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No Data


 

4. No Data

Als Seto an diesem Abend aus dem Museum zurückkehrte, drückte sich Mokuba bereits hibbelig im Flur des oberen Stockwerks herum und sah seinem Bruder ungeduldig und erwartungsvoll entgegen, als dieser bedächtig die Treppen hinaufstieg. „Und??“, wollte er wissen, ohne seine Neugierde zu verbergen. Seto schmunzelte nachsichtig. „Kannst du deine Frage etwas präziser formulieren?“ „Nun sag schon, wie war es?!“, forderte der jüngere Kaiba.
 

„Sehr nett“, stellte Seto sachlich fest, „aber falls du wissen möchtest, ob einige meiner Erinnerungen während des Treffens zurückgekehrt sind – leider nicht.“ Mokubas Gesicht fiel enttäuscht in sich zusammen. „Aber“, beeilte sich Seto schnell zu sagen, „vielleicht muss man der Sache ja noch etwas Zeit geben. Atemu hat mir freundlicherweise angeboten, dass wir uns öfter treffen. Außerdem hat mir der Abend trotzdem sehr gutgetan. Ich habe den Eindruck gewonnen, Atemu und ich haben einiges gemeinsam und er versteht meine Situation sehr gut.“ „Ach ja?“, fragte Mokuba, nun wieder etwas hoffnungsvoller. „Ja, naja“, erklärte Seto, „zum einen weiß er, wie es sich anfühlt, keine Erinnerungen an ein früheres Leben zu haben. Außerdem musste er scheinbar ähnlich schnell erwachsen werden, wie das bei mir offenbar der Fall war. Und er hatte ähnlich viel Verantwortung in seiner Zeit als altägyptischer Herrscher.“
 

Mokuba nickte langsam. „Schön, das leuchtet mir ein. – Du Seto“, begann er dann etwas kleinlaut, „ich habe viel nachgedacht. Und dabei ist mir erst so richtig klargeworden, wie schlimm es für dich im Augenblick sein muss, dass wir plötzlich ohne Familie dastehen. Für mich ist das alles anders. Ich habe Mama nie gekannt und an Papa kann ich mich kaum erinnern. Seit ich denken kann, bin ich ein Kaiba. Aber für dich muss es sich anfühlen, als wäre dieser Verlust noch ganz frisch. Du hattest nie die Gelegenheit, richtig um Vater zu trauern, hab ich nicht Recht?“
 

Auf Setos Züge trat nun ein liebevoller, weicher Ausdruck und er strich seinem jüngeren Bruder fürsorglich über den Oberarm. „Zerbrich dir darüber bitte nicht den Kopf, Moki. Es reicht, wenn ich das tue, Ich kriege das schon irgendwie auf die Reihe, das verspreche ich. Oh, hey, was hältst du davon, wenn wir unsere Partie Schach von gestern vor dem Schlafengehen zu Ende spielen? Das hat doch gestern richtig Spaß gemacht, nicht wahr?“ Mokuba blickte seinen Bruder forschend an. „Weißt du, Seto – versteh mich nicht falsch. Ich wünsche mir ja nichts mehr als dass du dich wieder an alles erinnerst. Aber manchmal, da habe ich das Gefühl, du bist jetzt viel ausgeglichener. Irgendwie … glücklicher. Und mehr mit dir im Reinen. Ich wünschte, das würde so bleiben, auch nachdem du wieder der Alte bist.“
 

Seto runzelte die Stirn. „Ich kann mir schwer vorstellen, dass ich jemals anders gewesen sein soll“, sagte er nachdenklich und nun spürte der jüngere Kaiba deutlich, dass er das Falsche gesagt und Seto vor Augen geführt hatte, wie groß die Lücke in seinem Gedächtnis wirklich war und wie wenig er über sein heutiges Ich wusste.
 

