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Bound in Darkness 2
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
A leader is one who knows the way, goes the way, and shows the way.
– John C. Maxwell Komplett anzeigen

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Barriere

„Captain.“

Yama betrachtete seine linke Hand auf dem Steuerrad. Der Lederhandschuh begann sich an den Säumen aufzulösen; vielleicht war dies das Schicksal von Arbeitskleidung, die den Strapazen ausgesetzt war, Tag für Tag auf einem unsterblichen Schlachtschiff Dienst zu tun. Das Holz des Steuerrads hatte ein Jahrhundert überdauert, blank und glattgestrichen von so vielen Berührungen durch Hände in gestärktem Leder; doch selbiges Leder war wie viel, anderthalb Jahre alt? Sicher hatten die Handschuhe nicht lange ungetragen im Kleidungsfundus der Arcadia zugebracht, nachdem sie wessen Leiche auch immer abgenommen worden waren.

Yama wandte sich um. „Was gibt es?“

Alonso räusperte sich. „Sieht aus, als würden die Schwierigkeiten jetzt schon anfangen. Die Sensoren zeigen drei große Patrouillenschiffe an den Außenstationen des Mars-Jupiter-Sektors. Tiado-Klasse, mit Jägern und allem.“

„Die schmollen wirklich schlimm“, bemerkte Yattaran auf Yamas linker Seite. „Normalerweise ist der Wachposten doch immer ein lahmer alter Kasten mit fünfzig Hosenscheißern an Bord, die einen Satelliten nicht von einer Raumboje unterscheiden können.“

Kei rechts von Yama kicherte freudlos. „Hast du wirklich geglaubt, wir könnten sie überraschen? Die konnten sich doch denken, dass wir früher oder später hier auftauchen würden. Ich wette, im ganzen Orbit des Mars warten noch viel mehr auf uns.“

„Und wenn schon“, murmelte Yama. Die Heimatbasis der Gaia Sanction interessierte ihn nicht. Er hatte weder vor, sie direkt zu beschießen, noch irgendeinem Wachposten im Vorbeiflug den Antrieb lahmzulegen. Nur konnten sie das nicht wissen; sicher glaubten sie, er käme zurück, um Rache zu üben und ihnen endgültig den Garaus zu machen.

„Yama“, sagte eine ruhige, dunkle Stimme hinter ihm, und jetzt wandte Yama sich um und blickte zu Harlock, der im Schatten saß, ganz und gar verschmolzen mit dem hohen Umriss seines Throns. „Möchtest du meinen Rat hören?“

„Immer.“ Es war zu einem Ritual zwischen ihnen geworden. Harlock würde niemals Yamas Vorgehensweise kommentieren, ohne ihn vorher formal um Erlaubnis zu bitten, und Yama würde seine Hilfe niemals ablehnen. Zu vieles konnte Yama noch nicht wissen mit seinem begrenzten Erfahrungsschatz, doch diese Unzulänglichkeiten durften seine Autorität keinesfalls in Mitleidenschaft ziehen.

„Als du zum zweiten Mal zur Erde geflogen bist, hat dich niemand aufgehalten. Aber als du zuletzt mit Yattaran dort warst …“

„Dämliche Pseudo-Heimkehrer“, blaffte Yattaran seine Konsole an.

Yama verstand, worauf Harlock hinaus wollte. Es brauchte nie viele Worte, bis er den Gedanken des früheren Captains der Arcadia folgen konnte. „Der Bürgerkrieg hat sich ausgeweitet, wir haben selbst gesehen, wie viele Rebellen sich in der Milchstraße zusammengezogen haben. Die Gaia-Flotte macht jeden Tag Verluste. Das heißt, ihre Schiffe können nicht mehr voll bemannt sein.“ Das ergab Sinn. Er konnte die drei massiven Tiado-Schiffe selbst vom Ruder aus auf Yattarans Bildschirm sehen, große eckige Schemen; was dort fehlte, war der niederschlagsartige Schwarm aus Jägern, den diese Schiffe üblicherweise ausspuckten, sobald ihre Sensoren die Arcadia erfassten.

Falls sie sie erfassten. Immer wieder umkreisten die technisch unterlegenen, doch in ihrer Zahl lästigen Schiffe der Rebellen den Mars, um der Gaia Sanction zuleibe zu rücken – mutige Männer und Frauen, die Betrug und Lügen satt hatten. Noch waren sie nicht organisiert genug, um ernsthaften Schaden anzurichten, ein taktisch unkoordinierter Haufen, doch ihre Zahl stieg stetig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wirksame Angriffsstrategien entwickeln würden.

