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Fremde gehen

von

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Am darauffolgenden Tag haben Sakura und ich uns seit langem so richtig ernst über unsere Ehe unterhalten. Dabei kam nichts neues raus: Wir sind schrecklich kaputt. Mittlerweile sieht es so aus, als würden wir mit den momentanen Problemen nicht allein fertig. Deswegen machen wir seit knapp vier Wochen eine Paartherapie. Ich hatte bereits acht Sitzungen. Wir werden getrennt beraten, weil es in unserem Fall angeblich besser sein soll. Allerdings ist nicht klar für wen genau. Die Abrechnung folgt natürlich pro Sitzung, also schön doppelt. Allgemein verwirrt mich dieses ganze Konstrukt. Anscheinend ist das ultimative Ziel, dass Sakura und ich wieder verstehen, was wir von unserer Ehe wollen. Das klingt an sich sehr sinnvoll. Nur merke ich überhaupt nichts davon, dass die vergangenen Sitzungen mich tatsächlich zu diesem Ziel näher bringen. Ich sehe da kein logisches Fortschreiten. Wir springen von einem Thema zum nächsten. Eins davon war zum Beispiel meine Kindheit. Ich habe mich geweigert, darüber zu sprechen. Warum soll das, was vor 38 Jahren geschah, für meine momentanen Eheprobleme relevant sein? Außerdem sind meine Sitzungen nicht so ganz vertraulich, denn Sakura hat mich eines Abends gebeten, meine Familiengeschichte der Therapeutin doch noch offenzulegen. Das fand ich ehrlicherweise nicht so berauschend. Sakura zu liebe ging ich der Bitte nach. Danach wurde das mit meiner Kindheit sehr schnell uninteressant. Bis jetzt kam es nicht erneut auf. Ich warte immer noch darauf, ja? Wie gesagt, ich verstehe es nicht. Allerdings wurde mir durch die Therapie eine Sache klar: Ich kann nicht über meine Gefühle sprechen. Nicht, weil es mir besonders peinlich ist — wobei das auch eine gewisse Rolle spielt — sondern weil es mir unglaublich schwerfällt, meinen seelischen Zustand korrekt zu beurteilen, den Urteil präzise in Worte zu fassen und die Zusammenfassung einer anderen Person vorzutragen. Diese Tatsache fand ich irgendwie interessant.
 

In der Zwischenzeit ist Naruto zurück ins Büro. Seit drei Wochen schon. An seinem ersten Tag erwartete eine kleine Überraschung auf mich. Zwischen der übrigen Post lag eine unscheinbare Kündigung. Ich habe sie umgehend unterschrieben und dann wanderte sie genauso unscheinbar dorthin zurück, wo sie herkam, und dann wurde sie relativ schnell von HR genehmigt. Er verbringt also die letzten anderthalb Monate hier. Drei Monate Kündigungsfrist minus Überstunden und Urlaub. Danach gehen wir endgültig getrennte Wege. Ich kann diesen Tag kaum erwarten, denn die Stimmung zwischen uns ist wie erwartet absolut giftig. Seitdem er zurück ist, betreibt er eine unverschämte Arbeitsverweigerung. Wegen jeder Kleinigkeit wird erstmal heftig diskutiert, ganz egal, ob eine Diskussion angebracht ist. Manchmal bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn mit verbaler Gewalt zu zwingen, seine vertraglichen Pflichten einzuhalten. Solche Streite kosten mir sehr viel Kraft. Danach bin ich mehrere Stunden mental ausgeknockt und extrem reizbar. Jeder winzige Murks kann das Fass zum Überlaufen bringen. Zwar ist bis jetzt nichts Schlimmes passiert, aber ich kann definitiv nicht noch einen ganzen Monat so existieren. Keine Ahnung, wie ich die verbleibende Zeit überleben soll. Naruto wird es nicht lassen, besonders nicht meinetwegen. Wir sind ja jetzt bittere Feinde. Deswegen ist es kaum zu glauben, dass er mich jemals verzweifelt angefleht hat, bei ihm zu bleiben. Jetzt hasst er mich über alles und das spüre ich so richtig. Sein Hass mir gegenüber ist unglaublich zerstörerisch. Er will alles, was mich nur ansatzweise betrifft, in Flammen aufgehen sehen. Nur vor wenigen Wochen war es ganz anders. Dadurch, dass es Naruto gut ging, ging es allen anderen Sachen auch gut. Meine Verwaltung, mein Arbeitsalltag und das allgemeine Wohlbefinden im Büro liefen wie ein sicheres Uhrwerk und das nahm ich als selbstverständlich wahr. Mittlerweile sind zwischen uns alle Brücken verbrannt. Es wird nie wieder so sein, wie früher. Und in anderthalb Monaten ist er aus meinem Leben ganz verschwunden.
 

