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Sintflut

von

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Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?

"Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?"
 

Fest zieht Annabell sich die wuscheldecke um ihre Schultern und sie hebt den dunklen Thermobecher an ihre Lippen, wo aus einer kleinen Öffnung Dampf heraus wabert. Sie hat es sich auf einer der vielen weißen Bänke bequem gemacht, die hinter dem Deich, direkt an der Strandpromenade stehen. Die Sonne ist schon längst unter gegangen und die Temperaturen bewegen sich von Tag zu Tag näher dem Gefrierpunkt. Da es heute aber ziemlich windstill ist, wollte sie den Abend nicht in ihrer Wohnung verbringen. Sie hatte viel lieber Lust sich die kühle Nachtluft um die Nase wehen zu lassen und genau das macht sie jetzt auch, während sie regelrecht ein gemümmelt auf der Bank sitzt und ab und an einen heißen Schluck Tee zu sich nimmt. Das Meer rauscht leise und man muss sich fast schon konzentrieren, damit man es wahr nimmt. Die Ebbe hat schon wieder eingesetzt und so wird das Rauschen kontinuierlich leiser. Neben ihr, auf der weißen Bank steht ein Teelicht, welches aufgeregt in einem bunten Windlichtglas umher flackert und die hübschesten Muster auf das weißgestrichene Holz zaubert. Sie liebt dieses Kerzenglas und auch wenn es von Natur aus einzelnen Glasteilchen besteht, das eine oder andere Mal musste sie es selbst schon wieder zusammenkleben, weil es ihr runter gefallen ist oder es ungünstig gelagert wurde.
 

Mittlerweile arbeitet sie schon offiziell seit einer Woche in der Kindertagesstätte. Inoffiziell schon seit zwei Wochen. Die ersten zwei Probetage gingen ohne Probleme von statten. Am dritten amtlichen Probetag, fiel dann urplötzlich eine Kollegin aus, die auch nicht wieder so schnell zurück in den Arbeitsalltag finden wird. Die Leiterin überlegte nicht lange und machte Annabell ein Angebot, welches sie einfach nicht ablehnen konnte. Somit hatte sie am Ende eher einen Arbeitsvertrag in der Tasche wie sie gucken konnte. Das ging ihr beinahe schon ein bisschen zu schnell, doch zum Nachdenken ist sie bis heute nicht gekommen und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, will sie das auch gar nicht. Die Arbeit gefällt ihr. Die Kollegen sind alle ausnahmslos nett und auch sehr aufgeschlossen und auch mit den Kindern gab es noch keine Probleme. Klar, eines tanzt immer mal aus der Reihe, aber dafür sind sie Erzieher ja da, um es wieder in den richtigen Takt zu bringen.
 

Nebenbei hat sich in den zwei Wochen auch schon eine regelmäßige Kommunikation mit Óskar entwickelt. Es gibt keinen Tag, wo nicht wenigstens eine Nachricht ausgetauscht wird. Nach wie vor bekommt Annabell regelmäßiges Bauchkribbeln, wenn sie diesen Namen auch nur liest und von dem seligen Grinsen auf ihren Lippen, darüber will sie gar nicht erst nachdenken, das bemerkt sie manchmal schon gar nicht mehr und sie wurde sogar schon mehr als einmal von ihren Kollegen angesprochen, weshalb sie so verträumt vor sich hin grinst. Das ist ihr regelmäßig peinlich, aber niemand scheint sich daran zu stören. Tatsächlich sind die anderen Erzieher in der Kindertagesstätte regelrecht Feuer und Flamme und sie fiebern dem ‚Happy End der Lovestory‘ mit entzückenden Seufzern entgegen – diese Worte  sind von Marlies, mit welcher sie sich mit am besten versteht – wenn sie mal wieder komplett grenzdebil auf ihr Handy schaut, weil Óskar mal wieder etwas geschrieben hat, war ihr Herz gleich noch einen Takt schneller für ihn schlagen lässt. Mit ihm zu schreiben macht immens viel Spaß und wenn sie mal nicht so gut drauf ist, dann kommt irgendeine Mitteilung von ihm und der Tag wird von ganz alleine besser. Noch dazu foppen sie sich in gleichmäßigen Abständen und da kann es schon mal passieren, dass einem dabei ein wenig heißer wird, wenn nicht sogar beiden.
 

