielleicht war sie eine Kundin von mir? War sie reich?"

"Wohl kaum. Sie sah eher aus wie die Bedienstete von durchschnittlich wohlhabenden Leuten. Aber so etwas ist manchmal schwer einzuschätzen. Hat jemand gestern Schmuck von einer jungen Frau bei euch abholen lassen? Durchschnittlich groß, blond, schmal, unauffällig gekleidet?" Aramis sah ihm prüfend ins Gesicht, das zum wiederholten Male zitterte, konnte aber kein Anzeichen von Verstellung erkennen.

"Nein, nein, so etwas kommt nie vor. keiner meiner Kunden hat bisher Schmuck von einer Frau abholen lassen. Die Gründe seien dahingestellt. Aber -" er stockte, ging noch einmal die Worte des blonden Musketiers in Gedanken durch,"- blond und schmal sagt ihr? Würdet Ihr sagen, dass sie wie eine Neunzehnjährige ausgesehen hat?" Das runde Gesicht des ältlichen Mannes war nun vollends erbleicht, seine Wangen bebten. Ein schrecklicher Verdacht formte sich in seinem Verstand. Zu seinem Entsetzen nickten nicht nur Aramis und D´Artagnan, sondern auch der nach wie vor schweigende Athos. Porthos konnte sich nicht zu einer Meinung dazu durchringen, da er nur die Hälfte der Frage mitbekommen hatte und in Gedanken bei seiner kleinen Verschwörung mit dem Venezianer war, der betont unbeteilgt abseits stand und die unter Glas ausgestellten Schmuckstücke bewunderte.

"Meine Haushälterin, Margot, sie ist heute schon etwas spät, dass sieht ihr gar nicht ähnlich..." Nervös sah er mehrfach auf das Zifferblatt der Uhr, die an einer langen Kette um seinen Hals hing. "Sie wird doch nicht..." Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, die er umgehend mit einem feinen Taschentuch abwischte. Achtlos stopfte er es wieder in seinen Ärmel, einige Ecken der Spitze ragten noch heraus. "Sie kommt jeden Tag ausser Sonntags, immer um die Mittagszeit, bringt mir etwas zu essen und ordnet meine Dinge oben im Haus und hier im Geschäft. Sie müsste längst hier sein. Sie hat sich sicherlich nur verspätet. Nicht wahr?" Der kleine Mann versuchte verzweifelt, in den Gesichtern der Musketiere Hoffnung zu finden. Statt dessen sah er vor allem Mitleid und Unglauben. Er sank noch weiter in sich zusammen, der Kopf fiel auf die Brust und die Augen starrten leer auf die zitternden Finger.

"Mademoiselle Margot wohnt nicht bei euch?" Aramis unternahm den aussichtslosen Versuch, der traurigen Gestalt noch einmal Mut zu geben.

"Nein, sie lebt bei ihrer Mutter und ihrem Bruder. Nicht allzuweit von hier. Gegenüber dem Friedhof von St. Jean." Sein Gesicht erhellte sich kaum merklich. "Vielleicht ist ihre Mutter krank und sie kommt später. Das wäre doch möglich? Ich werde einfach noch ein wenig warten." Er setzte sich straff auf, verschränkte die Hände vor sich auf dem kleinen Tischchen und starrte voller Erwartung zur Tür. Die blassen Augen glänzten feucht.

"Monsieur Martel, Ihr habt uns noch gar nicht gesagt, wie Mademoiselle mit Nachnamen heißt." D´Artagnans Stimme drang kaum noch zu ihm durch. Zu sehr war er darauf konzentriert, die Ankunft der jungen Margot herbeizusehnen.

"Pirard.", sagte er kurz angebunden. "Wenn Ihr zu ihr geht, sagt ihr, dass ich sie erwarte und dass ich nicht böse bin, weil sie sich verspätet!" Von da an schwieg er, sah sie nicht mehr an und verharrte starr auf dem Hocker. Die Musketiere verließen die Werkstatt auf dem Pont Notre Dame schweigend. Nach einigen Metern durchbrach Porthos die Stille: "Margot ist unser Mädchen. Wir wissen es, er weiß es. Und jetzt?"

"Jetzt sollten wir uns fragen, warum ihn der Tod einer Haushälterin, die nicht einmal in seinem Haus wohnt, so schwer trifft." Charles' Gesicht glühte vor Aufregung. Diese Frage hatte für ihn jedoch nichts mit plötzlich erwachtem detektivischem Eifer zu tun. Er witterte ein kleines Skandälchen, der alternde Juwelier und das Dienstmädchen, ein Lustspiel mit tragischem Ende. Wider erwarten fand seine Frage Unterstützung von dem Mann, der für diese Art geistiger Beschäftigung am wenigsten übrig hatte.

"Dein klatschsüchtiger Ton aussen vor: Die Frage ist berechtigt. Ich bezweifle allerdings, dass eine junge Frau sich auf eine solche Heimlichkeit mit jemandem wie Martel einlässt. Zu riskant, zu geringe Aussichten auf eine Legitimierung. Nicht zu vergessen, dass Monsieur einen unverheirateten Sohn in besten Jahren hat, der das Geschäft eines Tages übernehmen wird. Konkurrenz im eigenen Hause, wenn man es nüchtern betrachtet."

"Und um nichts anderes geht es ja bei einer kleinen Liebelei: nüchterne Betrachtung." Charles wackelte mit den emporgerissenen Händen wie eine Marionette.

"Ich muss Athos zustimmen." Aramis versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.

"Fantastisch!" Immer noch ragten seine Hände zum Himmel. Mit einem Mal war ihm vollkommen klar, warum es zwischen den beiden nicht zum Äußersten kommen wollte. Wo der Verstand den Körper regierte bekamen niedere Begierden einfach keine Gelegenheit, auszubrechen. Und wenn beide Beteiligten an dem selben Gebrechen, nämlich übertriebener Vernunft, litten, wohin sollte das führen? Genau, sagte Charles zu sich selber, zu nichts. Zu nichts ausser einem gelegentlichen gierigen Blick, den die Vernunft sofort mit Verachtung strafte. Er hatte mehr Arbeit vor sich als befürchtet.
 

Das Haus der Pirards war nicht sonderlich groß und auch im großen und ganzen eher unauffällig. Es war eingeschlossen von zwei höheren Bauten, die ebenfalls nicht vermuten ließen, dass die Menschen dieser Nachbarschaft besonders wohlhabend gewesen wären. Auf der anderen Straßenseite ragten die Mauern des kleinen Friedhofs der Kirche St. Jean gerade so weit aus dem Boden, dass ein Kind nicht darüber hinweg sehen konnte. Porthos klopfte zögerlich an der schmucklosen Tür. Er wollte die Bewohner nicht schon vor dem Betreten des Hauses verschrecken. Eine zarte Stimme antwortete und beschied, dass sie gleich öffnen würde. Porthos trat einen Schritt zurück. Als sich die Tür schließlich öffnete, stand vor ihnen eine ältere Frau, schmal, mit blauen Augen, dass Haar grau mit einigen verbliebenen blonden Strähnen. Mit großen Augen sah sie erst Porthos, dann die übrigen Männer an und versuchte schließlich, an ihnen vorbei eine weitere Person zu sehen. Als sie niemanden fand, dem ihr Interesse gegolten hätte, gruben sich tiefe Falten in ihre Stirn.

"Erwartet ihr jemanden, Madame?"

"Meinen Sohn -", sie strich sich mit der rechten Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Porthos bemerkte, dass ihr linker Arm steif und angewinkelt an ihre Seite gedrückt war. Die Finger jedoch bewegten sich tadellos. "- und meine Tochter", ergänzte sie leiser.

"Sind sie schon lange fort?" wollte er wie beiläufig wissen.

"Meine Tochter ist seit gestern abend verschwunden. Mein Sohn wollte sie suchen. Bei dem, was man im Moment so hört..." Nach einer kurzen Pause, als müsste sie die nächsten Worte genau abwägen, um nicht am Ende ein Unglück heraufzubeschwören: "...über die toten Mädchen." Dann sah sie sich die Männer noch einmal genau an. "Seid ihr Soldaten oder Gauner, die eine schwache Frau überfallen wollen?" Was klang wie ein Scherz wurde durch ihre Mine zu einer bitteren Frage, die Porthos die Sprache verschlug.

"Soldaten, Madame!", versicherte D´Artagnan.

"Kommt Ihr wegen meiner Tochter?" Madame Pirard hatte in den vergangenen Wochen zu viel von dem Gerede der Nachbarn mitangehört, um nicht zu wissen, was in diesem Moment vor sich ging. Soldaten standen nicht einfach so vor jemandes Tür, dessen Tochter gerade verschwunden war oder dessen Sohn nicht gerade zur Armee geschliffen werden sollte. Und diese Männer sahen nicht aus, als kämen sie, um ihren Sohn für den Dienst im Namen des Königs zu verpflichten.

"Monsieur Martel sagte uns, dass sie hier wohnt.", versuchte D´Artagnan zu beschwichtigen.

"Das war keine Antwort auf meine Frage. Ist meine Tochter tot oder warum laiert Ihr so?"

"Wahrscheinlich ist sie das." Athos hielt es für angemessen, direkten Fragen mit direkten Antworten zu begegnen. Madame Pirard schien ihm vom Leben ernüchtert genug, um sich auch vom Tod eines ihrer Kinder nicht mehr umwerfen zu lassen. Sofort zog sie die Tür weit auf und winkte sie mit dem beweglichen Arm herein. Erst jetzt zeigte sich, dass sie auch das linke Bein nur schlecht bewegen konnte und überhaupt leicht schief zu sein schien.

"Ich habe leider nicht genug Stühle und einen brauche ich selber, wie Ihr seht. Bitte betrachtet es nicht als unhöflich." Sie ließ sich umständlich auf den nächsten Stuhl nieder. "Monsieur, Ihr sagtet wahrscheinlich. Was lässt euch zweifeln?" Sie zog ein Stück Stoff von der Lehne, dass sich bei näherem Betrachten als abgetragene Weste entpuppte. Eine dicke Nadel steckte darin. Offenbar hatten sie sie bei Ausbesserungsarbeiten gestört.

"Dass wir nicht wissen, wie Eure Tochter aussieht. Das ist alles. Monsieur Martel hat uns auf den Gedanken gebracht. Die Tote nannte seinen Namen, bevor sie starb, und nach unserer Beschreibung kam sie ihm als erste in den Sinn." Madame Pirard nickte verstehend.

"Ja, das sieht ihr ähnlich, dass sie als erstes ihn nennt."

"Hat Ihre Tochter schon lange für Monsieur Martel gearbeitet?" Aramis meinte, so etwas wie Zärtlichkeit in der letzten Bemerkung vernommen zu haben.

"Seit sie zwölf ist. Seht ihr, ich verdiene nur wenig, nicht genug, um meine beiden Kinder und mich zu versorgen, deshalb haben meine Kinder schon früh für ihr eigenes Auskommen sorgen müssen."

"Ihr seid verwitwet?", fragte D´Artagnan vorsichtig. Das leise Lachen der Angesprochenen verwirrte ihn zunächst.

"Nein, der Vater meiner Kinder und ich - sagen wir, es sollte nicht sein. Wir haben einander geliebt, aber eine Ehe war unmöglich. Er heiratete eine andere, eine Zweckehe, bekam einen Sohn mit ihr, bekam nur kurz darauf einen Sohn von mir und nur wenige Jahre später auch noch eine Tochter. Er hat uns so oft es ging etwas Geld zukommen lassen, aber seine Frau hat die Bücher streng kontrolliert." Sie hob die Schultern, soweit ihr Körper es erlaubte, aber ihr Blick war nüchtern. "Nach ihrem Tod hat er uns dieses Haus gekauft, damit wir jederzeit ein sicheres Dach über dem Kopf haben. Seitdem müssen wir nur noch für Nahrung, Kleidung und Feuerholz sorgen."

"Arbeitet eure Tochter in mehreren Haushalten?" Athos bemerkte den Korb voller löchriger Kleidung, der in eine Ecke zwischen Schrank und Hauswand gedrückt worden war. Zuoberst lag ein Hemd, das gut und gerne Porthos´ hätte sein können, wenn er nicht Wert auf den tadellosen Zustand seiner Kleider gelegt hätte. Weiter unten, fast vollständig verdeckt von derben Hosen und durch vieles Tragen verfärbten Arbeitshemden, blitzte ein Stück roter Stoff auf, mit einem fein gewebten Muster und mit schimmernden silbrigen Fäden bestickt. Unmöglich gehörte dieses Kleidungsstück einem Mitglied der Familie Pirard. Und auch das aussergwöhnlich große Hemd ließ ihn zweifeln.

"Nein, nur bei Monsieur Martel. Er zahlt recht gut und seit meinem Unfall vor einigen Jahren gibt er ihr hin und wieder etwas extra. Er ist ein guter Mann, wirklich." Sie beobachtete aufmerksam, wie der Musketier vor ihr auf und ab lief, scheinbar in Gedanken. Ihr entging nicht, wie er seiner blonden Begleitung ein Zeichen gab, welche daraufhin das Wort ergriff: "Ihr sagtet, eure Kinder müssten beide für ihr Auskommen sorgen. Was macht euer Sohn?" Wie beiläufig lief Aramis zur gemauerten Kochstelle, griff sich einen Hocker und setzte sich, den Blick immer auf das Gesicht der älteren Frau gerichtet. Hinter deren Rücken nutzte Athos indessen die Gelegenheit, Charles auf den ungewöhnlich kostbaren Stoff zwischen dem, was man getrost als Lumpen bezeichnen konnte, aufmerksam zu machen. Charles reagierte prompt, griff nach dem, was sich als Ärmel herausstellte, betrachtete mit schnellem Blick das Muster und rieb das Material zwischen den Fingern. Binnen Sekunden war er zu einem Urteil gekommen und nahm Abstand von dem Korb. Er stellte sich dicht neben seinen Freund und flüsterte, zum ersten Mal seit seiner Ankunft mit einer Stimme, die nicht zum Scherzen aufgelegt war: "Das Muster ist holländisch. Sehr feiner Zwirn, nicht gerade billig. Die Stickerei ist aus echten Silberfäden, soweit ich das auf die Schnelle beurteilen konnte. Das macht es richtig teuer." Athos nickte anerkennend.

In der Zwischenzeit berichtete Madame Pirard, dass ihr Sohn Werkzeugschmied sei und sein Vater ihm damals ein üppiges Lehrgeld gezahlt habe, damit Fragen nach seiner Familiensituation gar nicht erst aufkamen. Bei Zweiflern trat er stets als der Mann auf, der Madame Pirard beinahe mit seiner Kutsche zu Tode gequetscht hatte und nun aus Reue für ihre benachteiligte Familie sorgte. Wer der echte Kutschenbesitzer war, der damals nicht einmal gehalten hatte, um sich um die schwer Verletzte zu kümmern, wusste ohnehin niemand, da es an dem Tag in Strömen geregnet und bereits gedämmert hatte, so dass niemand in der engen Gasse Zeuge des Unfalls geworden war. Man hatte sie Stunden später wimmernd und am Boden liegend gefunden, nachdem ihre Kinder in Sorge die gesamte Nachbarschaft aufgescheucht hatten.

Gerade wollte sie zu einer neuen Lobeshymne auf den Vater ihrer Kinder ansetzen, als sich die Haustür öffnete. Ein Mann, der Jugend bereits entwachsen, mit den breiten Schultern eines Schmieds und von recht kleiner Statur, betrat den Raum, blieb aber angesichts der Versammlung vor ihm mit der Tür in der Hand stehen und sah verwirrt in das Gesicht der Frau, die ganz offensichtlich seine Mutter war. Er bemerkte nicht, wie einige der Anwesenden ihn wiederum entgeistert musterten.

"Ist Margot - ?" Eine Ahnung beschlich ihn. Er sah seine Mutter flehend an, Tränen stiegen ihm in die Augen. Schnell wischte er sich mit dem Ärmel über das rundliche Gesicht. "Maman? Sag doch!" Seine Mutter sah ihn schweigend an, dann gab sie ihm die Antwort, die sie einige Zeit vorher auf die gleiche Frage erhalten hatte: "Wahrscheinlich." Seine Hand klammerte sich fester um den Türgriff, damit er nicht plötzlich wie ein Sack zu Boden fiel. "Vielleicht ist sie doch bei - " Er wollte sagen Martel, aber seine Mutter schüttelte bereits den Kopf. "Diese Herren kommen gerade von dort. Monsieur Martel", sie betonte seinen Namen plötzlich, als koste er sie viel Kraft, "wartet ebenfalls auf sie."

"Heute früh wurde eine junge Frau tot aufgefunden, wir konnten ihr bisher allerdings keinen Namen geben. Wenn ihr euch dazu im Stande fühlt, könntet ihr uns vielleicht - " D´Artagnan hatte seinen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da begann der Verzweifelte bereits wild mit dem Kopf zu nicken. "Sofort, wenn Ihr gestattet! Was muss ich tun?" Seine Stimme zitterte, aber sein Blick war fest und entschlossen.

"Folgt uns einfach. Wir erklären euch dann alles weitere unterwegs." Der junge Pirard sah ein letztes Mal prüfend zu seiner Mutter. Ihre Ruhe irritierte ihn, aber vielleicht war das einfach die Reaktion einer Frau, die einst zum Sterben auf der Straße zurückgelassen worden war.

"Sind wir uns darin einig, dass der Vater dieser beiden Kinder niemand anderer ist als Monsieur Martel?" Aramis' Stimme klang noch immer ungläubig.

„Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn die Ähnlichkeit zum jungen Pirard Zufall ist. Monsieur Martel hat eine Tochter verloren. Umgebracht hat er sie sicherlich nicht.“ Resigniert rieb sich Athos die Augenbrauen. Diese Morde ließen ihn langsam aber sicher an sich selbst zweifeln.

„Wie auch immer.“, mischte Charles sich ein. „Ich bin mir sicher, ihr werdet dieses Problem in den nächsten Stunden auch ohne mich bewältigen. Ich habe noch einige Erledigungen zu machen und treffe mich anschließend mit Monsieur Porthos zum Essen.“ Er klopfte Athos ermutigend auf die Schulter und schickte sich an, zu gehen. „Wir sehen uns später, alter Freund! Warte heute Abend nicht auf mich! Mademoiselle Aramis, es war mir ein Vergnügen.“ Er lüftete den Hut in ihre Richtung und grinste gewohnt schelmisch. Pfeifend machte er auf dem Absatz kehrt und schlenderte betont gut gelaunt davon.

„Und jetzt? Wie gehen wir weiter vor?“ Die beiden Musketiere standen auf der Straße, nicht wissend, welcher Schritt zu tun sinnvoll wäre.

„Zunächst sollten wir hier verschwinden. Der Friedhof stinkt hundserbärmlich und der Wind steht ungünstig.“

Aramis brummte zustimmend: „Ausserdem scheint es aufzufrischen. Gehen wir zurück zum Hauptquartier? Vielleicht finden wir in unseren Aufzeichnungen noch etwas neues. Möglicherweise haben wir etwas übersehen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Seine Stimme klang wenig zuversichtlich. Schweigend gingen sie nebeneinander her, beide in Gedanken die jüngsten Ereignisse rekapitulierend. Nach wie vor hatten sie keinerlei Hinweis, wie die Opfer zu einander standen, ob und wenn ja welche Verbindung zwischen ihnen existierte. Nach Monaten standen sie immer noch mit leeren Händen da. Ein verächtliches Schnauben entfuhr Athos.

„Wir stehen da wie die Kälber im Donner. Wie blutige Anfänger. Es muss doch möglich sein, dass wir wenigstens einen Anhaltspunkt finden. Irgendetwas.“ Lustlos gab er einem großen Kiesel einen Tritt, der daraufhin in eine schlammige Rinne hüpfte.

„Wir haben noch den dicken Tuchhändler.“

„Möglich, aber ich habe keine Hoffnung, dass wir bei ihm irgendetwas erreichen. Alles, was wir ihm bisher vorwerfen können ist, dass er die Caspar kannte. Das ist so gut wie nichts. Es gibt keinerlei Verbindung zu den anderen Toten. “

„Vielleicht ist er Kunde von Martel, vielleicht hat er Margot bei ihm gesehen. Es scheint eine Menge Männer zu geben, die ihre Frauen mit Geschmeide bei Laune zu halten versuchen.“ Aramis' Spott war unverhohlen. Aber innerlich teilte sie Athos' Skepsis.

