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Chuparrosa

von

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Gift & Gegengift

 

Vorsichtig zog Diego das Pflaster von Alvaros Brust, der vor ihm auf dem Küchenstuhl saß. Die Wunde war gut verheilt. Die bedrohliche Rotfärbung von vor einigen Tagen war dem frischen Rosaton der heilenden Haut unter den noch übrig gebliebenen Tattoolinien gewichen. Die Medikamente wirkten. Und nicht nur die. Wahrscheinlich trug auch die Ruhe, die Alvaro hier vor seiner klettigen Familie hatte, nicht unerheblich dazu bei.

"Wir lassen es ab jetzt ohne Pflaster." Diegos Finger strichen sachte an den unterbrochenen Linien entlang, die mittlerweile abgeflacht waren und auch nicht mehr nässten. Er fühlte, wie Alvaro unter seiner Hand die Luft anhielt. "Tut es noch weh?"

Stumm schüttelte Alvaro seinen Kopf. Es war nicht die Wunde, die schmerzte. Es war Diegos Hand, deren Berührung mit seinem Kopf und Magen auf der gleichen Frequenz zu liegen schien, deren Rauschen Alvaro zwar immer im Hintergrund erahnt, aber nie tatsächlich gespürt hatte. Wie bei einem Radio, bei dem der Sender verstellt war. Man hörte irgendwas, konnte aber nicht genau zuordnen, was es war oder woher es kam. Doch sobald Diegos Fingerspitzen ihn berührten, geriet alles in ihm in Schwingung. Sein Blut toste durch seinen Körper und überflutete seinen Kopf, der einfach kapitulierte. Als wüsste er nicht mehr, wie man spricht oder wie man sich bewegt.

"Ich glaube nicht, dass von dem Tattoo noch viel übrig bleibt, wenn alles verheilt ist."

"Macht nichts", stieß Alvaro tonlos hervor.

"Was soll das überhaupt darstellen?" Diegos interessierte Blicke huschten von der Wunde hoch zu Alvaro, der die Lippen fest zusammenpresste, als fürchtete er sich davor zu explodieren, sobald er sie öffnete.

Diegos Atem strich über seine Brust, als er sich noch näher zu ihm hin beugte, um das Geheimnis eben selbst zu lüften, so lange Alvaro sich weigerte.

"Ist doch egal", platzte es dann doch aus Alvaro heraus. Wie er es hasste, dass seine Stimme gerade versagte!

Doch Diego hatte nicht vor locker zu lassen, bis er die Antwort kannte. "Schau an, schau an, unser braves Söhnchen ist wohl heimlich Mitglied - aber nicht bei den Pfadfindern...", neckte er ihn und sah triumphierend dabei zu, wie seinem Gegenüber sämtliche Gesichtsfarbe entwich. Alvaros Mimik, die innerhalb von Sekunden von ungläubigem Staunen bis zu erbleichendem Entsetzen reichte, ließ Diego schließlich sein Gesagtes mit einem breiten Grinsen beenden.

"Es sollte ein Skorpion sein", stieß Alvaro schließlich zwischen den Zähnen hervor. Unglaublich, wie Diego ihm mit seiner ungezwungenen Art Sachen entlockte, die er lieber ganz weit hinten in seinem Unterbewusstsein vergraben hätte. Aber dieser Kerl kam einfach an, schaute frechweg in jeden Schrank hinein, nahm sich was zum Trinken, fläzte sich damit auf die Couch und fühlte sich wie Zuhause. Und Alvaro gefiel alles daran.

"Schade drum, die ganzen Schmerzen umsonst." Diegos Augen folgten den Linien, die wie ein unterbrochener Morsecode aussahen. Wenn man es wusste, erkannte man den Skorpion wirklich, aber man musste schon die Augen etwas zusammenkneifen und den Kopf schief legen. "Ich habe noch nie so eine heftige Reaktion auf ein Tattoo gesehen. Entweder war das Gerät nicht steril oder du bist wohl gegen die Tinte allergisch."

Das erste Mal, seit Diego die verheilte Wunde berührt hatte, atmete Alvaro richtig aus. Was soll's - jetzt konnte er ihm auch noch den Rest von seiner glorreichen Idee erzählen. "Das lag wohl eher an dem Skorpiongift in der Tinte", gestand Alvaro kleinlaut.

"Dem Was?", rief Diego entsetzt auf.

Alvaro lehnte sich nach hinten, bis die Rückenlehne fest gegen sein Rückgrat drückte, weil Diego, der auf einem Stuhl vor ihm gesessen hatte, nun direkt vor ihm in die Höhe schoss und nun, größer als Alvaro, von oben auf ihn hinab starrte. Einen Moment sah er aus, als wollte er Alvaro packen, vom Stuhl zerren und kräftig durchschütteln, aber dann lachte er nur hilflos auf, ging zum Mülleimer und warf das benutzte Pflaster hinein.

