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Mein ist die Rache

von

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Während die Dunkelheit sich bereits über die Stadt legte, kehrten die vier Freunde in einer Wirtsstube ein. Der niedrige Raum war verraucht, die Luft erfüllt vom Geruch menschlicher Ausdünstungen und verschütteten Alkohols. Die Musketiere bestellten Wein, Suppe und Brot sowie eine handvoll Kerzen und setzten sich in eine abgelegene Ecke des Raumes, in der die Deckenbalken noch ein Stück niedriger hingen. Am Nachbartisch waren drei Männer in ein Würfelspiel vertieft. Sie nahmen kaum Notiz von den Neuankömmling. Lediglich als Porthos sich an ihnen vorbei zur Wand zwängte und ihr Tisch in Bewegung geriet, regte sich unter ihnen kurz Unmut.

Mit schnellen Fingern löste D'Artagnan die Schnur, die den Stapel loser Blätter zusammenhielt. Seit Stunden hatte er darauf gelauert, endlich den Inhalt von Athos' Notizen zu erfahren. Seinem unausstehlichen Verhalten nach zu urteilen musste ihr Inhalt brisant sein. Jetzt verschlang er jede einzelne Zeile mit den Augen, doch mit jeder weiteren schwand seine Begeisterung. "Der Graf von Rosenbaum also?" Ernüchtert ließ er schließlich den letzten Zettel sinken.

"Es scheint so." Der Älteste der vier gab sich den Anschein von Gleichgültigkeit.

"Schade. Ich fand ihn nach unserem Gespräch eigentlich ganz nett."

"Oh, bitte!" Athos verdrehte die Augen. "Hanns-Friedrich von Rosenbaum ist ein Blender. Ein arroganter, selbstherrlicher, lasterhafter Emporkömmling mit den Manieren eines Bauern und seines Amtes mehr als unwürdig. Das einzige, was ihn interessiert, sind die Jagd auf Röcke und die Vögelei." Mit mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, riss er ein Stück Brot vom Laib.

"Schon gut, schon gut, wir haben es ja verstanden", fuhr ihm Porthos schmatzend dazwischen. "Angenommen, du hast recht mit deinem Verdacht - ich sage nicht, dass du ihm gegenüber voreingenommen bist, aber leiden kannst du ihn wirklich nicht - also selbst wenn, wie willst du ihm etwas nachweisen?"

"Durch Beobachtung. Wir ertappen ihn auf frischer Tat."

"Beobachtung? Wie bitte? Willst du dich etwa nächtelang vor seinem Haus herumdrücken und ihm hinterher schleichen?" Porthos' Stimme ließ erkennen, dass er an der Ernsthaftigkeit seines Freundes zweifelte.

"Du hast es erfasst. Die Abstände zwischen den Morden werden immer kürzer, es sollte also nicht allzu lange dauern."

"Mag ja sein. Aber wir haben auch noch andere Aufgaben, dass muss ich gerade dir nicht erklären. Und wäre es nicht sowieso einfacher, einen Köder auszulegen? Immerhin hat er eine ganz eindeutige Vorliebe. Du weißt schon: blond, blass, ein wenig mager. Da sollte sich doch eine nette junge Dame finden lassen, die das Abenteuer liebt und dem Herrn Botschafter ein wenig schöne Augen machen kann. Aramis?" Der Koloss grinste den blonden Musketier herausfordernd an und wackelte mit den Augenbrauen. "Morgen Abend schon etwas vor?" Aramis öffnete den Mund zu einer Erwiderung, bekam jedoch keine Gelegenheit, ein einziges Wort herauszubringen.

"Hier wird niemand als Köder genutzt" erwiderte stattdessen Athos, heftiger als erwartet. Er spürte, wie sich der Druck ihres Knies an seinem wieder verringerte, nachdem er sich soeben noch mit jedem Wort aus Porthos' Mund verstärkt hatte. Hatte sie wirklich geglaubt, er könne sich für Porthos' unsinnigen Plan aussprechen?

"Warum nicht? Was soll ihr schon passieren? So wie sie dich vorhin zu Boden geschickt hat?" Das Grinsen in Porthos' Gesicht wurde noch etwas breiter. Die Gelegenheit, seinen stoischen Freund zur Weißglut zu treiben, war selten so günstig wie scheinbar an diesem Abend, und er war gewillt, sie zu ergreifen.