„Vielleicht. Aber welche Verbindung sollte er zu den anderen Mädchen haben? Der einzige gesicherte Zusammenhang ist die Verbindung ins 'Paradies'. Ich werde morgen früh jemanden bei ihm vorbei schicken, der ihm auf den Zahn fühlt. D´Artagnan und Porthos womöglich, um sie für die Dummheiten zu bestrafen, die sie heute Abend mit Charles begehen werden. Hast du seinen Blick gesehen? Wie ein Achtjähriger, der einen im Vorfeld darüber informiert, dass er gleich einen Kuchen klauen wird.“

„Ist mir nicht entgangen!“Aramis grinste. „Was, glaubst du, hat er vor?“

„Ich möchte es mir nicht vorstellen. Aber wenn er sich heute Nacht im Rausch auf meinem Fußboden entleert, fliegt er raus. Meine werte Vermieterin hat schon Interesse an ihm bekundet.“
 

Behutsam drückte Charles den Türgriff herunter. Wider Erwarten war die Tür nicht abgeschlossen und öffnete sich auf sanften Druck. Er schlich, so leichtfüßig wie sein Zustand es eben zuließ, ins Innere der Wohnung. Kein Ton war zu hören, nur spärlich fiel Tageslicht in den Raum. Sollte er froh sein, dass er noch nicht erwartet wurde? Oder sollte er es doch persönlich nehmen, dass sein Ausbleiben bis in die späten Morgenstunden einfach hingenommen wurde. Charles sah sich um. Sein Lager auf dem Fußboden war geordnet worden, eine frische Decke lag ordentlich zusammengelegt darauf und sein mitgebrachtes Gepäck geordnet daneben. Soweit war nichts ungewöhnliches zu sehen. Doch dann erblickte er im schwachen Licht etwas, dass seine volle Aufmerksam forderte. Vor dem erkalteten Kamin funkelten zwei Gläser und eine leere Flasche Wein. Charles ergriff eins der grünen Gläser und drehte es hin und her. Ein letzter Tropfen Wein folgte jeder Bewegung. Dann schlug er plötzlich heftig die Hand vor den Mund. Sonst hätte er wohl laut gelacht. Dort stand ein paar Stiefel. Neben dem Hut seines Freundes hing ein zweiter, blauer. Und dort hingen auch zwei Regenumhänge, immer noch feucht vom Regen der letzten Nacht. Die Situation schien eindeutig. Dieser Mistkerl, schoss es ihm durch den Kopf. Und sie? Keinen Deut besser. Benahmen sich beide, als könnten sie kein Wässerchen trüben, während sie tatsächlich nur auf einen unbeobachteten Moment warteten. Charles beschloss, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er würde das Gesehene nicht unkommentiert lassen und sich erst recht nicht benehmen, als hätte er nichts bemerkt. Ganz im Gegenteil. Er griff sich einen Stuhl und stellte ihn mittig in das Zimmer. Von dort aus hatte er den direkten Blick auf die Schlafzimmertür und positionierte sich breitbeinig, mit verschränkten Armen, bereit für eine gesalzene Standpauke. Zu seiner Überraschung musste er nicht lange warten.

„Hast du schließlich doch noch den Weg zurück zu deinem Gepäck gefunden?“ Athos zeigte sich unbeeindruckt von dem Aufbau, den sein Freund vorbereitet hatte. Gelassen krempelte er sich erst den rechten, dann den linken Ärmel hoch, während er auf eine Antwort wartete. Charles wollte etwas schlagfertiges erwidern, doch die Sekunden verstrichen, ohne dass ihm ein passender Kommentar einfiel. Statt dessen antwortete er schließlich sachlich: „Ich habe bei Porthos genächtigt. Es war schon spät und das Wetter furchtbar. Aber du kannst das sicher verstehen! Wie ich gesehen habe, hast du sogar einen Bettgast. Ich hoffe doch, ihr habt euch gegenseitig wärmen können.“ Und da war sie doch noch, die Spitze, völlig überraschend selbst für Charles.

„Es wird dich vielleicht enttäuschen, aber es ist nichts vorgefallen.“ Athos sah ihm direkt in die Augen, sein Blick fest und offen wie immer. Nichts, ausser seinem unbedingten Wunsch, ließ Charles an seinen Worten zweifeln.

„Aber ihr habt euch dein Bett geteilt?“

„Mir gefiel lediglich der Gedanke nicht, sie bei Sturm und Regen mitten in der Nacht durch die halbe Stadt laufen zu lassen. Und ich habe genug Anstand, eine Dame nicht auf dem Fußboden schlafen zu lassen.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als wollte er Charles noch einmal zu verstehen geben, dass dieser Platz für ihn reserviert war. „Nicht mehr und nicht weniger.“ Charles beobachtete, wie er Wasser aus einem Krug in eine Schüssel umfüllte.

„Natürlich. Wie sollte es auch anders sein.“ Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Die verschränkten Arme lösten sich, sein Körper sackte ein Stück weit in sich zusammen. Dabei war ihm nicht einmal klar, was ihn mehr enttäuschte. Der Starrsinn seines Freundes oder seine eigene Naivität.

„Ich werde sie jetzt wecken. Anschließend werden wir frühstücken. Behalte bitte alle deine Scherze für dich. Ich nehme an, du hast bei Porthos bereits gegessen?“

„Nur eine Kleinigkeit, es war noch so früh. Ich esse gerne noch etwas mehr.“ Athos nickte verstehend.
 

Als er in sein Schlafzimmer zurückkehrte, schlief sie noch. Er stellte die Schüssel auf den Waschtisch, zog die Vorhänge zur Seite und das schwache Licht des wolkenverhangenen Himmels tauchte den Raum in bläulichen Schimmer. Den Betthimmel band er ebenfalls zur Seite und der Anblick, der sich ihm bot, lies ihn lächeln. Dieses Mal ohne Spott, ohne Hintergedanken. Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. Stundenlang hätte er so verharren können, um sich jede Feinheit dieses Bildes einzuprägen. Die blonden Strähnen, die über die Kissen und ihre nackten weißen Schultern fielen. Das fein geschnittene Gesicht, dessen Lippen sich in diesem Moment zu einem leichten Lächeln formten. Und nicht zuletzt die Decke, die gerade weit genug verrutscht war, um eine halbe Brust freizulegen.

In dem Moment erregte etwas seine Aufmerksamkeit, dass ihn mit Erschrecken daran erinnerte, wie oft sie in den vergangenen Jahren dem Tod von der Schippe gesprungen war. Im Halbdunkel der vergangenen Nacht waren ihm die großen, silbrig schimmernden Narben am Oberarm nicht aufgefallen, jetzt waren sie nicht zu übersehen. Verletzungen wie diese hatten schon so manchen einen Arm und nicht zuletzt das Leben gekostet, und doch lag sie hier vor ihm, lebendig und verlockend. Er musste tief durchatmen, um wieder klar denken zu können.

„Guten Morgen.“, flüsterte er schließlich und beobachtete erleichtert, wie ihr Lächeln lebendiger wurde. Bis zu diesem Moment war er sich nicht sicher gewesen, wie sie nach der vergangenen Nacht auf ihn reagieren würde. Ihre Hände strichen suchend über das Kissen. Nur widerwillig hatte er sich kurz zuvor aus ihrer Umarmung gewunden und wäre jetzt zu gerne wieder dorthin zurückgekehrt. Als sie ihn nicht fand, öffnete sie langsam die Augen.

„Guten Morgen.“ Aramis streckte sich, wohl wissend, dass die Decke dadurch noch etwas weiter verrutschte.

„Hast du gut geschlafen?“ Athos versuchte vergeblich, sich ganz auf ihr Gesicht zu konzentrieren.

„So gut wie schon lange nicht mehr. Warum flüstern wir?“ Sie klopfte neben sich auf das Bett, um ihm zu bedeuten, dass er sich zu ihr legen sollte. Eine Einladung, der er umgehend Folge leistete. Er schenkte ihr einen zarten Kuss, bevor er antwortete.

„Charles ist zurück.“

„Dann schick ihn wieder weg!“ Ihre Finger fuhren ihm zärtlich durchs Haar und ließen ihn angenehm erschauern. Erneut brauchte es einige tiefe Atemzüge, um die Kontrolle über seinen Körper zurück zu gewinnen.

„Nichts täte ich lieber. Aber ich fürchte, dass wäre zu auffällig. Er sitzt dort draussen und starrt demonstrativ auf die Tür. Je mehr Zeit wir uns lassen, desto verdächtiger wird es.“ Aramis schnaufte. So hatte sie sich den Morgen nicht vorgestellt. Sie zog ihn näher zu sich und küsste ihn, langsam und verheißungsvoll. „Wir holen das nach!“

„Das hoffe ich!“ Er grinste breit, bevor er einen Kuss in ihren Nacken legte und sich aus dem Bett schwang.
 

Die Verkettung der Umstände, die beide in ein Bett geführt hatte, war so lang wie unwirklich. Sie hatten das Hauptquartier der Musketiere am Abend gemeinsam verlassen, nur um sich anschließend unschlüssig im Innenhof stehend wiederzufinden. Der Wind hatte noch einmal merklich aufgefrischt und beide versuchten, sich so gut wie möglich in ihre Umhänge zu hüllen. „Wollen wir noch etwas essen gehen? Ich scheine heute abend wider Erwarten viel Zeit zu haben.“ Der Gedanke daran, dass Charles in diesem Moment bereits mit Porthos und D´Artagnan zusammensaß, bereitete Athos immer größeres Unbehagen. Es war ihm offensichtlich ernst mit seinem Vorhaben, die beiden ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten zu verkuppeln.

„Gerne. Was schlägst du vor?“ Vergeblich versuchte sie einige Strähnen zu bändigen, die ihr wieder und wieder ins Gesicht wehten.

„Wie klingt eine hervorragend zubereitete Zungenpastete für dich? Womöglich die Beste in ganz Paris! Und dazu ein ausgesprochen guter Wein?“

„Wie könnte ich da Nein sagen?“ Aramis grinste unweigerlich. Er kannte sie einfach zu gut.

Nachdem sie sich satt gegessen hatten, fanden sie sich erneut dem immer schlechter werdenden Wetter ausgesetzt. Durch die enge Gasse vor dem Wirtshaus pfiff schneidend der Wind, einzelne Regentropfen klopften auf ihre Hüte und kündeten den nahenden Regenguss an. Der Himmel über ihnen war tiefschwarz, die Gasse nur durch das Licht erhellt, dass durch wenige milchige Fensterscheiben nach aussen drang. Warum Athos sie in diesem Moment in seine Wohnung einlud, statt sie wie üblich noch ein Stück auf ihrem Heimweg zu begleiten - er wußte es selbst nicht mehr. Gemeinsam liefen sie die kurze Strecke in die Rue St. Denis, während der Regen immer stärker wurde. Je länger sie liefen, desto kleiner machten sie sich, um dem Niederschlag möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. In den Nebenstraßen schmatzte der schlammige Untergrund unter ihren Füßen. Zum Lärmen des Windes gesellte sich das Rauschen der herabstürzenden Wassermassen. Keine Menschenseele begegnete ihnen. Als sie schließlich im Hausflur vor Athos' Wohnung angelangt waren, bildeten die Tropfen, die von ihren Mänteln perlten, binnen kürzester Zeit kleine Pfützen. Das Leder ihrer Stiefel war durchweicht, die Federn ihrer Hüte hingen ihnen tropfnass auf die Schultern.

„Wir bieten einen wirklich erbärmlichen Anblick.“, lachte Athos. Er öffnete die Tür und lies sie zuerst eintreten. „Ich mache uns ein Feuer an. Du weißt ja, wo du den Wein findest? Wenn du einen Topf mitbringst, können wir ihn aufwärmen.“

Sie hatten zwei Sessel an den wärmenden Kamin gerückt und es sich auf ihnen bequem gemacht. Stiefel und Strümpfe standen zum Trocknen davor. Ihre nackten Unterschenkel reckten sich dem Feuer entgegen und Athos beobachtete amüsiert, wie sie gedankenverloren mit den Zehen wackelte. Die Unterhaltung der beiden war unverfänglich und half besonders Athos, für einige Zeit den Kopf von schweren Gedanken zu befreien. Wie beiläufig studierte er ihr Gesicht, während sie sprach. Ihre Augen strahlten bei jedem neuen Gedanken, den sie formulierte, ihre Mundwinkel umspielte ein ständiges Lächeln. Ihre Gesten waren weich und fließend. So vollkommen unverfälscht erlebte er sie nur, wenn sie unter sich waren, und er betrachtete es als Kompliment. Für einen Moment versank er in der Bewunderung des Amorbogens ihrer Lippen, der ihm im warmen Widerschein des Kamins noch klarer erschien. „Verdammter St. Martin!“, ging es ihm durch den Kopf. Vor zwei Tagen noch war es ihm einigermaßen möglich gewesen, seine Gefühle für sie im Zaum zu halten. Doch dann kam Charles und setzte ihm einen Floh ins Ohr. Erzählte vom Heiraten, von Kindern, von großer Liebe. Und immer wieder brachte er sie ins Spiel. Dabei war es hoffnungslos. Sie hatte Jahre damit zugebracht, auf den Moment zu warten, an dem sie diesen einen Mann, dem offensichtlich immer noch ihr Herz gehörte, rächen konnte. Wie konnte er da hoffen, dass es in ihrem Herzen einen Platz gleicher Größe für ihn gäbe. Nein, er war sich sicher, dass sie ihn nicht mehr liebte als D´Artagnan, zu dem sie zwar ein liebevolles, aber geschwisterliches Verhältnis pflegte. Geschwisterlich waren seine Gefühle jedoch schon lange nicht mehr. Athos zwang sich zur Konzentration.

Die Stunden verstrichen. Immer wieder mussten sie ihr Gespräch unterbrechen, wenn der Wind die Fensterläden zum Poltern brachte, der Regen gegen die Hauswand drückte und man sein eigenes Wort nicht mehr recht verstand. Vor dem Haus hörte man in kurzem Abstand zwei Dachziegel auf dem Pflaster zerschellen. Ein Nachtwächter war zu hören, wie er erst die nahende Mitternacht verkündete und anschließend einen lauten Fluch ausstieß.

„Es ist spät, wir sollten schlafen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten hatte Aramis sich erhoben, ihr Glas geleert und sich in sein Schlafzimmer begeben. Athos hingegen war unschlüssig zurückgeblieben. War da ein leichtes Tänzeln in ihrer Bewegung? Womöglich hatte der warme Wein seine Wahrnehmung verfälscht. Plötzlich überfiel ihn die Angst, mit jedem weiteren Schritt einen Fehler zu machen, und Übelkeit stieg in ihm auf. Wie gelähmt starrte er in das Feuer und Minuten vergingen, ohne dass er sich rührte. Leises Knirschen ließ ihn schließlich aus seinen Gedanken hochfahren.

„Wo bleibst du denn?“ Ihre Stimme drang kaum zu ihm durch, so sehr rauschte das Blut in seinen Ohren. Aramis hatte sich ihres Wamses entledigt, das geöffnete Leinenhemd gab den Blick auf Schlüsselbeine und Drosselgrube frei. Eine Handbreite darunter blitzte der Verband auf, der seit Jahren einen männlichen Körper vorgaukelte, wo keiner war. Das alles war für ihn nicht neu, tatsächlich hatte er bei anderen Gelegenheiten schon mehr von ihr gesehen. Heute jedoch reichte schon dieses Detail, um seinen Körper in Aufregung zu versetzen. Wie beiläufig strich sie sich das lange blonde Haar aus dem Nacken.

„Ich denke, ich werde hier schlafen. Geh du ruhig.“ Athos war selbst überrascht, wie gefasst seine Stimme klang.

„Hier? Auf diesem Stuhl sitzend? Sei nicht albern!“ Sie streckte ihm die Hände entgegen, um ihm aufzuhelfen. Nach kurzem Zögern ergriff er sie, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich zu erheben.

„Renée, bitte ...“ Ihr Blick lies erkennen, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde, und sein Herz begann zu rasen. Sie musste es hören können, so heftig schlug es von innen gegen seine Brust. „Du weißt nicht, was du damit von mir verlangst!“ Er zog ihre Hände näher zu sich und deutete einen leichten Handkuss an. Ein Zeichen der Verehrung, wie eine charmante Ablehnung einer Aufforderung zum Tanz. An ihrem Griff änderte sich jedoch nichts.

„Du unterschätzt mich.“ Aramis beugte sich zu ihm herunter und, ohne ein weiteres Wort, legte ihre Lippen auf seine. Der Schreck währte nur kurz, dann erwiderte er ihren Kuss. Erst zögerlich, dann mit all der Leidenschaft, die sich in den vergangenen Jahren in ihm aufgestaut hatte. Ihre Hände umschlangen seinen Nacken und zogen ihn in den Stand. Sofort spürte er den Druck ihres Beckens gegen seines. Vergessen war der Gedanke, die Nacht alleine auf einem Stuhl verbringen zu wollen. Seine Hände glitten entlang ihres Rückens, ihrer Taille bis unter ihr festes, rundes Gesäß. Mit einer kurzen Kraftanstrengung hatte er sie hochgehoben. Ihr Haar verströmte noch den Duft des Regens, vermengt mit einer schwachen Note von Veilchen. Ihre Schenkel umschlangen sofort seine Hüfte. Und obwohl sich ihre Lippen noch immer nicht getrennt hatten, konnte er spüren, dass sie lächelte. Ihr wunderbares, schelmisches Lächeln. Unweigerlich erwiderte er es, während der Druck ihrer Schenkel dafür sorgte, dass ihm das Blut in die Lenden schoß. Wie blind trug er sie in sein Schlafzimmer. Zwei mal stieß er sich auf dem kurzen Weg den Zeh an, aber er spürte es kaum. Einmal im Schlafzimmer angekommen, ließ er sich mit dem Rücken gegen die Tür fallen, um sie zu verschließen. In diesem Moment ließen sie zum ersten Mal von einander ab. Er spürte ihren warmen Atem an seiner Kehle, spürte, wie sich ihr Brustkorb in rascher Folge hob und senkte. Aramis' Füße kehrten auf den Boden zurück, ihre Hände strichen sanft an seiner Brust herab; eine Geste, die beinahe unschuldig wirkte. Ihr übriger Körper, der nach wie vor seine Nähe forderte, strafte sie Lügen. Der Raum war nur spärlich durch einige Kerzen erleuchtet, dennoch sahen sie einander für einen langen Moment in die Augen, wie um sich des jeweils anderen zu versichern. Ihr Blick durchdrang ihn regelrecht. Zweifelte sie an ihm? Zweifelte sie an sich? Er vermochte es nicht zu sagen. Gedankenverloren wanderten Aramis' Finger an seinen Kragen und nestelten dort an dem Knoten. Dabei ließ sie sein Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Ein plötzlich aufflackernder spöttischer Funke lies erkennen, dass sie genau wusste, was sie tat, und es geradezu genoss, ihn damit zu verwirren. „Verrücktes Weib!“, flüsterte er zärtlich, bevor er sie küsste. Seine Hände machten Anstalten, ihr Hemd zu lüften, zogen sich jedoch sofort wieder zurück. Stattdessen zog er sich mit einem geschickten Handgriff sein eigenes Hemd vom Leib. Aramis trat einen Schritt zurück, um seinen entblößten Oberkörper mit unverhohlenem Interesse zu mustern – das Licht der Kerzen lies jede Regung seiner ausgeprägten Muskulatur deutlich erkennen, kurze schwarze Haare bedeckten Brust und Bauch und nur eine Handbreit unter dem Brustbein prangte eine kurze, aber dicke Narbe. Sie kannte all das. Aber noch nie hatte sie es gewagt, seinen Anblick derartig zu genießen. Unbewusst fuhr sie mit den Fingern ihre Schlüsselbeine nach. Diesmal war es an Athos, ihr die Hand zu reichen. Er küsste sie erneut, langsamer, zärtlicher als zuvor, während er Stück für Stück ihr Hemd aufwärts schob. Die fedrigen Berührungen seiner Finger bescherten Aramis eine Gänsehaut. Als das weiße Leinen schließlich zu Boden sank, wirkte sie für einen Moment unsicher. Das soldatische Leben der vergangenen Jahre hatte ihren Körper sichtbar geprägt. Er entsprach keineswegs dem Ideal ihrer Zeit. Nur wenig Weiches war an ihm, statt dessen vor allem gut sichtbare Muskelstränge an Bauch und Armen. Der fest umwickelte Brustkorb tat sein übriges. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie ihre Selbstzweifel jedoch sofort vergessen.

„Darf ich?“ Er strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht und wandte sich dann dem Verband zu. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, besonnen vorzugehen und das Zittern seiner Finger zu unterdrücken. Dabei waren ihre Hände an seinem Hosenbund alles andere als beruhigend. Zu gerne hätte er ihr die Stoffbahnen schnellstmöglich vom Leib gerissen. Dennoch lies er sich Zeit, löste den Knoten und legte genüsslich Runde für Runde ihren Busen frei. Rote Striemen durchfurchten ihre Haut, wo der Stoff in Falten gelegen hatte. Seine Hände folgten den Linien vom Rücken nach vorne, strichen zärtlich über die Brust und hinauf zum Hals. Erst jetzt wurde Aramis bewußt, wie sehr sie das Gefühl warmer Hände auf ihrer Haut in den vergangenen Jahren vermisst hatte. Ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper. Sie drängte sich enger an ihn, küsste ihn und begann langsam, seine Hose zu öffnen. Athos' Erregung war deutlich zu spüren, ihrer beider Atem ging schwer. Mit leisem Rascheln rutschte Athos' Hose zu Boden. Plötzlich ergriff er sie und trug sie vor sein Bett. „Bist du dir sicher?“, flüsterte er. „Ganz sicher.“, war die gehauchte Antwort. Ihre Arme hielten ihn fest umschlungen, während er sie langsam auf sein Bett fallen lies. Während seine Lippen ihren Körper erkundeten, nahm er begierig ihren Duft in sich auf.

Es dauerte nur wenige geschickte Handgriffe, dann war seine Hand in Aramis' Hose verschwunden und entlockte ihr einen leisen Seufzer. Schlanke Finger fuhren ihm durchs Haar und signalisierten mit jedem fester werdenden Griff, dass er sich auf dem richtigen Weg befand. Langsam zog Athos ihr das letzte Stück Stoff vom Leib, küsste ihren Bauchnabel, die Hüfte, den Venushügel, die Oberschenkel. Ein Stoßgebet kam über ihre Lippen. Aramis krallte die Hände ins Kissen, bevor sie ihn zu sich auf Augenhöhe zog. Er kannte diesen Blick. Der Ausdruck völliger Entschlossenheit lag ihn ihm. Aber auch unbedingtes Vertrauen in ihn. Sie brauchten keine Worte um zu wissen, dass sie beide bereit waren, den letzten Schritt zu gehen. Ihre Körper taten es ihrem Verstand gleich und wurden eins.
 