„Ach Mokuba, da ist noch was, das ich dich fragen wollte“, wechselte Seto schließlich das Thema. „Ja, was denn?“ „Es geht um Atemu. Ich wollte wissen, ob …“ Nun wirkte der ältere Kaibabruder resigniert, als fiele es ihm schwer, die richtigen Worte für sein Anliegen zu finden. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wische er den Gedanken auf diese Weise weg, „ach, gar nichts. Vergiss es einfach wieder, ja?“
 

~*~

Atemu wandte sich um und lächelte leicht, als sich Seto ihm näherte. Wie so oft bei ihren bisherigen Treffen war der CEO zu Fuß unterwegs. Nachdem sie eine Weile lang am Fluss Halma entlanggeschlendert waren, der sich durch Domino City zog, und sich über unverfängliche Neuigkeiten ausgetauscht hatten, fanden sie eine kleine Bank, auf der Atemu ein Körbchen mit zwei Bento-Boxen und zwei Glasflaschen mit Limonade abstellte. Als letztes zauberte er zwei Schokoladenküchlein im Glas hervor, was Seto besonders freute. Denn wie Atemu erfahren hatte, war er ein Süßmäulchen und liebte alles Schokoladige. Entspannt setzten sie sich und ließen sich ihr Essen schmecken. Es war bereits das vierte Mal, dass sie sich trafen, und mit der Zeit hatte sich eine gewisse Vertrautheit und Ausgelassenheit zwischen ihnen eingestellt.
 

Bei ihrem zweiten Treffen hatte Seto Atemu gebeten, ihm die städtische Bibliothek zu zeigen. Atemu war selbst erst einmal dort gewesen, und so erkundeten sie die einzelnen Sektionen gemeinsam. Als sie das Gebäude wieder verließen, hatte Seto ein kindliches Strahlen im Gesicht und zehn dicke Wälzer über Technik auf dem Arm. Atemu beschlich der Gedanke, dass er wohl auch weiter in der Lage sein würde, seine Firma zu leiten, wenn seine Erinnerungen nie zurückkehren sollten. Der Pharao war heilfroh, dass sein Begleiter so vertieft in seine Lektüre war, dass er keinerlei Notiz davon nahm, wie hinter dem Tresen die Bibliotheksangestellten angeregt über ihren unerwarteten hohen Besuch tuschelten und ungläubige Gesichter machten, als dieser zum krönenden Abschluss auch noch einen Bibliotheksausweis beantragte.
 

Auf dem Rückweg kamen sie an einer Konditorei vorbei, an deren Scheibe Seto sich die Nase plattdrückte. So erfuhr Atemu von dessen Schwäche für schokoladiges Backwerk. Und da es ohnehin gerade zu regnen begann, verbrachten sie den Nachmittag in dem kleinen Café dieses lauschigen Familienbetriebes.
 

Für ihr drittes Treffen hatte Atemu sich überlegt, dass er Seto einen Kartenshop zeigen würde. Vielleicht würde der Kontakt mit Duel Monsters einige seiner Erinnerungen zurückbringen. Immerhin verbanden ihn mit dem Spiel starke Emotionen.
 

Orte aufzusuchen, die für Seto von Bedeutung gewesen waren, war ursprünglich Mokubas Idee gewesen. Er hatte seinen Bruder durch die KaibaCorporation geführt, sein Luftschiff besichtigt, auf dem damals das BattleCity-Finale stattgefunden hatte, und war schließlich sogar mit ihm in das Waisenhaus zurückgekehrt, in dem sie aufgewachsen waren. Doch bei all diesen Besuchen war der ersehnte Erfolg bisher ausgeblieben. „Er sagt, dass es in ihm bestimmte Gefühle hervorruft, diese Dinge zu sehen“, berichtete der 16-Jährige dem Pharao, „aber er kann mit diesen Emotionen nichts anfangen und sie scheinen ihn in diesen Momenten eher zu verstören und zu irritieren, da er sie nicht zuordnen kann und sie ihm immer wieder aufzeigen, dass ihm Erinnerungen fehlen.“
 

Auch bei Atemus Experiment im Kartenladen schien keine der Spielkarten etwas in Seto auszulösen. Einzig der weiße Drache in seinem eigenen Deck weckte Erinnerungen aus seiner frühen Kindheit, wie er Atemu mit einem Funkeln seiner eisblauen Augen berichtete. Das Monster hatte ihn immer besonders fasziniert und er hatte insgeheim davon geträumt, die Karte einmal zu besitzen. Doch sie war zu teuer für seine Eltern gewesen, als dass er sie hätte unter dem Weihnachtsbaum finden können. Der Pharao zeigte ihm daraufhin auch sein eigenes Deck und insbesondere den schwarzen Magier. Doch auch diese Karte sagte dem Firmeninhaber nicht das Geringste. „Sieht lustig aus mit dem spitzen Hut“, kommentierte er lediglich das kleine Bild.
 

