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Lass mich nicht los

Vorgeschichte zu Zimtsterne
von

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Gebrochen

Es war mittlerweile wie ein alter Bekannter, der mich in jedem meiner wachen Momente begleitete. Dieses leise, regelmäßige Piepen. Ich konnte es nicht zuordnen. Und jedes Mal, wenn ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, holte mich die Dunkelheit wieder zurück und hüllte mich vollständig ein. Ich konnte nicht sagen, ob ich bei Bewusstsein war, oder nicht. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich schon in diesem Zustand, zwischen sein und nicht sein war. Aber ich konnte spüren, dass sich, wenn ich die Augen öffnete, alles verändern würde. Also ließ ich sie geschlossen.
 

„Gibt es schon eine Veränderung?“ Diese Stimme. „Bisher leider noch nicht. Sie muss erst aufwachen, aber das muss sie von alleine schaffen.“ „Danke, Doktor.“ Dann Stille. Ich spürte, wie jemand meine Hand berührte und kurz darauf, wie diese Person seine Lippen auf ihr platzierte. „Bitte, komm zu mir zurück.“ Diese Stimme, sie löste in mir etwas aus. In mir breitete sich Wärme aus und ein Gefühl der Geborgenheit. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Bild aufblitzen. Blaue Augen und blondes Haar. Takeru. Ich bin hier, wollte ich ihm vermitteln. Doch meine Stimme gehorchte mir nicht. Wieso wollte sie mir nicht gehorchen? Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch auch das gelang mir nicht. Also spürte ich meinen Körper weiter hinunter. Als ich das Gewicht von Takerus Hand in meiner bemerkte, versuchte ich, sie zu drücken. Einen Moment glaubte ich, auch das habe nicht funktioniert. Doch dann hörte ich, wie er rief: „Ich brauche einen Arzt. Sie hat sich bewegt.“

„Die Wunden verheilen gut. Auch das Aortentrauma, welches Sie beim Aufprall erlitten haben, konnten wir rasch versorgen. Was uns nun noch Sorgen bereitet, sind die Rippenfrakturen. Es hat sich während des Aufpralls ein Pneumothorax bei Ihnen gebildet, wobei Luft in die Lunge gelangt ist. Durch die abgesplitterten Rippenstücke könnte es wieder dazu kommen und es könnte zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Wir müssen also noch einmal, so schnell es geht operieren.“ Ich sah den Arzt, der mich in den letzten Tagen behandelt hatte, schweigend an. Takeru, der neben mir auf einem Stuhl saß und meine Hand hielt, ergriff das Wort und fragte: „Ist sie dafür denn schon stabil genug?“ Der Arzt zögerte, ehe er antwortete: „Uns bleibt leider keine andere Wahl, jeder Tag, an dem die Rippenstücke frei liegen, ist riskant.“ Takeru nickte und bedankte sich bei ihm, als er das Zimmer verließ.

Mein Blick ging zum Fenster. Ich hatte nicht wirklich zugehört, aber eigentlich war es mir auch egal, was mit mir passierte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie Takeru sich erhob und begann, irgendwelche Sachen wegzuräumen. Als ich ihn ansah, bemerkte ich, wie besorgt er aussah. Ich streckte meine Hand aus und als er das sah, kam er zu mir zurück und ließ sich wieder auf den Stuhl neben mir sinken und ergriff sie. Er legte seine Lippen auf meine Haut und küsste meinen Daumen. Mit meiner anderen Hand wollte ich sein Haar berühren, ihm Trost spenden, doch der Schmerz in meinen Rippen ließ mich zusammenzucken. Sofort sprang Takeru auf und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Er zog mich, so vorsichtig er konnte und soweit ich es zuließ an sich und ich platzierte meinen Kopf auf seiner Brust.