Athos entzündete ein Feuer im Kamin. Nur halbherzig folgte er dabei dem Plappern seines Jugendfreundes, der gewohnt ausufernd von seiner vergangenen Nacht erzählte. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass Charles den Abend mit Porthos und D'Artagnan im Paradies verbracht hatte. Ausgerechnet. Was genau die drei dort angestellt hatten, verschwieg Charles geflissentlich. Statt dessen sprach er vom hervorragenden Essen, von Schokolade und den Prostituierten, die er eine nach der anderen kommentierte. Unvermittelt legte Charles einen Finger an die Lippen. „Hörst du das auch?“ Beide verharrten in ihren Bewegungen und lauschten. Athos hörte durchaus, was er meinte, und die leisen Geräusche, die aus dem Nebenzimmer drangen, erfüllten sein Herz mit Leichtigkeit. Gleichzeitig beobachtete er mit Schrecken, wie Charles' Gesicht binnen kürzester Zeit diverse Ausdrücke von Zweifel über Erstaunen bis Erheiterung durchlief.„Ist das ... singt sie? Armand, in deinem Schlafzimmer singt eine Frau und du willst mir weiß machen, dass du nichts getan hast?“ Charles gab sich alle Mühe zu flüstern. Athos seinerseits zuckte nur mit den Schultern. „Sie wird gute Laune haben.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Und sie hat eine recht schöne Singstimme, denkst du nicht?“

Schweigen. Im Feuer knackte trockenes Holz, gelegentlich klapperte ein hölzerner Teller. Mit wachsendem Selbstzweifel starrte Charles Aramis an, die ihm am Tisch gegenüber saß und sich seelenruhig auf das Frühstück vorbereitete. Kurz zuvor hatte sie den Raum betreten als sei es nur natürlich, dass sie hier war, und ihr „Guten Morgen!“ war von einem charmanten, aber nicht überschwänglichen Lächeln begleitet worden. Ja, zu seinem Leidwesen wirkte sie genauso wie am Morgen zuvor. Keine verräterische Röte der Wangen, kein gedankenverlorenes Lächeln auf den Lippen, nicht einmal ein verstohlener Blick in Richtung des Kamins ließ sich erahnen. „Wollt ihr nur dasitzen und mich studieren?“ Aramis' schnippischer Ton riss ihn aus seinen Gedanken.

„Verzeiht mir.“, flüsterte Charles. Er versuchte, seine Verlegenheit mit einem Lächeln zu überspielen, jedoch mit nur mäßigem Erfolg. „Ihr seid wirklich faszinierend.“ Aramis überging, was als Kompliment gemeint war.

„War Eure nächtliche Zusammenkunft mit Porthos und D'Artagnan erfolgreich? Habt Ihr einen schönen Plan ausgebrütet?“ Sie hatte sich zu ihm vorgebeugt und ihn durchdringend angesehen, aber ihre geflüsterten Worte klangen leicht, fast belustigt. Nervös warf Charles einen Blick zu Athos, der immer noch am Kamin stand und gedankenverloren im Feuer rührte. Er schien ihrer Unterhaltung nicht zu folgen und Charles sprach in Gedanken ein kurzes Dankgebet für diesen Umstand.

„Ich weiß nicht, was Ihr meint!“ Er gab sich sichtlich Mühe, ihr in die Augen zu sehen.

Aramis allerdings zog zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe. „Ihr seid ein ausnehmend schlechter Lügner, Charles. Und Ihr könnt mir glauben, dass ich schon einige gesehen habe.“

"Gestattet Ihr mir ebenfalls eine Frage?"

"Das kommt ganz auf die Frage an. Versucht Euer Glück!"

"Warum seid Ihr hier? In Paris, meine ich. Euer Leben hier scheint mir nicht sonderlich komfortabel." Charles sah, wie sich ihr Blick verdunkelte. Hastig fügte er hinzu: "Ihr müsst nicht antworten, wenn es Euch zu persönlich ist!" Aramis winkte beruhigend ab. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, dann sah sie ihn gerade heraus an.

"Es erschien mir das kleinere Übel zu sein. Freier als das Dasein im Kloster und allemal weniger gefährlich als das Leben als Eigentum des Mistkerls, den man als meinen zukünftigen Ehemann auserwählt hatte. Ich habe Menschen gesehen, die ihr Vieh besser behandeln als er seine Mutter. Und eher hätte ich mich im Wald von Wölfen zerfleischen lassen als das er Hand an mich gelegt hätte. Zudem hatte ich Rache für den Mord an zwei Menschen geschworen. Und die wird nur selten mit Bibel und Rosenkranz geübt." Aramis' Offenheit überraschte ihn.

" Aber wenn... Warum solltet Ihr...?"

" Warum ich ihn heiraten sollte? Er war das, was mein Onkel als gute Partie bezeichnete. Seine Familie hatte Geld und Einfluss. Wen kümmert es da, dass Vater und Sohn hin und wieder das weibliche Gesinde und die eigene Frau und Mutter misshandeln. Ich wurde dem meistbietenden versprochen und zu meinem großen Pech war er derjenige. Ihm war klar, dass ich ihn abstoßend fand, und es machte ihm sichtlich Vergnügen. 'Die Leute reden aus Missgunst schlecht', hatte mein Onkel erklärt. Aber alle wussten, dass es die Wahrheit war. Auch er. Niemals hätte er meine Cousine diesem Mann versprochen. Aber ich? Ich war ihm schlicht egal. Wir haben uns deswegen lautstark gestritten. Ich habe mir die Ohrfeige meines Lebens eingefangen und danach nicht mehr mit ihm gesprochen. Ein paar Nächte später habe ich meine Sachen gepackt und bin abgehauen. Ich hatte ein paar Briefe aus dem Nachlass meiner Eltern. Darunter einen von einem gewissen Monsieur de Treville in Paris. Er war anscheinend ein Freund meines Vaters gewesen und Soldat. Paris war weit genug weg und ich hatte nichts zu verlieren. Also ritt ich, so schnell mein Pferd es zuließ. Die Nächte verbrachte ich im Wald. Es waren genau drei. Bis heute weiß ich nicht, wie dieses Pferd das geschafft hat. Aber es wäre mir vor Erschöpfung fast tot unterm Hintern zusammengebrochen. Und jetzt sitzen wir hier und unterhalten uns." Das Gehörte hatte Charles sichtlich aufgewühlt. Seine Wangen und Ohren glühten rot, seine Stirn lag in Furchen. Vor Schreck zuckte er plötzlich zusammen, als Athos neben ihm geräuschvoll einen Stuhl verschob. Wie lange hatte er schon an seiner Seite gestanden?

"Nicht gerade eine schöne Geschichte.", murmelte Charles schließlich.

"Wahrlich nicht. Aber es hat nicht einmal drei Tage gedauert, bis du sie gehört hast. Ich habe Jahre gebraucht. Alter Charmeur." Abgelenkt​ durch das unerwartete Kompliment entging Charles, wie sein Freund zärtlich tröstend über Aramis' Hand strich, während er sich auf den Stuhl zwischen ihnen setzte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und es entging Charles keineswegs. Er deutete es jedoch als Zeichen ihrer Zustimmung zu der Bemerkung seines Jugendfreundes. Der Tuchhändler platzte nahezu vor Stolz.

"Nun gut. Wie wäre es jetzt aber mit etwas Erbaulicherem? Ich habe gestern Abend nämlich etwas interessantes beobachtet." Inzwischen hatte Charles zu seiner gewohnten Form zurück gefunden. "Wir waren, wie bereits erwähnt, in diesem netten Wirtshaus ..."

"Bordell.", korrigierte Athos.

"... und die Damen dort waren überaus zuvorkommend. Das Essen dort ist auch vorzüglich, aber das nur am Rande. Nun, jedenfalls ist mir folgendes aufgefallen: der gute Monsieur Porthos ist, wie mir scheint, in eine Käufliche verschossen." Er hatte auf überraschte Gesichter gehofft, wurde jedoch bitter enttäuscht. Statt dessen erntete er betretenes Nicken.

"Wissen wir. Und wenn der arme Kerl könnte, würde er sie vermutlich vom Fleck weg heiraten."

'Hört, hört, alter Griesgram.' ging es Charles durch den Kopf. Er war erstaunt ob der Fürsorge, die in Athos' Stimme lag. "Ich glaube, sie kann ihn auch ganz gut leiden. Oder sie gehört auf eine Theaterbühne.", fügte Charles hinzu. Er rutschte ein wenig auf dem Stuhl hin und her und lehnte sich, die Hände auf dem rundlichen Bauch gefaltet, zurück. Zum wiederholten Male beobachtete er die beiden Musketiere. Ihre Bewegungen bei Tisch wirkten routiniert, während sie sich abwechselnd auf seine Ausführungen und ihre Mahlzeiten konzentrierten. Aramis schnitt zwei dicke Scheiben Brot vom Laib, während Athos unaufgefordert ihre beiden Becher mit verdünntem Wein auffüllte. Erneut fühlte er sich an die lieb gewonnenen Abläufe in seinem eigenen Heim erinnert.

"Oh, ich bin mir sicher, dass sie ihn auch sofort nehmen würde, aber ihresgleichen heiratet man nur, wenn man der Henker oder anderweitig ausgestoßen ist. Porthos ist weder das eine, noch das andere. Seine Familie ist recht angesehen. Zugegeben, er ist so etwas wie das schwarze Schaf. Aber eine Nutte heiraten käme selbst ihm nicht ernsthaft in den Sinn." Mit einer fragenden Geste hielt Athos ihm den Krug hin. Charles schüttelte dankend den Kopf. Ihm steckte noch der Wein der vergangenen Nacht in Körper und Geist.

"Eigentlich schade. Sie hat mehr Verstand als all die ach so respektablen Weiber, die ihn sonst umkreisen." Aramis lies das Messer zwischen den Fingern kreisen. Angesichts der überrascht aussehenden Männer lachte sie: "Erzählt ihm ja nicht, dass ich sein Liebchen leiden kann. Das würde er mir ewig unter die Nase reiben." Doch sofort wurde sie wieder ernst. "Sie ist wirklich ein nettes, kluges Mädchen, wenn man das so sagen kann. Sie ist noch jung und es ist ein Jammer, dass sie in diesem Leben nichts anderes mehr zu erwarten haben soll als ein Dasein in Schande und Ausgrenzung, weil irgendwo auf ihrem Weg etwas schiefgelaufen ist. Niemand wählt freiwillig ein Leben in ständiger Angst vor Willkür und Krankheiten. Und jemand wie Porthos sollte sich nicht gegen einen Menschen entscheiden müssen, der sein Leben bereichert!"

Mit einem Mal verstand Charles die Liebe seines Freundes zu dieser Frau. Es ging nicht um Äußerlichkeiten. Es ging auch nicht darum, dass sie mit ihrer Erscheinung eine eigenartige Vorliebe bediente. Er hatte eine tiefe Wärme in ihrem Blick gesehen, sie in ihrer Stimme gespürt. Sie war, was sein Freund Armand nie zu sein vermochte. Gefühlvoll, warmherzig und leidenschaftlich. 'Erstaunlich, wie sich manche Dinge fügen', schoss es dem Venezianer durch den Kopf. "Euer Freund D'Artagnan scheint das aber anders zu sehen. Er wirkte gestern Abend eher verhalten."

"Das liegt daran, dass er noch jung ist und das Leben bisher recht gnädig zu ihm war. Seine Frau frisiert und pudert die Königin von Frankreich und es hat ihn nur wenige Wochen gekostet, sie für sich zu gewinnen. Dass Amor ein mieser Bock sein kann, weiß er höchstens aus Erzählungen.", erwiderte Athos mit einem spöttischen Blick über den Rand seines Bechers hinweg.

"Falls das eine Anspielung auf mich und meine verflossenen Liebschaften sein soll, lass dir gesagt sein, dass ich nichts bereue! Ich habe viel gelernt."

"Soll es nicht. Ich erinnere mich nur zu gut an deine Naturstudien mit unschuldigen Bauernmädchen... "

"Du wolltest ja nie!", unterbrach ihn Charles und hob entschuldigend die Schultern. Mit seinen aufgeblasenen Backen wirkte er wie ein trotziges Kind. Sichtlich erheitert folgte Aramis der Komödie, die Athos für sie initiierte. All die Lachfalten, die sein Gesicht in diesem Moment hervorbrachte, bescherten ihr ein zartes Flattern in der Magengegend. Was hätte sie darum gegeben, in diesem Moment mit ihm allein zu sein.

"... Weswegen ich Marie dringend von dir abgeraten habe.", beendete Athos seinen Satz.

"Jetzt fang nicht davon an. Du weißt, dass ich dir das sehr übel genommen habe!"

"Wer ist Marie?", hakte Aramis vorsichtig nach.

"Meine Schwester.", antwortete Athos nicht ohne Belustigung. Charles geriet ins Schwärmen:

"Ein zauberhaftes Mädchen war sie damals. Zart, elegant und begabt in Gesang und Konversation. Eine Augen- und Ohrenweide. Wie gerne hätte ich sie geheiratet. Oder zumindest einmal geküsst. Ich war schrecklich verliebt. Aber mein Freund Armand hier hielt es für angebracht, ihr zu erzählen, ich sei ein Trophäensammler. Natürlich lehnte sie jede Bitte um ein Stelldichein ab. Ein Ehegesuch durch meinen Vater ebenfalls. Ich war am Boden zerstört."

"Und jetzt bist du glücklich verheiratet und wirst jedes Jahr aufs neue Vater. Sei mir wenigstens im Nachhinein dankbar!" Charles schnaubte. Gerade wollte er zu einer Erwiderung ansetzen, als es klopfte. D'Artagnan streckte den Kopf zur Tür herein, betrachtete die Gesellschaft am Tisch und konzentrierte sich schließlich auf Charles. "Ist Porthos nicht mit euch gekommen?"

"Guten Morgen, D'Artagnan." Der gespielt tadelnde Tonfall des älteren Musketiers ließ ihn unverzüglich Haltung annehmen. "Guten Morgen. Entschuldigung! Darf ich?" D'Artagnan deutete auf einen leeren Hocker.

"Nur zu, setz dich. Iss etwas." Das breite Grinsen in Athos' Gesicht irritierte ihn. Es war ein Anblick mit Seltenheitswert. Vermutlich hätte er die Momente, in denen er ihn so gelöst erlebt hatte, an seinen beiden Händen abzählen können. Er blickte zu Charles, der immer noch schmollend auf seinem Stuhl hockte.

"Als ich vorhin gegangen bin, hat er noch tief und fest geschlafen.", gab der schließlich zur Antwort. Aramis, die den verwirrten Gesichtsausdruck ihres jüngsten Freundes bemerkt hatte, versuchte ihn zu beruhigen: "Die beiden wärmen gerade alte Geschichten auf. Nichts, was dich beunruhigen müsste. Ganz im Gegenteil, es ist sogar recht erbaulich." D'Artagnan hatte immer noch nicht recht verstanden, was vor sich ging, doch er nickte. Er beschloss, sich vorerst an Aramis zu halten. "Das war ein gewaltiges Unwetter letzte Nacht, was? Unser Haus hat einige Ziegel eingebüßt. Bist du trockenen Fußes nach Hause gekommen?" Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie sich Charles' Körperhaltung ruckartig änderte.

"Nein." Aramis lachte. Vergebens wartete D'Artagnan auf eine Erklärung. Stattdessen griff er zu dem Wein, den sie ihm anbot, in der Hoffnung, dass ein wenig Alkohol ihn irgendetwas von dem verstehen ließ, was gerade in diesem Raum vor sich ging. Sein Gesicht mußte seine Verwirrung jedoch erneut erkennen lassen, denn Athos ergänzte sachlich: "Aramis hat die Nacht hier verbracht." Sein Tonfall ließ es klingen wie eine Selbstverständlichkeit, doch D'Artagnan quittierte das Gehörte mit einem blubbernden Geräusch, als die dunkelrote Flüssigkeit aus seinem Mund zurück in den Becher schoss. "Entschuldigt, ich hatte mich verschluckt." Entgeistert betrachtete er Aramis. Ihr Blick ließ keinerlei Scham oder Verstellung erkennen. Keine Röte, wie sie ihr gelegentlich in die Wangen stieg, wenn jemand Andeutungen zu ihre Beziehung zu Athos machte. "Hast du", fragte er schließlich zögerlich, "auf dem Boden geschlafen?" Sein Daumen deutete auf die Stelle, an der Charles' Habseligkeiten lagen.

"Das war nicht nötig. Athos' Bett ist mindestens doppelt so groß wie meins.", gab sie nüchtern zurück. Dabei hatten sie die Nacht so eng umschlungen verbracht, dass das ihre vollkommen ausreichend gewesen wäre.

"Aber ich muss auf einem Fell schlafen.", brummte Charles unzufrieden.

"Du schnarchst auch." Das Thema war für Athos damit beendet. Er nahm es seinem Freund nicht übel, dass er sich beklagte. Der Boden war unbequem, keine Frage. Daran konnte auch das Schafsfell aus seiner eigenen Reiseausstattung nichts ändern. Er hatte jedoch kein Interesse daran, das Bett mit ihm zu teilen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie gemeinsam in einem Saal hatten schlafen müssen und Athos wollte die Erinnerung daran nicht wiederbeleben. Besonders jetzt, da die Aussicht auf eine andere nächtliche Gesellschaft bestand. Tatsächlich machte er sich bereits Gedanken, wie er Charles den Umzug in ein Gasthaus schmackhaft machen konnte. Zunächst musste jedoch der kommende Tag organisiert werden. In einem versöhnlichen Ton fragte er Charles nach seinen Plänen.

"Ich erwarte in den nächsten Tagen eine Wagenladung mit Stoffen aus Venedig. Ich muss mich vorher um die Unterbringung der Waren und meiner Knechte bemühen und wollte mich ein wenig nach potentiellen Handelspartnern erkundigen. Vielleicht mache ich auch schon einen Rundgang über den Markt."

"Der Vater meiner Frau ist Schneider, ihr solltet euch einmal bei ihm vorstellen.", warf D'Artagnan ein. "Venezianische Stoffe in guter Qualität könnten ihm gefallen. Sein Name ist Bonacieux, er näht auch Kleider für die königliche Familie." Charles sah ihn lange an, schweigend. Schließlich lächelte er, nickte dankend und sagte: "Ihr seid wirklich ein glücklicher Mann, D'Artagnan." Ohne zu wissen, worauf genau Charles anspielte, antwortete er: "Ich weiß."

Athos ergriff wieder das Wort: "D'Artagnan, du wirst mit Porthos dem Tuchhändler einen Besuch abstatten. Versucht ihn auf die anderen toten Frauen anzusprechen oder zumindest herauszubekommen, mit wem er sich in den vergangenen Monaten vergnügt hat und wo er in den letzten Nächten war."

"Jawohl, Herr Leutnant!" D'Artagnans halbherziges Salutieren wurde von einem schelmischen Funkeln in den Augen begleitet.

"Ich werde ins Hauptquartier gehen und Kapitän de Treville auf den aktuellen Stand bringen.", setzte Athos fort. "Möchtest du mich begleiten, Aramis?"

"Bedaure. Die Königin empfängt heute vormittag einige Damen in ihren Gemächern und wird am Nachmittag eine Ausfahrt machen. Ich werde also den ganzen Tag in ihrer unmittelbaren Nähe verbringen. Und wo wir gerade davon sprechen: ich bin spät dran. Vielen Dank für dein Bett und deinen Wein. Wir treffen uns heute Abend im Hauptquartier. Grüßt Porthos von mir!" Sie ließ ihre Hand zärtlich über seine Schultern streichen, griff sich leichtfüßig Hut und Degen und verließ die Wohnung. Gedankenverloren starrte Athos auf die Tür, hinter der sie soeben verschwunden war. Sie hatte ihren Mantel vergessen und er konnte nicht sagen, ob es ein echtes Versehen oder ein Vorwand war, um heute Abend wieder zu ihm zu kommen.

"Dich hat es ja wirklich schwer erwischt, mein Freund." Charles' Worte waren nur ein dumpfes Brummen in seinen Ohren.
 

Vor dem Haus der von Rosenbaums stand eine Kutsche. Reich verziert, mit Gold beschlagen und von zwei schlanken Grauschimmeln gezogen. Der Kutscher war auf dem Bock zusammengesackt und döste leise schnarchend, während ein Knabe, kaum älter als 14 und mit langen, dürren Gliedern, die Seitentür offen hielt. Offenbar stand er bereits seit einiger Zeit dort. Seine Haltung war schlacksig und immer wieder ging sein Blick ungeduldig durch die ebenfalls offen stehende Haustür in den großzügigen Eingangsbereich. Als Athos auf Höhe der Pferde angekommen war, straffe sich der Körper des Jungen plötzlich. Aus dem Inneren des Hauses drangen helles Lachen und das Rauschen üppiger Kleider. Die Hausherrin erschien, herausgeputzt in salbeifarbener Seide und filigraner Spitze, umwabert von einer intensiv süßen Duftwolke von Tuberosen. Hinter ihr erschien eine zweite Dame, ebenfalls ihren Wohlstand zur Schau tragend. Athos hatte sie schon mehrfach im Umfeld der Königin gesehen, ihr aber nie große Bedeutung beigemessen. Die Kutsche trug ihr Wappen auf der Tür. Aufgeregt wie junge Mädchen plapperten die beiden Frauen miteinander. Gerade, als die Gräfin von Rosenbaum ihre Röcke zum Einsteigen raffte, bemerkte sie Athos. Er war stehengeblieben und streichelte einem der Pferde das Maul, nachdem es ihn mehrfach auffordernd angestoßen hatte. Sie musterte ihn mit einem knappen, geübten Blick. "Kann man euch helfen, Monsieur?" Zwar war ihre Aussprache wesentlich sauberer als die ihres Gatten, doch konnte auch sie ihre Herkunft nicht verleugnen. Athos wußte gleich, wer sie war. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie Aramis sie ihm nach ihrer ersten Begegnung beschrieben und wie unsicher sie anschließend gewirkt hatte. Weder damals noch heute hatte er es verstehen können. Begleitet von einem gewinnenden Lächeln antwortete er: "Ich möchte eurem Gatten einige Fragen stellen. Ist er zu sprechen?"