"Du verarschst mich doch." Sprachlos sah Diego zu, wie sein Gegenüber verneinend den Kopf schüttelte. Das war nicht zu fassen! "Ich bin ehrlich beeindruckt von deiner grenzenlosen Dummheit - was das angeht." Mit einer schnellen Handbewegung brachte er Alvaro zum Schweigen, der gerade stotternd seine Erklärung vortragen wollte. "Schon okay, ich weiß, was das sollte. Gift und Gegengift, richtig?"

Alvaro nickte bedrückt.

 

"Aber weißt du, was mich an dieser Sache wirklich richtig kränkt?" Diego nahm wieder vor Alvaro Platz. Er griff nach der halbleeren Tube Heilsalbe und drehte den Deckel in Zeitlupe ab. Sollte Alvaro ruhig noch ein bisschen zappeln. Seelenruhig drückte Diego ein paar Millimeter der Creme aus der Tube auf Alvaros Wunde und begann dann damit, sie unter Alvaros angespannten Blicken vorsichtig zu verreiben. Mit Genugtuung registrierte Diego, wie sich Alvaro unter seiner Berührung zu winden begann, die Brust einzog und wieder vergaß zu atmen, doch da musste er jetzt durch. Wer sich ohne Nachzudenken irgendwelche dubiosen Sachen unter die Haut stechen ließ, der hielt es auch aus, wenn er ein bisschen Salbe darauf verteilt bekam. "Du kommst hierher und hast Schiss vor ein paar Puppen, die in einem Hühnerstall stehen, aber dass du dich dem, was dich schon einmal fast das Leben gekostet hätte, einfach so ein zweites Mal aussetzt, ist für dich praktisch, als würdest du dir nur die Schuhe zubinden."

Wie Recht Diego hatte... Alvaro griff nach der Hand, die noch immer über seine Brust strich, obwohl von der Salbe kaum noch was zu sehen war. Er hätte ihn am Liebsten damit weitermachen lassen. Hätte nur zu gerne zugelassen, dass die unsichtbaren Funken - die mit jedem Kontakt seiner Haut aufsprühten wie bei einem Streichholz, das über die Zündfläche strich -, ihn wie Zunder auflodern ließen, obwohl er schon längst von Kopf bis Fuß lichterloh in Flammen stand. Doch das winzige bisschen Konzentration, das Alvaro noch geblieben war, benötigte er, um Diego noch um etwas zu bitten, was ihm wirklich wichtig war, ehe ihn der Mut wieder verließ.

Geduldig wartete Diego, bis Alvaro seine Hand frei ließ, was länger als sonst dauerte. Er kämpfte mit sich, das konnte Diego bestens sehen, weil er seinen Blicken plötzlich wieder auswich und auf seine Finger hinab starrte, die sich in seinem Schoß haltsuchend ineinander verschlungen hatten. Diego drehte den Deckel zurück auf die Tube und wartete einfach, bis Alvaro von selbst mit der Sprache rausrücken würde.

Alvaros Augen schlossen sich einen kurzen Moment. Er kam sich so dumm vor. Nein, schlimmer - undankbar. Diego hatte ihm ohne zu Zögern die Tür in seine bizarre, aber auf eine verschrobene Art und Weise ganz charmante Welt geöffnet, ihn hereingelassen und willkommen geheißen, und Alvaro hatte die ganze Zeit nur darüber nachgedacht, wie froh er war, endlich mal so weit von seiner Familie weg zu sein.

"Würdest du mit mir-" Klasse, ein noch blöderer Satzanfang war ihm wohl nicht eingefallen. Warum nicht gleich Würdest du bis ans Ende meines Lebens... Alvaro wartete, ob Diego, der ihn äußerlich gefasst ansah, komisch auf sein Gesagtes reagierte, doch der lächelte ihn abwartend an. "Würdest du mit mir eins dieser-dieser, keine Ahnung, wie man das nennt..." Alvaros erst optimistisch begonnene Rede versiegte so plötzlich wie eine der kleinen Pfützen, die sich hier während der kurzen Regenschauer in den sonnengewärmten Felsmulden sammelten. Seine Blicke huschten ins Wohnzimmer, wo wie immer irgendwelche brennenden Kräuter ihren angenehmen Duft verbreiteten.

"Ein Ritual abhalten, um dich von deinem Fluch zu erlösen?" Diego sah zu, wie Alvaro sein T-Shirt anzog. "Natürlich. Dafür bist du ja hergekommen." Das jetzt endlich wieder selbstsichere Lächeln, das Diego gleich darauf traf, war sicherlich die beste Vorlage, die Alvaro ihm heute bot und er wäre völlig verrückt, wenn er sie nicht dankbar annehmen würde. "Mit oder ohne Blutopfer?"

Alvaro sah Diego mit seinem schockgeweiteten Rehblick an, bis der nicht mehr länger an sich halten konnte und in lautes Lachen ausbrach.

"Du bist so ein verdammter Arsch", zischelte Alvaro angefressen, woraufhin sich Diego mit einem zuckersüßen 'Ich weiß' revanchierte. Er hatte die abgetrennten Vogelschwingen nicht vergessen! Und auch nicht das Glas mit eingelegtem Gemüse, von dem Diego ihm abgeraten hatte, irgendwas ohne Etiketten darauf zu öffnen, weil er sich nur zu 30% sicher war, dass sich darin Gemüse befand. Selbst 80% hätten Alvaro nicht gereicht. Nicht mal 100%. Er würde die Dinge, die er hier in diesem Gruselkabinett gesehen hatte, nie, nie, nie wieder aus seinem Gedächtnis bekommen.