"Wir gehen kein unnötiges Risiko ein. Er hat mehreren Frauen Genick und Schädel gebrochen und ich kann mir nicht vorstellen, dass er für Aramis eine Ausnahme machen würde, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt." Athos überlegte einen Augenblick, bevor er leiser hinzufügte: "Woher auch immer er die Kraft für solche Verletzungen nimmt."

"Wenn wir ehrlich sind, hatte ich ohnehin nur Glück, weil Athos aus lauter Rücksicht einen Fehler gemacht hat. Hättest du meine Beine nicht losgelassen..." Aramis war sich darüber im Klaren, dass er ihr eigentlich nur einen sanfteren Aufprall hatte ermöglichen wollen, indem er eine Hand in ihren Rücken gelegt hatte. Um so überraschter war sie, dass sein Fehler keinem der umstehenden Musketiere aufgefallen zu sein schien.

"So so! Man könnte also sagen, dass Athos mir ein Essen schuldet", polterte Porthos lachend. "Ich bin wirklich enttäuscht."

"Und ich erst", schnaubte D'Artagnan. "Mit mir hattest du jedenfalls keine Gnade!" Noch immer schmerzte seine Schulter bei jeder Berührung und er konnte nur erahnen, welche Farbe sie inzwischen angenommen haben musste.

"Es tut mir leid, D'Artagnan, aber du hast dich im Gegensatz zu Aramis einfach ungeschickt angestellt. Du hattest keine Milde verdient. Ausserdem hast du bei einem Aufprall wesentlich mehr Masse entgegenzusetzen. "

"Und ausserdem, lieber D'artagnan, hast du nicht so große blaue Augen!" Der Koloss klapperte mit den Lidern. Doch diesmal blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Statt dessen entrang sich ihm ein Fluch, so unerhört, dass die Würfelspieler am Nebentisch ihn entrüstet anstarrten.

" Verzeihung, die Herren!" Porthos riskierte einen flüchtigen Blick unter den Tisch. Seine Schienbeine brannten und es war ausgeschlossen, dass einer allein dafür verantwortlich war. Wie er es allerdings erwartet hatte, sah er nichts ungewöhnliches. Schmollend tauchte er wieder auf. "Das war unnötig!" Seine beiden Kameraden hoben gleichmütig die Schultern. Hätte er jetzt noch einmal unter den Tisch gesehen, wären ihm die inzwischen wieder eng aneinander geschmiegten Knie seiner zwei Freunde aufgefallen. Porthos räusperte sich. "Also morgen Abend dann. Von mir aus. Lasst uns doch aber erst einmal über heute reden. Die Nacht ist noch jung, ich bin satt und wach. Wer kommt mit mir ins 'Paradies', den zauberhaften Damen einen Besuch abstatten? Na? D'Artagnan?" Der jüngste der vier errötete sichtlich, während er eine Entschuldigung hervorpresste. "Tut mir leid, Porthos, ich muss nach Hause. Ich habe eine reizende aber strenge Frau, die auf mich wartet und mich bei Rosinante schlafen lässt, wenn ich nach dem gestrigen Abend schon wieder in zwielichtigen Häusern die Zeit totschlage." Porthos nickte wissend. Constanze konnte wirklich resolut sein. Er riss ein großes Stück Brot ab und tunkte es in die Suppe.

"Athos?"

"Ich muss auch passen. Charles wartet vermutlich schon auf mich und ich möchte vermeiden, dass er meine Weinvorräte ohne mich aufbraucht. Außerdem habe ich heute schon einmal unter einer Frau gelegen, das hat mir ehrlich gesagt gereicht. Ich habe jetzt noch Schmerzen. "

"Vielleicht hättest du ja dieses Mal die Chance, oben zu liegen", ließ sich Aramis nüchtern zwischen zwei Löffeln Suppe vernehmen. Während D'Artagnan scharf die Luft einzog, verharrte Porthos' Kiefer in seiner mahlenden Bewegung. Beide starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an, sichtlich unschlüssig darüber, ob sie sich das soeben Gehörte nicht doch eingebildet hatten.

