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Zeit der Kolibris

von

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Kapitel 1

Zugegeben, dies ist nicht nur eine Geschichte über einen geistig behinderten Menschen und dessen Versuche, am Leben teilzunehmen - und allein das ist ein Wagnis -, sondern auch der Versuch, über einen Regisseur zu schreiben, der sich in der ehemaligen DDR vor allem durch seine hochsensiblen und gleichsam kritischen Filme einen Namen machte, in der Nachwendezeit jedoch nur noch Serien und Schinken für das Unterhaltungsprogramm drehte. Im Übrigen traf dieses Schicksal nicht nur ihn allein, sondern all jene, die sich nach Auflösung der DEFA plötzlich von Arbeitslosigkeit bedroht sahen. So einige ergingen sich im "Traumschiff" etc. Wie fühlt es sich an, plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden, die eigene Arbeit nicht mehr geachtet und beachtet zu sehen und zugleich dazu gezwungen zu sein, durch seichte Unterhaltung das tägliche Brot zu verdienen? Derjenige, dem ich durch diese Geschichte näher kommen möchte, ist daran zerbrochen und viel zu früh verstorben. In einem seiner letzten Interviews sagte er: "Ich lebe einfach weiter." Drei Wochen später war er tot. Mein Freund besuchte ihn damals in Potsdam-Babelsberg, da war er gerade auf dem Dach seines Hauses - er drehe nur noch, so sagte er, um das Haus halten zu können. Aber eben das, mag es auf den heutigen Leser noch so vertraut wirken, war nicht sein Anspruch, den er ans Filmemachen hatte. Die Kunst galt ihm nicht nur als Möglichkeit des Geldverdienens durch die Schaffung von billigem Amüsement, purer Unterhaltung, gar Augenwischerei. Frei nach Brecht wollte er Widersprüche und Missstände innerhalb der Gesellschaft aufdecken, wollte bewegen, aufrütteln, zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Er wollte Reales, Greifbares, unmittelbar Bestehendes erzählen ohne einem platten Naturalismus zu verfallen, wollte, dass sich die Menschen in seinen Filmen wiedererkennen, sich mit den Figuren identifizieren. Dazu bedurfte es aufrichtiger, zutiefst ehrlicher Geschichten, die die Menschen unmittelbar angingen. Er wollte dazu beitragen, dass die Gesellschaft, in der er lebte, eine bessere werde. Und das war die in der DDR. Eine andere Welt kannte er nicht. Wollte er das überhaupt, eine andere Welt kennenlernen. Das lässt sich natürlich fragen. Wäre er dazu fähig gewesen, sich irgendwann doch zurechtzufinden in einer Welt, die nie die seine, ihm fremd war?
 

In meiner Geschichte nun stelle ich mir die Frage, wie sein Leben aussehen könnte, weilte er noch unter uns. Welchen Stoffen würde er sich heutzutage zuwenden? Und würde er es schaffen, im geeinten Deutschland anzukommen, also wieder das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden?
 

 

in

memoriam

Heinrich "Heiner" Carow

(1929-1997)

 

 

 

„Sterben“, sagte er, „bald sterben“, dann neigte er sich zur Seite und fuhr mit der Hand durchs Wasser, ehe er sich an seine Mutter wandte und erneut sagte: „Sterben, ganz gewiss.“
 