Es war das Gesetz der Natur. Die Gaia Sanction würde eines natürlichen Todes sterben, übermannt von stärkeren Konkurrenten um die Macht, nachdem sie ihre Autorität verloren hatten.

„Willst du’s versuchen?“, fragte Kei, ohne den Kopf zu heben, und Yama wusste, dass er gemeint war.

„Welcher von den dreien ist am stärken beschädigt?“

„Der in der Mitte.“

„Und welcher am wenigsten?“

„Der an Steuerbord.“

Yama schloss beide Fäuste fest um den Rand des Rads. Obwohl das Leder des Handschuhs spürbar weiter nachgab, lächelte er flüchtig.
 

***
 

19 Tage zuvor
 

Yama fragte sich, ob irgendjemand an Bord wusste, was sie getan hatten. Irgendjemand außer Miime. Niemand sprach ihn darauf an; nicht Kei, nicht Yattaran, nicht sonst irgendjemand der wechselnden Brückenbesatzung, deren Namen er beharrlich zu lernen versuchte, um sie korrekt ansprechen zu können. Mehr als einen kurzen Exkurs zum Thema Menschenführung hatte ihm die Ausbildung der Gaia Sanction nicht angedeihen lassen; nie war vorgesehen gewesen, dass Yama irgendetwas führte.

Zweifellos spürten die Männer, dass jetzt etwas anders war. War der erste Überfall unter Yamas Kommando noch in einem Desaster geendet, verlief der zweite so reibungslos nach Plan, dass sie es ahnen mussten.

Wie habt ihr es gemacht?, erwartete Yama Keis neugierige Frage beim Schichtwechsel am Ende des Tageszyklus. Was ist passiert zwischen dir und dem Captain? Sie nannte Harlock immer noch ‚den Captain‘. Gemeint war damit keine Funktion, sondern eine Identität.

Yama könnte es ihr einfach sagen. Kei war der vielleicht professionellste Offizier an Bord, sie würde nicht schockiert sein. Doch sie fragte nicht, niemand fragte, und Yama hielt den Mund.

Ebenso Harlock. Strenggenommen machte er den Mund kaum noch auf.

Das Schlimmste waren die Schwindelattacken. So heilsam die Nacht der Machtübergabe auch gewesen war, so zehrend waren die beiden, die folgten. Zu viele Sinneseindrücke drohten Yamas Verstand zu überwältigen. Zu viel giftige Dunkle Materie durchseuchte seinen Körper. Wenn ihm nicht gerade übel war, bewegte sein Bewusstsein sich schlingernd am scharfen Rand des Abgrunds, der Ohnmacht hieß. Zu oft war es das Steuerrad, das Yama aufrecht hielt, während er sein Gewicht darauf lehnte wie ein Betrunkener, den niemals jemand ans Ruder eines Schlachtschiffs gelassen hätte.

In solchen Momenten nannte niemand ihn „Captain“, und es dauerte, bevor es überhaupt jemand tat. Bis zum zweiten Tag nach dem Ritual fiel diese Anrede überhaupt nicht auf der Brücke. Harlock anzusprechen war fruchtlos; es schien, als habe er sich vorgenommen, auf den Titel, den er über hundert Jahre geführt hatte und der praktisch Teil seines Namens war, nicht mehr zu reagieren. Er saß nur noch schweigend auf seinem Thron, eine hartnäckige, aber stumme Präsenz, die Yama im Rücken fühlte, während bei jedem Richtungswechsel die schwarzen Dämpfe durch seine Knochen rauschten und seine Knie zu Gelee werden ließen. Harlock war im Moment keine Hilfe, und er konnte auch keine sein.

Es war Miime, die eine Hilfe war. Sie ging zu Yama, wenn er den Stand zu verlieren drohte, und ihre kühle Berührung war wie Balsam gegen das Kreischen des Antriebs, das Yamas Schädel zu sprengen drohte.

Ich habe keine Wahl, war alles, was Yama über Stunden denken konnte, ein einzelner, kreiselnder Gedanke im schwarzen Becken seiner Sinne. Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Das … davor. Davor gab es etwas, das schlimmer war …
 

***
 

Der erste Schuss saß. Der zweite auch. Zwei der vier Triebwerke des fliegenden Bollwerks wurden dunkel, als ihre Energieerzeugung zum Stillstand kam.

„Immer noch keine Jäger“, meldete Alonso. „Haben wohl wirklich kaum Männer da drauf. Wollen nur stark aussehen.“

Dämlich, dachte Yama. Sie sind verzweifelt. Tiado-Klasse-Patrouillen sind zu langsam, um vor einem Angriff zu fliehen. Die Männer auf diesen drei Schiffen sind dort, um zu sterben.