"Nun, er ist zumindest anwesend. Ob er zu reden in der Lage ist, müsst Ihr jedoch selbst herausfinden, Monsieur..."

"Das ist der Musketier Athos, meine Liebe.", mischte sich die zweite, hinter vorgehaltenem Fächer flüsternd, ein.

"So?" Sie musterte ihn ein weiteres Mal. "Nun, versucht Euer Glück. Aber lasst euch gesagt sein, dass er erst in den frühen Morgenstunden heimgekehrt ist und mehr getragen wurde als das er selbst gelaufen wäre. Erwartet nicht zu viel. Zumal er nach eurem letzten Besuch wohl recht aufgebracht war, wie mir erzählt wurde." Sie bemühte sich nicht, ihr Schadenfreude zu verbergen. Offenbar empfand die Gräfin von Rosenbaum nicht viel Zuneigung für ihren Gatten. Athos nickte verstehend. "Das war nicht unsere Absicht, verzeiht!" Dass die Beziehung der Eheleute zueinander eher unterkühlt war, hatte sich schon bei seinem letzten Besuch herauskristallisiert. Möglicherweise, kam es ihm unvermittelt in den Sinn, machte ihr unverhohlener Spott den Grafen gelegentlich rasend vor Zorn. Bevor sie erneut Anstalten machen konnte, in die Kutsche zu steigen, fügte er hinzu: "Wenn Ihr mir noch eine Frage gestattet, Madame! Wisst Ihr, wo euer Gatte in der vergangenen Nacht war?"

"Er wird vermutlich bei einem seiner neuen Freunde gewesen sein, um Geld beim Kartenspiel zu verlieren. Bitte entschuldigt uns jetzt, wir werden erwartet." Die beiden Damen knicksten zurückhaltend und stiegen in die Kutsche. Der livrierte Knabe schlug die Wagentür geräuschvoll zu und sofort setzten sich die Pferde in Bewegung. Erst das leichte Schaukeln des Kutschbocks weckte die staubbedeckte Gestalt, die unter Hut und Mantel inzwischen nahezu unsichtbar geworden war.

Hanns-Friedrich von Rosenbaum empfing ihn in seinem Arbeitszimmer. Trotz der fortgeschrittenen Tageszeit war das Licht gedämpft, die Fenster halb von Vorhängen verdeckt. Der Grund dafür offenbarte sich beim Anblick des Gesandten. Er machte trotz seiner ordentlichen Kleider einen eher mitgenommenen Eindruck. Die Haut war fahl, unter den zusammengekniffenen Augen zeigten sich dunkle Schatten und sein Körper verströmte den Geruch von Alkohol und kaltem Tabak. Seine Stimme klang rau, als er Athos betont freundlich begrüßte. "Guten Morgen, Monsieur. Setzt euch. Was verschafft mir das Vergnügen Eures erneuten Besuchs?" Sein Lächeln war etwas schief und es entging Athos nicht, dass seine Zunge die Worte schwerfälliger formte als bei ihrem letzten Gespräch.

"Ich habe ein paar Fragen an Euch. Es geht um einen Kauf, den Ihr vor einigen Tagen getätigt habt." Er machte eine kurze Höflichkeitspause. "Verzeiht, mir scheint, daß Wetter der vergangenen Nacht hat euch den Schlaf gekostet?"

Sein Gegenüber massierte sich angestrengt die Schläfen, während er nach einer angemessen Antwort suchte. Schließlich lächelte er, dieses Mal aufrichtig. "Ich will ehrlich zu Euch sein. Vermutlich würdet Ihr mich ohnehin durchschauen. Sagt euch der Name Jacques Vallee etwas?"

"Der Dichter? Durchaus."

"Ich wurde von einem gemeinsamen Freund in sein Haus eingeladen. Zum Kartenspiel. Wenn Ihr ihn kennt, muss ich euch sicherlich nicht sagen, dass es nicht dabei blieb. Wein, reichlich davon, Zuckerwerk und willige Damen, genug für jeden der Anwesenden. Seht mich nicht so skeptisch an, ich weiß, was Ihr denkt. Ich kenne das Gerede. Aber was Monsieur Vallee nach Meinung anderer Leute mit seinen Freunden macht, geht mich nicht das geringste an. Ich für meinen Teil habe mich an die weibliche Gesellschaft gehalten." Er machte eine kurze Pause, um zu prüfen, wie sein Gegenüber die schlüpfrigen Informationen bewertete. Zu seinem Erstaunen blieb das Gesicht des Musketiers gleichgültig. "Jedenfalls hatte ich bis in den Morgen hinein mein Vergnügen und plage mich jetzt mit den Folgen." Athos bemühte sich um ein verständigen Nicken. Inzwischen war es für ihn offensichtlich, dass der Graf immer noch vom Wein der letzten Nacht benebelt war und seine Zunge entsprechend locker. Jacques Vallee war berüchtigt, Geschichten über sodomistische und anderweitig ausschweifende Feste in seinem Namen machten immer wieder die Runde. Seine religiösen Ansichten galten als ebenso verdächtig. Für einen Mann in seiner Position genoss der Graf von Rosenbaum einen riskanten Umgang.

"Wurdet Ihr meinetwegen geweckt?"

"Nein, wahrlich nicht." Der Gesandte lachte ein freudloses Lachen. "Mein unsägliches Weib und ihre schrille Freundin haben das schon vor Eurer Ankunft erledigt. Mit ihrem dümmlichen Gekicher und Geplapper."

"War ihr nicht bewusst, wann Ihr nach Hause gekommen seid?" Es widerstrebte Athos zutiefst, Mitleid für das selbstverschuldete Leid dieses Mannes heucheln zu müssen. Nicht, weil er etwas gegen Ausschweifungen gehabt hätte, sondern weil er ihm den dröhnenden Kopfschmerz aus reiner Abneigung von Herzen gönnte.

Der Gesandte schnaubte verächtlich. "Als ob es sie kümmern würde." Zu seiner Freude stellte Athos fest, dass sein Gegenüber zumindest in seinem derzeitigen Zustand äußerst leicht aus der Reserve zu locken war. Dieser Umstand sollte ihm die Arbeit merklich erleichtern. Er erinnerte sich vage, dass der Graf selbst seine Ehe bei ihrem letzten Treffen als 'reine Formsache' bezeichnet hatte. "Sie spielt lieber Ihre kleinen Spielchen mit mir, um mir ihre Verachtung zu zeigen." Seine Finger kreisten empört in der Luft.

"Wie bedauerlich. Ich nehme an, viele Männer beneiden Euch dennoch ihrer Schönheit wegen?"

"Mag sein. Hin und wieder macht man mir Komplimente zu meiner Frau. Und vor ein paar Jahren hätte ich ihnen vermutlich zugestimmt. Aber ich kenne sie inzwischen gut genug um sie als die Hure zu erkennen, die sie nun einmal ist. Seid Ihr interessiert? Nur keine falsche Zurückhaltung. Macht ihr ein paar Mal schöne Augen und sie hebt die Röcke für Euch. Ihr wärt nicht der erste. Mir soll es egal sein, ich habe schon seit Jahren nicht mehr in ihr gesteckt. Im Gegensatz zu anderen in diesem Haushalt."

Abwehrend hob Athos die Hände. "So wollte ich das nicht verstanden wissen."

"Wie Ihr meint. Ich an Eurer Stelle würde mich auch auf eine andere konzentrieren!" Athos setzte ein verständnisloses Gesicht auf, im Inneren wohl wissend, von wem sein Gegenüber sprach. Seine Unverfrorenheit kannte in diesem berauschten Zustand offenbar genauso wenig Grenzen wie seine Geschwätzigkeit.

"Tut nicht so unschuldig. Ihr seid jeden Tag mit ihr zusammen. Und ich habe Gerüchte über sie und Euch gehört. Aufregende Gerüchte, wenn Ihr mich versteht."

"Ihr sprecht von Aramis.", kam es ihm überraschend gleichgültig über die Lippen. Doch in seinem Inneren begann es zu brodeln. Jeder Gedanke an die Müdigkeit, die sich im schummerigen Licht des Arbeitszimmer schleichend bemerkbar gemacht hatte, war hinweg gefegt. Würde er es wirklich wagen, einem Musketier von seinen niedersten Fantasien mit einem anderen Musketier zu erzählen? So unverfroren konnte er nicht sein, schon gar nicht in seiner politischen Position. Eine solche Frechheit würde ihn endgültig als ungeeignet für sein Amt ausweisen. Und doch belehrte der Gesandte ihn umgehend eines besseren.

"Selbstverständlich! Ich hatte wahrlich schon einige Frauen, aber so eine?" Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. "Eine Amazone, wie sie in alten Geschichten beschrieben wird. Schön, wild und unberührt. So eine zu bezwingen muss unglaublich befriedigend sein, denkt ihr nicht? " Hanns-Friedrich von Rosenbaum war so berauscht von seiner Vorstellung, dass ihm entging, wie Athos' Kiefermuskulatur vor Anspannung zu zucken begann. Nur mit größter Mühe konnte er sich davon abhalten, über den massiven Schreibtisch zu greifen und den Kopf des Grafen wiederholt auf der Tischplatte aufschlagen zu lassen. In seinen Ohren begann das Blut zu rauschen. Irgendwie gelang es ihm dennoch, nach außen hin ruhig zu wirken. Seine Finger strichen langsam, aber mit gehörigem Druck, über das filigran geschnitzte Holz seiner Armlehne, während er darauf wartete, dass sich sein Gemüt abkühlte. Wenigstens der Gedanke, dass der Gesandte sie für unberührt hielt, schaffte ihm ein wenig Erheiterung. Denn selbst wenn es die vergangene Nacht nie gegeben hätte, wäre die Annahme naiv gewesen. Zugegeben, die Sicherheit, die sie vor seinem Kamin ausgestrahlt hatte, hatte auch ihn überrumpelt. Aber einer Frau mit ihrer Leidenschaft und Vorgeschichte, die der gut informierte Graf zweifelsfrei kannte, zu unterstellen, sie hätte wie ein anständiges Mädchen demütig auf ihre Hochzeitsnacht gewartet, zeugte von einer völligen Ahnungslosigkeit.

"Ohne euch zu nahe treten zu wollen, Monsieur: Ihr solltet keinen Gedanken daran verschwenden, sie 'bezwingen' zu wollen. Vergesst nicht: Mademoiselle Aramis hat viele Jahre Erfahrung im Umgang mit Waffen aller Art. Sie hat gelernt, sich gegen körperlich weit überlegene Gegner zu verteidigen. Sie ist ein so verdammt guter Soldat, dass man ihr Befehlsgewalt über die Musketiere seiner Majestät übertragen hat. Ich habe gesehen, wie sie Männern die Nase gebrochen hat. Wie sie ihnen einen Dolch in den Unterleib jagte, wenn es nötig war. Sie hat einen Mann eine Klippe hinab gestürzt, der mehr als doppelt so viel Masse hatte wie sie. Als der Mann, der für den Großteil ihrer Ausbildung zuständig war und seitdem selbst oft genug eine ihrer Klingen an der Kehle hatte, rate ich Euch, sie nicht zu unterschätzen. Den Fehler haben bereits andere vor euch gemacht und die meisten weilen nicht mehr unter uns."

Der Graf musterte ihn aus spöttisch funkelnden Augen. "Ihr wollt mir also allen Ernstes erklären, dass Ihr nie daran gedacht habt, wie es wohl wäre, sie euch zu Willen zu machen? Nicht ein einziges Mal, während Ihr mit ihr allein wart? Ihre Haut zu berühren, ihre Zunge zu schmecken, ihre Fingernägel in eurem Rücken zu spüren?"

Athos spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein solches Maß an Verachtung für jemanden empfunden hatte. Er beugte sich vor und antwortete: "Nein. Zwang ist unter meiner Würde. Und ich würde Euch empfehlen, es genau so zu halten. Um Eurer selbst willen." Das Lächeln aus von Rosenbaums Augen verschwand. Um den weiteren Verlauf ihres Gesprächs nicht zu gefährden, fügte Athos widerwillig hinzu: "Ihr seid ein Mann von Stand und gutem Aussehen in der Blüte eurer Jahre. Lasst die Frauen zu euch kommen." Für einen langen Moment, in dem der Graf augenscheinlich abwog, wie er diese offene Kritik bewerten sollte, schwiegen sie einander an. Schließlich erwiderte er in einem Anflug von Überheblichkeit: "Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht seid Ihr aber auch nur ein langweiliger, verkappter Betbruder, Monsieur. Wenn mir ein Weib gefällt, dann nehme ich sie mir. Auf die eine oder die andere Weise. Denn dafür hat der Herr sie uns gemacht. Und ich bin mir sicher, dass sich Mademoiselle über ein wenig Zuwendung freuen würde."

"Wenn Ihr meint." Athos zuckte mit den Schultern. Das Thema war für ihn vorerst beendet. Tatsächlich dachte er für einen kurzen Augenblick daran, wie sie ihre Finger wieder und wieder in sein Fleisch grub. Beim ersten, beim zweiten und auch noch beim dritten Mal. "Wie ich bereits sagte, bin ich aus einem anderem Anlass zu Euch gekommen. Heute morgen..."

Von Rosenbaum fiel ihm ins Wort: "Verzeiht, stört es Euch, wenn ich mir eine Pfeife anzünde?" Athos verneinte kopfschüttelnd. Es überraschte ihn nicht, daß er auch diesem Laster fröhnte. Hastig erhob sich der Gesandte, um zur Tür zu gehen. Sein schmerzverzerrtes Gesicht ließ allerdings erahnen, dass er es sofort bereute. Ein stechender Schmerz war ihm in den Schädel gefahren. Deutlich langsamer setzte er seinen Weg fort.

"Jakob! Pfeife und Tabak bitte!" Der lahmende Bedienstete hatte seit Athos' Eintreten neben der Tür stehend ausgeharrt. Dankbar darüber, dass er sich endlich die Beine vertreten konnte, machte er sich auf den Weg. Der Graf kehrte an seinen Platz zurück.

"Entschuldigt, ich habe Euch unterbrochen. Fahrt bitte fort."

"Aus Gründen, auf die ich später vermutlich noch zu sprechen komme, suchte mich heute früh Meister Martel, der Schmuckmacher, auf. Er brachte mir eine Liste seiner letzten Kunden und dort fand sich Euer Name. Warum? Was habt Ihr bei ihm gekauft? Und für wen? Für Euch selbst? Für Eure Frau wohl kaum." Seine Stimme hatte ihren plaudernden Ton zurückgewonnen.

"Warum ist das wichtig?" Hanns-Friedrich von Rosenbaum stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die Hände vor dem Gesicht. Plötzlich wirkte er um einiges nüchterner und es bereitete seinem Gegenüber eine gewisse Genugtuung, Nervosität in seinem Blick zu erkennen.

"Beantwortet Ihr erst meine Fragen, dann sehen wir weiter." Hinter Athos' Rücken betrat der Diener Jakob den Raum, deutlich zu erkennen an den ungleichmäßigen Schritten. Auf einem Tablett reichte er seinem Herrn eine gestopfte Tonpfeife und einen glimmenden Span. Als sie gleich darauf wieder allein waren, ergriff von Rosenbaum erneut das Wort: "Ich habe bei Meister Martel eine Kette und einen Anhänger in Auftrag gegeben. Für mich selbst."

"Wann?"

"Vor ein paar Wochen. Ich weiß es nicht mehr genau." Der Graf begann nervös an seiner Pfeife zu ziehen.

"Wart ihr dafür in seiner Werkstatt?"

"Natürlich! Ich verstehe wirklich nicht, wohin dieses Gespräch führen soll?"

"Geduld. War ausser Euch und Meister Martel noch jemand anwesend?"

"Ferdinand, der Sohn meiner Köchin. Ihr erinnert Euch sicherlich an ihn. Ich hatte ihn mitgenommen, damit Monsieur Martel sein Gesicht kennt, wenn ich ihn erneut zu ihm schicke. Er hat die meiste Zeit vor dem Haus gewartet."

"Sonst war niemand dort?"

"Nein, niemand."

"Ihr habt also nicht zufällig seine Haushälterin gesehen? Jung, hübsch, blond? Eine Frau ganz nach Eurem Geschmack, wie ich vermute?"

"Nein, daran könnte ich mich erinnern. Wenn ich es Euch doch sage, wir waren allein."

"Und diese Schmuckstücke, von denen Ihr spracht, habt Ihr sie inzwischen erhalten?"

"Aber ja. Ferdinand hat sie vor ein paar Tagen in Meister Martels Werkstatt abgeholt. Wollt Ihr sie sehen?"

Athos schüttelte den Kopf. "Das ist nicht nötig. Ich denke es ist in Eurem Sinne, wenn ich Euch nicht länger von Eurem Tagesgeschäft abhalte. Habt Dank für Eure Gastfreundschaft, Graf." Er war bereits im Gehen begriffen, als Hanns-Friedrich von Rosenbaum ihn noch einmal zurück rief.

"Was hat es mit dem Mädchen auf sich?"

Athos prüfte einen Moment lang die Ernsthaftigkeit seiner Frage, zuckte dann gleichmütig mit den Schultern und erwiderte: "Sie ist plötzlich verschwunden, genauso wie einige Schmuckstücke, die Meister Martel für wichtige Kunden gefertigt hat. Er vermutet, dass sie mit einem Liebhaber davongelaufen ist. Ich nehme an, Euer Ferdinand ist noch bei euch?"

"Er hat den Charme eines reudigen Hundes und den Verstand eines Rindviehs, natürlich ist er noch hier", antwortete der Gesandte mit deutlichem Missfallen.
 

Während es auf den Gängen des Louvre einem Bienenstock gleich rumorte und tuschelte, war es in den privaten Räumen der Königin angenehm still. Als Aramis eintrat, legte Constanze gerade letzte Hand an die eng gedrehten Locken Annas von Österreich. Den Hut unter den Arm geklemmt wartete sie an der Tür, bis sie angesprochen wurde. Zunächst war sie alles andere als begeistert gewesen, der Königin zukünftig auch in ihren Gemächern zur Verfügung zu stehen. Inzwischen hatte sie sich jedoch mit dem zumeist belanglosen Geplauder arrangiert, das dort ausgetauscht wurde und sich bei genauerer Betrachtung nur durch den Grad der Obszönität von dem ihrer Kameraden unterschied. Hin und wieder kam es sogar vor, dass sich unter den Frauen tiefgründige Gespräche entwickelten. Hier war sie Marie de Gournay begegnet, einer Dame, die ihrer Lebensweise so viel Verständnis und Respekt entgegen gebracht hatte wie keine andere. Die ebenfalls mit ihrer Rolle als Frau haderte, wenngleich auf eine ausschließlich intellektuelle Art und Weise. Aramis war von der grauen, alternden Philosophin zutiefst beeindruckt gewesen und diese hatte sie mit beinahe mütterlichem Wohlwollen betrachtet. An diesem Tag war sie sich in dieser Welt aus Seide, Perlen, Puder und Parfüm weniger wie eine Kuriosität vorgekommen als sonst.

"Guten Morgen, Aramis!" Constanze riss sie aus ihren Gedanken, als sie mit strahlenden Augen ihre Hände ergriff und ihre Wangen küsste. "Gerade noch pünktlich!" flüsterte sie ihr mit einem Zwinkern zu, bevor sie sich wieder der Königin zuwendete.