Ist es nicht das, was ich eigentlich bezwecken wollte?
 

Ja, ich wollte unbedingt unser komisches Miteinander beenden. Es war ein riesengroßer Fehler. Damit habe ich meiner Frau, meinen Kindern und vor allem Naruto unrecht getan. Jetzt ist dieser Fehler behoben und das ist gut so. Eigentlich sollte dadurch alles besser werden. Nur warum läuft es zurzeit gefühlt genau umgekehrt? Wo bleibt denn meine lang ersehnte Erlösung? Wo ist dieses Gefühl, dass ich alles richtig gemacht habe? Wo bleibt das alles, ha?
 

Ich seufze. Tja, witzigerweise weiß ich darauf spontan keine Antworten.
 

***
 

Naruto, der Idiot! Seitdem er wieder zurück ist, treibt er mich jeden Tag mit einem unmenschlich hingebungsvollen Fanatismus in den Wahnsinn! Tja, nach fünf Wochen akuter Belastungsstörung findet sich plötzlich ein neuer Lebenssinn! Super! Einfach nur Klasse! Gestern wollte er mir krampfhaft beweisen, dass ich ein Sklaventreiber bin. Heute soll angeblich seine Kaffeepause um 16:30 wichtiger sein, als die Abwicklung eines eiligen Sicherheitskonzepts, der schon seit drei Tagen bei ihm rumliegt, und den ich zufälligerweise bis morgen früh brauche. Als wäre es nicht selbstverständlich! Es ist selbstverständlich und das weiß er! Er weiß auch, dass ich auf eine unkomplizierte Abwicklung angewiesen bin! Dafür sind Assistenten doch da! Um Sachen unkomplizierter zu machen! Mittlerweile glaube ich ernsthaft daran, dass er mich einfach nur leiden sehen will! AAA! Ich kann mich nicht genug über die Situation aufregen!
 

Vorhin meinte ich, dass bei unseren Streiten nichts Schlimmes passiert ist. Nun gilt die Aussage so nicht mehr. Dieser Streit eskalierte so extrem, dass das gesamte Gebäude diese Auseinandersetzung ohne besondere Mühe mitbekam. Leute, die eigentlich auf anderen Stockwerken arbeiten, streiften auffällig unauffällig an meinen Empfang vorbei, um heiße Infos über Uchihas Ausraster zu ergattern. Die Neuigkeit verbreitete sich wie die Pest und nur dreißig Minuten später wurde an jeder Ecke darüber geredet. Ich habe mich zunächst zusammen mit meiner brodelnden Wut in meinem Büro eingeschlossen. Aber mein Büro war noch nie ein guter Rückzugsort. Emails, Anrufe, Chatnachrichten, Stapel von Papieren wollten alle meine unmittelbare Aufmerksamkeit und bitte SOFORT. Das war zu dem Zeitpunkt zu viel verlangt, denn ich mutierte kurzerhand zu einem traurigen emotionalen Wrack, der gelähmt in der Ecke saß und mit der Welt nicht fertig werden konnte. Aber das war allen zutiefst egal. Mehr Emails, mehr Anrufe, mehr Chatnachrichten… ich hab die Informationsflut nicht ausgehalten und ergriff eine panische Flucht aufs Dach. Dabei war mir egal, dass die Kernarbeitszeit noch nicht vorbei war, und dass ich damit eigentlich die Hausordnung breche. Ich musste einfach nur weg. Vierzig Minuten und zwei Schachtel Zigaretten später kann ich immer noch nicht zur Ruhe kommen. Ich bin rastlos und bekomme den wütenden Gedankenstrom in meinem Kopf nicht unter Kontrolle. Wenn sowas passiert, laufe ich stur im Kreis. Heute rauche ich dabei wie ein Dampfschiff. Das heißt, ich bin rastlos, kriege meine Gedanken nicht unter Kontrolle und bin ausgesprochen nervös. Der eiserne Himmel mit den tief hängenden Wolken wirkt erdrückend. Das passt perfekt zu meinem seelischen Zustand. Hey! Immerhin passt heute überhaupt etwas perfekt! Denn bis jetzt war der Tag echt deprimierend.
 