Das backbord von ihnen liegende der drei Schiffe eröffnete das Feuer auf die Arcadia; das mittlere war offenbar nicht mehr in der Lage dazu. Selbst aus so großer Entfernung waren die fadenförmig entweichenden Gase an den Mündungen seiner Geschütze zu sehen.

„Feuer erwidern?“, fragte einer der Artilleristen via Intercom.

„Auf die Geschütze zielen“, antwortete Yama. „Macht sie nur kampfunfähig.“ Vielleicht sollten wir sie auch einfach zerstören. Das wäre ein schnellerer Tod für die Crew. Die Rebellen werden Schlimmeres mit ihnen anstellen. Andererseits würde für die Erzeugung von genügend Hüllenbrüchen auf so großen Schiffen eine große Menge Cygnus-Plasma draufgehen. Yama musste zuerst an seine eigenen Ressourcen denken.

Kurz kniff er die Augen zusammen, als die Wunden der Arcadia Dunkle Materie zu bluten begannen. Es war, als würde der Lebenssaft des Schiffes aus seinem eigenen Körper strömen, bis die Kompensation einsetzte. Sein Klammergriff um das Steuerrad löste sich wieder etwas, und er atmete auf. „… Feuer.“

Sektion 2 und 11 des Schützenstands nahmen das hartnäckig um sich schießende Schiff auf der linken Seite ins Visier und beendeten dessen sinnlosen Angriff mit einigen Treffern.

„Der Weg sollte jetzt frei sein“, meldete Kei. „Mann, was für ein Witz.“

„Gut. Wieder Kurs auf den Mars nehmen“, seufzte Yama.

„Aber langsam annähern“, ergänzte Yattaran feixed. „Manche dieser Rebellen fliegen wie Anfänger. Nicht dass wir noch einen mitnehmen, am Rumpf klebend.“

Die Arcadia kroch vorwärts. Yamas Eingeweide begannen wieder zu krampfen. Jeder Meter brachte ihn näher an sein früheres Zuhause, sein altes Leben – einen Ort, der jetzt das letzte Refugium des Feindes war. Er wollte nicht dorthin. Aber er musste.
 

***
 

11 Tage zuvor
 

Harlocks Führerschaft fußte auf Schuld.

Die Erkenntnis kam Yama, als er an einem der Tische in der Halle saß und ein Stück weiches Toast in seine Suppenschale tunkte. Die Übelkeit und der Schwindel nahmen nun jeden Tag ab, und dafür kehrte sein Appetit allmählich zurück. Jung und kräftig, wie sein Körper war, hatte er sich den Einwirkungen der Dunklen Materie rasch angepasst. Yama fühlte sich fast normal. Fast.

Heute war Shoda an ihn herangetreten und hatte ihm etwas mitgeteilt, das völlig logisch, aber von Yama zu keinem Zeitpunkt bedacht worden war: Harlocks Verrat an der Crew war nicht für jeden an Bord so einfach zu verkraften. „Ein paar von uns haben beschlossen, dass sie nicht auf der Arcadia bleiben wollen. Ist das, ich meine … ein Problem?“

Yama entsann sich, dass jeder von Harlocks Leuten an Bord war, weil Harlock ihn irgendwo vor irgendwas gerettet hatte. Nicht wenige von ihnen hatten einst zur Gaia Sanction gehört und waren dort in Ungnade gefallen; andere hatten in Gefängnissen gesessen oder sich an kleinen Rebellionen beteiligt. Sie waren Harlock gefolgt, weil er ihnen eine Perspektive geboten hatte im Austausch für laxe Regeln und flache Hierarchien, denen sie sich bereitwillig unterwarfen. Der Kampf für die Freiheit war eine romantische und noble Mission. Nun jedoch, da Harlock ihre Schuldgefühle ihm gegenüber missbraucht hatte, fühlten sie sich ihm nicht länger verpflichtet.

Yama hatte die Frage beantwortet, ohne nachzudenken. Nein, es sei kein Problem; er werde jeden, der nicht bleiben wollte, gehen lassen. Nur stellte sich die Frage: Wann? Und wo? Er brauchte sie; jeder von ihnen würde ersetzt werden müssen. Eine klare Aussage, bei welcher Gelegenheit die Abbrecher von Bord gehen durften, war Yama der Crew schuldig geblieben, und nun würden sie hoffentlich ein paar weitere Tage des Vertrauens für ihn erübrigen und auf ihren Posten bleiben.