Zu einem konnte sie sich aber noch nicht so wirklich durchringen, auch wenn es Quatsch ist, da sie sich ja schon mehr als einmal gegenüber gestanden sind und sogar schon miteinander geredet haben. Aber seit dem Annabell mit Óskar schreibt, war sie nicht wieder in den Sintflut essen. Zu groß ist ihre Angst, dass sie sich daneben benimmt, weil sie eben nicht weiß, wie sie sich ihm jetzt gegenüber verhalten soll. Das hat sie ihm so auch schon mittgeteilt, da Óskar selbst schon nachgefragt hat, wann sie denn mal wieder in die Sintflut kommt.

‚Sei einfach du selbst.‘, lautete seine Antwort, aber sowas ist immer einfacher gesagt als getan. Bis jetzt hat er auch noch nicht wieder nach gefragt und Annabell weiß nicht, wie lange er sich mit ihrer Erwiderung zufrieden geben wird.
 

Leise seufzend nimmt sie noch einen Schluck Tee, als sie bemerkt, dass ihre Jackentasche vibriert. Sie muss noch nicht mal drauf gucken, um zu wissen, wer ihr zu solch später Stunde noch schreibt. Wenn man vom Teufel tratscht…
 


 


 

Sicht Óskar
 

Um kurz nach halb elf am Abend schließt Óskar die Sintflut hinter sich ab. Wochenende. Endlich! Auch wenn ihm die Arbeit hier unendlich viel Spaß macht, es gibt trotzdem in unregelmäßigen Abständen die Tage, wo man ihr einfach nur noch den Rücken kehren will und für ein oder zwei Tage nicht mehr an seinen Arbeitsplatz denken mag. Da kann man seinen Job noch so gerne haben, wenn das Fass voll ist, ist es voll.
 

Mit einem genüsslichen ersten Zug befördert er den Rauch seiner Zigarette in seine Lungen, welche er sich gerade angezündet hat und behält ihn kurz drinnen, bevor er ihn genüsslich auspustet. Dann macht er sich mit schnellen, langen Schritten auf den Weg nach Hause. Dort wartet Max schon auf ihn. Der Rottweiler muss noch mal raus und das will ihm Óskar nicht verwehren, zudem er keinen Bock hat, dass ihm sein Hund noch in die Bude pinkelt. Das war damals schon ein Akt, wo der Dicke noch ein Welpe war… und die Pfützen heute sind um einiges größer.
 

Das veranlasst ihn gleich noch einen Schritt schneller zugehen. Nebenbei beschließt Óskar für sich, dass er sich zu Hause unbedingt noch einen Hoodie drunter ziehen muss. Die Temperaturen sind schon fast unterirdisch und bis zum Winter wird es definitiv nicht mehr lange dauern. Sie haben beinahe Ende Oktober und die Straßen sind gesäumt von gelben und roten Laubblättern, die für ihn der Inbegriff von Herbst sind.
 

Ein bisschen aus der Puste, weil ihm so kalt ist, dass er beinahe rennen musste, kommt er zu Hause an und kaum steckt er den Schlüssel ins Schlüsselloch, hört er schon das leise Klackern der Krallen von Max‘ Pfoten auf seinem Laminat. Die Tür ist noch gar nicht richtig auf, da wird er schon freudig von seinem Rottweiler begrüßt, der sich kaum wieder einkriegt.
 

„Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?“, fragt er in einem liebevollen Ton und krault den großen Hund hinter den Ohren, was diesen immer wieder zum unkontrollierten Zucken eines seiner Hinterläufe bringt, weil er es so sehr genießt. Nach wenigen Minuten lässt er von seinem Hund ab und schließt erst mal die Wohnungstür hinter sich. Seine Schuhe sind zumindest noch ganz und er kann keine Bissspuren an ihnen erkennen und es befinden sich auch noch alle Kissen auf seinem Sofa, sofern er es auf die Schnelle ausmachen kann. Es liegen auch keine ungewöhnlichen Fetzen herum, die irgendwie auf ein zerstörtes Möbel- oder Kleidungsstück hindeuten. Gut, ihm soll es recht sein.
 

Wie vorher mit sich selbst ausgemacht zieht Óskar sich noch einen dicken Hoodie unter seine Lederjacke und schließt diese bis unters Kinn. Kurz zögert er, aber dann lässt er Schal und Handschuhe und Mütze doch im Regal liegen. Wenn er sich jetzt schon so einpackt, was soll er dann erst im Winter tragen? Die Lederleine seines Hundes ist dann auch schnell gegriffen und mit einem Pfiff steht Max an seiner Seite und lässt sich brav anleinen.
 