Plötzlich färbt sich der Himmel um. Er wird leicht bläulich — es hat geblitzt. Ich erstarre. Jetzt donnert es. Anscheinend fängt es gleich an, zu regnen. Ich müsste eventuell…
 

Kaum bringe ich den einen Gedanken zu Ende, bricht ein starker Platzregen aus. Binnen Sekunden schüttet es wie aus dem Eimer. Meine Zigarette wird nass und es ist unmöglich, sie fertig zu rauchen. Ich schmeiße den Stummel wütend weg. Na toll! Einfach toll! Dieser Tag wird mit jeder durchlebten Sekunde besser! Es reicht wohl nicht mit der Therapeutin, einem Geschäftspartner und dem Assistenten zu zerstreiten, eine panische Flucht zu ergreifen und die Arbeitspflichten zu vernachlässigen! Nein, ein Platzregen muss mich an meinem einzigen sicheren Ort natürlich auch erwischen! Es ist alles Scheiße! EINFACH NUR SCHEISSE!!!
 

Ich haue kräftig gegen die Betonwand — meine Knöchel fangen an, zu bluten, aber das stoppt mich nicht. Meine Hand zittert und tut weh. Ich ramme meine Faust trotzdem wütend in die Mauer ein. Jeder Schlag hinterlässt blutige Flecken, die sofort vom Regen weggewischt werden. Ich kreische mit den Zähnen und breche in einem lauten tierischen Urgebrüll aus. Dabei prügele ich immer noch rasend auf die Wand ein. Ich hasse es! Ich hasse es. Ich hasse es… aua! Scheiße! Ach ja, ich habe meine Hände zermatscht und jetzt lassen sie sich nicht mehr zur Faust ballen. Super… ich sickere auf den Boden und stütze mich auf der Wand ab. Ich versuche die Wut unter Kontrolle zu kriegen.
 

Komm, Sasuke… ruhig atmen… schließlich gibt es keinen Grund sauer zu sein. Auf wen denn? Die meisten Umstände, die dich hierhin geführt haben, sind eh selbstverschuldet.
 

Selbstverschuldet…
 

Plötzlich ergreift mich eine mächtige Verzweiflung. Ich umschließe die Knie und atme schwer aus. Mittlerweile bin ich patschnass. Die teure Anzughose ist mit dem kalten Regenwasser vollgesogen. Die schicken Schuhe aus Wildleder sind von innen überschwemmt. Wenn man mein Hemd auswringt, kriegt man bestimmt einen großen Topf mit Wasser voll. Es klebt eklig an meinem Oberkörper. Und so muss ich zurück ins Büro. Ne, auf keinen Fall. Fehlanzeige. Niemand darf mich so sehen. Ein instabiler emotionaler Wrack, der sich mit seinem Ex zerstritt, vor Überforderung seine Pflichten liegen ließ, und jetzt nass wie ein Straßenhund ist. Nein, ich darf mich unter keinen Umständen so zeigen.
 

Ich seufze.
 

Wem will ich eigentlich was beweisen? Warum ist mir mein Image so wichtig? Ich meine, ja, ich bin im Vorstand und da muss man schon darauf achten, wie man rüberkommt, besonders weil ich mich tatsächlich am Tagesgeschäft aktiv beteilige. Sonst ist man als Vorstandsmitglied für die Angestellten praktisch unsichtbar. Ja, aber trotzdem… warum muss ich um jeden Preis die blitzblanke Fassade aufrechterhalten? Warum will ich meine Angestellten um jeden Preis überzeugen, dass ich perfekt bin? Das bin ich doch gar nicht! Letzter Zeit habe ich absolut nichts im Griff. Ich habe absolut keinen Plan, was ich mache.
 