"Guten Morgen, Aramis.", wiederholte Anna von Österreich sanftmütig. Wohlwollend beobachtete sie, wie sich die straffe Körperhaltung des Musketiers bei ihrer Begrüßung von den fast tänzerischen Bewegungen ihrer Zofe unterschied. Nicht ohne Grund hatte sie Ludwig gegenüber den dringenden Wunsch geäußert, er möge ihr die junge Frau auch innerhalb des Louvre zur Verfügung stellen, wenn sie Gäste in ihren Gemächern empfing. Aramis besaß eine beeindruckende Menschenkenntnis, hatte in der Vergangenheit wiederholt ihre bedingungslose Loyalität bewiesen und war dabei äußerst diskret. Kurzum, Aramis' Anwesenheit vermittelte ihr ein besonderes Gefühl von Sicherheit, wie es keiner der Hundertschweizer vor ihrer Tür vermochte, und die französische Königin war dankbar, sie in ihrer Nähe zu wissen. "Wie geht es Euch?", fragte sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit. Überrascht brachte Aramis nur ein kurz angebundenes "Gut!" und eine knappe Verbeugung hervor. Man hätte es als Disziplin deuten können. In ihrem Inneren jedoch herrschte ein Auf und Ab aus wohligem Kribbeln und der Angst, jemand könnte von all den sündigen Gedanken in ihrem Kopf etwas ahnen, wenn sie sich die vergangene Nacht in Erinnerung rief. Und das tat sie. Unweigerlich immer und immer wieder. Rückblickend war es für sie kaum vorstellbar, dass sie beinahe wirklich schlafen gegangen wäre. Dass sie minutenlang in seinem Schlafzimmer gestanden und sich selbst auszureden versucht hatte, was sie letztlich doch getan hatte. Dass sie an sich gezweifelt hatte. Dass sie an seiner Körpersprache gezweifelt hatte. Die Art, wie er sie vor dem Kamin angesehen hatte - sie kannte diesen Blick. Es war der gleiche, mit dem Francois sie Jahre zuvor bedacht hatte. Und nach und nach, während sie, im Halbdunkel stehend, unschlüssig auf das breite Bett gestarrt hatte, verstand sie, was Porthos und D'Artagnan an diesem Abend so dringend mit jenem Charles de Saint-Martin zu besprechen hatten. Nein, auf diese Art der Hilfe waren weder sie noch Athos angewiesen. Sie hatte ein letztes Mal tief durchgeatmet, die zur Vernunft mahnende innere Stimme in eine dunkle Ecke ihres Verstandes verbannt und war zu dem Mann vor dem Kamin zurückgekehrt. Seitdem wartete sie auf das schleichende Gefühl der Reue. Bislang vergeblich. Stattdessen spürte sie immer noch seine warme Haut auf ihrem Körper, seine Lippen auf ihren und die Hand, die ihr zärtlich durchs Haar strich, als er sie schon schlafend wähnte.

"Dann wollen wir die Tür öffnen." Anna von Österreich ließ sich in ihren Sessel gleiten, strich die tannengrünen Stoffbahnen ihres Rockes so zurecht, dass die Blumenranken aus Goldfäden ihre ganze Pracht entfalten konnten, und wartete. Aramis positionierte sich, wie es inzwischen ihre Gewohnheit bei dieser Art von Beisammensein war, zwei Schritte neben der Königin mit festem Blick und vor der Brust verschränkten Armen. Es hielt die Damen für gewöhnlich davon ab, sie in ihre Gespräche einzubeziehen, bis die Königin das Wort an sie richtete. Die Gelegenheiten, an denen es dazu gekommen war, konnte Aramis allerdings an beiden Händen abzählen. Sie war nicht zu ihrer oder anderer Leute Unterhaltung anwesend, dafür hatte Anna von Österreich Verständnis.

Die hohen Türen öffneten sich bedächtig und fast lautlos. Auf ein Handzeichen Constanzes wurde das Rumoren auf dem Gang lauter, kam näher und ergoss sich schließlich in die Gemächer der Königin. Ein halbes Dutzend Damen, in ihren besten Kleidern und mit Perlen behangen, knicksten dem Zeremoniell folgend vor der Königin und sprachen die üblichen Begrüßungsformeln. Nur eine schwieg. Mit gesenktem Blick und einem besonders ehrfürchtigen Knicks wartete sie darauf, von ihrer Begleiterin vorgestellt zu werden.

Für Aramis war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie der Gräfin von Rosenbaum in den Gemächern der Königin begegnen würde. Immer häufiger war sie ihr in den vergangenen Wochen im Louvre aufgefallen und es war ein Leichtes zu erkennen, dass sie sich als Teil des Hofadels zu etablieren versuchte. Anna von Österreich nahm ihre Anwesenheit mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis, anschließend machten es sich die Damen in einer Runde aus Sesseln und Hockern bequem.

Zu Aramis' Verwunderung setzte sich die junge Frau ausgerechnet auf den gepolsterten Hocker in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie rückte ihn sogar noch ein Stück näher an sie heran, war dabei jedoch bemüht, es wie ein Versehen aussehen zu lassen. Eine Zeit lang passierte nichts, die Gräfin von Rosenbaum plauderte mit ihrer Freundin und aß von dem Gebäck, das man ihr reichte. Aramis bemerkte lediglich, dass die linke Hand der Gräfin dabei ihren Fächer nervös umklammert hielt, schuldete dies aber ihrer vermeintlichen Nervosität angesichts der Tatsache, dass sie sich in der Gegenwart der Königin befand. Als der letzte Bissen Kuchen in ihrem Mund verschwunden war, begann die rechte Hand an einem Perlenohrring zu nesteln. Die Aufregung der Gräfin übertrug sich schleichend auf den Musketier, deren Hand inzwischen auf ihrem Rapier ruhte. Aramis prüfte misstrauisch jede noch so kleine Bewegung der Bayerin. Was hatte diese Frau vor? Man sollte doch meinen, dass ihre Aufregung mit der Zeit eher abklang. Statt dessen wurde sie immer unruhiger.

"Verzeiht mir bitte meine indiskrete Frage, aber... " Die junge Frau neigte sich unvermittelt zu Aramis, so dass diese reflexartig auch die rechte Hand zum Rapier führte, und senkte verschwörerisch die Stimme. "... Ich brauche Gewissheit. Stimmen die Gerüchte über Monsieur Athos und Euch?" Der Perlenohrring wackelte hin und her.

"Welche Gerüchte, Madame?" Aramis sah sie mit großen, ungläubigen Augen an. Die Anspannung fiel von ihr ab, die Hand löste sich von der Waffe.

Die Gräfin von Rosenbaum war sichtlich überrascht angesichts dieser scheinbaren Naivität. "Das Ihr eine Affäre mit ihm habt, natürlich", säuselte sie hinter ihrem Fächer aus weißen Straußenfedern. Constanze, die in einigen Schritten Entfernung unfreiwillig Zeugin des Gesprächs wurde, schnappte empört nach Luft. Einer fremden Frau eine so intime Frage zu stellen erschien ihr ungeheuerlich. Noch dazu in dieser Umgebung. In dieser Lautstärke. Man musste sich nicht einmal besonders anstrengen, um jedes ihrer Worte zu verstehen. Um so überraschter war sie, als die von ihr erwartete Zurechtweisung durch Aramis ausblieb. Stattdessen reagierte diese mit offener Belustigung. "Warum stellt Ihr mir solche Fragen, Madame?"

"Was soll ich sagen? Ich habe Monsieur Athos heute morgen kennengelernt, bevor ich hierher fuhr. Sehr charismatisch. Dieser Blick, so geheimnisvoll! Und auch sonst äußerst nett anzusehen. Ein Bild von einem Mann. Ihr wisst, wovon ich rede."

"Da würden Euch wohl die wenigsten Frauen widersprechen", nickte der blonde Musketiers sachlich. "Ich vermute jedoch, dass die meisten Damen das gleiche über euren Gemahl sagen würden." Constanze folgte der Unterhaltung der beiden Frauen mit wachsendem Unverständnis. Natürlich kannte auch sie das Getuschel um die beiden Musketiere, das dank ihres Mannes vor ihrer eigenen Haustür nicht halt machte. Aber bisher hatte sie nicht erlebt, dass Aramis sich in irgendeiner Weise über die Attraktivität ihres Kameraden geäußert hätte.

"Ihr versteht mich also! Natürlich tut ihr das. Auf dem Weg hierher sagte ich deshalb zu meiner lieben Freundin, dass ich es aufregend fände, ihn näher kennen zu lernen. Es wäre eine willkommene Abwechslung zu den einfach gestrickten Stallburschen und Küchenjungen. " Die Gräfin senkte für einen Moment schamhaft die Lider, wirkte dabei jedoch so unglaubwürdig, dass die gerade aufflammende Wut in Aramis einer milden Belustigung wich. Die Freundin der bayerischen Dame wiederum war sichtlich darum bemüht, nicht Teil der Unterhaltung zu werden, und plauderte mit einer der älteren Frauen über den Schneider ihres Kleides. Die Gräfin fuhr indessen fort: "Mir war jedoch nicht bewusst, dass er womöglich schon anderweitig gebunden sein könnte, bis die Baronin mich über besagte Gerüchte informierte. Ihr könnt Euch sicherlich denken, dass ich Euch keinesfalls verärgern möchte!" Sie deutete auf das Rapier, dessen kunstvoll verziertes Gefäß sich jetzt auf fast gleicher Höhe mit ihrem Gesicht befand.

"Macht Euch deswegen nur keine Sorgen. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen häufiger zum Gift als zu Waffen greifen." Aramis äußerte diesen Gedanken so nebensächlich und mit so viel Leichtigkeit in der Stimme, dass die Gräfin von Rosenbaum an einen bissigen Scherz glaubte. Constanze hingegen, die Aramis während der gesamten Unterhaltung nicht aus den Augen gelassen hatte, konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihr Blick an Kälte gewonnen hatte.

"Ihr würdet Euch mir also nicht in den Weg stellen?"

"Aber nein. Monsieur Athos ist mir keine Rechenschaft schuldig. Er ist mein Vorgesetzter und ich werde mich hüten, mich in seine privaten Beziehungen einzumischen. Wenn Ihr mir aber die Anmerkung erlaubt: Euer Gatte wird vermutlich wenig begeistert sein." Die junge Adelige verdrehte die strahlend schönen Augen. Sie machte keinen Hehl daraus, dass ihr Gatte und seine Meinung ihr vollkommen egal waren. Überhaupt musste ihr die Meinung anderer Menschen recht wenig bedeuten, wenn sie derartige Gespräche vor einer Gruppe klatschfreudiger Hofdamen führte. Zweifelsohne hatten einige von ihnen ihre Unterhaltung mit angehört und warteten nur darauf, neue Gerüchte zu streuen.

Die Gräfin ihrerseits wähnte sich nach Aramis' Beteuerungen in Sicherheit und wendete sich wieder ihrer Freundin zu.

Es war bereits spät am Nachmittag, als Aramis den Innenhof betrat und das metallische Scheppern kollidierender Klingen sie begrüßte. Durch ein geöffnetes Fenster in der Halle zu ihrer rechten drangen laute Rufe der Begeisterung, vermengt mit dumpfem Poltern und Stöhnen. Gerade wollte sie die Stufen zum Haupthaus empor steigen, als jemand ihren Namen rief. Es war D'Artagnan, der ihr aus dem Halbdunkel hinter der Fensteröffnung zuwinkte und mit überschwänglichen Gesten signalisierte, dass sie zu ihm kommen solle. Widerwillig machte sie kehrt. Beim Betreten der Halle schlug Aramis der dumpfe Geruch von schwitzenden Leibern und frisch gefettetem Leder entgegen. "Grundgütiger!", fluchte sie mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. D'Artagnan quittierte es mit einem breiten Grinsen, bevor er sich wieder dem Schauspiel zuwendete, dass alle Anwesenden so sehr in Aufruhr versetzte. In der Mitte des großen Raumes drückte Porthos gerade unter lautstarkem Jubel einen anderen Musketier mit all seiner Körperfülle auf den Boden. Beide waren nur mit dem nötigsten bekleidet. Wer der Kontrahent des Kolosses war, konnte Aramis auf den ersten Blick nicht erkennen, wohl aber, dass der Kampf denkbar ungleich war. Während Porthos kaum schwitze, glänzte der unter ihm liegende Körper wie frisch gebadet. Schweres Schnaufen entwich ihm. "Keine große Überraschung", kommentierte D'Artagnan das Ergebnis des Kampfes. Er selbst hatte sich bereits der meisten Kleider entledigt und tänzelte aufgeregt von einem Bein auf das andere. "Wie steht es mit dir, Aramis? Lust auf einen kleinen Ringkampf?"

"Du hättest ja doch keine Chance", antwortete sie lachend. Dann sah sie sich genauer um und ihr Gesicht wurde ernster. Es hatten sich ungewöhnlich viele Musketiere in der Halle versammelt. "Was macht ihr alle hier?"

"Wir schmusen ein wenig, wenn's recht ist!" Porthos reichte seinem völlig erschöpften Gegner die Hand. Der konnte seine Beine nur mit Mühe dazu bringen, ihn zu tragen. Um sie herum herrschte Gelächter. Doch Aramis kannte ihn zu gut, um nicht einen Anflug von Wut in seiner Stimme zu entdecken.

" Wo steckt Athos?" Ein missmutiges Raunen erhob sich und Aramis verstand sofort, dass es einer dieser Tage war, an denen ihr Freund seinen Rang innerhalb der Kompanie zum Ausdruck gebracht und sie anscheinend großzügig zurechtgewiesen hatte.

"Nicht hier. Tut uns Leid. Hätte dir aber bestimmt gefallen, hm?" Der Hüne boxte ihr freundschaftlich in die Schulter. Er war frustriert und hoffte wenigstens auf einen verbalen Schlagabtausch, um sich Luft zu machen. Aber er wurde enttäuscht.

"Als ob ich euch nicht schon ein Dutzend Mal ringen gesehen hätte," erwiderte Aramis nüchtern. Sie machte eine kurze, mit Bedacht gesetzte Pause und fuhr schließlich fort: "Wo steckt er denn nun?"

"Im Vorzimmer. Hat uns alle rausgeworfen, weil er über irgendetwas nachdenken wollte. Ich war kurz davor, mein Würfelspiel zu gewinnen. Nicht wahr, Joel?" Er grinste den Musketier an, der sich immer noch schwer atmend von seiner Niederlage erholte.

"Verstehe. Aber du kennst ihn. Ich bin mir sicher, dass es dafür einen guten Grund gibt. Nimm es ihm nicht übel, ja?" Aramis klopfte dem Koloss aufmunternd auf die Schulter und hastete zurück auf den Hof.

"Wie könnte ich?" hörte sie ihn noch durch das Fenster rufen.
 

Ihr Klopfen wurde nicht sofort beantwortet. Mit jedem Atemzug, den sie vor der Tür stehend nahm, wuchs die Anspannung in ihrer Magengegend. Seit Stunden hatte sie darauf gewartet, ihn wieder zu sehen. Hatte sie diesem Moment entgegengefiebert. Und jetzt war es plötzlich so anders, als sie es erwartet hatte. Hinter dieser Tür würde sie mit ihm allein sein. Das war mehr als sie erhofft hatte. Sie würden zum ersten Mal seit letzter Nacht offen mit einander reden können. Aber diese Ungestörtheit war riskant. Sie durften sich nicht zu sicher fühlen. Sich nicht zu nahe kommen. Nicht auszudenken, wenn jemand sie überraschen würde. Bevor sie sich jedoch an diesem Gedanken festbeißen konnte, erlöste sie seine Stimme. Zögerlich öffnete sie die Tür. Sie fand Athos vor einem Haufen loser Blätter sitzend, mit der linken Hand eine oder mehrere Textstellen markierend und mit der rechten Hand Notizen verfassend. Für einen Moment beobachtete Aramis ihn schweigend. Seine Miene war finster, die federführende Hand wirkte angespannt. Jemand hatte ihm ein Glas, eine Flasche Wein und etwas zu essen bereitgestellt, aber nichts davon hatte er angerührt. Und er hatte noch immer nicht aufgeblick, um zu sehen, wer eingetreten war.

"Ich habe gehört, du hättest schlechte Laune?" sagte sie in die Stille und endlich sah er von seinen Papieren auf. Ein verhaltenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

"Jetzt nicht mehr."

Aramis' Anspannung fiel mit einem Schlag von ihr ab. Sie setzte sich neben ihn auf einen Stuhl, etwas näher nur, als sie es am Vortag getan hätte. Sie streckte die Beine aus, überkreuzte sie locker und stützte sich mit den Händen auf den Rand der Sitzfläche. Ihre Augen funkelten schelmisch. Alles an ihr wirkte plötzlich ungewohnt unbeschwert, ja fast schon mädchenhaft, und der Anblick machte ihn schier verrückt. Wie schaffte diese Frau es auf so selbstverständliche Weise, Disziplin, Verstand, Unschuld und Verführung in einer Person zu vereinen? Seine trüben Gedanken waren für den Moment vergessen. Stattdessen wollte er sie augenblicklich küssen. Nur ganz sachte. Ganz kurz. So, dass niemand etwas davon mitbekommen würde. Um sich selbst zu bremsen bemerkte er: "Du hast deinen Mantel heute morgen bei mir vergessen."

"Na sowas" lachte Aramis leise. Wie erwartet war sie nicht überrascht. "Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ihn heute Abend abhole?"

"Nicht im Geringsten." Seine Stimme klang ungewöhnlich sanft, selbst in ihren Ohren, und verursachte ihr ein angenehmes Kribbeln in der Brust. Für einen Moment saßen sie schweigend da und lächelten einander wissend an. Aramis konnte sich kaum satt sehen an den unzähligen Lachfältchen um seine Augen. Dennoch fand sie als Erste ihre Sprache wieder. "Was wolltest du heute morgen beim bayerischen Gesandten?"

"Wie...?" Athos zuckte zusammen. "Woher weißt du davon?"

"Lass es mich so sagen: du hast bei der Gräfin von Rosenbaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber sie hat in den höchsten Tönen von dir geschwärmt und wäre auch nicht abgeneigt, das Bett mit dir zu teilen. Sie war da recht eindeutig."

"Gott bewahre..."

"Ich kann es ihr nicht verübeln. Aber warte ab. Es wird noch besser. Sie hat um meine Erlaubnis gebeten, da jemand sie über gewisse Gerüchte informiert hat und sie meinen Zorn fürchtete."

"Himmel, sind die denn alle verrückt geworden? Was hast du ihr geantwortet?"

"Dass es nicht an mir ist, das zu entscheiden und ich mich auf keinen Fall in dein Liebesleben einmischen werde, natürlich."

"Zu spät!" antwortete er mit einem Grinsen. Der Wunsch, sie zu küssen, wurde immer größer.

"Aber, und das hat mich stutzig gemacht, sie bezeichnet dich als eine willkommene Abwechslung. Anscheinend hält sie sich zur Zeit überwiegend an das Haus- und Hofgesinde."

"Nicht unüblich, wenngleich ich so etwas eher von Männern höre. Bedienstete können sich schlecht entziehen und halten für gewöhnlich den Mund. Das deckt sich ungefähr mit dem, was der Gesandte selbst mir ungefragt aufgetischt hat. Anscheinend hat mindestens einer der Männer in seinem Haushalt schon einmal die volle Aufmerksamkeit der Gräfin genossen."

"Und das hat er einfach ausgeplaudert?"

"Ohne mit der Wimper zu zucken."

"Den Eheleuten fehlt es also augenscheinlich an Schamgefühl."

"Zu meinem Bedauern, ja!" Die respektlosen Worte des Grafen hallten noch in Athos' Ohren. Schon vor Stunden hatte er beschlossen, nicht mit ihr darüber zu sprechen. Doch jetzt, da sie vor ihm saß und sich über den respekt-, aber harmlosen Vorstoß der Gräfin amüsierte, traf ihn die unterschwellige Drohung des Grafen umso mehr.

"Du hast mir aber immer noch nicht erzählt, warum du überhaupt dort warst." Aramis rückte ihren Stuhl noch ein Stück näher an ihn heran und lehnte ihr Knie wie zufällig an seines.

"Monsieur Martel war heute morgen hier und hat mir erzählt, was seine Tochter ihm ihrerseits vor einiger Zeit erzählt hat. Wie es scheint, war einer von Monsieurs Kunden ihr unangenehm aufgefallen. Oder, um es mit den Worten des alten Mannes zu sagen: er hat ihr Angst gemacht. Und jetzt rate, wie der Name dieses Kunden lautet!" Aramis nickte stumm.

"An diesem Punkt noch von Zufällen zu sprechen erscheint mir naiv."

"So sehe ich das auch. Wie zu erwarten leugnet von Rosenbaum jedoch, das Mädchen je gesehen zu haben. Was er jedoch nicht leugnet ist, dass er eine Frau notfalls auch zu ihrem Glück zwingen würde, wenn ihm der Sinn danach steht." Augenblicklich verdunkelte sich Aramis' Blick.

"Du hast ihn aber nicht direkt mit Deinem Verdacht konfrontiert?"

"Natürlich nicht. Ich habe ihm ein Märchen von einem Mädchen erzählt, dass scheinbar mit den Juwelen ihres Herrn und einem Geliebten entflohen ist."

"Wie romantisch."

"Spotte nicht, Weib!" Er gab ihrem Knie einen kurzen, ermahnenden Schubs. "Zu meinem Bedauern hat er keinerlei Reaktion gezeigt."

"Und der dicke Tuchhändler? "

"D'Artagnan und Porthos haben Zweifel, dass der Tuchhändler irgendetwas damit zu tun hat. Er wird anscheinend langsam aber sicher von irgendetwas dahingerafft. Sie halten ihn sogar für zu schwach, um irgendjemanden umzubringen, der größer ist als ein Schoßhund. Wie ich es auch drehe und wende, ich lande immer wieder bei dem verfluchten Bayern." Athos' strich seine Papiere in zwei Stapeln zusammen und legte sie vor Aramis zurecht.

"Ich hätte nicht erwartet, dass dich das stört. Immerhin scheinst du ihn nicht sonderlich leiden zu können."