„Was möchtest du heute machen? Es gibt da noch einige Orte in der Stadt, die während des Battle City-Turniers für dich eine Rolle gespielt haben“, fragte Atemu seinen Begleiter, nachdem sie ihr Picknick beendet hatten. Wenn er ehrlich zu sich war, dann gingen ihm langsam aber sicher die Ideen aus und so sehr er die Treffen mit Seto auch genoss, lastete doch ein gewisser Druck auf ihm, da er wusste, wie viel Mokuba sich hiervon erhoffte dass er seinem Spiegelbild nie wieder würde in die Augen sehen können, wenn es ihm nicht gelang, das hier rückgängig zu machen.
 

„Um ehrlich zu sein“, entgegnete Seto mit einem resignierten Seufzen, „wieso können wir es heute nicht einfach mal entspannt angehen lassen? Versteh mich nicht falsch: Ich weiß, dass ihr euch alle sehr wünscht, dass ich mich erinnere, aber all das setzt mich doch ziemlich unter Zugzwang. Und ich komme mir manchmal vor, als müsste ich wie einen Marathon durch mein eigenes Leben zurücklegen. Ein Leben, der für mich das eines anderen ist. Verstehst du, was ich meine?“
 

Atemu blickte ihn verblüfft an. Er neigte dazu zu vergessen, dass wegen dieser ganzen Sache nicht nur auf ihm selbst, sondern auch auf Seto ein immenser Druck lag. Da dieser nicht wusste, was es genau war, das ihm fehlte, wollte er in erster Linie den Wünschen seines Umfeldes genügen. Nachsichtig lächelte er den Firmenchef an. „Bitte entschuldige. Daran hatte ich im Augenblick nicht gedacht. Natürlich müssen wir heute nicht über deine Vergangenheit reden. Wir können auch einfach etwas bummeln und vielleicht im Anschluss noch was essen gehen.“ „Sehr schön! Das hört sich toll an!“, Seto lächelte ein offenes, erleichtertes Lächeln, das in Atemus Magen ein warmes Ziehen auslöste, „da fällt mir ein, velleicht könntest du mir bei etwas behilflich sein. Mokuba bearbeitet mich schon die ganze Zeit, dass ich mir eine neue Garderobe kaufen soll. Ich bin nicht sonderlich gut darin, zu beurteilen, was mir steht. Da du immer sehr stilvoll gekleidet bist, dachte ich, du könntest mir vielleicht beim Einkaufen assistieren.“ Der Pharao war zusehends überrascht über diesen Vorschlag, freute sich aber über das Kompliment und willigte gerne ein.
 

Zwei Stunden später trat Seto mit einem neuen schwarzen Sakko aus einer Umkleidekabine und drehte sich unschlüssig vor dem Spiegel. In einigen Einkaufstüten auf einem Hocker waren bereits einige weiße, graue und daneben auch ein himmelblaues Hemd verstaut, das seine Augen gut zur Geltung brachte. Außerdem einige schwarze Hosen und ein adretter schwarzer Wollmantel für den anstehenden Winter. Zufrieden trat der Pharao an Seto heran und rückte das Sakko und die dazugehörige schwarze Krawatte über dem fliederfarbenen Hemd zurecht. „Das steht dir ausgesprochen gut!“ stellte er nickend fest. „Findest du? Naja, wenn wir zusammen unterwegs sind, passt das zumindest hervorragend zu deinen Augen“, entgegnete Seto mit einem fast schüchternen Lächeln. Atemu sah zu ihm auf und für einen Augenblick verharrten seine Hände an dem neuen Kleidungsstück.
 

