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Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie immer gilt: Wem Rechtschreib-, Zeichensetzungs- oder Grammatikfehler auffallen, darf mir das gerne mitteilen :)
(Besonders weil ich das Gefühl habe, dass meine Kommasetzung diesmal noch wahlloser als sonst ist...) Komplett anzeigen

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Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert

Wenn Sam in letzter Zeit in den Spiegel blickt, fällt es ihm schwer, sich selbst anzusehen. Er sieht zwar seine üblichen Augen, seine wohl bekannten braunen Haare, seine vertraute Frisur, aber auch einen ungewohnt grimmigen und nervösen Ausdruck in seinem Gesicht, den er lieber auszublenden versucht. Da ist so viel Wut und Frustration, die in ihm aufwallt, wann immer er sein Spiegelbild ansieht oder wenn er zu intensiv über sich selbst und das, was er gerade tut, nachdenkt, dass er es so gut es geht vermeidet. Aber das ist nicht immer möglich.

Wenn er wieder einmal von quälenden Zweifeln geplagt wird, versucht Sam sich damit zu beruhigen, dass er nur das tut, was getan werden muss. Etwas, zu dem Dean momentan nicht in der Lage ist. Also muss er es tun. Er wird für sie beide stark sein. Er muss es.

 

Fast ununterbrochen mit Dean auf engstem Raum aufeinanderzuhocken, ist oftmals Segen und Fluch zugleich. Es führt Sam einerseits vor Augen, warum er das alles tut (Um das Übel an der Wurzel zu packen und Lilith ein für alle Mal zu vernichten, bevor sie die Apokalypse auslöst. Weil sie eine mächtige Dämonin ist, die schon so viel Leid verursacht hat und jemand sie für all ihre Taten bezahlen lassen sollte. Damit Dean und er das Jägerleben nicht führen müssen, bis sie alt und grau sind oder schlimmer noch: Um zu verhindern, dass der Job sie ihre Leben eher früher als später kosten wird.), andererseits ist es aber auch nervenaufreibend vor Dean ein Geheimnis diesen Ausmaßes haben zu müssen. Wenn er es doch nur verstehen würde... Aber Sam weiß aus leidvoller Erfahrung, dass er genauso gut versuchen könnte, einer Betonmauer zu erklären, warum es wichtig und richtig ist, Jagd auf Lilith zu machen und nicht weiter vor ihr davonzulaufen.

 

Dean gelingt es nach seiner Rückkehr aus der Hölle nur schlecht, seine nagenden Zweifel an der Aufrichtigkeit seines kleinen Bruders vor diesem zu verbergen. Wann immer er Sam einen misstrauischen und abschätzenden Seitenblick aus seinen grünen Augen zuwirft, unterdrückt dieser bloß mühsam das Bedürfnis, seinen Bruder scharf anzuherrschen.

Es geht ihm gut. Kein Grund Deans Besorgnis oder Wut weiter anzufachen, indem er einen Streit vom Zaun bricht. Er hat alles unter Kontrolle. Er ist erwachsen und kann seine eigenen Entscheidungen treffen, ohne sich jedes Mal vor Dean rechtfertigen zu müssen, der in ihm seit jeher nur jemanden gesehen hat, den er beschützen muss und der ihm offensichtlich abspricht, zu wissen, was er tut. Aber er weiß genau, was auf dem Spiel steht und er tut das hier auch für Dean. Lilith muss gestoppt werden und sie wird dafür leiden, was sie seinem Bruder angetan hat. Für das, was Dean wegen ihr durchmachen musste. Für das, was sein Bruder gezwungen war, dort unten zu tun. Denn egal, wie sehr Dean versucht zu verbergen, wie sehr ihn die Erinnerungen an seine Zeit in der Hölle belasten: Sam bemerkt es trotzdem. Und er ist sich nur allzu bewusst, dass Dean das alles nur ertragen musste, weil er ursprünglich einen Deal eingegangen ist, um seinen kleinen Bruder zu retten und Sam es nicht rechtzeitig geschafft hat, ein Schlupfloch in Deans Dämonenpakt zu finden. Wenn er nicht gewesen wäre, müsste sein Bruder sich jetzt nicht so quälen. Das ist alles seine Schuld...