"Oh doch, unbedingt. Wie der Teufel das Weihwasser." Er schnaubte wütend. "Was mich daran stört ist, dass er zur Zeit des ersten Mordes vermutlich in einer Kutsche irgendwo zwischen Straßburg und Nancy durch die Gegend geschaukelt wurde. Offiziell ist er erst Wochen später in Paris eingetroffen." Er blätterte in dem rechten Stapel und deutete schließlich auf eine Notiz am unteren Rand eines Papiers. Aramis entging nicht, dass seine Handschrift kantiger war als gewöhnlich. Kleine Tintenspritzer zeugten von dem Druck, den er auf die Feder ausgeübt hatte, an manchen Stellen war das Papier dünner, nachdem er einzelne Wörter ausgekratzt hatte. "Er macht auf mich auch nicht den Eindruck, als würde er sich freiwillig die Hände schmutzig machen. Warum sollte er diese Mädchen umbringen, wo er sich doch im Recht wähnt. Er könnte sie genauso gut einfach laufen lassen, wenn er mit ihnen fertig ist." Müde schloss Athos die Augen und ließ sich tiefer in den Stuhl sinken. "Und selbst wenn wir seine Schuld beweisen könnten, was würde es bringen? Ein Graf von Sowieso bringt ein paar einfache Mädchen um. Wenn er es geschickt anstellt, passiert ihm in der Folge gar nichts." Er hörte das leise Rascheln ihrer Kleidung, bevor sie eine Hand in seinen Nacken legte und seine Schläfe küsste.

"Du solltest eine Pause machen", flüsterte sie. "Wann hast du zuletzt etwas gegessen?"

"Heute morgen, denke ich. Aber ich habe keinen Hunger. Betrinken könnte ich mich allerdings."

"Ich fürchte, dass kann ich nicht zulassen. Was hältst du davon: Dort unten wartet eine ganze Kompanie darauf, dich ihre Meinung zu ihrem Rausschmiss wissen zu lassen. Warum gesellst du dich nicht zu ihnen und lässt deine Wut über den Gesandten an ihnen aus. Unter fairen Bedingungen. Ich glaube, Porthos würde sich ganz besonders freuen. Er schien mir vorhin mit der vorhandenen Konkurrenz ein wenig unterfordert zu sein." Athos quittierte den Vorschlag mit einem Grinsen. Mit gesenkter Stimme erwiderte er:

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendjemandem heute meinen Rücken zeigen kann." Mit Belustigung beobachtete Athos, wie das Blut in die Wangen der jungen Frau schoss. Ihre Augen waren schreckgeweitet, die Hand in seinem Nacken zuckte plötzlich zurück.

"Entschuldige. Ich wollte dich nicht... " begann sie zu flüstern, aber er fiel ihr sanft ins Wort.

"Ich kann mir kein schöneres Kompliment vorstellen." Beiden war bewusst, dass sie sich in diesem Moment endgültig zu nah waren und jeder, der sie jetzt überrascht hätte, unweigerlich eins und eins zusammenzählen musste. Trotzdem machte keiner von ihnen Anstalten, den Abstand zu vergrößern.

"Ich muss dem Kapitän Bericht erstatten", durchbrach Aramis schließlich die Stille. "Wenn du möchtest, gehen wir danach zusammen etwas essen. Vielleicht hilft meine Gesellschaft deinem Appetit ja doch noch etwas auf die Sprünge." Sie ließ jede Vorsicht fahren und küsste ihn.

"Oh, da bin ich mir sicher", antwortete er mit einem Zwinkern.

Als sie das Zimmer eine gute halbe Stunde später erneut betrat, war es verlassen. Die Papiere waren vom Tisch verschwunden, nur die Verpflegung stand nach wie vor unangerührt da. Aramis blickte prüfen aus dem Fenster, spähte anschließend in den Gang zu ihrer rechten und erblickte dann de Trevilles livrierten Diener am Fuß der Treppe.

"Monsieur Julien, einen Moment!" Sie übersprang jede zweite Stufe und stand neben ihm, bevor er recht verstand, dass tatsächlich er gemeint war.

"Mademoiselle Aramis, was kann ich für euch tun?"

"Habt Ihr Athos gesehen?"

"Natürlich. Er hat das Gebäude vor kurzem verlassen."

"War er in Eile?"

"Ich denke nicht. Auf mich machte er eher einen ungewöhnlich heiteren Eindruck. Aber darüber würde ich mir niemals ein Urteil erlauben."

"Selbstverständlich nicht!" Aramis klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter.
 

Der Hof war inzwischen menschenleer. Aramis kam es jedoch so vor, als wäre die Aufregung bei den Ringenden noch größer geworden. Ein Verdacht formte sich in ihrem Verstand und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Luft in der Halle war noch dicker als zuvor. Wieder fuchtelte D'Artagnan überschwänglich mit den Armen, doch dieses Mal hatte sie keine Augen für ihn. Intensiv musterte sie den feucht schimmernden Körper, der in der Mitte der Halle stand und den massigen Leib seines Gegners nicht zu verdecken vermochte. Stück für Stück suchte sie seinen Rücken nach verdächtigen Streifen ab, fand aber nur eine leuchtend rote Abschürfung, die er sich vermutlich auf dem Hallenboden zugezogen hatte. Erleichtert atmete sie auf.

"He, Aramis! Du kommst gerade rechtzeitig. Die beiden haben noch nicht angefangen. Setz dich!" Der junge Mann deutete neben sich auf die Bank. Auf seinem Schoß lag ein Stapel Papiere, sorgfältig mit einer Schnur zusammengebunden.

"Genießt du die Aussicht?" D'Artagnan senkte die Stimme. Er zog sie gerne auf, wollte aber vermeiden, dass andere Kameraden sich dadurch animiert fühlten, es ihm gleich zu tun.

"Wie ich schon sagte: nichts, was ich nicht schon gesehen habe", gab sie nüchtern zurück. Tatsächlich genoss sie es sehr. Nicht nur das Schauspiel, wie sich die Muskulatur dieses Mannes unter seiner Haut straffte und bewegte, sondern auch die Tatsache, dass er ihrem Rat gefolgt war. "Ist es sein erster Kampf?"

"Aber nein. Er hat bereits Basile und Adrien zu Boden gestreckt. Die armen Kerle wurden völlig überrumpelt. Aber an Porthos beißt er sich die Zähne aus, da bin ich mir sicher. Und anschließend bin ich dran. Das wird ein Fest!" Aramis musste angesichts der kindlichen Freude des jungen Mannes lachen. "Schau, es geht los."

Die beiden ungleichen Männer umkreisten einander zunächst respektvoll, um ihre Optionen abzuwägen. Sie kannten die Stärken des anderen so gut wie die Schwächen und beide hofften darauf, dass der andere zuerst einen Fehler beging. Überraschend wagte Porthos einen flinken Satz nach vorne. Athos kombinierte sekundenschnell, wich unter die massigen Arme hindurch aus und stellte ihm ein Bein. Mit einem lauten Fluch schlug Porthos auf dem Boden auf, noch ehe der Wettkampf richtig begonnen hatte. Erstauntes Schweigen lag in der Luft. Niemand hatte dieses Ergebnis erwartet, am wenigsten die beiden Kontrahenten selbst.

"Das ging mir ein bisschen zu schnell", lachte Athos, als er seinem Freund die Hand entgegen streckte, um ihm auf zu helfen. "Noch einmal von vorne, bitte."

Die zweite Begegnung dauerte um einiges länger. Porthos hatte aus seinem Fehler gelernt und bewegte sich dieses Mal vorsichtiger. Immer wieder entwischten und entwanden sie einander. Als beide Männer jedoch bereits schwerer zu atmen begannen und sich keine Entscheidung abzeichnen wollte, wiederholte Porthos sein zuletzt fehlgeschlagenes Manöver. Statt aber noch einmal über das Bein seines Freundes zu stolpern, packte er diesen am Hosenbund, warf ihn schwungvoll auf die Bretter und ließ sich kraftlos neben ihn fallen.

"Ich denke, wir sollten uns auf ein Unentschieden einigen" keuchte der Koloss lachend. Er hatte seinen Unmut über den nachmittäglichen Rauswurf längst vergessen.

"Einverstanden" antwortete der andere zwischen zwei tiefen Atemzügen. Leicht und federnd, als hätte er sich kaum verausgabt, kam Athos wieder auf die Beine und lief auf die Bank zu, um seinen nächsten Herausforderer abzuholen. Erst jetzt bemerkte er die blonde Erscheinung neben dem jungen Mann und sein Herz machte einen Sprung.

"Aramis, schon zurück vom Kapitän?" fragte er betont neutral. Er neigte sich zu ihr herunter, um nach einem Tuch zu greifen. Schweißperlen rannen seinen Körper herab, auf Händen und Unterarmen traten deutlich sichtbar die Venen hervor. Sein Körper strahlte vor Hitze. All das nahm Aramis wohlwollend zur Kenntnis, prägte sich jedes Detail genau ein, allerdings ganz ohne dabei das kleinste Anzeichen von Nervosität zu offenbaren. Beide spürten die lauernden Blicke ihrer Kameraden, allen voran ihrer zwei Freunde. Offenbar erwarteten sie irgendeine Reaktion von ihr und Aramis war gerne bereit, ihnen eine zu liefern.

Ihr Blick haftete auf dem breiten Brustkorb, der sich im schnellen Rhythmus hob und senkte. "Schon ausser Puste?" flüsterte sie gerade laut genug, dass D'Artagnan und einige der Männer in unmittelbarer Nähe sie hören konnten. Mit einem breiten Grinsen zwinkerte er ihr zu, bevor er sich wieder zu voller Größe aufrichtete.

"D'Artagnan mein Freund, bist du bereit?" Der Angesprochene sah ihn mit großen Augen an. Im ersten Moment hatte er Aramis' Frage als einfache Spöttelei hingenommen, doch nach Athos' vollkommen untypischer Reaktion hörte er den Satz in Gedanken noch einmal und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Stimme einen kaum wahrnehmbaren sinnlichen Unterton gehabt hatte. Oder spielte ihm sein Verstand nach den Ereignissen der vergangenen Tage einen Streich? Mechanisch drückte er Aramis das Päckchen in die Hand und folgte dem älteren Musketier. Er war keineswegs bereit für das, was eine Minute später auf ihn zukam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einer pulsierenden Schulter schlich er zurück auf die Bank, die er gerade erst verlassen hatte.

"He, Aramis, wie steht es mit dir? Lust auf einen kleinen Ringkampf?" Porthos' Organ dröhnte durch die gesamte Halle.

"Gegen dich? Du weißt doch, dass ich da chancenlos bin!"

"Nicht gegen mich. Gegen Athos natürlich. D'Artagnan und ich haben uns unsere Lektion schon abgeholt. Aber du fehlst noch." Mit Pfeifen, Gröhlen und Klatschen unterstützten die übrigen Musketiere Porthos' Vorstoß. Nur Athos stand schweigend an dem Fleck, an dem er D'Artagnan von den Füßen gerissen hatte, und hob entschuldigend die Schultern. Aramis schwieg ebenfalls. Sie musste nachdenken. Ihre Chancen gegen ihn standen denkbar schlecht. Außerdem würden dutzende Augenpaare sie dabei anstarren, wie sie einander unanständig nahe kamen. Eine falsche Berührung und sie hätten nie wieder einen Moment der Ruhe.

"Ich denke ich muss ablehnen" antwortete sie schließlich.

"Tut uns leid, das geht nicht." Porthos war fest entschlossen, sie nicht so einfach davon kommen zu lassen. Er und Charles hatten die halbe Nacht die Köpfe zusammengesteckt, ohne einen Erfolg versprechenden Plan zu Stande zu bringen. Vielleicht war genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um den beiden den entscheidenden Stoß zu geben. Stoß. Porthos kicherte. "Es wäre wirklich äußerst ungerecht, wenn du als einzige ohne Schmerzen hier raus gehst."

"Als ob ich für eure Schmerzen verantwortlich wäre. Aber nun gut, wenn du darauf bestehst..." Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, zog Aramis ihre Stiefel aus, legte Wams und Strümpfe sorgfältig gefaltet auf die Bank und griff nach dem Tuch neben sich. "Abtrocknen!" befahl sie Athos grinsend, als sie vor ihm stand. "Ich habe keine Lust, abzurutschen." Wie angeordnet rieb Athos seinen Körper ab und versuchte notdürftig, ein wenig Feuchtigkeit aus den Haaren zu drücken. In der Zwischenzeit krempelte sich seine Herausforderin betont entspannt die Ärmel hoch. Das Tuscheln hinter ihrem Rücken wurde stetig leiser, bis nur noch ungläubiges Schweigen blieb.

"Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du verrückt bist?" Im Gegensatz zu den anderen Anwesenden war Athos ihre innere Anspannung keineswegs entgangen. Warum musste sie sich auf Porthos' unreife Provokation einlassen? Sie hätte ihn ohne weiteres zurechtweisen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren.

"Heute noch nicht, nein." Angespannt oder nicht, ihr Lächeln war entwaffnend. Mit einem Fingerzeig bedeutete sie ihm, noch einen Moment Geduld zu haben. "He, Porthos! Du spielst doch so gerne. Ich mache dir einen Vorschlag: wenn Athos mich zu Boden wirft, lade ich ihn und dich zum Essen ein. Wenn ich gewinne, lädst du mich ein. Abgemacht?"

Porthos lachte ein lautes, donnerndes Lachen. "Ich freue mich schon auf mein kostenloses Abendessen!"

"Wir werden sehen!" Mit flinken Fingern flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, hüpfte ein paar mal auf und ab und begab sich in die Ausgangsposition. Für gewöhnlich hatte Athos ihr bei diesen Übungen zumindest einen Holzdolch zugestanden, heute blieb ihr nur das Überraschungsmoment. Wie zu erwarten hielten beide sich nicht lange mit der Beobachtung des Gegenübers auf, die Rollen waren klar verteilt. Drei Mal entwischte Aramis seinem Griff, beim vierten Angriff spürte sie schlagartig seine Schulter in der Magengrube. Er hob sie an und ließ sie, nur für einen Atemzug, wie einen Sack über seine Schulter hängen, um sie anschließend zu Boden zu werfen. Doch dazu kam es nicht. Ein Atemzug war Zeit genug für Aramis. Sie umklammerte seinen Brustkorb, riss mit einem gewaltigen Schwung die Beine senkrecht nach oben und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Athos taumelte nach hinten, löste seinen Griff um ihre Hüfte und ermöglichte ihr so den blitzschnellen Absprung. Noch bevor er wieder festen Stand erlangen konnte, verpasste sie ihm einen Stoß vor die Brust. Athos lag am Boden. Scheinbar in weiter Ferne verlor eine Traube von Männern angesichts des Schauspiels lautstark jede Selbstbeherrschung. Ihre Sympathie galt eindeutig dem dunkelhaarigen Musketier und sein unerwarteter Sturz provozierte eine Vielzahl von Flüchen. Am lautesten fluchte der Hüne, der sich in Gedanken von seinem Festmahl verabschieden musste. Doch es war noch nicht vorbei. Plötzlich saß sie auf seinem Brustkorb und drückte die Knie in seine Armbeugen. Von einem Moment auf den anderen war er nahezu bewegungsunfähig. Fassungslos starrte Athos die Frau über sich an.

"Was in drei Teufels Namen war das?"

"Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Aber es hat funktioniert." Aramis entfuhr ein kurzes, helles Lachen, dann sah sie ihn prüfend an. "Du hast dich doch nicht absichtlich fallen lassen?"

"Nein, glaube mir. Diesen Aufprall hätte ich mir gerne erspart." Athos zögerte einen Augenblick, bevor er mit hörbarem Bedauern hinzufügte: "Ich denke, du solltest jetzt aufstehen. Bevor ich mich zu wohl fühle." Sie hatte ihre Hände auf seine Brust gelegt und sobald sie sich etwas vorbeugte, konnte er durch den Ausschnitt ihres Hemds einen Blick auf die Stoffstreifen erhaschen, die über Jahre hinweg eine Illusion von Männlichkeit erzeugt hatten. Ohne besondere Eile, und immer noch von sich selbst überrascht, erhob sich die schmale Blondine. Sofort rieb sich Athos den angeschlagenen Hinterkopf. "Das wird eine Beule" stellte er nüchtern fest.

"Ich mache es wieder gut" versprach Aramis schmunzelnd. Mit einer nach aussen hin freundschaftlich wirkenden Geste legte sie eine Hand auf seine Schulter und gemeinsam schlenderten sie zum Hallenrand.

Während die Dunkelheit sich bereits über die Stadt legte, kehrten die vier Freunde in einer Wirtsstube ein. Der niedrige Raum war verraucht, die Luft erfüllt vom Geruch menschlicher Ausdünstungen und verschütteten Alkohols. Die Musketiere bestellten Wein, Suppe und Brot sowie eine handvoll Kerzen und setzten sich in eine abgelegene Ecke des Raumes, in der die Deckenbalken noch ein Stück niedriger hingen. Am Nachbartisch waren drei Männer in ein Würfelspiel vertieft. Sie nahmen kaum Notiz von den Neuankömmling. Lediglich als Porthos sich an ihnen vorbei zur Wand zwängte und ihr Tisch in Bewegung geriet, regte sich unter ihnen kurz Unmut.

Mit schnellen Fingern löste D'Artagnan die Schnur, die den Stapel loser Blätter zusammenhielt. Seit Stunden hatte er darauf gelauert, endlich den Inhalt von Athos' Notizen zu erfahren. Seinem unausstehlichen Verhalten nach zu urteilen musste ihr Inhalt brisant sein. Jetzt verschlang er jede einzelne Zeile mit den Augen, doch mit jeder weiteren schwand seine Begeisterung. "Der Graf von Rosenbaum also?" Ernüchtert ließ er schließlich den letzten Zettel sinken.

"Es scheint so." Der Älteste der vier gab sich den Anschein von Gleichgültigkeit.

"Schade. Ich fand ihn nach unserem Gespräch eigentlich ganz nett."

"Oh, bitte!" Athos verdrehte die Augen. "Hanns-Friedrich von Rosenbaum ist ein Blender. Ein arroganter, selbstherrlicher, lasterhafter Emporkömmling mit den Manieren eines Bauern und seines Amtes mehr als unwürdig. Das einzige, was ihn interessiert, sind die Jagd auf Röcke und die Vögelei." Mit mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, riss er ein Stück Brot vom Laib.

"Schon gut, schon gut, wir haben es ja verstanden", fuhr ihm Porthos schmatzend dazwischen. "Angenommen, du hast recht mit deinem Verdacht - ich sage nicht, dass du ihm gegenüber voreingenommen bist, aber leiden kannst du ihn wirklich nicht - also selbst wenn, wie willst du ihm etwas nachweisen?"

"Durch Beobachtung. Wir ertappen ihn auf frischer Tat."

"Beobachtung? Wie bitte? Willst du dich etwa nächtelang vor seinem Haus herumdrücken und ihm hinterher schleichen?" Porthos' Stimme ließ erkennen, dass er an der Ernsthaftigkeit seines Freundes zweifelte.

"Du hast es erfasst. Die Abstände zwischen den Morden werden immer kürzer, es sollte also nicht allzu lange dauern."

"Mag ja sein. Aber wir haben auch noch andere Aufgaben, dass muss ich gerade dir nicht erklären. Und wäre es nicht sowieso einfacher, einen Köder auszulegen? Immerhin hat er eine ganz eindeutige Vorliebe. Du weißt schon: blond, blass, ein wenig mager. Da sollte sich doch eine nette junge Dame finden lassen, die das Abenteuer liebt und dem Herrn Botschafter ein wenig schöne Augen machen kann. Aramis?" Der Koloss grinste den blonden Musketier herausfordernd an und wackelte mit den Augenbrauen. "Morgen Abend schon etwas vor?" Aramis öffnete den Mund zu einer Erwiderung, bekam jedoch keine Gelegenheit, ein einziges Wort herauszubringen.

"Hier wird niemand als Köder genutzt" erwiderte stattdessen Athos, heftiger als erwartet. Er spürte, wie sich der Druck ihres Knies an seinem wieder verringerte, nachdem er sich soeben noch mit jedem Wort aus Porthos' Mund verstärkt hatte. Hatte sie wirklich geglaubt, er könne sich für Porthos' unsinnigen Plan aussprechen?

"Warum nicht? Was soll ihr schon passieren? So wie sie dich vorhin zu Boden geschickt hat?" Das Grinsen in Porthos' Gesicht wurde noch etwas breiter. Die Gelegenheit, seinen stoischen Freund zur Weißglut zu treiben, war selten so günstig wie scheinbar an diesem Abend, und er war gewillt, sie zu ergreifen.

"Wir gehen kein unnötiges Risiko ein. Er hat mehreren Frauen Genick und Schädel gebrochen und ich kann mir nicht vorstellen, dass er für Aramis eine Ausnahme machen würde, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt." Athos überlegte einen Augenblick, bevor er leiser hinzufügte: "Woher auch immer er die Kraft für solche Verletzungen nimmt."

"Wenn wir ehrlich sind, hatte ich ohnehin nur Glück, weil Athos aus lauter Rücksicht einen Fehler gemacht hat. Hättest du meine Beine nicht losgelassen..." Aramis war sich darüber im Klaren, dass er ihr eigentlich nur einen sanfteren Aufprall hatte ermöglichen wollen, indem er eine Hand in ihren Rücken gelegt hatte. Um so überraschter war sie, dass sein Fehler keinem der umstehenden Musketiere aufgefallen zu sein schien.

"So so! Man könnte also sagen, dass Athos mir ein Essen schuldet", polterte Porthos lachend. "Ich bin wirklich enttäuscht."

"Und ich erst", schnaubte D'Artagnan. "Mit mir hattest du jedenfalls keine Gnade!" Noch immer schmerzte seine Schulter bei jeder Berührung und er konnte nur erahnen, welche Farbe sie inzwischen angenommen haben musste.