Die Suppe schmeckte frisch genug, doch das Toast hatte sicher schon seit dem Frühstück herumgelegen. Keine Seltenheit, wenn Lebensmittel nur in unvorhersehbarem Rhythmus eintrafen. Yama konnte fühlen, wie die Energie, die er sich selbst zuführte, sich in den zähen schwarzen Nebel verwandelte, der die Triebwerke des Schiffes befeuerte. Seines Schiffes. Er hielt es am Leben, indem er selbst am Leben blieb.

Beinahe glaubte er, die Erschöpfung der vergangenen Woche spielte ihm einen Streich, als er Harlocks hohe, geschmeidige Gestalt auf sich zuhalten sah. Gehült in den Umhang, der ihm um die Schultern strich, war der frühere Captain auf den ersten Blick unverkennbar. Yama spürte eine seltsame Anspannung von sich Besitz ergreifen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt seit dem Ritual; nur Notwendiges, Unpersönliches. Änderte sich das nun endlich? Hatte Harlock ein freundliches Wort für ihn übrig, oder …

Suppe tropfte zurück in die Schüssel, als Yama den Löffel auf halbem Wege zu seinem Mund festhielt.

„Yama.“ Harlocks Stimme war ohne Wärme und passte nicht zu seinen Worten. „Ich hoffe, du fühlst dich besser.“

„Es geht.“

„Wann fangen wir mit dem Training an?“

Yama sah ihn verständnislos an.

„Du wolltest, dass ich dich darin schule, deine blinde Seite zu kompensieren.“

Das stimmte. Yama erinnerte sich daran, Harlock darum gebeten zu haben, nachdem sie … das Ritual abgeschlossen hatten. Als sie aus dem Bett geklettert waren, nachdem sie

„Informiere mich einfach, wenn du bereit bist.“ In Harlocks Ton schwang eine leise Ungeduld mit. Als Yama nicht antwortete, schickte er sich an, kehrt zu machen, zweifellos bereit, mit einer Handbewegung seinen Umhang dramatisch aufzubauschen –

„Halt“, sagte Yama und stieß seinen Löffel so hart in die Schüssel, dass ein paar Tropfen Suppe über den Rand flogen. „Warte.“

Harlock sah ihn von der Seite an, die Braue aufmerksam erhoben.

„Ist das dein Ernst? Es ist zehn Tage her, dass wir – verdammt, du weißt, was wir gemacht haben. Und nach zehn Tagen ist das Erste, das du zu mir sagst, dass ich Training brauche?“

Harlock betrachtete ihn mit unbewegter Miene, dann wandte er den Blick ab. „Die Situation ist auch für mich nicht einfach“, sagte er. „Aber du weißt so gut wie ich, dass unser Krieg mit der Gaia Sanction noch nicht vorbei ist. Und Nahkampf ist ohnehin nicht deine starke Seite, Yama.“

„Oh, danke, das wusste ich noch gar nicht.“

„Du weißt, dass ich dir helfen will.“

„Natürlich. Um meinetwegen oder deinetwegen?“ Es war eine unnötige Frage, aber Yama wusste selbst, dass Denken und Handeln bei ihm oft in der falschen Reihenfolge stattfanden. Mit einem angespannten Atemzug hob er den Suppenlöffel wieder auf. Harlocks Vernunft war ätzend, aber angebracht; Yama hatte hundert Jahre davon aufzuholen. „Na schön. Wann und wo?“

„Iss erst auf. Wenn es auf der Brücke ruhig ist, gehen wir in den Salon.“

„Von mir aus.“

Harlock ging, ohne Umhangflattern. Erstmals kam Yama der Gedanke, dass auch Harlock … litt. Nach über hundert Jahren war er befreit von dem Fluch, den er selbst durch den Missbrauch alter und großer Mächte über sich gebracht hatte – doch wie befreiend war dieser Zustand wirklich nach so langer Zeit?
 

Sie schoben den altehrwürdigen Tisch, an dem Harlock und Miime zu trinken pflegten und der sehr viel massiver aussah, als er war, näher an die ausladende Fensterfront. Der Salon im Heck des Schiffes war kein Übungsraum, doch offenbar wollte Harlock dieses Training privat halten. Yama konnte es nur recht sein.

„Keine Waffen?“, fragte Yama, als sie beide mit leeren Händen dastanden.

„So weit sind wir noch lange nicht“, erklärte Harlock, während er den Kragen seines Umhangs löste und ihn ablegte.

Wie ermutigend.