Bei dem Gedanken daran, dass Lilith es geschafft hat, Dean etwas so schreckliches widerfahren zu lassen, dass es ihm für immer unmöglich machen wird, die Qualen seines Bruders nachvollziehen und ihm helfen zu können, und stattdessen dafür sorgt, dass er sich auf ewig schuldig fühlen wird, durchströmt ihn eiskalte Wut. Die weißäugige Dämonin wird bereuen, was sie Dean angetan hat. Und wenn er dafür auf das Dämonenblut zurückgreifen muss, ist er bereit, diesen Preis zu zahlen. Es ist seine Entscheidung. In diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Das Dämonenblut wird ihm die Kraft geben, die er brauchen wird, um es mit Lilith aufnehmen zu können. Er will sich nie wieder so schwach und nutzlos fühlen, wie an dem Tag, als Dean ihm von seiner Zeit in der Hölle erzählt hat und er rein gar nichts tun konnte, um seinem sonst so taffen, großen Bruder einen Teil seiner Last abzunehmen. Dean hat ihm in seinem Leben schon so oft geholfen und jetzt, wo er ihn einmal braucht, soll Sam gar nichts für ihn tun können?

Nein.

Es gibt etwas, was er für Dean tun kann. Lilith töten.

 

Wann immer Dean etwas sagt, das auch nur ansatzweise mit Sams psychischen Kräften zu tun hat oder schneidende Kommentare zu Dämonen im Allgemeinen und Ruby im Speziellen abgibt, hält Sam sich mit aller Gewalt davon ab, sich auf eine weitere Diskussion einzulassen. Er beißt sich dann fest auf die Zunge und presst seinen Kiefer so stark zusammen, dass er beinahe das Gefühl hat, dass er seinen Mund nie wieder öffnen können wird. Aber der Schmerz erdet ihn und der rote Schleier, der sich über seine Augen gelegt hat, zieht sich langsam zurück. Ganz bewusst atmet er dann aus. Es geht ihm gut.

In guten Momenten sagt er sich, dass Dean sich nur Sorgen macht und dass Vorwürfe und scharfe Bemerkungen eben seine Art sind, um brüderliche Besorgnis auszudrücken, aber meistens fehlt ihm dafür die Geduld. Wie oft sind sie schon an diesem Punkt gewesen?

Dean versteht ihn nicht, weil es für Dean wie so oft nur schwarz oder weiß gibt und er seit Sams ersten Visionen deutlich gemacht hat, was er von den Kräften seines kleinen Bruders hält. Wenn Dean ehrlich zu sich selbst wäre, müsste er sich eingestehen, dass er Sam weder verstehen will noch kann. Er will nur, dass diese unnatürlichen Fähigkeiten seines jüngeren Bruders so plötzlich verschwinden, wie sie damals aufgetaucht sind und am allerliebsten wäre es ihm, wenn sie beide so tun würden, als hätte Sam diese Veranlagung überhaupt nicht mehr. Sam ist es so leid, sich für etwas rechtfertigen zu müssen, auf dass er keinen Einfluss hatte. Er hat nicht darum gebeten, diese Kräfte zu haben, aber er will verdammt sein, wenn er nicht das Beste aus ihnen macht.

So wenig, wie er Deans Zeit in der Hölle verstehen kann, weil er selbst nie dort war und man sich solche Dinge nur bis zu einem gewissen Grad vorstellen kann, ehe der menschliche Verstand die Grenzen seines Vorstellungsvermögens erreicht, so wenig kann Dean die Sache mit seinen psychischen Fähigkeiten verstehen. Er weiß nicht, wie es ist, zu wissen, dass besudeltes Blut mit jedem Herzschlag durch den eigenen Körper zirkuliert, dass Sam das Gefühl hat, verflucht zu sein und dass es absolut nichts gibt, was er tun kann, um sich von dieser Krankheit jemals zu befreien. Dean hat keine Ahnung, wie es sich anfühlt, diese Kräfte zu haben und verzweifelt zu versuchen, ihnen etwas Gutes abzugewinnen, obwohl es ihm anfangs eine höllische Angst eingejagt hat, sich näher mit diesem Teil von ihm auseinanderzusetzen. Er muss einfach glauben können, dass seine Fähigkeiten nicht zwingend böse sind. Dass er nicht dazu verdammt ist, auf der dunklen Seite zu enden. Dass er dieser Veranlagung widerstehen und beweisen kann, dass diese Kräfte, die unzweifelhaft aus einer dunklen Quelle stammen, dafür benutzt werden können, Gutes zu tun. Dass er gut ist.