„Wir schaffen das.“, hörte ich ihn sagen. Mit geöffneten Augen starrte ich auf seinen Pullover. Es war der dünne, dunkelgrüne Kaschmirpulli, dem ich ihn letzte Weihnachten geschenkt hatte. Mit einer Hand strich ich über den weichen Stoff. „Alles wird gut.“, sagte er weiter. Alles wird gut. Wie oft hatte er diesen Satz in den letzten Tagen gesagt? Wie gerne würde ich ihm glauben. Aber die Wahrheit war: Es würde nie wieder alles gut werden. Denn eines würde sich, egal wie oft Takeru es mir auch versprach, einfach nicht ändern: Mein Bruder war tot. Und ich war schuld daran.
 

Ein Monat nach dem Unfall 

„Langsam.“, sagte Takeru und half mir, mich auf unser Sofa zu setzen. Ich durfte heute endlich das Krankenhaus verlassen. Die Ärzte waren zufrieden, wie schnell meine Wunden verheilten, jedenfalls meine körperlichen. „Ja doch. Ich passe schon auf.“, sagte ich und ließ es zu, dass Takeru mich stützte. Ich hätte nicht gewusst, was ich ohne ihn machen sollte. „Versprich mir, dass du dich noch schonst.“, tadelte er mich, doch als ich leicht die Augen verdrehte, beugte er sich zu mir herüber und gab mir einen Kuss. Ich seufzte. „Versprochen.“, erwiderte ich. Seine Sorge um mich erdrückte mich in den letzten Wochen manchmal. Dennoch gab sie mir auch Halt. Denn ich wusste, dass er immer da war. Vor allem in den Momenten, in denen mich die Ereignisse des Unfalls versuchten zu verzehren.

Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Scheinwerfer auf mich zurasen. Ich hörte, wie Metall aufeinander prallte. Und ich spürte, wie Tais Hand in meiner lag, während er starb. In diesen Augenblicken war ich dankbar, dass Takeru an meiner Seite war. Ihn zu sehen, seine Nähe zu spüren und zu wissen, dass er real war und nicht die Bilder des Unfalls… all das gab mir Kraft. Ohne ihn hätte ich längst aufgegeben. Doch so sehr ich ihm meine Dankbarkeit auch zeigen wollte, es fiel mir auch manchmal schwer, ihn an mich heran zu lassen. Er bat mich, meine Gefühle mit ihm zu teilen, mit ihm zu sprechen, wenn es mir schlecht ging, doch manchmal fand ich einfach nicht die Kraft dafür. Und wenn er mich dann mit diesem mitleidigen Blick ansah, wünschte ich mir jedes Mal, ich möge sterben.
 

6 Monate nach dem Unfall

„Und Sie, Hikari, wollen Sie heute vielleicht erzählen, wie es Ihnen geht?“ Ich sah in die Runde. Zu sprechen war freiwillig, das wusste ich, doch meistens war mir nicht danach, etwas zu sagen. Heute fühlte ich mich aber irgendwie verpflichtet. Mit einem kleinen Seufzer lehnte ich mich auf meinem Stuhl vor und überlegte. „Also heute geht es mir ein kleinen wenig besser. Ich habe ein altes Hobby wieder für mich entdeckt, das backen. Es lenkt mich ab und macht mir großen Spaß. Ich könnte mir sogar vorstellen, mal was in diese Richtung zu machen. Also später.“, begann ich. Der Leiter der Gruppentherapie, die ich einmal die Woche besuchte, schenkte mir ein Lächeln. „Das hört sich toll an. Vielleicht bringen Sie uns beim nächsten Mal ja was von sich mit. Was backen sie am liebsten?“, hakte er nach. Ich überlegte kurz, dann kam mir Takeru in den Sinn und ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen als ich antwortete: „Zimtsterne.“
 

9 Monate nach dem Unfall

Ich saß auf dem Sofa und hatte meine Beine angezogen. Mein Kopf lag auf meinen Knien und ich kniff die Augen zusammen. „Tai.“ Der Airbag drückt auf meine Lunge, ich bekomme keine Luft. „Tai, wo bist du?“ Es riecht verbrannt. „Ich brauche dich doch.“ Dieses dumpfe Geräusch in meinen Ohren. „Lass mich nicht allein.“ Seine braunen Augen, die mich schockerfüllt anstarren. „Taaaaaaaai.“, schreie ich.