Yama blieb in der Mitte des Raumes stehen, während Harlock sich aus verschiedenen Richtungen an ihn heranpirschte. Sehr erfolgreich, zu Yamas Missfallen. Er hatte nicht geahnt, welch enormen Unterschied es machen würde, wie viele Augen man zur Verfügung hatte. Anders als Isora hatte Yama stets scharfe Augen gehabt und sich immer auf sie verlassen; er war ein guter Schütze und stellte sich in vielen Dingen geschickt an, weil er gut sehen und räumliche Verhältnisse hervorragend abschätzen konnte. Das war nun anders. Die rechte Seite seines Gesichtsfeldes hatte sich in einen gigantischen toten Winkel verwandelt, und ohne räumliches Sehen waren Entfernungen ein Ratespiel. Selbst wenn er Harlock auf sich zuspringen sah, griff er fast immer ins Leere, wenn er ihn abwehren wollte.

„Du bist tot.“ Harlocks behandschuhter Daumen stieß in die weiche Seite seines Halses, nicht fest, aber nachdrücklich.

„Tot, Yama.“ Und wieder.

„Tot.“ Und wieder.

Yama fuhr auf dem Fuß herum, aber Harlock huschte außer Sicht wie ein Schatten.

„Tot.“ Auf seiner sehenden Seite!

Harlocks unbewegte Stimme ließ Yama in hilflosem Zorn die Zähne zusammenbeißen. Längst waren die Kopfschmerzen zurückgekehrt, strahlten aus seinen Schläfen in den Rest seines Körpers aus, während seine Erschöpfung die Dunkle Materie aus dem Geichgewicht brachte. Es war nicht fair. Yama war nicht halbblind wegen der Schussverletzung, sondern wegen des verdammten Fluchs. Vor dem Ritual hätte sein Auge sich vollständig erholen können! Wenn nun alle von Harlocks Schwächen auf ihn übergegangen waren, warum dann nicht auch seine Stärken – die überlegenen Sinne, die katzengleiche Geschmeidigkeit, die jahrzehntelange Kampferfahrung? Es war nicht fair.

„Das reicht jetzt!“, schnappte er. „Wie oft willst du mich noch umbringen, bis du glaubst, dass ich’s kapiert hab?“

Harlock ließ die Arme sinken. Kurz spiegelte sich Betroffenheit in seinem Auge.

„Ich hatte zwar nur ein kurzes Training bei Gaia, aber es war verdammt hart. Ich war nicht schlecht, sonst hätten sie mich nicht gehen lassen. Aber du, du hattest ein ganzes Jahrhundert, um zu trainieren, du kennst alles und ich kann nicht mithalten!“ Aus einem Impuls heraus gab Yama dem Tisch einen Tritt. Nur sein hoher Stiefel verhinderte das zu erwartende Hämatom an seinem Schienbein. „Was also soll das hier, Harlock? Was erhoffst du dir davon, mich fertig zu machen?“

Endlich wurde Harlocks ganze Haltung deeskalierend, und er schüttelte den Kopf. „Wenn du es so empfindest, dann hören wir auf. Dich fertig zu machen ist ganz sicher nicht mein Ziel.“ Er trat an die hohe Wanduhr heran, die mit reglosen Zeigern auf einem ornamentierten Ziffernblatt an der Wand ruhte. In ihrem Inneren, hinter der schmalen Tür auf Brusthöhe, lagerten diverse erbeutete Schätze mit variablem Alkoholgehalt. „Wein, Yama?“

Anscheinend konnte Harlock zu jeder Zeit trinken. Yama fragte sich, ob es seiner Lage helfen würde, ebenfalls zum Alkoholiker zu werden. „Sicher.“ Dennoch blieb er stehen, wo er war, und versuchte, sein von der Anstrengung hämmerndes Herz zu beruhigen.

Harlock stellte Yamas Glas dort ab, wo dessen Jacke über einer hohen Stuhllehne hing, und fragte: „Wie lange willst du noch um die Sperrzone kreisen? Du kannst nicht jeden Neugierigen von der Erde fernhalten, und wozu auch, es gibt noch nichts dort zu finden. Wolltest du nicht zum Mars und das Saatgut aus deinem Gewächshaus holen?“

„Das ist sinnlos.“ Yama nahm einen großen Schluck von dem schweren dunklen Wein. Schreckliches Zeug. „Ich war einmal unten, kurz nachdem wir …“ Ich sollte es endlich aussprechen. Vielleicht erinnert er sich dann wieder.

„Ich weiß.“

„Wir haben Samen aus der Küche hingebracht, Proben von allen Speisepflanzen, die von der Erde stammen – Tomatenkerne, Sonnenblumenkerne, irgendwelches Getreide. Kresse. Alles in der Nähe der Wasservorkommen, wo auch die Blumen stehen.“

Harlock sah ihn an und wartete auf die Pointe.