„Atemu, hör mal“, begann sein Begleiter etwas holprig, „es gibt da etwas, das ich dich schon die ganze Zeit über fragen möchte.“ „Ach ja, was denn? Schieß los.“ Die Herzfrequenz des ehemaligen Pharaos erhöhte sich ein wenig und seine Hände begannen zu schwitzen. Vor Aufregung vergaß er, dass er nach wie vor ausgesprochen nah bei seinem Begleiter stand. „Naja, ich weiß nicht, wie ich es am besten formulieren soll“, dieser wirkte nun etwas überfordert, „also: Waren wir – oder sind wir – ich meine wir beide – in meinem vorherigen Leben ein Paar?“
 

Eine leichte Röte legte sich auf die Wangen des Pharaos. „Wie kommst du denn plötzlich darauf?“, fragte er leise. Erst jetzt wurde er sich darüber bewusst, welche Intimität er durch die körperliche Nähe erzeugt hatte, und er trat hastig einen Schritt zurück. „Wie soll ich es sagen“, nun lächelte Seto erneut und ein wehmütiger Ausdruck trat in seine Züge, „wenn ich mit dir zusammen bin, wenn ich dich ansehe, dann habe ich so ein warmes, vertrautes Gefühl. Es gefällt mir, aber ich weiß nicht, woher es rührt. Ich habe mich bisher nicht getraut, dich danach zu fragen, da ich befürchtete habe, dass die Sache komplizierter liegen könnte. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich sexuell überhaupt orientiert bin und ob ich in der Zeit vorher viele intime Begegnungen hatte.“
 

„Darüber kann ich dir leider auch keine Auskunft geben“, erklärte ihm Atemu ruhig, „um ehrlich zu sein hatten wir wenig privaten Kontakt, bevor du deine Erinnerungen verloren hast. Obwohl – ich mir gewünscht hätte, dass es anders gewesen wäre. Also ich denke, das beantwortet dann auch deine Frage. Nein, wie sind oder waren kein Paar. Was du fühlst rührt vielleicht ganz einfach von dem starken Band her, das unser beider Schicksale seit Jahrtausenden aneinanderbindet.“
 

„Verstehe“, sagte Seto, obwohl er Atemus Vermutung anzweifelte. Das hier war etwas vollkommen anderes als der heftige Ausbruch, der ihn überkommen hatte, als er Atemu nach seinem Krankenhausaufenthalt in der Kaibavilla zum ersten Mal gesehen hatte. Er war gerne mit Atemu zusammen, weil er das Gefühl hatte, dass dieser ihn so akzeptierte, wie er war. Wenn er in seine wachen, gewitzten Augen blickte, lag darin für ihn so viel Sicherheit und Geborgenheit – aber gleichzeitig rissen sie ihn auch mit sich in einen schwindelerregenden Fall ohne Boden, der ihm Angst, aber ihn gleichzeitig neugierig auf mehr machte. Mit Atemu an seiner Seite durch die Straßen zu schlendern gefiel ihm von Mal zu Mal besser, und manchmal kam ihm der Gedanke, dass sie beide einander gut zu Gesicht standen und einen harmonischen Anblick für andere Stadtbummler boten, die sie während ihrer Treffen passierten. Ab und an ertappte er sich dabei, wie er sich fragte, wie es wohl wäre, Atemus warme Haut zu berühren, seine weichen Wangen zu streicheln, seinen Geruch, der nur in seltenen Momenten zu ihm herüberwehte, tief einzuatmen.

Doch mit wem konnte er über diese Gefühle sprechen? Nicht einmal Mokuba hatte er sich bisher getraut nach seinen Gefühlen für den ehemaligen Pharao oder ihrer Beziehungskonstellation zu befragen.
 

„Warum eigentlich?“, fragte er schließlich und schien Atemu damit sichtlich aus seinem eigenen Gedankenkarussel zu reißen. „Warum eigentlich was?“, fragte dieser verwirrt. „Na, warum hatten wir bisher so wenig Kontakt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu jemandem wie dir nicht selbst verstärkt Kontakt gesucht hätte. Wir verstehen und doch verdammt gut und ich habe das Gefühl, ich kann mir dir über alles sprechen.“ Die rote Farbe auf den Wangen des Kleineren intensivierte sich. „Ach, ich schätze, es hat sich einfach nicht ergeben. Du warst beruflich sehr eingespannt und dein Privatleben war nicht der Rede wert.“ Was hätte er dem Firmenchef schließlich sagen sollen? Dass er zu einem sozial verkümmerten, von Ehrgeiz zerfressenen Einzelgänger geworden war? „Das ist gar nicht gut“, Seto zog besorgt die Stirn kraus, „Mokuba hat auch schon sowas angedeutet. Work-Life-Balance ist doch unheimlich wichtig.“
 

Wie so oft in den vergangenen nasskalten Herbsttagen, begann es zu regnen, als sie das letzte Bekleidungsgeschäft verließen und sich auf den Weg machten, um nach einem Restaurant Ausschau zu halten, das ihnen zusagte. Gemeinsam zwängten sie sich unter einen Schirm mit dem Logo der KaibaCorp., den Seto mit klammen Fingern sorgsam über Atemu ausbreitete.
 