"Touché!" Athos hob anerkennend die Augenbrauen, bevor er den Becher zum Mund führte und einen kräftigen Schluck Wein nahm. Plötzlich brach Porthos in schallendes Gelächter aus. Sein Körper bebte. Tränen rannen ihm über die fleischigen Wangen. Erst nach einer Weile ging das Lachen in bellendes Husten über.

"Aramis, du bist mir heute der liebste Kerl!", keuchte er schließlich. "Du wirst mich doch bestimmt begleiten? Dann kaufe ich dir so viel von diesem braunen Schokoladengesöff, wie du nur willst. " Er wischte sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht.

"Mein lieber Porthos, du weißt, wie gerne ich Madames Mädchen dabei zusehe, wie sie um euch Kerle herumwackeln, um euch neben eurem Verstand auch noch eure Münzen zu rauben, aber heute muss auch ich dich enttäuschen. Auf mich wartet in der Rue St. Denis ein Mantel, den ich spätestens morgen Abend brauche."

Eine Stunde später traten sie wieder auf die Straße, in die kühle und wolkenlose Nacht. Während D'Artagnan auf direktem Weg nach Hause marschierte, liefen die drei anderen zunächst gemeinsam durch das Quartier Latin. An der Rue de la Harpe verabschiedete sich auch Porthos von der kleinen Gruppe. Gut gelaunt pfiff er ein Liedchen, während er in die Dunkelheit eintauchte.

"Endlich allein", seufzte Athos erleichtert. Die letzten Stunden waren eine quälende Übung in Geduld und Selbstbeherrschung gewesen und mit beidem war er jetzt am Ende. Er ergriff Aramis' Hand. Reflexartig entzog sie sich und warf hastig einen prüfenden Blick in die umliegenden Gassen.

"Renée, ausser uns ist niemand hier" flüsterte er zärtlich.

"Entschuldige." Ein verlegenes Lächeln huschte über ihre Lippen. "Ich denke, ich bin immer noch ein wenig übervorsichtig, wenn ich ein Geheimnis zu hüten versuche." Ihre Hände berührten einander erneut.

"Sollen wir den Weg über den Pont Saint Michel nehmen?" Zu Athos' Verwunderung schüttelte sie den Kopf.

"Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber über den Pont Neuf gehen."

"Ein Umweg, aber von mir aus gerne."

"Hast du es etwa eilig?" Aramis lachte spöttisch.

"Eigentlich nicht. Auf mich wartet nur Charles, der jede meiner Bewegungen und Worte in die Waagschale legt."

"Charles ist eine verfluchte Kupplerin!" Sie konnte nicht mehr aufhören zu lachen. "Seit ich ihm begegnet bin, arbeitet er wie besessen daran, uns zusammenzubringen."

"Nunja", Athos zog sie näher zu sich, "auf gewisse Weise war er ja auch erfolgreich."

"Zugegeben. Aber nur, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass er und seine zwei Komplizen sich bis zum jüngsten Tage damit rühmen, uns zwei dämliche Esel vereint zu haben."

"Dämliche Esel trifft es ganz gut", schnaubte er belustigt, bevor er einen Kuss auf ihre Stirn legte. "Lass uns gehen. Ich höre die Nachtwache kommen." Zum zweiten Mal lösten sich ihre Hände von einander.