Dabei deutete er auf sich und verzog das Gesicht – angstvoll, sodass ihn seine Mutter in den Arm nahm, tröstend und zugleich versuchend, seinem schluchzenden Heulen Einhalt zu gebieten. Es war ihr nicht peinlich, dass sich einige der Leute, die mit ihnen im Kahn saßen, umgedreht hatten und sie und ihren Sohn fragend, wenn nicht gar irritiert und missbilligend ansahen und somit gleichsam aus der kahnfahrenden Masse heraushoben. Wohl aber störte es sie, dass all diese Leute Zeuge wurden, wie sich ihr Sohn an ihr barg. Und um sich selbst zu beruhigen, zwang sie sich zu einem Lächeln, das vor allem auch den Schaulustigen galt und ihnen signalisieren sollte, dass nichts sei. Nichts, woran sie sich stören müssten und was ihren Ausflug gefährden würde. Dann senkte sie wieder den Blick, sah auf ihren Sohn hinab, der schniefend an ihrer Brust ruhte, und fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, die Wange. Er schnaufte laut, so als sammelte er Kraft, und sie sprach beruhigend auf ihn ein, während sie ihren Blick über die grünen Weiten links und rechts des urtümlich gehaltenen Kanals gleiten ließ. Sich ablenkend. Nun, weniger von den Blicken und dem nun einsetzenden Getuschel, als vielmehr von dem Wissen, dass er diese Worte nicht zum ersten Mal gesagt hatte – und das mit einer Überzeugung, so als wüsste er tatsächlich um seinen baldigen Tod. Unwillkürlich drückte sie ihn fester an sich.
 

„Mama“, hörte sie ihn da murmeln und er sah sie von unten her an. In seinen Augen erkannte sie Tränen, die ihr, da sie sich zu ihm hinabneigte, die Kehle zuschnürten. Auch sie befürchtete, weinen zu müssen, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn ab und ein: „Matthias, alles ist gut“, ins Ohr flüsterte.
 

Aber es war nicht gut. Das spürte sie. Obwohl er vollkommen gesund war, wie ihr seine Ärztin bescheinigt hatte, wusste sie, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte. Nur sagen konnte er es nicht. Dazu fehlten ihm die Worte. Und malen, wie es der Psychologe versucht hatte, um eine gemeinsame Sprache mit ihm zu finden, wollte auch nicht gelingen.
 

Wieder ließ sie ihren Blick über das Grün gleiten, das sich so undurchdringlich ausnahm. Eine rätselhafte, ja geradezu verwunschene Landschaft, fand sie.
 

Matthias hatte nur lustige Gesichter gemalt, zumeist auch sich selbst und sie, zuletzt sogar, wie sie beide zusammen in einem Kahn saßen. Sie musste lächeln, denn gerade durch seine Zeichnungen war sie auf die Idee gekommen, hierher in den Spreewald mit ihm zu fahren – um ihm und auch sich Ruhe zu gönnen, und Abstand vom alltäglichen Stress der allzu lauten Großstadt, die nur eineinhalb Stunden entfernt lag. Für ein paar Tage hatten sie sich hier in einer kleinen Pension eingemietet. Ruhig gelegen und auch nicht allzu teuer war das Zweibettzimmer.
 

Matthias hatte sich gefreut, als er verstand, was seine Mutter mit ihm vorhatte. Er hatte sie sogar angestrahlt, wie nur er es konnte und sein helltönendes Lachen von sich gegeben.
 

„Bootfahren“, hatte er dann mühsam hervorgebracht und sich an sie geschmiegt.
 

„Ja, Bootfahren“, hatte sie ihm zugestimmt und gehofft, dass er hier, so fern der Großstadt, auf andere Gedanken käme, ja, dass ihn der Ort sein Trauma vergessen ließe, zumindest für eine Weile. Denn vor nicht einmal einem Jahr hatte er auf dem Weg zu seiner Arbeit einen Verkehrsunfall miterlebt. Danach hatte er sich nicht mehr allein aus dem Haus getraut, hatte sogar geweint und gebrüllt, wenn ihn sein Pfleger hatte abholen wollen. So hatte sie ihn schließlich jeden Morgen selbst in seine Werkstatt gebacht, ehe sie zu ihrer Arbeit, einer Grundschule in der Nähe. Sie war Lehrerin, jedoch nur in Teilzeit. Er hatte ihr damals nur stockend davon erzählen können, was geschehen war, an diesem Montagmorgen im Frühherbst, um kurz vor 8.
 