"Es tut mir leid, D'Artagnan, aber du hast dich im Gegensatz zu Aramis einfach ungeschickt angestellt. Du hattest keine Milde verdient. Ausserdem hast du bei einem Aufprall wesentlich mehr Masse entgegenzusetzen. "

"Und ausserdem, lieber D'artagnan, hast du nicht so große blaue Augen!" Der Koloss klapperte mit den Lidern. Doch diesmal blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Statt dessen entrang sich ihm ein Fluch, so unerhört, dass die Würfelspieler am Nebentisch ihn entrüstet anstarrten.

" Verzeihung, die Herren!" Porthos riskierte einen flüchtigen Blick unter den Tisch. Seine Schienbeine brannten und es war ausgeschlossen, dass einer allein dafür verantwortlich war. Wie er es allerdings erwartet hatte, sah er nichts ungewöhnliches. Schmollend tauchte er wieder auf. "Das war unnötig!" Seine beiden Kameraden hoben gleichmütig die Schultern. Hätte er jetzt noch einmal unter den Tisch gesehen, wären ihm die inzwischen wieder eng aneinander geschmiegten Knie seiner zwei Freunde aufgefallen. Porthos räusperte sich. "Also morgen Abend dann. Von mir aus. Lasst uns doch aber erst einmal über heute reden. Die Nacht ist noch jung, ich bin satt und wach. Wer kommt mit mir ins 'Paradies', den zauberhaften Damen einen Besuch abstatten? Na? D'Artagnan?" Der jüngste der vier errötete sichtlich, während er eine Entschuldigung hervorpresste. "Tut mir leid, Porthos, ich muss nach Hause. Ich habe eine reizende aber strenge Frau, die auf mich wartet und mich bei Rosinante schlafen lässt, wenn ich nach dem gestrigen Abend schon wieder in zwielichtigen Häusern die Zeit totschlage." Porthos nickte wissend. Constanze konnte wirklich resolut sein. Er riss ein großes Stück Brot ab und tunkte es in die Suppe.

"Athos?"

"Ich muss auch passen. Charles wartet vermutlich schon auf mich und ich möchte vermeiden, dass er meine Weinvorräte ohne mich aufbraucht. Außerdem habe ich heute schon einmal unter einer Frau gelegen, das hat mir ehrlich gesagt gereicht. Ich habe jetzt noch Schmerzen. "

"Vielleicht hättest du ja dieses Mal die Chance, oben zu liegen", ließ sich Aramis nüchtern zwischen zwei Löffeln Suppe vernehmen. Während D'Artagnan scharf die Luft einzog, verharrte Porthos' Kiefer in seiner mahlenden Bewegung. Beide starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an, sichtlich unschlüssig darüber, ob sie sich das soeben Gehörte nicht doch eingebildet hatten.

"Touché!" Athos hob anerkennend die Augenbrauen, bevor er den Becher zum Mund führte und einen kräftigen Schluck Wein nahm. Plötzlich brach Porthos in schallendes Gelächter aus. Sein Körper bebte. Tränen rannen ihm über die fleischigen Wangen. Erst nach einer Weile ging das Lachen in bellendes Husten über.

"Aramis, du bist mir heute der liebste Kerl!", keuchte er schließlich. "Du wirst mich doch bestimmt begleiten? Dann kaufe ich dir so viel von diesem braunen Schokoladengesöff, wie du nur willst. " Er wischte sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht.

"Mein lieber Porthos, du weißt, wie gerne ich Madames Mädchen dabei zusehe, wie sie um euch Kerle herumwackeln, um euch neben eurem Verstand auch noch eure Münzen zu rauben, aber heute muss auch ich dich enttäuschen. Auf mich wartet in der Rue St. Denis ein Mantel, den ich spätestens morgen Abend brauche."

Eine Stunde später traten sie wieder auf die Straße, in die kühle und wolkenlose Nacht. Während D'Artagnan auf direktem Weg nach Hause marschierte, liefen die drei anderen zunächst gemeinsam durch das Quartier Latin. An der Rue de la Harpe verabschiedete sich auch Porthos von der kleinen Gruppe. Gut gelaunt pfiff er ein Liedchen, während er in die Dunkelheit eintauchte.

"Endlich allein", seufzte Athos erleichtert. Die letzten Stunden waren eine quälende Übung in Geduld und Selbstbeherrschung gewesen und mit beidem war er jetzt am Ende. Er ergriff Aramis' Hand. Reflexartig entzog sie sich und warf hastig einen prüfenden Blick in die umliegenden Gassen.

"Renée, ausser uns ist niemand hier" flüsterte er zärtlich.

"Entschuldige." Ein verlegenes Lächeln huschte über ihre Lippen. "Ich denke, ich bin immer noch ein wenig übervorsichtig, wenn ich ein Geheimnis zu hüten versuche." Ihre Hände berührten einander erneut.

"Sollen wir den Weg über den Pont Saint Michel nehmen?" Zu Athos' Verwunderung schüttelte sie den Kopf.

"Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber über den Pont Neuf gehen."

"Ein Umweg, aber von mir aus gerne."

"Hast du es etwa eilig?" Aramis lachte spöttisch.

"Eigentlich nicht. Auf mich wartet nur Charles, der jede meiner Bewegungen und Worte in die Waagschale legt."

"Charles ist eine verfluchte Kupplerin!" Sie konnte nicht mehr aufhören zu lachen. "Seit ich ihm begegnet bin, arbeitet er wie besessen daran, uns zusammenzubringen."

"Nunja", Athos zog sie näher zu sich, "auf gewisse Weise war er ja auch erfolgreich."

"Zugegeben. Aber nur, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass er und seine zwei Komplizen sich bis zum jüngsten Tage damit rühmen, uns zwei dämliche Esel vereint zu haben."

"Dämliche Esel trifft es ganz gut", schnaubte er belustigt, bevor er einen Kuss auf ihre Stirn legte. "Lass uns gehen. Ich höre die Nachtwache kommen." Zum zweiten Mal lösten sich ihre Hände von einander.

An der Kirche St. André und dem Augustinerkloster vorbei erreichten sie den Pont Neuf. Sie hatten die ersten drei Buchten passiert, als Aramis ihre Schritte verlangsamte. Ihr Blick folgte dem schwarzen Fluss, der träge unter ihnen dahingurgelte. "Kann ich dir etwas anvertrauen?" Athos nickte. Schweigend lehnte er sich neben ihr auf die Mauer in der vierten Bucht und wartete darauf, dass sie weitersprach. Neben ihnen ragte der reitende Heinrich IV als schwarzer Schatten in die Höhe. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich schließlich dazu durchringen konnte, zu sprechen. "Früher, als ich noch neu in der Stadt war, war ich oft hier. Genau hier, neben dem alten Heinrich. Mitten in der Nacht. Manchmal nur ein paar Minuten, manchmal eine Stunde oder mehr. Ich habe den Fluß beobachtet, den Mond oder die wenigen Leute, die hier vorbei kamen. Die meiste Zeit habe ich aber meinen Gedanken nachgehangen. Dunklen Gedanken. Viel zu oft habe ich mir damals gewünscht, dass dieses Schwarz", sie blickte auf das Wasser, "mich einfach verschlucken möge." Athos gefror das Blut in den Adern, als er den Sinn ihrer Worte verstand. "Vielleicht wäre ich bei St. Cloud ins Netz gegangen und ihr hättet mich im Chatelet zwischen all den anderen Toten wiedergefunden. Damals erschien mir der Gedanke, dass alles einfach vorbei sein könnte, auf erschreckende Weise beruhigend. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, auf diese Mauer zu steigen, musste ich an euch denken. Du warst anfangs der einzige in diesem verdammten dreckigen Loch von einer Stadt, der an mich geglaubt hat. Du hast Porthos von mir überzeugt. Ohne euch hätte ich Paris kein halbes Jahr überlebt. Und ich habe mich bisher nie richtig bedankt." Noch immer schwieg Athos. Ihm war nie klar gewesen, wie schwer die Trauer zu dieser Zeit tatsächlich auf ihr gelastet hatte. Plötzlich erinnerte er sich an die Abende, an denen sie allen Aufmunterungsversuchen Porthos' zum Trotz traurig ins Leere geblickt hatte. Wie oft mochte sie an diesen Abenden über ihren eigenen Tod fantasiert haben. Und jetzt erzählte sie mit einem Lächeln von ihren schlimmsten Sehnsüchten, als wären sie nicht einst ihre eigenen gewesen. Wortlos schlang er seine Arme um ihren schmalen Körper. Aramis spürte, dass die Umarmung nicht ihr galt, sondern dem tief traurigen sechzehnjährigen Mädchen, das nicht über seine Gefühle hatte sprechen dürfen.

"Armand, es geht mir gut." Sie strich ihm sanft über den Rücken. "Sehr gut sogar." Ihre Lippen streiften seine Wange. "Lass uns weitergehen. Ich wollte dich nicht beunruhigen."
 

Eine halbe Stunde später hatten sie sich in eine Ecke des Treppenabsatzes vor Athos' Wohnung gedrückt. Er hatte sie dort hinein schieben wollen, doch stattdessen hatte sie ihn wie selbstverständlich mit sich gezogen.

"Wir werden den Rest des Abends wohl keine Gelegenheit mehr dazu haben, also sollten wir vielleicht..." Weiter kam er nicht. Dafür waren Aramis' Lippen weich und der süßliche Geschmack des Weins haftete noch an ihnen. Sie packte sein Degengehänge und zog ihn noch näher zu sich. "Noch können wir uns davon schleichen", flüsterte sie scherzhaft. Ihre Finger begannen an den Knöpfen seines Wamses zu spielen, wohl wissend, dass sie keine Gelegenheit haben würde, sie zu lösen.

"Im Berry ist es zu dieser Zeit sehr schön", gab er im gleichen Tonfall zur Antwort. Seine Lippen waren nah genug an ihren um zu spüren, wie sie lächelte. Doch statt einer neuerlichen Erwiderung gab sie ihm einen letzten Kuss, bevor sie ihn von sich schob. "Er wird schon auf dich warten."

Zu ihrer beider Verwunderung jedoch war die Wohnung bei ihrem Eintritt verlassen. Athos entzündete einige Kerzen und sah sich um. Charles' Gepäck fehlte, seine geliehene Schlafstätte lag ordentlich zusammengelegt auf dem Küchentisch. Daneben standen eine Flasche Wein, von der Athos sofort wußte, dass es keine von seinen war, und ein kleiner Tontopf. Unter dem Töpfchen lag, ordentlich zusammengefaltet, wie es Charles' Art war, ein Brief:

"Armand,

leider konnte ich nicht länger auf dich warten. Ich habe heute Mittag einen Geschäftspartner aus Florenz getroffen. Ausgerechnet hier! Er hat mich eingeladen, in seiner Unterkunft zu wohnen, und da ich dir bisher kein besonders guter Gast war, habe ich dankend angenommen. Deinen Schlüssel habe ich wieder an seinen Platz gelegt. In dem Töpfchen befindet sich Salz aus Cervia, das ganz fantastisch schmeckt, und in der Flasche ein nicht minder köstlicher Wein, den ich heute erst entdeckt habe. Bitte betrachte beides als Entschädigung dafür, dass ich plötzlich und ohne Anmeldung vor deiner Tür gestanden habe und jetzt genauso plötzlich wieder verschwinde. Ich werde morgen versuchen, dich zu treffen.

Charles"

Schweigend reichte er das Papier an Aramis weiter, die sich, die Beine entspannt gekreuzt, neben ihm an den Tisch gelehnt und ihn mit Besorgnis beobachtet hatte. Er ließ ihr einen Moment Zeit, um die Worte zu überfliegen. Ihr breiter werdendes Lächeln ließ jedoch schnell erkennen, dass sie seine Gedanken teilte. Langsam und mit unverhohlener Freude zog er ihr den Brief aus den Händen. "Ich wäre dann jetzt bereit für meine Revanche!"
 

Während Aramis schließlich erschöpft aber zufrieden eingeschlafen war, lag Athos noch lange wach. Wieder und wieder strich er ihr durch das dichte Haar und dachte darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet sie hier bei ihm lag. Das Risiko, dass sie beide seit dem Vorabend eingingen, war enorm. Ihres allerdings war dabei um ein vielfaches höher. Ihre Unterhaltung auf dem Pont Neuf hatte ihm eine längst verdrängte Erinnerung aus seiner eigenen Anfangszeit in Paris ins Gedächtnis gerufen. Daran, wie eine Gestalt erst ein schreiendes Bündel und anschließend sich selbst in die Tiefe fallen ließ. Die Schreie des Neugeborenen waren sofort verstummt. Bis zum heutigen Tag hatte er nichts herzzerreißenderes gehört. Und es hatte ihn nachhaltig beeinflusst. Er hatte es nie wieder riskiert, sich zu einer unverheirateten Frau zu legen. Das heißt, sofern sie keine Hure war. Und jetzt sie. Was hatten sie sich dabei gedacht? Renée kannte das Risiko, daran bestand kein Zweifel. Dennoch war sie es bereitwillig mit ihm eingegangen. Keine der Frauen, die in seinem bisherigen Leben von Bedeutung gewesen waren, waren ihr in irgendeiner Form ähnlich gewesen. Seine Mutter und seine Schwester, selbst seine Großmutter, soweit er sich an sie erinnern konnte, waren zweifelsohne allesamt intelligente, kultivierte und selbstbewusste Frauen. Vor allem aber waren sie ruhig und zurückhaltend. Sie waren eine durch und durch angenehme Gesellschaft, wie man es von ihresgleichen erwartete. Sein Leben lang war er davon ausgegangen, dass er diese Linie eines Tages fortsetzen würde. Renée hingegen... Sie war laut, leidenschaftlich, sturr, zuweilen fordernd. Ihr Verstand war messerscharf, aber das galt in gleichem Maße für ihre Zunge. Jahrelang hatte er in ihr nur das Mädchen sehen wollen, dass er zu schützen versprochen hatte. Auch dann noch, als sie es mit Leichtigkeit in die Kompanie geschafft hatte - ganz im Gegensatz zu Porthos, der wochenlang in Ungewissheit hatte leben müssen. Erst als D'Artagnan zu ihnen gestoßen war und die Rolle des Nesthäkchens übernommen hatte, war sein Bild von ihr ins Wanken geraten. Mit ihrem vermeintlichen Verrat an ihrer Freundschaft ein halbes Jahr später war es endgültig zerbrochen. Ihr Vorgehen im Thronsaal und im Haus der Familie Bonacieux' hatte ihn auf persönlicher Ebene tief verletzt. Aus strategischer Sicht jedoch war ihre Entscheidung zutiefst beeindruckend gewesen. Rückblickend musste es schon zu dieser Zeit gewesen sein, dass sich seine Gefühle für sie ändern begonnen hatten. Und dann war der Tag gekommen, an dem Rochefort sie geholt und ins Chatelet geworfen hatte.

"Renée d'Herblay!" Rocheforts Stimme dröhnte über den Hof der Garnison. Im Schlepptau hatte er fast ein Dutzend Rotröcke, deren Hände kampfbereit auf ihren Waffen ruhten. Einige von ihnen wirkten angespannt angesichts der Gesellschaft, in die sie sich begeben hatten. Bei den anwesenden Musketieren hingegen sorgte ihr Auftreten zunächst vor allem für Staunen. Neugierig umringten sie die seltenen Besucher. Porthos, der bis zu diesem Zeitpunkt auf einer Bank gesessen und sich den Mund mit Brot vollgestopft hatte, richtete sich gemächlich zu seiner vollen Größe auf und kam ihnen mit ausladenden Schritten entgegen. "Rochefort, alter Freund! Warum der Lärm? Und was soll das große Gefolge? Wollt ihr die Seiten wechseln? "

"Verzieh dich, Porthos! Zu dir kommen wir noch früh genug." Rochefort wollte ihn gerade links liegen lassen, als er es sich doch noch einmal anders überlegte. Vielleicht könnte er ihm doch helfen. "Wo steckt eure kleine Hure?" Porthos blickte ihn irritiert an - war die rechte Hand des Kardinals betrunken? So früh am Morgen? Er sah doch eigentlich recht nüchtern aus. Dann meinte er zu verstehen, was sein Gegenüber wollte.

"Ist dir etwa dein Liebchen entlaufen, Rochefort? Aber das hier ist nicht eure Garnison. Unser Hauptmann erlaubt hier keine Weiber!"

Leises Lachen ging durch beide Gruppen, wenngleich aus verschiedenen Gründen.

"Also gut, du begriffsstutziger Vielfraß. Ich formuliere es so, dass auch du mich verstehst." Auf der Stirn des Einäugigen trat eine dicke Ader hervor. Betont langsam fuhr er fort: "Wo ist Aramis?"

Porthos' gutmütiger Gesichtsausdruck war schlagartig verschwunden. Was sollte all das Theater? Hatte er seine persönliche Abneigung gegen Aramis nicht endlich begraben? "Er ist in der Bibliothek, denke ich."

Rochefort schnaubte. "Er... Lächerlich. Männer, mir nach!"
 

Die Stille der Bibliothek wurde nur durch das gelegentliche Rascheln von Papier durchbrochen. Über den Rand seines Buches warf Athos immer wieder einen Blick auf die junge Frau, die ihm gegenüber saß und vollkommen in die Übersetzung eines antiken griechischen Textes versunken war. Durch ein geöffnetes Fenster hinter Aramis' Rücken fielen die blassen Strahlen der Morgensonne und verliehen ihr ein überirdisches Leuchten. Fasziniert von diesem Anblick gelang es Athos kaum, sich auf sein eigenes Buch zu konzentrieren. Seit er sich vor einer halben Stunde zu ihr gesellt hatte, hatte er kaum mehr als eine Seite gelesen und das meiste davon bereits wieder vergessen. Doch plötzlich riss eine ihm vertraute Stimme ihn aus seinen Schwärmereien. Rochefort! Hier, um diese Uhrzeit? Was rief er? Athos konnte ihn nicht verstehen, aber seine Stimme ließ nichts Gutes vermuten. Innerhalb von Sekunden hatten seine militärischen Instinkte die Kontrolle übernommen. Jetzt erkannte er auch Porthos' polterndes Organ. Gelächter. Was zum Teufel ging da unten vor sich? Aramis hatte die Stimme offenbar ebenso erkannt. Langsam ließ sie das Buch sinken. Ihre Augen waren schreckgeweitet, alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Im Gegensatz zu Athos hatte sie Rochefort offenbar sehr gut verstanden. Ihr Blick wanderte hastig zwischen ihm und der Tür hin und her - und Athos kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Sie wägte ab zwischen Kampf und Flucht. Was auch immer Rochefort gerufen hatte, es galt offenbar ihr und machte in ihren Augen auch ihn zu einer Bedrohung.

Athos erhob sich und ging langsam auf sie zu, die Hände gut sichtbar von sich gestreckt. "Was will Rochefort von dir?", fragte er ruhig.

"Sie kommen mich holen", flüsterte sie mehr zu sich selbst. "Das ist das Ende." Athos verstand sofort.

"Bleib ruhig. Sieh mich an. Ich passe auf dich auf, verstehst du? Was auch immer passiert, ich bin an deiner Seite!" Er betonte jedes einzelne Wort in der Hoffnung, dass es in ihren Verstand vordrang. Mit Erfolg. Und doch war ihre Reaktion anders, als er es erwartet hatte. In ihrer Angst fuhr sie ihn an: "Behaupte nichts, was du in ein paar Minuten bereuen wirst. "

"Keine Sorge. Ich stehe zu meinem Wort." Athos lehnte sich an ihr vorbei aus dem Fenster. Er sah gerade noch, wie Porthos hinter Rochefort her zum Eingang lief.

"Sie kommen. Bleib hinter mir. Und Hände weg von den Waffen!"

Erneut ertönte Rocheforts Stimme, dieses Mal vom Fuß der Treppe in der Halle: "Renée d'Herblay, du bist verhaftet. Komm freiwillig zu uns, sonst holen wir dich."

Athos entging nicht, wie sie kurz zu dem offenen Fenster blickte. "Denk nicht einmal daran. Du könntest dir beide Beine brechen." Er packte sie an den Schultern. "Du wirst ihnen erhobenen Hauptes entgegen treten. Du bist ein besserer Soldat als jede dieser roten Gestalten und ein besserer Musketier als die meisten hier. Du weißt es. Sie wissen es. Lass sie das nicht vergessen!" Damit drehte er sich um und trat auf den Gang. Schweigend folgte Aramis ihm, während Angst und Übelkeit ihr den Hals emporkrochen. Sie war sich sicher, dass sein Rückhalt schon sehr bald verpuffen würde.

Am Fuß der Treppe wurden sie nicht nur von den Männern des Kardinals, sondern auch von einer großen Traube tuschelnder Musketiere erwartet. Sie alle wollten sehen, wer die Person hinter dem Namen war. Bei Athos' Erscheinen verfielen sie augenblicklich in Schweigen.

"Rochefort, was soll die Unruhe?" Zwei Stufen vor der Versammlung blieb er stehen. Aramis tat, wie ihr befohlen worden war, und hielt eine Stufe darüber. Zumindest jetzt sollten sie noch zu ihr aufsehen.

"Wir haben einen Haftbefehl für eine gewisse Mademoiselle Renée d'Herblay, euch allen besser bekannt als der Musketier Aramis. Wegen Hochverrats!" Mit jedem Wort wurde Rocheforts Stimme lauter und überheblicher, bis sie sich schließlich überschlug. Für alle gut sichtbar wedelte er mit einem gesiegelten Brief. Den Tumult, der seinen Worten folgte, genoss er sichtlich. Aus dem Augenwinkel erkannte er sowohl den lauthals schimpfenden Porthos als auch D'Artagnan, der sich soeben durch die Menge schob, um in der ersten Reihe stehen zu können.