An der Kirche St. André und dem Augustinerkloster vorbei erreichten sie den Pont Neuf. Sie hatten die ersten drei Buchten passiert, als Aramis ihre Schritte verlangsamte. Ihr Blick folgte dem schwarzen Fluss, der träge unter ihnen dahingurgelte. "Kann ich dir etwas anvertrauen?" Athos nickte. Schweigend lehnte er sich neben ihr auf die Mauer in der vierten Bucht und wartete darauf, dass sie weitersprach. Neben ihnen ragte der reitende Heinrich IV als schwarzer Schatten in die Höhe. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich schließlich dazu durchringen konnte, zu sprechen. "Früher, als ich noch neu in der Stadt war, war ich oft hier. Genau hier, neben dem alten Heinrich. Mitten in der Nacht. Manchmal nur ein paar Minuten, manchmal eine Stunde oder mehr. Ich habe den Fluß beobachtet, den Mond oder die wenigen Leute, die hier vorbei kamen. Die meiste Zeit habe ich aber meinen Gedanken nachgehangen. Dunklen Gedanken. Viel zu oft habe ich mir damals gewünscht, dass dieses Schwarz", sie blickte auf das Wasser, "mich einfach verschlucken möge." Athos gefror das Blut in den Adern, als er den Sinn ihrer Worte verstand. "Vielleicht wäre ich bei St. Cloud ins Netz gegangen und ihr hättet mich im Chatelet zwischen all den anderen Toten wiedergefunden. Damals erschien mir der Gedanke, dass alles einfach vorbei sein könnte, auf erschreckende Weise beruhigend. Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, auf diese Mauer zu steigen, musste ich an euch denken. Du warst anfangs der einzige in diesem verdammten dreckigen Loch von einer Stadt, der an mich geglaubt hat. Du hast Porthos von mir überzeugt. Ohne euch hätte ich Paris kein halbes Jahr überlebt. Und ich habe mich bisher nie richtig bedankt." Noch immer schwieg Athos. Ihm war nie klar gewesen, wie schwer die Trauer zu dieser Zeit tatsächlich auf ihr gelastet hatte. Plötzlich erinnerte er sich an die Abende, an denen sie allen Aufmunterungsversuchen Porthos' zum Trotz traurig ins Leere geblickt hatte. Wie oft mochte sie an diesen Abenden über ihren eigenen Tod fantasiert haben. Und jetzt erzählte sie mit einem Lächeln von ihren schlimmsten Sehnsüchten, als wären sie nicht einst ihre eigenen gewesen. Wortlos schlang er seine Arme um ihren schmalen Körper. Aramis spürte, dass die Umarmung nicht ihr galt, sondern dem tief traurigen sechzehnjährigen Mädchen, das nicht über seine Gefühle hatte sprechen dürfen.

"Armand, es geht mir gut." Sie strich ihm sanft über den Rücken. "Sehr gut sogar." Ihre Lippen streiften seine Wange. "Lass uns weitergehen. Ich wollte dich nicht beunruhigen."
 

Eine halbe Stunde später hatten sie sich in eine Ecke des Treppenabsatzes vor Athos' Wohnung gedrückt. Er hatte sie dort hinein schieben wollen, doch stattdessen hatte sie ihn wie selbstverständlich mit sich gezogen.

"Wir werden den Rest des Abends wohl keine Gelegenheit mehr dazu haben, also sollten wir vielleicht..." Weiter kam er nicht. Dafür waren Aramis' Lippen weich und der süßliche Geschmack des Weins haftete noch an ihnen. Sie packte sein Degengehänge und zog ihn noch näher zu sich. "Noch können wir uns davon schleichen", flüsterte sie scherzhaft. Ihre Finger begannen an den Knöpfen seines Wamses zu spielen, wohl wissend, dass sie keine Gelegenheit haben würde, sie zu lösen.

"Im Berry ist es zu dieser Zeit sehr schön", gab er im gleichen Tonfall zur Antwort. Seine Lippen waren nah genug an ihren um zu spüren, wie sie lächelte. Doch statt einer neuerlichen Erwiderung gab sie ihm einen letzten Kuss, bevor sie ihn von sich schob. "Er wird schon auf dich warten."

Zu ihrer beider Verwunderung jedoch war die Wohnung bei ihrem Eintritt verlassen. Athos entzündete einige Kerzen und sah sich um. Charles' Gepäck fehlte, seine geliehene Schlafstätte lag ordentlich zusammengelegt auf dem Küchentisch. Daneben standen eine Flasche Wein, von der Athos sofort wußte, dass es keine von seinen war, und ein kleiner Tontopf. Unter dem Töpfchen lag, ordentlich zusammengefaltet, wie es Charles' Art war, ein Brief:

"Armand,

leider konnte ich nicht länger auf dich warten. Ich habe heute Mittag einen Geschäftspartner aus Florenz getroffen. Ausgerechnet hier! Er hat mich eingeladen, in seiner Unterkunft zu wohnen, und da ich dir bisher kein besonders guter Gast war, habe ich dankend angenommen. Deinen Schlüssel habe ich wieder an seinen Platz gelegt. In dem Töpfchen befindet sich Salz aus Cervia, das ganz fantastisch schmeckt, und in der Flasche ein nicht minder köstlicher Wein, den ich heute erst entdeckt habe. Bitte betrachte beides als Entschädigung dafür, dass ich plötzlich und ohne Anmeldung vor deiner Tür gestanden habe und jetzt genauso plötzlich wieder verschwinde. Ich werde morgen versuchen, dich zu treffen.