Ein Rütteln an meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich hob den Kopf und sah direkt in Takerus Gesicht, er sah mich mit schmerzverzehrter Miene an. Als ich realisierte, dass ich mich zuhause und in Sicherheit befand, warf ich mich in seine Arme. Schwer atmend hielt ich mich an ihm fest. Er sagte kein Wort. Manchmal glaubte ich, dass er nicht mehr wusste, was er sagen sollte. Dass er nicht wusste, was es besser machen würde. Es wurde von Tag zu Tag schwerer, für uns beide. Als er mich losließ, um mich anzusehen, lag wieder dieser mitleidige Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich hielt es nicht aus und sprang vom Sofa auf, ohne ein Wort zu sagen. Takeru folgte mir nicht.
 

11 Monate nach dem Unfall

„Du hast was vor?“, fragte Mimi und starrte mich entgeistert an. Ich rührte in meinem Kaffee herum und sah sie einfach nur schweigend an. „Und Takeru, weiß er es schon?“ „Natürlich.“, sagte ich. Mimi seufzte und lehnte sich zurück. „Und was sagt er dazu?“ Ihrem Tonfall nach zu urteilen, schien sie mit meinem Plan nicht so ganz einverstanden zu sein. „Das, was er immer sagt, dass er mich unterstützt.“, antwortete ich und nahm einen Schluck Kaffee. Mimi nickte, dann sagte sie: „Ja klar, das passt zu ihm. Oh man, aber Deutschland ist so weit weg. Dann sehen wir dich ja gar nicht mehr…“ Ich lächelte sie an. „Aber ich bin doch nicht aus der Welt, ich brauche nur etwas Abstand. Und einen Neubeginn.“, sagte ich vorsichtig.

Mimi senkte den Kopf und sah auf ihre Hand. Sie trug noch immer den Ring, den Tai ihr damals angesteckt hatte. Nach einem Moment des Schweigens hob sie den Kopf und lächelte mich ebenfalls an. „Wenn du dann dein Geschäft eröffnet hast, komme ich dich besuchen.“, verkündete sie und hob ihre Tasse. „Auf jeden Fall.“, erwiderte ich und stieß mit meiner Tasse leicht gegen ihre. Ein Neubeginn war das, was ich brauchte. Hier zu bleiben war einfach nicht länger möglich. Ich spürte von Tag zu Tag immer mehr, dass es mich zerbrach.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Tasha88
2022-01-18T14:27:00+00:00 18.01.2022 15:27
ich hatte dir doch gesagt, dass ich mit dem Schlimmsten gerechnet habe - das hier war noch schlimmer!!!!
oh man, da wird einem ganz anders T.T

und Karis Plan ... auch hier könnte ich weinen
Antwort von:  PanicAndSoul
18.01.2022 16:03
Oh weh 🙊
Aber du kennst doch „Zimtsterne“ 🙈 ist ein schwacher Trost
Antwort von:  Tasha88
18.01.2022 17:03
und genau weil ich es wusste, war es schlimm. doch es dann zu lesen, wie es passiert, das war noch schlimmer.
man kann sich zwar auf manche sachen vorbereiten, aber wenn es dann soweit ist, bringen diese vorbereitungen manchmal einfach nichts, weißt du, wie ich es meine?
Antwort von:  PanicAndSoul
19.01.2022 07:25
Ja ich weiß, was du meinst 🙊
Aber ich wusste ja selber auch wad passiert und mir ist es ebenfalls schwer gefallen, sie zu schreiben 🙈


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