Es donnert noch einmal kräftig. Die nächste Wasserwelle stürzt über meinen Kopf ein. Diesmal ergebe ich mich. Ich schließe die Augen und höre dem Regen zu. Beruhigendes Rauschen… mein Atem wird gleichmäßig. Meine Gedanken rasen nicht mehr so wild. Die Tatsache, dass ich so aussehe, als wäre ich angezogen unter der Dusche gestanden, rückt in den Hintergrund. Und dann passiert genau dasselbe, wie am Trennungsfreitag: Die Umgebung entschleunigt sich; die Unmengen an Gedankenabfall der letzten Wochen werden endlich aus meinem System ausgeschüttet; plötzlich fühlt sich mein Körper leicht an, obwohl ich tierisch müde bin; auf einmal betrachte ich mein Leben ganz von oben.
 

Die Therapeutin hat recht bezüglich Sakura und mich… ich werde sie für immer lieben. Sie wird für immer ein wichtiger Teil meiner Familie sein. Trotzdem ist unsere Ehe so mordsunglücklich, dass es sich nicht wieder biegen kann. Ich glaube, diese Tatsache ist uns beiden schon lange unterbewusst klar. Wir klammern an unserer Vergangenheit fest. An der Vergangenheit, in der wir füreinander die wichtigsten Menschen im Leben waren. Es war sehr schön. Wir haben zwei wunderbare Kinder großgezogen und haben uns stets um einander gekümmert. Diese Geschichte gehört uns und niemand kann sie uns wegnehmen. Nur leider hat sie vor langer Zeit ihr Ende erreicht. Jetzt müssen wir einander loslassen.
 

Mein Gott, ich will immer noch nicht wahrhaben, dass Sakura und ich nicht mehr zu retten sind. Es macht mich verdammt traurig.
 

Ich werde im nächsten kräftigen Ansturm des Regens gefangen. Ich öffne die Augen und sehe in den mittlerweile indigoblau gewordenen mürrischen Himmel. Der Donner brüllt, der Wind heult und es blitzt kräftig. Mittlerweile bin ich so durchnässt, dass kleine Bächlein von meiner Kleidung runterlaufen. Mir ist arschkalt und meine Hände tun immer noch tierisch weh. Die Haut an den Knöchel wird von den großen Regentropfen getroffen und dann ziept es unangenehm. Ich zittere. Meine Zähne klappern. In meinem Schuhwerk gluckst eine eklige Suppe, in der meine Füße ungewollt baden. Ich nehme die Schuhe ab und schütte die Brühe weg. Meine nackten Sohlen berühren den kalten rauen Betonboden und es fühlt sich aus irgendeinem Grund richtig gut an. In diesem Augenblick bin ich weder Chef, noch Vorstandsmitglied, noch Geschäftspartner, noch Ehemann, noch Vater. In dieser Sekunde spiele ich keine Rolle. Ich bin nur ein unbedeutender Bestandteil der Umgebung. Ich bin einfach nur Sasuke und das gefällt mir ausgesprochen gut. Ja, so langsam werde ich mit der Welt tatsächlich fertig. Oder sie mit mir eben. Keine Ahnung, wie rum es richtig ist. Obwohl ich tierisch müde, patschnass, mit kaputten Knöcheln und ohne Schuhe bin, mich auf dem verbotenen Dach meinen Pflichten entziehe und es unglaublich kalt ist, geht es mir seit langem ein kleines bisschen besser. Und dabei gehen meine Mundwinkel leicht nach oben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Onlyknow3
2021-03-02T11:51:57+00:00 02.03.2021 12:51
Sasuke wird erst merken was er verloren hat, wenn Naruto nicht mehr da ist, und er keinen zum Streiten mehr hat.
Was die Therapie betrifft, denke ich das es darauf hinaus laufen wird das sich die beiden Trennen.
Sasuke wird seinen Job als Vorstandsmitglied wohl nicht aufgeben, doch er wird damit auch nicht Glücklich.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Scorbion1984
2021-03-01T04:29:15+00:00 01.03.2021 05:29
Er ist ein ganz schönes Wrack . Seine Ehe kann er sowieso nicht mehr retten und ich denke er will es auch nicht mehr !
Nun muss er rauskriegen was er will und mit wem er sein Leben weiter leben will .
Das wird ein harter Weg für ihn werden ,vielleicht aber auch befreient für ihn .


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