Charles"

Schweigend reichte er das Papier an Aramis weiter, die sich, die Beine entspannt gekreuzt, neben ihm an den Tisch gelehnt und ihn mit Besorgnis beobachtet hatte. Er ließ ihr einen Moment Zeit, um die Worte zu überfliegen. Ihr breiter werdendes Lächeln ließ jedoch schnell erkennen, dass sie seine Gedanken teilte. Langsam und mit unverhohlener Freude zog er ihr den Brief aus den Händen. "Ich wäre dann jetzt bereit für meine Revanche!"
 

Während Aramis schließlich erschöpft aber zufrieden eingeschlafen war, lag Athos noch lange wach. Wieder und wieder strich er ihr durch das dichte Haar und dachte darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet sie hier bei ihm lag. Das Risiko, dass sie beide seit dem Vorabend eingingen, war enorm. Ihres allerdings war dabei um ein vielfaches höher. Ihre Unterhaltung auf dem Pont Neuf hatte ihm eine längst verdrängte Erinnerung aus seiner eigenen Anfangszeit in Paris ins Gedächtnis gerufen. Daran, wie eine Gestalt erst ein schreiendes Bündel und anschließend sich selbst in die Tiefe fallen ließ. Die Schreie des Neugeborenen waren sofort verstummt. Bis zum heutigen Tag hatte er nichts herzzerreißenderes gehört. Und es hatte ihn nachhaltig beeinflusst. Er hatte es nie wieder riskiert, sich zu einer unverheirateten Frau zu legen. Das heißt, sofern sie keine Hure war. Und jetzt sie. Was hatten sie sich dabei gedacht? Renée kannte das Risiko, daran bestand kein Zweifel. Dennoch war sie es bereitwillig mit ihm eingegangen. Keine der Frauen, die in seinem bisherigen Leben von Bedeutung gewesen waren, waren ihr in irgendeiner Form ähnlich gewesen. Seine Mutter und seine Schwester, selbst seine Großmutter, soweit er sich an sie erinnern konnte, waren zweifelsohne allesamt intelligente, kultivierte und selbstbewusste Frauen. Vor allem aber waren sie ruhig und zurückhaltend. Sie waren eine durch und durch angenehme Gesellschaft, wie man es von ihresgleichen erwartete. Sein Leben lang war er davon ausgegangen, dass er diese Linie eines Tages fortsetzen würde. Renée hingegen... Sie war laut, leidenschaftlich, sturr, zuweilen fordernd. Ihr Verstand war messerscharf, aber das galt in gleichem Maße für ihre Zunge. Jahrelang hatte er in ihr nur das Mädchen sehen wollen, dass er zu schützen versprochen hatte. Auch dann noch, als sie es mit Leichtigkeit in die Kompanie geschafft hatte - ganz im Gegensatz zu Porthos, der wochenlang in Ungewissheit hatte leben müssen. Erst als D'Artagnan zu ihnen gestoßen war und die Rolle des Nesthäkchens übernommen hatte, war sein Bild von ihr ins Wanken geraten. Mit ihrem vermeintlichen Verrat an ihrer Freundschaft ein halbes Jahr später war es endgültig zerbrochen. Ihr Vorgehen im Thronsaal und im Haus der Familie Bonacieux' hatte ihn auf persönlicher Ebene tief verletzt. Aus strategischer Sicht jedoch war ihre Entscheidung zutiefst beeindruckend gewesen. Rückblickend musste es schon zu dieser Zeit gewesen sein, dass sich seine Gefühle für sie ändern begonnen hatten. Und dann war der Tag gekommen, an dem Rochefort sie geholt und ins Chatelet geworfen hatte.



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