„Auto“, hatte er gestammelt, die Fäuste geballt und sie sich an den Mund gepresst und dann: „Fahrrad kaputt … Mann kaputt ...“ hinzugefügt, obwohl der Radfahrer den Unfall, gleichwohl verletzt und im Krankenhaus liegend, überlebt hatte. Für ihn war er tot. Und das selbst dann noch, als sie den jungen Mann zusammen mit Matthias besucht hatte und der ihm sogar die Hand gereicht und ihm freundlich lächelnd erklärt hatte, dass er nur einen Schock und einen Beinbruch erlitten hätte und wohl deswegen wir tot dagelegen habe.
 

„Mann ... lebt“, hatte sie es ihm in vereinfachter Sprache zu erklären versucht und dabei immer wieder auf den geduldig ausharrenden Mann gedeutet. „Lebt. Lebt.“
 

Doch Matthias hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Für ihn war er tot. Am Abend hatte er sogar geweint, wohl aus Trauer um diesen jungen Mann, dessen Hand er doch so bereitwillig geschüttelt hatte. Und dann war ihm zum ersten Mal das Wort storben über die Lippen gekommen.
 

Damals hatte Simone geglaubt, der Verkehrsunfall habe ihren Sohn so sehr traumatisiert, dass es für ihn gänzlich unvorstellbar war, der Mann könne noch leben und er nun gleichzeitig davon überzeugt sei, in Kürze ebenfalls sterben zu müssen. Es war genau eine Woche nach dem Unfall, und sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen – sie saßen zusammen auf einer Bank im Tiergarten, da sagte er plötzlich und wie aus dem Nichts kommend: „Bald sterben“ und deutete auf sich.
 

Simone hatte diese Selbstverständlichkeit, mit der er die Worte hervorgebracht hatte, schockiert. Da war kein Fragen in ihnen gewesen, keine Unsicherheit, die nach Vergewisserung suchte, sondern es schien so, als treibe ihn tiefste Überzeugung an, es ihr, seiner Mutter zu sagen, dass er bald sterben werde. Und dann hatte er sie einen Moment lang nur angesehen mit seinen graublauen Augen, ernst, ja tatsächlich wissend, ehe er sein Gesicht verzogen und sich an ihr geborgen hatte, so wie auch jetzt, um sich schluchzend Trost zu holen.
 

Doch im nächsten Moment, und das überraschte sie, sah er auf und lächelte sie an, so als habe er vergessen.
 

„Mama lieb“, sagte er.
 

Auch jetzt, da sie in Lehde, einem alten Spreewalddörfchen, zur Mittagspause anlegten, schien er vergessen zu haben, denn kaum war der Kahn vertäut, sprang er auf und wollte hinaus. In seinem Gesicht ein großes, strahlendes jungenhaftes Lächeln. Und als sie ihn wenig später fragte, ob ihm die Plinsen schmeckten, lachte er laut auf, so laut, dass ihn wieder die Blicke der anderen trafen. Zumal er auch den Kopf in den Nacken warf und mit dem Löffel in der Hand auf den Tisch klopfte, ein helles „Ha ha ha“ hervorbringend. Nur mit Mühe konnte sie ihn beruhigen, indem sie ihn am Ohr berührte. Sofort zuckte er zusammen, zog die Schulter hoch und juchzte.
 

„Leise“, sagte sie sanft und kitzelte ihn leicht. Er gluckste, zog die Nase kraus. „Leise“, wiederholte sie, „ganz leise.“ Dann strich sie ihm mit den Fingern über die Schläfe, deutete auf ihr eigenes Essen, machte: „Hmmm, lecker.“
 

„Lecker“, wiederholte er und nickte.
 

Er hatte verstanden, schmiegte sich einen Moment lang an sie und rieb seinen Kopf an ihr, so, wie es eine Katze tut, ehe er sich seinem eigenen Teller zuwandte und die Häppchen, die sie ihm zuvor geschnitten hatte, mit Hilfe des Zeigefingers auf seinen Löffel schob und sich den dann an den Mund hob. Langsam, ganz langsam, um nichts zu verkleckern, denn das mochte er gar nicht.



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