Zusammen verlassen sie die Wohnung und Óskar lässt sich die ersten Meter von seinem Tier einfach ziehen, damit dieser zunächst seine Notdurft verrichten kann, danach wird er wieder das Zepter übernehmen, das wissen sie beide. Also lässt er seinen Vierbeiner machen und zieht währenddessen sein Smartphone aus seiner Hosentasche. Der beabsichtigte Chat ist schnell gefunden und mit wenigen Fingerbewegungen hat er schon eine Nachricht an Annabell geschrieben.
 

Óskar: Endlich Feierabend! Was machst du so schönes? Hast du dich wieder in deinen Wintergarten vergraben, die Decke bis zur Nase gezogen und bist in ein Buch vertieft?
 

Noch vor drei Wochen hätte er nie und nimmer gedacht, dass er mal so sehr von seinem Handy abhängig sein könnte. Naja, direkt vom Handy abhängig kann man es auch nicht nennen. Eher von der Frau, welche ihn immer wieder dazu bringt auf das kleine technische Gerät zu schauen. Und er muss sich langsam aber sicher eingestehen, dass er doch mehr zu empfinden scheint, als nur Freundschaft. Anders kann er sich das Kribbeln im Bauch nicht erklären, wenn sie auf seine – teilweise sehr – anzüglichen Nachrichten eingeht. Aber trotzdem findet er es verrückt, da sie sich seit dem Annabell auf hinterlistige Weise ihre Nummer in der Sintflut hinterlassen hat, noch nicht wieder getroffen, geschweige denn irgendwie gesehen haben. Sogar Konrad ist schon aufgefallen, dass sie noch nicht wieder im Lokal essen war. Die Antwort auf Óskars Frage warum, leuchtet ihm zwar irgendwie ein, aber befriedigen tut es ihn auf keinen Fall.
 

Er ist doch auch nur ein ganz normaler Kerl, da gibt es keinen Grund, dass sie sich irgendwie verstellen muss. Zwingen kann er sie allerdings auch nicht und es liegt ihm fern sie in die Sintflut zu bestellen, wenn sie es doch gar nicht will. Aber er muss zugeben, dass er langsam ungeduldig wird.
 

Sein Handy, welches er immer noch in der Hand hält vibriert und zeigt ihm, dass Annabell schon geantwortet hat. Neugierig öffnet er die Nachricht und beginnt sofort zu lesen.
 

Annabell: Mein Feierabend ist schon länger als deiner! Aber dafür hast du dir deinen wahrscheinlich auch mehr verdient als ich. Allerdings muss ich dich enttäuschen. Auf die Gefahr hin, dass mein Wintergarten eifersüchtig wird, ich bin nicht mal zu Hause. Mit dem ‚Die Decke bis zur Nase gezogen‘ hast du aber recht. Nur habe ich mich auf einem der Bänke übern Deich, an der Strandpromenade nieder gelassen. Und du? Nötigst du dein Sofa wieder, indem es deinen Hintern ertragen muss?
 

Eine Augenbraue wandert nach oben und er muss den Text zwei Mal lesen. Kurz schaut er sich nach Max um, aber der sieht nicht so aus, als wolle er in der nächsten Sekunde los, weswegen Óskar sich daran macht noch eine Nachricht zu tippen.
 

Óskar: Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass du mitten in der Nacht alleine am Strand sitzt? Bei der Kälte? Mädel, du bist verrückt! Das ist doch gefährlich.
 

Óskar hat die Nachricht noch nicht mal richtig gesendet, da geht ein Ruck durch die Leine und Max zerrt ihn ein paar Schritte weiter, bis er wieder stehen bleibt und seine Nase auf den Boden tackert und dort neugierig durch die Gegend schnuppert. Zum Weiterziehen kommt er dann aber auch nicht, denn sein Handy meldet sich schon wieder und er will lieber Annabells Antwort wissen, denn wenn er ehrlich ist, hat ihm die Nachricht zuvor einen kleinen Schrecken eingejagt. Nicht mal er selbst würde sich bei der Jahres- und Uhrzeit draußen ans Meer setzen. Aber gut, vielleicht liegt es auch daran, dass er hier aufgewachsen ist und somit sein ganzes Leben lang das Meer vor der Nase hatte, was seine Chatpartnerin ja nicht von sich behaupten kann.
 