Und er hat das Gefühl, dass er auf einem guten Weg ist. Seine Visionen haben kaum jemanden retten können, aber das hier? Dämonen exorzieren, ohne dass die von ihnen besetzte Hülle dabei Schaden erleidet? Wie kann es falsch sein, diese einmalige Chance zu ergreifen? Er erinnert sich an die unglaubliche Erleichterung, als er erkannt hat, dass Ruby Recht hatte, dass er Dämonen und sogar Lilith aufhalten und unschuldigen Menschen wirklich helfen kann, wenn er seine Kräfte weiter erforscht. Nein... Das ist nichts, was Dean, der so gut wie nie an sich zweifelt, jemals verstehen könnte.

Was der erfahrene Jäger dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sein kleiner Bruder nun sogar Dämonenblut trinkt, um diese Fähigkeiten zu verfeinern, weiß Sam auch so nur allzu gut. Er kennt Dean lange genug, um dieses hypothetische Gespräch mehr als einmal gedanklich durchgespielt zu haben und er hat kein Bedürfnis, diese aufgeheizte Diskussion in der Realität zu erleben. Es würde nur wieder mit gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen, unzähligen bereits dutzende Male vorgebrachten Argumenten, einem entschiedenen Machtwort von seinem großen Bruder und schließlich angespannten Schweigen enden.

Dean ist angesichts Sams zunehmender Kräfte auch so schon misstrauisch genug. Kein Grund ihm noch mehr Munition zu liefern. Natürlich weiß Sam, was für einen Eindruck es auf seinen Bruder machen würde, wenn er ihm von dem Dämonenblut, das er zu sich nimmt, erzählen würde. Er weiß schließlich noch ganz genau, was seine erste Reaktion auf Rubys Vorschlag war: Ungläubigkeit. Entsetzen. Ekel. Rigorose Ablehnung.

Es hat lange gedauert, bis er diese Gefühle hinter sich lassen konnte und bereit war, Rubys Worten Gehör zu schenken. Er hat hart mit sich gekämpft, ehe er akzeptiert hat, dass die Vorteile, die die dunkelhaarige Dämonin ihm aufgezeigt hat, stärker wiegen, als seine Furcht davor, sich mit seinen Kräften auseinanderzusetzen, diese anzunehmen und bewusst zu stärken. Wie würde also Deans Reaktion aussehen? Er würde ihn vermutlich nicht einmal ausreden lassen und ihm vorschreiben, was er zu tun hat, ohne ihn richtig zu Wort kommen zu lassen. Er wird also Dean und sich selbst einen großen Gefallen tun und nicht mehr versuchen, diesen davon zu überzeugen, ihn zu verstehen. Irgendwann wird sein großer Bruder erkennen, wie falsch er gelegen hat. Wenn Lilith erst einmal besiegt ist, wird auch Dean einsehen müssen, dass es ohne den Colt keinen anderen Weg gab, sie zu überwältigen und zu töten. Er wird erkennen, dass die Entscheidung seines kleinen Bruders die richtige war.

Sam hat außerdem die Sorge, dass Dean Castiel von dem Dämonenblut erzählen würde. Immerhin haben die beiden auch schon hinter seinem Rücken über seine wachsenden psychischen Fähigkeiten geredet, die es ihm ermöglicht haben, Alastair zu töten und somit Deans und auch Castiels Leben zu retten. Bei dem Gedanken an den dunkelhaarigen Engel mit dem durchdringenden Blick, überläuft Sam ein eiskaltes Frösteln. Das Letzte, was er jetzt braucht, ist ein voreingenommenes, himmlisches Wesen, das ihn aufzuhalten versucht.

 

Nachdem Sam jetzt bereits einige Engel kennen gelernt hat, überkommt ihn nur bei dem Gedanken an sie, eine Mischung aus herber Enttäuschung und einer ihm bis dato unbekannten Wut, die ihn seine unruhigen Finger zu einer zitternden Faust ballen lässt, die er in seiner Hosentasche verbirgt.