Widerstrebend nahm Yama einen weiteren großen Schluck. „Gestern war war ich noch mal dort, mit Yattaran. Nichts. Kein einziger Keimling. Ich hab alle Stellen markiert. Aber auch sonst wächst dort nichts, Harlock. Keine Kräuter, keine Gräser, nicht mal Algen oder Flechten. Nichts.“

Harlocks Blick wanderte zu dem halbleeren Glas in seiner eigenen Hand. „Warum wachsen dann die Blumen dort?“

„Ich weiß es nicht.“ Die Wahrheit brannte in Yamas Kehle, zusammen mit dem starken Wein.

„Vielleicht dauert es einfach länger. Die Samen hatten nur eine gute Woche Zeit zu keimen.“

Kresse, Harlock. Streu das Zeug in irgendein Substrat und nach spätestens zwei Tagen keimt es.“

„Ich verstehe nicht viel von Pflanzen.“

Vielleicht solltest du dann aufhören zu klugscheißen, denn ICH verstehe was davon. „Ich will nicht zum Mars“, hörte Yama sich sagen. „Ich will nicht.“

„Du musst“, entgegnete Harlock ruhig. „Es ist dein früheres Zuhause. Alle deine Angehörigen sind tot, also gehört alles dort von Rechts wegen dir.“

Yama unterdrückte ein sarkastisches Auflachen. Stattdessen zwang er sich zu einem weiteren Schluck und spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. „Denkst du wirklich, das interessiert irgendjemanden?“, murmelte er.

„Nein. Aber du brauchst einen Abschluss.“ Was Harlocks Blick wirklich sagte, war: Du musst Abschied nehmen. Du musst trauern. Sonst wird dein Schmerz dich zerstören.

Wahrscheinlich stimmte das sogar.

Yama stellte das leere Glas wieder auf den Tisch, und Harlock füllte es postwendend wieder bis zum Rand. „Bevor du wieder zu dir selbst kommst“, sagte er, „hat es keinen Sinn, dass wir weiter an dir arbeiten.“

„Sehe ich auch so“, schnaubte Yama, packte das aufgefüllte Glas sofort und kippte die Hälfte des Inhalts hinunter.

Plötzlich sagte Harlock in schneidendem Ton: „Glaubst du, ich wüsste nicht, wie es dir geht?“

„Tust du das?“

„Ich war an deiner Stelle, vor langer Zeit. Ich will dich nicht dieselben Fehler machen sehen. Ich will nicht sehen, wie du so wirst wie – …“ Doch Harlock brach ab und presste die Lippen zusammen.

„Wie wer?“, ätzte Yama. „Wie du? Ich dachte, genau deshalb sind wir hier.“

Harlocks Haltung verlor die Spannung. Stoisch nippte er an seinem Wein, die Miene wieder verschlossen, und sagte nichts.

Das machte Yama nur noch wütender. „Glaubst du, mein blindes Auge ist das einzige Problem hier? Ich kann nicht führen, Harlock. Du hast es gelernt, ich nicht. Ich war nur ein Soldat! Ich kann keine Strategien entwickeln, keine Feinde ausschalten, keine ganze verdammte Armee in Schach halten!“

„Das musst du auch nicht“, sagte Harlock nun unerwartet sanft. „Ich bin immer noch hier, bei dir. Wir werden viel Zeit haben, dich auf alles vorzubereiten.“

„Und wann sind wir damit fertig? Ich kann niemals du sein.“

Harlock seufzte. „Yama, das sind alles Dinge, die wir schon besprochen haben. Ich dachte, wir hätten deine Zweifel ausgeräumt.“

„Das dachte ich auch, danach. Weißt du noch? Wir haben uns großartig gefühlt. Danach. Aber das war dumm, nicht wahr?“ Ich muss aufhören zu trinken. Jetzt. Scheiße, ich vertrage nichts.

„Wenn du das alles hier nicht willst“, sagte Harlock scharf, „warum hast du es dann getan? Warum hast du die Augenklappe genommen und dich ans Ruder gestellt? Warum?“

„Weil wir sonst alle gestorben wären!“ Yama schrie nun fast, und seine Hand, die das Glas hielt, zitterte. „Du hast die Dunkle Materie aufgebraucht, du hast die Arcadia geopfert. Mit dir als Captain hätte sie nicht mehr abheben können! Du musstest den Fluch weitergeben, und leider war da nur noch ich!“ Er leerte den Wein, zwängte ihn gewaltsam durch die Enge seiner Kehle. Und ich kann nirgendwo anders mehr hin.