„Weißt du“, wagte er sich nun doch an das Thema heran, „ich entwickle viele Theorien darüber, wie mein Leben in den letzten Jahren verlaufen sein muss.“ „Ach ja?“ „Ja. Ich denke mir, dass ich vielleicht keine Wahl hatte, als stark und unantastbar zu werden, damit ich mir für mich und Mokuba etwas aufbauen konnte. Dass ich also nicht die Zeit hatte, um einfach mal in den Tag hineinzuleben. Und dass deshalb mein Alltag hauptsächlich aus Arbeit bestand. Habe ich damit Recht?“ Atemu nickte langsam. „Ja, ich denke, das trifft es wohl ziemlich gut. Und ich konnte dir immer gut nachfühlen, weshalb du dich für diesen Weg entschieden hast. Mein Vater hat während meiner Zeit als Kronprinz oft zu mir gesagt: Gegenüber den meisten Menschen keine Schwäche mehr zuzulassen ist dein persönlicher Weg. Es gibt für dich keine Alternative. Es ist der Preis, den du für deine Stellung bezahlen musst. Und je schneller du das akzeptierst, desto leichter machst du es dir selbst. Also, ich schätze, in diesem Punkt sind wir uns recht ähn … äh – Seto?“
 

Atemu wandte sich um, denn Seto war plötzlich samt dem Regenschirm an Ort und Stelle stehengeblieben, als wäre er auf der Straße angewachsen. Regentropfen prasselten nun auf den Pharao herab und jagten ihm einen Schauer über den Rücken, als sie seinen Nacken trafen und sich ihren Weg unter seine Kleidung suchten. Aber Seto schien von einem auf den anderen Augenblick an einem ganz anderen Ort zu sein. „Keine Alternative …“, murmelte er, doch seine Worte wurden beinahe vom Prasseln des Regens verschluckt. Von Sekunde zu Sekunde begannen seine Hände heftiger zu zittern, sodass der Schirm schließlich einfach zu Boden glitt. Dann sackte der Firmeninhaber einfach auf dem Gehweg zusammen und hielt sich mit beiden Händen seinen Kopf, wie er es damals in der Kaibavilla getan hatte.
 

„Seto, was ist los? Was hast du?!” Mit einem Satz kniete der Pharao vor ihm und legte behutsam seine eigenen Hände auf Setos. Er erschauderte, denn obwohl seine eigenen Finger froren, war Setos Haut eiskalt. Die Augen des Firmenchefs schienen ins Leere zu starren, vielleicht in eine Realität, die viele Jahre zurücklag. Und noch immer zitterte er erbärmlich. Atemu presste seine Hände auf Setos, versuchte, ihm durch seine Berührung Halt zu geben und trotz der herbstlichen Kälte etwas Wärme zu spenden. Unerlässlich redete er mit beruhigenden, sanften Worten auf ihn ein, ganz egal, ob Seto ihren Inhalt bewusst aufnahm oder nicht.
 

Erst nach einigen Minuten der pausenlosen Ansprache gelang des Atemu, seinen Begleiter wieder ein Stück weit ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Und mit Erleichterung stellte er fest, dass dessen Augen nun wieder unstet umherhuschten und ihre unmittelbare Umgebung registrieren. „Da war ein Haus“, flüsterte Seto, mehr zu sich selbst, „unser Haus. Aber es sah ganz anders aus. Und ich war so müde. Eine entsetzliche, überwältigende Müdigkeit. Schwer wie Blei habe ich mich gefühlt. Und es roch überall im Zimmer nach Büchern. Er war da und hat mir ständig über die Schulter geschaut. Mokuba hat mir ein Foto von ihm gezeigt. Gozaburo Kaiba. Überall waren Zahlen und Wörter und ich hatte Panik, dass ich ihren Inhalt nicht verstehe, obwohl er es doch von mir erwartet. Ich habe mich so machtlos gefühlt ihm gegenüber. So ausgeliefert. Und gleichzeitig unendlich wütend.“
 