Wo sind bloß die mitfühlenden, gütigen Geschöpfe, die er sich in all seinen Gebeten ausgemalt hat?

Er kann nicht glauben, dass ausgerechnet das die himmlischen Vertreter sein sollen. Diese selbstgefälligen, maßlos von sich überzeugten Geschöpfe, die, ohne mit der Wimper zu zucken, ganze Städte dem Erdboden gleich machen oder ungehorsame Engel töten wollten, die es wagen, eine eigene Meinung zu haben. Anfangs dachte er, Uriel wäre Menschen gegenüber einfach nur besonders voreingenommen und nachdem er Anna getroffen hat, hat er sich für kurze Zeit bestätigt gefühlt. Er hat geglaubt, dass es noch mehr Engel wie sie geben könnte. Mitfühlende Wesen, die sich für die Menschheit interessieren und ihnen helfen wollen, aber nach allem, was er in den letzten Wochen erlebt hat, fühlt er sich mittlerweile vollkommen desillusioniert.

Castiel und Uriel haben Dean einfach entführt und ihn dazu gezwungen, für sie zu foltern. Uriel hat sich als Verräter entpuppt, der andere Engel getötet und insgeheim die Hölle unterstützt hat. Zachariah, der in der himmlischen Rangordnung weit oben stehen muss, hat sich einen Spaß daraus gemacht, Dean und ihm zeitweise ihre Erinnerungen zu rauben, nur weil er Dean eine Lektion erteilen wollte, nachdem der nicht mehr nach der Pfeife der Engel tanzen wollte. Er ist Schuld daran, dass mehrere unschuldige Menschen sterben mussten, weil ein Geist, dem ein erfahrener Jäger sofort auf die Spur gekommen wäre, von ihnen nicht rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen werden konnte. Stattdessen sind sie ahnungslos durch ihr neues Leben gestolpert, ehe sie den Geist eher zufällig besiegen konnten.

Das Schlimmste ist, dass Zachariah sich nicht nicht einmal einer Schuld bewusst zu sein schien. Als Dean ihm später alles erklärt hat - nicht, dass der Engel sich dazu herabgelassen hätte, Sam zu sagen, warum er zwischenzeitlich unter einem plötzlichen Erinnerungsverlust gelitten hat - hätte er sich am liebsten direkt auf die Suche nach dem eingebildeten Kerl gemacht, um ihm sein selbstgefälliges Grinsen persönlich aus dem Gesicht zu wischen.

Sind diese Wesen, die in ihm nur den Jungen mit dem Dämonenblut zu sehen scheinen und die ihn binnen eines Wimpernschlags zu Staub zerfallen lassen würden, falls sie der Meinung sind, dass er nicht mehr nützlich für sie ist, wirklich die Engel, zu denen er sein ganzes Leben lang gebetet hat?

Ihm kommt es so vor, als hätten sie ihr himmlisches Urteil über ihn schon längst gefällt und er ist dazu verdammt, zu warten, bis sie es ausführen.

Mehr als einmal hat er sich in den letzten Wochen gefragt, ob die Engel ihn und Ruby möglicherweise heimlich beobachten oder ob Rubys Hexenbeutel sie wirklich vor ihren Blicken schützen. Und gerade bei Castiel ist Sam sich nicht sicher, wie viel der stoische und mächtige Engel weiß oder vermutet. Seit dieser miterlebt hat, wie Sam Alastair getötet hat, schien es ihm, als würden ihm die blauen Augen des Engels aufmerksamer und nachdenklicher als sonst folgen, so als hätte Castiel einen Verdacht, aber bis jetzt hat dieser das Thema ihm gegenüber noch nicht angeschnitten. Sam ist sich sicher, dass Uriel sich im Gegensatz zu Castiel nicht damit begnügt hätte, nur still und heimlich vor sich hin zu brüten, sondern die Antworten, die er wollte, zur Not mit Gewalt aus ihm herausgepresst hätte.