Jetzt lächelte dieser Mistkerl auch noch, ein mildes, nachsichtiges Lächeln. „Du hast keine Ahnung, wozu du fähig bist“, sagte er beinahe feierlich. „Du wirst stärker sein als ich, Yama, viel stärker.“

„Dass ich nicht lache“, fauchte Yama und knallte das Glas auf den Tisch. Dann machte er schwungvoll kehrt – schon zwei Gläser Wein störten seine Motorik so sehr, dass er sich kurz am Tisch festhalten musste – und ging. Irgendwie schaffte er es nach draußen, während Harlocks Blick ihm folgte.
 

***
 

Die endlose rote Wüste, die der Mars war, tat sich vor ihnen auf. Überall in den tiefen Gräben und Kratern zwischen den Felsen saßen die Bauwerke der Gaia Sanction, ihre fürstlichen Sitze, ihre Hangars, ihre Wasseraufbereitungsanlagen, ihre unzähligen nutzlosen Zierbauten, die glitzernd in die künstliche Atmosphäre aufragten.

„Was genau steuern wir an?“ fragte Yattaran.

„Fünfzehn Grad steuerbord“, sagte Yama müde. „Richtung Tharsis-Region.“

„Also zu ihrer Heimatbasis?“, hakte der Erste Maat nach.

„Ganz in der Nähe.“ Yama kannte die Anflugschneise sehr genau. Isoras Behinderung und die Limitierung der Energieversorgung hatten es nötig gemacht, dass sie in ein Herrenhaus in kleinstmöglicher Distanz zu den Tagungssälen des Hohen Ministerrats umzogen, damit Isora als Kommandeur der Flotte so oft wie möglich persönlich dort erscheinen konnte. Dort hatte Nami das neue Gewächshaus bauen lassen. Yama hatte es nie von innen gesehen.

Neben ihnen stieß ein kleines Raumschiff ohne Kennzeichnung tollkühn Richtung Oberfläche herab. Rebellen, was sonst. Sie sahen zu, wie das Treibstoffdämpfe ausstoßende kleine Blechding – zweifellos war es im Windschatten der Arcadia an den drei zahnlosen Wachhunden am Rand des Sektors vorübergeglitten – seine Nase senkte, vielleicht, um selbstgebaute Sprengsätze über den Wohngebieten der Marsbewohner abzuwerfen. Yama überlegte bereits, ob er es abfangen sollte, als etwas gänzlich Unerwartetes geschah.

Der kleine Kreuzer prallte wie von einer unsichtbaren Wand ab. Plasmagitter grellten auf beim Kontakt mit der Hülle, Lichtblitze sprangen über, als Pulsare sich in das Schiff entluden. Der Bug explodierte lautlos, dann der Rumpf, dann das Heck. Alles ereignete sich binnen weniger Sekunden. Der Schiffskörper brannte aus, seine Einzelteile landeten ebenfalls auf dem Plasmagitter, um dort zu verglühen und atomisiert zu werden. Einen Augenblick später war nichts mehr von dem Eindringling zu sehen.

„Hä?“, machte Yattaran.

Auch Kei drehte sich zum Steuer um, ihr Gesicht ein Fragezeichen. „Yama, was zum Teufel war das?“

„Ich kann nichts registrieren“, meldete Alonso unnötigerweise.

„Aber das war nicht nichts, was den Rebellen gebraten hat!“

Yamas Mund war trocken. Er hatte davon gehört, oder nicht? Ein letztes Ass im Ärmel der Gaia Sanction. Eine Verzweiflungswaffe. Ebenso wie das Kaleido-Star-System, ebenso wie der Jovian Blaster. Diese beiden hatten sich als wirkungslos erwiesen. Dies hier war das letzte ihrer geheimen Projekte, vielleicht ebenso ein Jahrhundert lang für genau diesen Zweck gehütet … Automatisch hatte Yama die salbungsvolle Stimme des Großen Ministers in der Ohren, wie er feierlich verkündete: „Ich genehmige den Einsatz von … was auch immer wir noch nicht ausprobiert haben.“ Es war –

„Ein Schild“, stellte Harlock hinter ihnen mit unbewegter Stimme fest. „Wir hätten wissen müssen, dass sie Mittel und Wege haben, ihre Heimatbasis für den Fall einer übermächtigen Bedrohung zu schützen.“

Yama drückte den Knopf für die Comverbindung. „Artilleristen, gebt einen Testschuss ab mit jeder Munition, die wir haben.“

Die Anweisung wurde mehr oder weniger geordnet ausgeführt. Piraten waren nun einmal keine Militärs. Etwas chaotisch krachten verschiedene Salven auf den unsichtbaren Schild, der bei jedem Treffer aufloderte und alles, was auf ihn traf, einfach auffraß: Er ließ die Geschosse explodieren und absorbierte die freigesetzten Energien. Nicht einmal das mächtige Cygnus-Plasma richtete auch nur den geringsten Schaden an.