 

 

"Mit allem?" Großzügig ließ Diego Alvaro einen kurzen Moment, damit er es sich doch noch anders zu überlegen konnte, bevor er mit der ganzen Arbeit hier beginnen würde. Alvaro wäre nicht der Erste, der es sich kurz vor Beginn noch einmal anders überlegte, weil die Kombination von allem auf den ersten Blick schon ein wenig überforderte, doch Alvaro nickte; zwar so vorsichtig, als balanciere er ein rohes Ei auf dem Kopf, das nicht herunterfallen durfte, aber er stimmte zu.

"Wirklich? Der ganze Zirkus? Obwohl du weißt, dass es Unsinn ist?" Wer zweifelte hier plötzlich?, lachte Diego in Gedanken über sich. Er war es wohl selbst, denn Alvaro nickte erneut, dieses Mal sogar noch überzeugter.

"Aber kein-"

"Kein Blutopfer, du Spielverderber, ich weiß!" Diego seufzte ergeben und öffnete eine kleine Holzkiste, in der unterschiedlich farbige Kreidestücke nebeneinander lagen. Ohne lange überlegen zu müssen griff er nach der lilafarbenen Kreide und stellte die Kiste beiseite.

Jetzt wurde Alvaro doch etwas nervös. "Soll ich gehen, bis alles fertig ist?"

"Nein, warum? Du bist ja ein Teil davon."

Diegos Lächeln wischte Alvaros gerade wieder erwachende Zweifel davon, noch ehe sie wieder Besitz von ihm ergreifen und ihn flüchten lassen konnten. Er beobachtete, wie Diego vor ihm in die Hocke ging und damit begann, Kreidelinien auf die Holzdielen zu zeichnen. Fasziniert sah er, wie sich das Muster langsam Strich um Strich bildete, ohne zu erkennen, was es war.

Die Form, die Diego einen Schritt entfernt vor Alvaro aufmalte, sah aus wie Buzz Aldrins Fußabdruck im grauen Mondsand: ein Oval mit Querstreifen. Das längliche Oval bekam einen Haken an das untere Ende und an dessen Ende wiederum malte Diego etwas, das einem Tropfen ähnelte, der von Alvaros Position aus gesehen etwas schräg auf der Spitze stand. Als nächstes bekam das Oval links und rechts jeweils vier V-förmige Linien. Diego stand auf und betrachtete sich sein bisheriges Werk. Er besserte hier und da ein paar Stellen aus, aber die Grundform schien fertig zu sein.

Alvaro rätselte noch immer, was es darstellen sollte und wollte gerade nachfragen, als Diego neben ihm in die Knie ging und erst am rechten oberen Ende des Ovals und dann am linken Ende einen Bogen hinmalte, so dass es wie Hörner aussahen, die Alvaro nun einrahmten.

"Gleich ist es fertig." Diego lächelte Alvaro von unten herauf an, der stumm nickte und seine Blicke über die lilafarbenen Linien gleiten ließ.

Die Kreide in Diegos Hand schabte leise über die Holzdielen und als er zum zweiten Horn wechselte, traf Alvaro die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Es waren keine Hörner, sondern Greifarme an deren Ende Diego gerade die Scheren hinmalte. Es war ein Skorpion und Alvaro stand genau mittig zwischen den scherenbewehrten Fangarmen.

"Hat ja lange gedauert, bis du es verstanden hast", lachte Diego über Alvaros fassungslose Blicke. Er wischte sich den Kreidestaub von den Händen und betrachtete sich noch einmal sein Werk. Er wurde besser, musste er sagen. Er hatte zwar keine Ahnung, was tatsächlich zu solchen Ritualen gehörte, aber da sich bisher noch niemand beschwert hatte und am Ende alle relativ glücklich gingen - wovon die meisten sogar für ein zweites oder drittes Mal zurückkamen -, schien er mit dem was er tat nicht ganz falsch zu liegen. "Hilfst du mir mit den Kerzen und den Schalen?"

 

Nachdem Diego mit der Position der Kerzen und Metallschalen zufrieden war, in denen sich diverse Hölzer und Kräutersträuße befanden, drückte er Alvaro ein Feuerzeug in die Hand.

"Zünd die Kerzen an. Ich bin gleich wieder da", verabschiedete sich Diego von Alvaro, der seit seiner Frage, ob er Diego hier alleine alles vorbereiten lassen sollte, kein Wort mehr gesprochen hatte. Auch jetzt nickte er nur stumm und sah zu, wie Diego den Flur zu den Schlafzimmern betrat. Vorsichtig und ohne auf die Kreidelinien zu treten, ging Alvaro um das Skorpion-Bild herum und entzündete alle Kerzen. Der düstere Raum erhellte sich mit jeder aufleuchtenden Kerze und als die letzte aufflammte und alles in einem warmen Orange erstrahlte, kam Diego wieder zurück.



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