"Und ich nehme an, ihr habt Beweise für eure Anschuldigungen", fuhr Athos ungerührt fort.

"Darauf kannst du Gift nehmen! Wir haben drei Zeugen, die Mademoiselle d'Herblay zweifelsfrei erkannt haben. Gerade vorgestern erst. Geht das Schicksal nicht manchmal merkwürdige Wege? Im Chatelet wartet man sicher bereits auf sie." Das Grinsen in seinem Gesicht war so breit, dass die Augenklappe sich bereits sichtbar ins Fleisch drückte. Er schien es nicht zu bemerken. Stattdessen suhlte er sich in seinem vermeintlichen Triumph und vergass dabei mehr und mehr, dass er sich auf feindlichem Gebiet befand.

"Also los! Sag eurem Kapitän-Lieutnant, dass wir seine kleine Hure mitnehmen!"

Athos neigte sich zu ihm vor, zog ihm den vermeintlichen Haftbefehl aus der Hand und flüsterte düster: "Jemand, der den Kopf so tief im Arsch seines Dienstherrn hat wie du, sollte seine Worte besser wählen." Gelassen, jedoch für alle Umstehenden hörbar fügte er hinzu: "Ich denke es steht dir nicht zu, einem von uns Befehle zu erteilen. Erlaube mir, dass ich das übernehme. D'Artagnan, informiere Kapitän de Treville darüber, was die Herrschaften wollen. Wir warten derweil." D'Artagnan nickte knapp und eilte die Treppe hinauf, wobei er jede zweite Stufe übersprang. Es kostete ihn einige Überwindung, wortlos an Aramis vorbei zu laufen. Rochefort machte ebenfalls einen Schritt auf die Treppe zu, um nach Aramis' Handgelenk zu greifen, zuckte jedoch augenblicklich zurück, als Athos eine Hand an den Knauf seines Degens legte. Mit einer knappen Geste verwies er ihn auf seinen ursprünglichen Platz. Aramis selbst stand wie versteinert. Nichts ließ erkennen, dass ihr Verstand die Situation genauso behandelte wie einen Einsatz im Schlachtfeld. Die Geräusche um sie herum drangen nur dumpf an ihre Ohren, dafür nahm sie jede noch so subtile Regung um sich herum wahr. Im Falle eines Angriffs hätte sie sofort parieren können. Bis jetzt jedoch hatte Athos wider Erwarten sein Wort gehalten. Dieser erbrach im Moment das Siegel und überflog die gewohnt sauber vom Kardinal verfassten Zeilen, die Aramis' Schicksal besiegeln sollten. Den lautstarken Protest Rocheforts, sein Verhalten sei anmaßend, ignorierte er geflissentlich. Da stand er, der Name, den er all die Jahre hatte wissen wollen. Er kannte den Namen d'Herblay aus den Erzählungen Trevilles, wenn dieser in einem seiner seltenen Anflüge von Nostalgie über vergangene Abenteuer berichtet hatte. Der Mann, mit dem sich Treville in seiner Jugend um eine Frau geschlagen hatte, war der Vater der jungen Frau hinter ihm. Nun, schoss es ihm durch den Kopf, wenn sie ihrer Mutter ähnelte, war das Verhalten des Kapitäns nur zu verständlich.

"Ihr habt drei Zeugen, sagst du?" sprach er mit Rochefort, ohne von dem Dokument aufzusehen.

"Zweifelst du etwa einen Haftbefehl durch Kardinal Richelieu an?"

"Das würde ich nicht wagen. Habt ihr die Namen der Männer?"

"Warum? Willst du sie zum Schweigen bringen, Musketier?" zischte Rochefort hämisch. Sein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf. "Nur ein wenig Zeit schinden, bis Treville hier ist."

Als hätte er auf ein Stichwort gewartet, erschien Kapitän de Treville auf der Treppe. "Was hat dieses Schauspiel zu bedeuten, Rochefort? Was wollt ihr von Aramis?", polterte er. Wortlos reichte Athos das Dokument des Kardinals an ihn weiter. Aufmerksam beobachtete er das Gesicht seines Vorgesetzten und war überrascht angesichts des ehrlichen Entsetzens, dass sich beim Lesen der wenigen Zeilen darauf abzeichnete.

"Was für absurde Anschuldigungen! Ist euch denn gar nichts peinlich?"

Rochefort wollte etwas erwidern, doch auf diese Reaktion war er nicht vorbereitet gewesen. "Einem Mann mit seinen Fähigkeiten zu unterstellen, er wäre eine Frau! Unfassbar." Mit wutrotem Kopf wandte er sich an Athos. "Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um einen offiziellen Befehl. Athos, ich vertraue darauf, dass du dich um diese Angelegenheit kümmerst. Ich kann mich mit solchen Albernheiten nicht befassen. Ich gehe davon aus, dass diese Sache in Kürze geklärt ist. Meine Herren!" Er machte auf der Stufe kehrt, nickte erst Athos, dann Aramis zu und begab sich ohne ein weiteres Wort zurück in sein Büro. Sofort straffte sich Rochefort wieder.

"Also dann, Mademoiselle. Du hast eine Verabredung mit einer moderigen Zelle im Chatelet. Vorwärts!" Erneut wurde der selbstbewusste Vorstoß Rocheforts durch eine einzige Handbewegung gedämpft. "Angesichts der schwierigen Vergangenheit zwischen uns Musketieren und der Kardinalsgarde, besonders im Hinblick auf Aramis, verstehst du sicherlich, dass ich ihn dir nicht einfach überlassen kann. D'Artagnan wird euch bis in diese Zelle und wieder hinaus begleiten und mir anschließend alles berichten. Nur zur Sicherheit." Athos drehte sich zu Aramis um, die nach wie vor wort- und regungslos hinter ihm ausharrte. "Deinen Degen, bitte." Er konnte den Widerwillen in ihren Augen sehen. Der Gedanke, ihren Gegnern unbewaffnet ausgeliefert zu sein, versetzte sie zu Recht in Angst. "D'Artagnan ist bei dir!", war alles, was er in diesem Moment sagen konnte. Er nahm ihre Waffen an sich, dann gab er D'Artagnan ein Zeichen. Äußerlich ruhig blieb er auf der Treppe stehen, als sich die Gruppe langsam in Bewegung setzte. Als auch der letzte Rotrock das Gebäude verlassen hatte, wurde aus dem ungläubigen, verhaltenen Tuscheln der Musketiere wutentbrannter Lärm. "Was hat das alles zu bedeuten? Athos!" Porthos' Stimme übertönte gut verständlich die seiner Kameraden. Doch statt zu antworten, stürzte der Angesprochene die Treppe hinauf und stürmte das Büro de Trevilles.

"Was seid ihr nur für ein gottverdammter Feigling?" Athos hatte Mühe, seine Stimme zu dämpfen. Nur selten hatte er so sehr das Verlangen verspürt, jemanden anzubrüllen.

"Seit wann tritt man in mein Büro, ohne vorher anzuklopfen?" Treville saß, die Hände vor der Brust gefaltet, an seinem Schreibtisch und starrte ihn an. Er versuchte, überlegen zu wirken, doch Athos bemerkte sofort das Zittern in seiner Stimme. Sein Kapitän hatte Angst vor ihm. Seine Wut dämpfte diese Erkenntnis jedoch kaum.

"Wie konntet ihr sie einfach ausliefern?" Statt eine ebenso wütenden Antwort zu geben, sank der Kapitän in sich zusammen. Er wußte, dass sein sonst so kontrolliertes Gegenüber zu Recht tobte. Zugeben wollte er es dennoch nicht. Stattdessen reichte er ihm einen Schlüssel. "Sorge dafür, dass wir nicht gestört werden." Athos riss ihm Schlüssel schnaubend aus der Hand und ließ das Schloss geräuschvoll einrasten. Vergeblich wartete Trevilles darauf, dass Athos sich setzte.

"Aramis und ich hatten eine Abmachung, das weißt du."

"Eine Abmachung, die ihr nur getroffen habt, weil ihr sicher wart, dass sie nach kurzer Zeit versagen würde. Weil ihr sie gnadenlos unterschätzt habt." Noch immer hatte Athos Schwierigkeiten, seine Stimme zu dämpfen. Wie ein wildes Tier lief er vor Trevilles Schreibtisch auf und ab.

"Nach allem, was sie für euch und die Musketiere getan hat, hättet ihr wenigstens den Anstand besitzen können..."

"Genug!" Treville war aufgesprungen, die Fäuste dabei so fest in die Tischplatte gepresst, dass sich die Knöchel weiß färbten. "Wenn herauskommt, dass ich über ihre ... Natur ... im Bilde war, steht für uns alle mehr auf dem Spiel als die Ehre irgendeines Mädchens in einer Verkleidung."

"Es geht um das Leben eines eurer Musketiere! Und sie ist schon sehr lange nicht mehr das Mädchen, dass ihr scheinbar immer noch in ihr sehen wollt. Ihr habt ihre Loyalität nicht verdient, wenn ihr wirklich so über sie denkt." Sekunden später krachte das Schloß erneut und der Kapitän der Musketiere fand sich allein mit seinem schlechten Gewissen. Noch nie hatte er Athos so erlebt. Aber er fürchtete, dass er Recht hatte.
 

Athos eilte zurück in die Bibliothek. Er schnappte sich das Buch, dass sie gerade noch gelesen hatte, griff im Regal ohne Zögern nach einem weiteren, riss im Vorbeilaufen den roten Hut von der Stuhllehne und hastete die Treppe hinunter. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, er wäre zu einem Gespräch aufgelegt. Er war schon fast durch die Tür verschwunden, als doch noch jemand seine Aufmerksamkeit verlangte: Porthos. 'Ausgerechnet du!' dachte Athos bitter.

"Wusstest du davon?" Es fiel ihm schwer, den Gesichtsausdruck des Hünen zu deuten. Trauer, Wut, Enttäuschung, vielleicht sogar Angst, es schien etwas von allem zu sein.

"Wovon, Porthos? Wovon wusste ich etwas?" Seine Stimme klang gereizter, als er es ihm gegenüber beabsichtigt hatte. Aber er hatte keine Zeit für Vorwürfe und Rechtfertigungen. Er musste ins Chatelet. Doch zuvor musste er einige Dinge organisieren. "Heute Abend bei mir. Bring D'Artagnan mit. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen. Falls der Kapitän nach mir fragt, kannst du ihm ausrichten, dass er heute nicht mehr mit mir rechnen muss."
 

Als Athos endlich die Wachstube des Grand Chatelet betrat, war es bereits später Nachmittag. Zwei Wachmänner saßen zusammen und vertrieben sich die Zeit beim Würfelspiel. Sie hatten offenbar beschlossen, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Dritter saß mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt. Der Anblick seines Gesichts ließ den Musketier Schlimmes ahnen. "Was ist denn mit eurem Freund passiert? Ist er die Treppe herunter gefallen?" Jetzt blickten die beiden von ihren Würfeln auf und musterten ihn abschätzig.

"Euer blonder Freund ist ihm passiert", zischte der ältere. "Wollte nachsehen, obs wirklich ein verfluchtes Weib ist, zack, hat er das Gesicht zerbrochen." Athos konnte und wollte ein Grinsen nicht unterdrücken. "Wie ungeschickt von ihm." Er betrachtete das verquollene Gesicht und die blutverkrustete Kleidung und versuchte sich auszumalen, wie es der Kontrahentin dieses großen Haufen Elends wohl gerade ergehen mochte. "Sagt, Monsieur, was muss ich tun, um meinem Freund heute noch einen ungestörten Besuch abstatten zu dürfen?" Wie beiläufig griff Athos in das Geldsäckchen an seinem Gürtel. Die beiden Wachmänner sahen einander prüfend an, dann nickten sie in trauter Einigkeit. "Vier Livre sollten genügen, Monsieur Athos! Zwei für jeden von uns."

Der schweigsamere der beiden führte ihn durch die Dunkelheit zu Aramis' Zelle. Rochefort hatte nicht zu viel versprochen - schon auf dem Gang stank es nach Moder und allen Arten von menschlichen Überbleibseln. Vor einer der zahllosen Türen blieben sie stehen.

"Ich möchte in der nächsten Stunde nicht gestört werden! Verstanden?"

Der Wachmann sah ihn mit einem vielsagenden Lächeln an. "Verstanden. Aber passt auf euer Gesicht auf. Wäre doch schade drum."

Hinter ihm fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss, auf dem Gang wurden die Schritte leiser. Aramis saß mit eng an den Körper gezogenen Beinen auf der Liege und starrte ihn an. Selbst im Halbdunkel der Zelle konnte Athos deutlich die blutige Spur an ihrer Unterlippe und die dunkel verfärbt rechte Hand erkennen. "Du bist verletzt!", platzte es aus ihm heraus. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Er griff nach der einzigen Kerze und nahm ihre Hand, um sie genauer betrachten zu können. Blut klebte an den Knöcheln und Fingern, aber vermutlich war es nicht ihr eigenes. Die Lippe war aufgeplatzt, die Wunde allerdings nicht so tief, wie Athos im ersten Moment befürchtet hatte. "Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Ich wollte schon vor Stunden hier sein." Noch immer starrte Aramis ihn mit großen, glasigen Augen an. Doch erst jetzt bemerkte Athos den verwirrten Ausdruck, der darin lag.

"Warum bist du hier?" fragte sie schließlich leise. Als sie nur einen verständnislosen Blick als Antwort erhielt, wurde ihre Stimme fester, fast schon wütend. "Du weißt, warum ich hier sitze. Also warum machst du dir die Mühe und kommst zu mir in dieses Rattenloch?"

"Um dir zu helfen." Athos atmete tief ein und aus. Warum nur zweifelte sie an seiner Aufrichtigkeit? "Ich weiß ziemlich genau, wer oder vielmehr was du bist. Seit Jahren schon. Und alles, was ich heute früh zu dir gesagt habe, gilt. Was glaubst du denn, warum ich dich immer ein bisschen mehr gefordert habe? Warum ich immer ein bisschen mehr auf dich aufgepasst habe? Ich habe vor vielen Jahren geschworen, dich unter allen Umständen zu beschützen. Und ich denke, jetzt gerade könntest du etwas Schutz gut gebrauchen." In der fortschreitenden Dunkelheit erkannte er nicht, dass sich Aramis' Augen mit Tränen gefüllt hatten. Er hatte es all die Jahre gewusst. Er hatte an sie geglaubt. Sie hatte sein aufmunterndes Lächeln nicht sehen können, doch es schwang in jedem seiner Worte mit und erfüllte sie zumindest für den Moment mit einem Funken Zuversicht. Sie war nicht allein. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals.

Minuten vergingen, in denen Aramis wortlos ihren Tränen, gespeist aus Angst, Wut und Erleichterung, freien Lauf ließ, während Athos' Hände im immer gleichen Rhythmus beruhigend über ihren Rücken strichen. Sie hielt ihr Gesicht selbst dann noch in seiner Halsbeuge vergraben, als die Tränen bereits versiegt waren. Nach all den Jahren ohne zärtliche Berührung durch einen anderen Menschen war diese Umarmung durch ihn, ausgerechnet durch ihn, Balsam für ihr vernachlässigtes Herz. "Danke", murmelte sie, als sie sich schließlich wieder von ihm löste,und wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht. Mit einer knappen Handbewegung tat Athos es als Selbstverständlichkeit ab. "Zunächst einmal müssen wir dich aus dieser Zelle bekommen. Sonst rafft es dich dahin, bevor deine Verhandlung beginnt."

"Als ob das einen Unterschied machen würde. Das Ergebnis ist das gleiche."

"Das lass ruhig meine Sorge sein." Athos dachte einen Moment schweigend nach. "Du bist Renée d'Herblay, Tochter von Claude Ailegrin, Graf d'Herblay?"

"Ich... Was? Woher weißt du das?"

"Ich musste einige Bücher wälzen, aber die Geschichte deiner Familie ist recht ordentlich dokumentiert. Zumindest bis zum Jahr 1609. Es tut mir sehr leid, was mit deinen Eltern passiert ist." Aramis entfuhr ein resigniertes Seufzen. Sie hatte schon vor sehr langer Zeit aufgehört, darüber nachzudenken. Der Verlust ihrer Eltern war der Ursprung all dessen, was sie letzten Endes in dieser Zelle hatte enden lassen. "Auf Grund deiner Herkunft steht dir eine deutlich komfortablere Zelle zu. Das würde aber bedeuten, dass du ein Geständnis ablegen musst."

"Auf gar keinen Fall!" unterbrach ihn Aramis entrüstet. "Da könntest du mir genauso gut vorschlagen, mich selbst zu hängen."

"Das dachte ich mir schon." Athos ergriff ihre Hand. "Du weißt, dass du die Wahrheit nicht ewig verbergen kannst. Früher oder später..." Sein Händedruck wurde fester. "Nein, darüber denken wir später nach. Ich bekomme dich auch anders in eine Zelle mit Fenster. Am besten noch heute." In Gedanken überschlug er den Inhalt seines Geldbeutel. "Und sobald das erledigt ist, kümmere ich mich um deine Freilassung."

Aramis lachte ein freudloses Lachen. "Wie stellst du dir das vor? Ich habe über Jahre hinweg getäuscht und gelogen und mir einen Posten angemaßt, dass mir schon durch meine Geburt hätte verwehrt sein müssen. Ich habe den König vorgeführt wie einen Narren." Erneut rollten ihr Tränen über die Wangen, doch dieses Mal wollte sie keinen Trost. Sie war plötzlich wütend auf sich selbst und versuchte auf diese Art, sich selbst zu strafen. 'Du hast es nicht anders verdient! Du hättest dich damals fügen sollen.' flüsterte eine leise, bittere Stimme in ihrem Kopf. Sie klang wie ihre Tante.

"Ohne alle Details zu kennen würde ich behaupten, dass Frankreich und vor allem die königliche Familie dir viel zu verdanken hat. Vielleicht wird es Zeit, ihre Gedächtnisse etwas aufzufrischen."



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Kommentare zu dieser Fanfic (75)
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Von:  laety
2020-04-10T15:25:26+00:00 10.04.2020 17:25
Ich mag diese Romanze zwischen Athos und Aramis... wie kam sie da raus? Soll sie als Köder dienen, um den Mörder zu fangen? Und wer ist er?
Wie auch immer, ich kann es kaum erwarten, die Fortsetzung zu lesen!
Tut mir leid, das ist schwer zu lesen.
Danke für dieses Kapitel, und ich hoffe, wir sehen uns bald!
Von:  citosol
2018-08-01T09:34:48+00:00 01.08.2018 11:34
Go Aramis, GO!
;-D
Von:  citosol
2018-06-30T20:44:59+00:00 30.06.2018 22:44
I LOVE YOU SO MUCH!
You keep this story so intriguing, i constantly try to see where you're going, but every chapter is a surprise!

Thanks for keep it going on, Iwas a totally different person when it started, and had a totally different life, but this story is a red line that joins my old and my new world.

Thanks again, I cannot wait to read the next chapter!
Antwort von:  Tach
01.08.2018 10:22
Thank you so much for your wonderful comment :) I feel the same. After all I've been working on this story for nearly half my life and so much has changed since then. But we are getting closer to the grand finale. Maybe I'll start writing another story afterwards ;)
Von:  citosol
2018-04-07T13:35:42+00:00 07.04.2018 15:35
Finallt you're back!
So glad to read you again!
I love how you managed athos/aramis' love story, and is so funny to see charle's reactions!
I love your writing, you're definitely very talented, and I really hope to read you again asap. You promised to finish this story and is fantastic to see you're keeping the chapters coming out!

Have a nice day@
Von:  citosol
2014-08-13T01:47:21+00:00 13.08.2014 03:47
Just a quick "hi!" to remind you that we're still here, waiting for you to write the next amazing chapter!
^__________^
With love
citosol
Von:  laety
2014-03-29T16:46:25+00:00 29.03.2014 17:46
Bonjour

Schöne Geschichte ... Ich hoffe, später kann ich nicht warten, um zu sehen, wie Charles wird dauern, bis die beiden Turteltäubchen zu sagen!
Von:  laety
2014-03-29T16:44:46+00:00 29.03.2014 17:44
Bonjour

Schöne Geschichte ... Ich hoffe, später kann ich nicht warten, um zu sehen, wie Charles wird dauern, bis die beiden Turteltäubchen zu sagen!
Von:  Kira_Lira
2013-09-15T22:11:17+00:00 16.09.2013 00:11

Hello! like this? ^ ______ ^, And missed you, please do not leave much time to write, is the most interesting point of the plot, the captain is not going to scold to involve a civilian?, But for how long is going to realize Aramis has all the characteristics of victims, witnesses have referred them to this similarity and not realize it, they'll notice until it's too late?, but they are thinking Athos not see, poor Charles that is not eating used to someone like Porthos, I hope maybe a little romance in the next chapter, please do not delay, thanks for sharing ^ _____ ^.


Von:  fahnm
2013-09-15T21:41:19+00:00 15.09.2013 23:41
Spitzen Story.^^
Von:  citosol
2013-09-14T19:51:36+00:00 14.09.2013 21:51
Hi! :) finally you're back, and I'm so happy about it...I really missed a lot your characters and I was very curious to see what Porthos and Charles had in mind...but I fear I have to wait a little more :)
I loved the small clues you put here and there (obviously I'm talking about Athos and Aramis ♥) and the smart thought Charles had about them and their love behaviour

The whole story is intriguing but I really cannot wait to see how Athos anx Aramis' story is going to end.
Do I have to wait another year? ;)
THANK YOU SO MUCH for not having left this wonderful story apart!
Many kisses
citosol



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