Kei fluchte über ihren Monitoren.

„Diese Bastarde!“, knurrte Yattaran. „Denken die, sie könnten sich ewig hinter so einer Wand verschanzen?“

Yama schloss sein Auge. „Sie können. Der Mars ist autark, und dieser Schild scheint seinen eigenen Energiekreislauf zu haben. Sie können.“
 

Einen Moment lang starrten sie alle durch die große Frontscheibe hinunter auf den Mars, der zum Greifen nahe vor ihnen lag und nun doch unerreichbar war. Dann begann die Diskussion.

„Gibt es irgendeine Waffe, die so was kaputt kriegt?“, fragte Kei hitzig.

„Ich lass grad Simulationen laufen“, brummte Yattaran, die kräftigen Arme über dem ausladenden Bauch verschränkt. „Sieht aber nicht gut aus. Muss eine der vielen experimentellen Technologien sein, zu denen nur Gaia Zugang hatte.“

„Einige unserer Ingenieure waren doch früher bei Gaia“, wandte Yama behutsam ein.

„Ich weiß, ah! Die Sensoren haben Daten gesammelt, als die Nussschale auf den Schild gekracht ist. Ich stell sie allen zur Verfügung.“

Kei zischte: „Das muss doch schneller gehen!“

Alonso kratzte sich den blonden Schopf. „Wir alle kennen doch Gaia, oder? Ich wette, über deren Geheimwaffen konnte nichts nach draußen dringen. Wer davon wusste und nicht hundertprozenzig loyal war, dürfte tot gewesen sein, bevor er ‚Erde‘ sagen konnte.“

Frustriertes Schweigen schloss sich an, doch es dauerte nur einen Augenblick; dann erhob sich Harlock von seinem Thron und trat auf die Gruppe zu. „Yattaran“, sagte er. „Was sagen dir die Daten über den Schild?“

„Ah, was sollen die denn sagen? Wir haben drauf geschossen, nichts ist passiert. Tja, man müsste ihn überladen können, theoretisch. Aber wenn man sich die Daten so anschaut …“ Der Erste Maat beugte sich wieder über seine Konsole, und hinter den dicken Brillengläsern huschten seine Augen von einer Zahlenreihe zur nächsten. „… dann bräuchte man wohl eine ganze Menge Saft … um genau zu sein, wir bräuchten eine punktuell konzentrierte Energieentladung von über zweihunderttausend Terasparks. Ja, genau.“

Yama spürte, wie seine Kinnlade vor Erstaunen heruntersank. Harlocks Gesicht nahm einen zufriedenen Ausdruck an. „Welche Waffe könnte das schaffen?“, fragte er fast beiläufig.

Auf Yattarans Zügen begann es zu arbeiten. „Ah, naja, unsere nicht. Höchstens Gaias Jovian Blaster, der vielleicht.“

„Fällt aus“, sagte Kei. „Was noch?“

„Nichts. Am Arsch.“ Yattaran zuckte die Schultern.

Doch Yama hatte verstanden, wie Harlock das Genie in seinem übergewichtigen Ersten Maat wachzukitzeln wusste. „Sagst du das nicht immer, Yattaran? Ich höre ständig von dir, dass irgendwas nicht gehen wird, und dann …“

„Eine Stunde später präsentierst du eine Theorie“, beendete Harlock den Satz. „Wir vertrauen darauf, dass das auch jetzt passieren wird.“

Yattaran verdrehte die Augen. „Aaaach, zum Teufel! Von mir aus, ich geh nachdenken.“ Mit einem weiteren Achselzucken verließ er einfach seinen Posten. „Kommt mich nicht suchen. Ich geh mir in der Zero-Gravity-Dusche den Arsch schrubben, vielleicht fällt mir da was ein.“

Harlock, Yama, Kei und Alonso sahen zu, wie Yattaran von der Brücke stapfte, leise vor sich hin murmelnd.

Yama blickte zu Harlock. „Glaubst du wirklich, er findet einen Weg?“

„Wenn nicht Yattaran, dann niemand.“ Harlocks Mundwinkel zuckten aufwärts. „Er war derjenige, der ausgerechnet hat, wie viel Energie einen Zeitknoten löst – bevor ich mit ihm jemals über meine Mission gesprochen hatte. Bedenke, dass deine Crew aus den Besten besteht, Yama.“

Yamas Blick glitt wieder zum Mars, zu den schimmernden Bauwerken, die wie Tautropfen zwischen den Felsen saßen. Ein kleiner Teil von ihm wollte sie alle dem Erdboden gleich machen. Ein weit größerer Teil hoffte, dass Yattaran das Problem nicht lösen konnte.



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