Vor Uriels Tod hatte Sam mehrere Albträume, in denen der Engel ihn und Ruby überrascht und die Dämonin ohne viel Federlesens getötet hat, eher er sich mit einem zufriedenen Grinsen ihm zugewandt hat. Wenn Sam zitternd und schweißgebadet aus diesen wiederkehrenden Träumen hochgeschreckt ist und mit wild pochendem Herzen Deans ruhigen Atemzügen neben sich gelauscht hat, sind ihm diverse Schreckensszenarien durch den Kopf geschossen.

Er hat sich unruhig gefragt, ob Uriel sich in genau diesem Moment dazu bereit macht, ihn zu Staub zerfallen zu lassen und ob er Dean vorher wohl noch genüsslich erzählen würde, was sein mit Dämonenblut besudelter Bruder hinter seinem Rücken mit der Dämonin treibt, der Dean am meisten misstraut. Er hat darüber gegrübelt, ob das wohl genug wäre, um endgültig einen Keil zwischen ihn und Dean zu treiben. Ob sein Bruder ihn für das, was er tut, wohl hassen würde und tatenlos zusehen würde, wie Uriel ihn tötet. Er ist damals schon zu keiner wirklich beruhigenden Antwort gekommen und mittlerweile fürchtet Sam sich mehr denn je davor, dass sein Geheimnis ans Licht kommt. Er tut das hier schließlich auch für Dean. Er würde es nicht ertragen, wenn sein Bruder ihn dafür wirklich verabscheuen und sich mit Castiel und den anderen Engeln solidarisieren würde.

In seltenen, hoffnungsvolleren Momenten fragt Sam sich auch jetzt noch, ob die Engel sich insgeheim vielleicht doch dafür interessieren würden, was seine wahre Absichten sind und ob das möglicherweise dazu führen würde, dass sie im Fall der Fälle zögern würden, ihn aufzuhalten. Ob sie erkennen würden, dass er und sie die gleichen Ziele verfolgen. Schließlich wollen sie alle die Apokalypse stoppen und Lilith aufhalten.

Aber dann denkt er daran, wie sie reagiert haben, als sie ihn zum ersten Mal gesehen haben. Er ist für sie nur der Junge mit dem Dämonenblut. Im besten Falle nützlich, ansonsten eine Abscheulichkeit, die es zu eliminieren gilt. Niemals würden sie akzeptieren, dass er Dämonenenblut trinkt, um etwas Gutes zu tun. Ruby liegt völlig richtig: Engel schlagen erst zu und stellen im Anschluss Fragen.

Und das ist etwas, das ihm wirklich Angst macht. Was, wenn die Engel ihm und Ruby auf die Schliche kommen und beschließen ihn auszuschalten, bevor er Lilith besiegen kann? Wer wird die gefährliche Dämonin dann aufhalten und für alles, was sie in ihrem langen Leben schon angerichtet hat, bestrafen? Nein, er kann jetzt nicht scheitern! Er ist doch schon so weit gekommen. Dean und er haben beide schon so viel verloren. Zu viele unschuldige Leben sind ausgelöscht worden. Freunde, die nur ihretwegen ins Kreuzfeuer der Dämonen geraten sind.

Bei dem Gedanken an Pamelas Tod zieht sich Sams Herz schmerzhaft zusammen. Ihre letzten Worte haben sich deutlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er kann ihre Warnung und ihre offene Besorgnis um ihn nicht vergessen. Auch sie verdient es, gerächt zu werden. Er muss nur noch etwas stärker werden, um das Blatt zu ihren Gunsten wenden zu können.

 

Es fehlt nicht mehr viel. Sam spürt es. Er ist auf dem richtigen Weg. Bald hat er es geschafft. Das Aufeinandertreffen mit Alastair hat das eindeutig bewiesen. Vor einigen Monaten hätte der Dämon ihn noch mit einem lässigen Fingerschnippen töten können, während er ihm im Gegenzug kein Haar hätte krümmen können und jetzt fiel es ihm fast schon leicht, Deans Foltermeister zu beseitigen. Und es war nicht nur ein Exorzismus, nein, er hat ihn wirklich getötet. Der Gedanke an das Hochgefühl, das ihn durchströmt hat, als er Alastairs überraschtes Gesicht gesehen hat, bestärkt ihn in seiner Überzeugung. Er tut das Richtige. Alastair hat ihn unterschätzt und schon bald wird er auch in der Lage sein, Lilith auszuschalten. Es spielt keine Rolle, dass er bei ihrer letzten Konfrontation noch nicht stark genug war, um sie zu besiegen. Umgekehrt kann sie ihn auch nicht verletzen und Alastairs Tod hat ihm bewiesen, wie schnell er stärker wird. Er braucht nur noch etwas mehr Übung. Noch mehr von Rubys Blut und noch etwas Zeit, um seine Fähigkeiten zu verfeinern. Dann ist er bereit, sie ein für alle Mal auszulöschen. Der Moment, auf den er solange hingearbeitet hat, ist zum Greifen nah.