Annabell: Gegen die Kälte ist die Decke ja da und mein Tee und meine Kerze, die mir zur Not auch noch die Hände wärmen kann. Vielleicht mag es gefährlich sein, aber das Meer war für mich anziehender als die Gefahr, das muss ich zugeben… von daher passt verrückt wohl wirklich sehr gut zu mir.
 

Óskar: Ich bin gerade mit Max draußen, deswegen weiß ich auch, wie kalt es ist. Du bist scheinbar auf alles vorbereitet, wie mir scheint. Wehe du bist dann morgen erkältet!
 

Durch einen erneuten Ruck an der Leine wird Óskar weiter gerissen und das holt ihn gerade ein bisschen in die Realität zurück. Einige Meter läuft er noch hinter seinem Hund her, dann hat er einen Entschluss gefasst und mit einer angemessenen Autorität zieht er an der Leine und dirigiert so seinen Hund neben sich.
 

„Heute wird die Runde noch ein bisschen größer, Dicker“, sagt er zu seinem Hund, welcher ihn nur hechelnd von unten her ansieht, bevor er seine Nase wieder nach unten senkt und sich so seinen Weg erschnuppert. Da Óskar mittlerweile weiß, dass Annabell nicht weit von der Sintflut entfernt wohnt, weil die eben genannte Promenade auch nur wenige hundert Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt ist, kehrt er mit seinem Hund dahin zurück. Statt nach rechts zum Hafen zu gehen, läuft er links lang. Es dauert nicht lange, da erkennt er im Dunkeln die vielen bunten Strandkörbe die verteilt auf der Wiese stehen. Wirklich viel sehen kann er allerdings nicht und er stellt für sich fest, dass die Gegen hier dunkel ist und das irgendwie auf eine gruselige Art und weiße.
 

Millionenen von Muschelschalen und kleine Schnecken knirschen unter seinen Schuhsohlen, welche von der letzten Flut angeschwemmt wurden, als das Meer über die Ufer trat. Das kann im Moment nicht passieren, da es gerade den Rückzug antritt und man das Rauschen nur noch sehr leise hören kann.
 

Nach wenigen hundert Metern werden die Strandkörbe von einem Weg abgelöst, von dem er weiß, dass er über den Deich und in eine kleine Wohnsiedlung führt. Genau da muss auch Annabell ihre Wohnung haben, sofern er das von ihren Erzählungen mitbekommen hat. Nach dem Weg bauen sich drei Hütten im Dunkeln vor ihm auf, die alle drei ein rotes Dach haben. Das kann er aber nicht sehen, sondern er weiß es. Die sollten hier echt mal ein paar Straßenlaternen aufstellen, denn der Weg selbst ist nämlich auch ein sehr gut benutzter Radweg. Nachts zwar weniger, aber wenn man auch nichts sieht, da muss man sich darüber auch nicht wundern.
 

Max trabt weiter neben ihm her und Óskar hat aufmerksam seine Augen überall, sofern man das bei der verschlingenden  Dunkelheit überhaupt sagen kann. Aber genau diese Tatsache hilft ihm letzten Endes wohl, dass er das kleine flackernde Licht entdeckt, welches auf einer Bank zu stehen scheint. Sein Herz setzt kurz einen Schlag aus, bevor es schneller schlägt. Also entweder ist es nur ein dummer Zufall, oder er hat gerade tatsächlich Annabell gefunden. Am besten er schaut sich das mal aus der Nähe an.
 

„Komm Dicker, lass uns mal schauen, ob sie es wirklich ist“, zieht er seinen Hund an der Leine wieder zu sich, da der schon wieder seine Nase wo anders  hin ausgestreckt hat. Umso näher er der Bank kommt, umso deutlicher kann er eine Person erkennen, die dick in eine Decke verpackt ist und einen Becher vor ihre Nase hält, aus diesem es tatsächlich leicht dampft. Unglauben erfasst Óskar und er weiß nicht ob er es gut heißen soll, dass sie sich so vorsorglich verpackt hat oder ob er sie übers Knie legen soll, weil sie so unvorsichtig ist.
 

„Ich hab ja echt gedacht, du verarschst mich“, mit diesen Worten lässt er sich neben die junge Frau auf die Bank fallen. „Aber du sitzt wirklich hier.“



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