„Du wirst schneller lernen als jeder andere, hast du mich verstanden? Ab heute bist du kein normaler Zehnjähriger mehr!“, bellte Gozaburos kalte, blecherne Stimme durchs Zimmer, „das ist jetzt dein Weg. Der Weg, den du dir ausgesucht hast in dem Moment, in dem du mich zu diesem Schachspiel herausgefordert hast. Das ist der Preis, den du dafür bezahlst, dass ich dich und diese nutzlose kleine Heulsuse aufgenommen habe! Dass du den Namen Kaiba tragen darfst! Für dich gibt es keine Alternative. Also akzeptiere es lieber früher als später!“ Dann knallte er einen weiteren dicken Wälzer über Betriebswirtschaftslehre neben Seto auf den Schreibtisch, sodass dieser verschreckt zusammenzuckte. Es war seine erste Woche in der Kaibavilla und er wollte es wirklich perfekt machen. Wollte Gozaburo gerecht werden und ihn nicht enttäuschen. Ihm zeigen, dass es sich gelohnt hatte, ihn zu adoptieren. Aber er hatte die letzten fünf Tage kaum geschlafen und er war so leergetrunken, ausgelaugt. Nahm alles wahr wie durch einen Schleier der Erschöpfung. Da war Druck auf seinem Kopf und Druck in seinem Inneren und diese schreckliche, tiefsitzende Angst, zu versagen. Und gleichzeitig das Bewusstsein darüber, dass dies für ihn keine Option war. Dass er einfach dafür sorgen MUSSTE, dass dies nicht passierte.
 

„Es war eine Erinnerung“, wisperte er mit bebender Stimme, „die erste Erinnerung, die zu mir zurückgekommen ist.“ Dann wanderte seine rechte Hand zu seiner Stirn. „Diese Kopfschmerzen, ich fühle mich so schwach …“ Schließlich glitten seine Finger fahrig über seine Wange. Mit dem Regen hatten sich dort inzwischen salzige Tränen vermischt. Sie quollen unkontrolliert aus seinen Augenwinkeln und wollten gar nicht mehr versiegen. Plötzlich spürte er noch etwas anderes. Jemand, löste sanft seine Hand von seiner Wange und schloss sie fest in seine eigene. Und eine angenehme Wärme durchflutete ihn. Erst jetzt wurde Seto bewusst, dass der Pharao nach wie vor dicht vor ihm kniete. Sein dreifarbiges Haar war mittlerweile vom Regen durchnässt und umrahmte jetzt glatt seine ebenmäßigen, feinen Gesichtszüge. Einige blonde Strähnen hängen ihm in die Stirn und Regentropfen perlten von seinen langen Wimpern.
 

Atemu verschränkte wortlos seine Finger mit Setos und drückte dessen Hand ganz fest. „Es tut mir leid“, hauchte der Pharao leise, „das ist alles meine Schuld. Aber ich werde dir helfen, das durchzustehen. In allen diesen Momenten werde ich bei dir sein. Wenn du das möchtest.“ Seto begriff nicht, wieso Atemu behauptete, das alles wäre seine Schuld. Dennoch nickte er stumm. In der Kälte des Nachmittags streifte der warme Atem des Pharaos sein Gesicht. Dann berührten dessen Lippen seine wie ein warmer Lufthauch. Einmal. Und noch einmal. Schließlich zerflossen sie wie von selbst in einen Kuss. Wie zwei Farbnuancen, die auf einer Leinwand perfekt ineinandergriffen. Violett und Blau. Seto wusste nicht mehr, wo er selbst aufhörte und wo Atemu anfing. Innen und außen, alles war eins.
 

So saßen sie auf dem Gehweg. Auf der regennassen Straße, die nach und nach den Stoff ihrer Hosen an den Knien durchtränkte. Und der Regen prasselte unentwegt auf sie herab.


 


 


 


 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Yui_du_Ma
2024-02-07T18:40:05+00:00 07.02.2024 19:40
Was für ein Erinnerungsfetzen.
Echt interessant geschrieben.
Find es sehr gut.
Danke dafür. ^.^


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