 

Sam hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass seine Finger öfter als früher zittern. Eindeutig ein Nebeneffekt der ganzen Anspannung, unter der er ständig steht. Wenn er seine bebenden Finger zu einer entschlossenen Faust ballt, um die ungewollten Bewegungen zu stoppen, kann er nicht verhindern, dass sein Blick automatisch auf die dadurch hervortretenden Venen seiner Unterarme fällt, die unablässig sein verdorbenes Blut durch seinen Körper pumpen. Ungebeten kommen ihm dann Chucks eindringliche Worte und nicht zuletzt die überraschte Feststellung des Ghuls, das sein Blut anders schmeckt, in den Sinn. Es beunruhigt ihn mehr, als er sich selbst gegenüber eingestehen möchte, dass selbst Monster mittlerweile in der Lage sind, an Hand seines Blutes festzustellen, dass etwas an ihm nicht normal ist. Er dachte, es sei vielleicht alles nur Einbildung, dass er bloß zu glauben fühlt, wie ihn der Blutkonsum verändert, weil er sich unterbewusst an der Vorstellung stört, dass er wie ein Vampir Blut zu sich nimmt. Dass er sich nur einredet, zu spüren, wie das fremde Blut durch in hindurchströmt und seinen Körper verändert. Andererseits, überlegt er, macht es auch Sinn. Letztendlich ist das menschliche Gehirn mit einem Muskel vergleichbar. Es wäre also nicht allzu abwegig, dass seine gesteigerten psychischen Fähigkeiten sich auch in physiologischen Veränderungen manifestieren. Trotzdem verunsichert es ihn und das wiederum ärgert ihn. Er ruft sich dann von neuem ins Gedächtnis, warum er das hier tut.

Seine Kräfte helfen Unschuldigen.

Er rettet Menschenleben.

Er vernichtet Dämonen.

Er tut etwas Gutes.

Daran ist nichts falsches. Es ist seine Entscheidung. Ganz allein seine. Hat er das nicht so von sich selbst überzeugt zu Dean gesagt? Vor einer gefühlten Ewigkeit, als alles noch so viel leichter zu sein schien und er weniger an sich gezweifelt hat? Irgendjemand muss Lilith stoppen. Er muss es tun. Er darf jetzt nicht aufhören. Er kann jetzt nicht aufhören.

 

Sam sehnt sich verzweifelt danach, dass endlich alles vorbei ist. Er weiß nicht, wie lange er sein Geheimnis noch vor Dean verbergen kann und vor allem weiß er allmählich nicht mehr, wie er es schaffen soll, Lilith rechtzeitig aufzuhalten, die trotz all ihrer Bemühungen ein Siegel nach dem anderen bricht. Viel fehlt nicht mehr, damit sie gewonnen hat. Ruby hat ihm schon vor Wochen deutlich gesagt, dass ihnen langsam, aber sicher die Zeit ausgeht und dass er sich mehr anstrengen muss. Und wie üblich hat er erst mit einiger Verspätung erkannt, dass sie Recht hat. Also hat Sam in den vergangenen Wochen so hart wie nie zuvor trainiert. Er hat kontinuierlich seinen Konsum an Dämonenblut gesteigert und hat deutlich gespürt, wie sehr sich seine Fähigkeiten dadurch verstärkt haben. Im Gegenzug war seine Mentorin sehr zufrieden mit seinen Fortschritten. Ruby hat ihn nach ihrem letzten Treffen mit Bewunderung und auch einer gehörigen Portion Stolz angesehen und da sie nicht dazu neigt, grundlos mit Lob um sich zu werfen, weiß Sam, dass er es fast geschafft hat. Er ist dankbar dafür. Er hat die ständige Anspannung und seine permanente Gereiztheit langsam selbst satt. Aber Ruby hat ihn noch zu etwas Geduld gemahnt. Sie glaubt, dass sie Lilith dicht auf den Fersen sind. Sam zweifelt nicht daran, dass sie richtig liegt. Ihre Instinkte sind außergewöhnlich gut.

Wie so oft in den letzten Tagen, kreisen seine Gedanken um Ruby und deren Blut. Er muss seinen erhöhten Dämonenblutkonsum aufrecht erhalten. Ruby hat ihn davor gewarnt, dass er riskiert, dass seine Kräfte wieder abnehmen, wenn er nicht regelmäßig ihr Blut zu sich nimmt und da ihr Blut es schafft, seine Nerven zu beruhigen, hat Sam in den vergangenen Tagen öfter als geplant zu seinem Flachmann gegriffen. Überrascht hat er festgestellt, dass nur noch einige Zentimeter der dunklen Flüssigkeit vorhanden sind. Er muss Ruby kontaktieren, um seinen Vorrat rechtzeitig auffüllen zu können. Allerdings hat sie ihm Anfang der Woche gesagt, dass sie frühestens morgen Abend wieder in der Stadt sein wird. Sam hat nicht vor, sie bei ihrer Suche nach Lilith zu unterbrechen. Es ist wichtig, dass die weißäugige Dämonin aufgespürt wird. Trotz dieses guten Vorsatzes ertappt sich Sam dabei, wie er unbewusst nach seinem Handy gegriffen und wie sein zitternder Finger schon über Rubys Nummer geschwebt hat, ehe er blinzelnd realisiert, was er gerade im Begriff ist zu tun. Kurz erschreckt es ihn, wie sehr er die zierliche Dämonin zu brauchen scheint, aber dann erinnert er sich daran, dass Ruby ihn dazu ermuntert hat, sie zu kontaktieren, wenn er das Gefühl hat, dass ihm alles über den Kopf lässt. Niemand kann die Last der ganzen Welt allein schultern. Nicht einmal du, Sam. Das waren ihre Worte und das ist es, was letztendlich den Ausschlag dafür gibt, dass Sam ihr jetzt eine SMS schickt. Es ist ein guter Kompromiss, sagt er sich. Ein Anruf würde sie möglicherweise ablenken, wenn sie gerade anderen Dämonen hinterher spioniert und würde der Sache wegen des Blutnachschubs außerdem eine Dringlichkeit verleihen, die unangebracht wäre. So sehr braucht er jetzt noch kein neues Blut.

Ungebeten taucht ein Bild von Dean mit skeptisch hochgezogener Augenbraue vor seinem geistigen Auge auf, als würde ihn sein eigenes Unterbewusstsein spöttisch verhöhnen wollen. Es ist nicht falsch, jemand anderen zu brauchen, ruft er sich ins Gedächtnis und das macht es ihm leichter, sich selbst einzugestehen, wie sehr er sich mittlerweile an Rubys Gesellschaft gewöhnt hat, wie sehr er der Dämonin vertraut und auch, wie sehr er auf sie angewiesen ist.

Ihre sanfte und beruhigende Stimme, die verständnisvolle Art, mit der sie ihn ansieht, ihr weiches Lächeln und vor allem ihr Blut. Ihr dunkles Blut, das sie ihm so freimütig überlässt und dass das heiße Fieber in seinen Adern lindert und ihn wieder klar denken lässt, wenn er am liebsten vor lauter Erschöpfung zusammenbrechen würde.

Manchmal, wenn Sam sich nach ihrem Blut verzehrt, keimt in ihm ein nagender Zweifel auf und er fragt sich unbehaglich, was, von all dem, dass er tut, wirklich noch seine eigene Entscheidung ist, aber sobald er einen Schluck der dunklen Flüssigkeit zu sich nimmt, seine Gedanken wieder klarer werden und er fühlt, wie eine neue Welle der Kraft ihn durchströmt, schiebt er diesen Hauch von Unsicherheit entschieden bei Seite.

Es geht ihm gut. Das hier ist seine Entscheidung. Er hat alles unter Kontrolle.



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