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Was nicht gesagt werden kann

von

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Zweiter Antwortbrief

Hallo J.,
 

du hast mir nicht geantwortet. Das ist keine Anklage, nur eine Feststellung. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob ich an deiner Stelle geantwortet hätte. Aber ich hätte es mir gewünscht. Weiß auch nicht… Du musst mir natürlich nicht zurückschreiben.
 

Hier im Krankenhaus ist es sterbenslangweilig und doch gewöhnt man sich irgendwie dran. Morgens die Visite mit immer den gleichen Fragen und dauernd neuen Leuten, die man eh im nächsten Moment vergessen hat. Denen geht es bestimmt auch so. Dutzende Patienten, an die sie sich in fünf Minuten nicht mehr erinnern. Für die bin ich nur ein Fall. Dabei geht es hier für mich um alles, um mein Leben. Das ist nicht nur eine Nummer am Patientenbett, eine Visite, die pflichtmäßig auf der Liste steht und die man eben abarbeitet. Aber genau so fühlt man sich hier. Ich weiß ja, sie meinen es nur gut. Jeder sagt das. Sie wollen mir helfen, damit ich schnell wieder ein normales Leben führen kann. Als ob! Für die blöd halten die Leute mich bitte? Ich weiß, dass ich kein normales Leben mehr haben kann. Jeder weiß das, verdammt nochmal! Jeder, der mich nur ansieht. Sie sollen endlich aufhören, um den heißen Brei zu reden und es sagen, wie es ist. Es nervt!
 

Eigentlich schreibe ich dir auch nur, weil ich einfach nicht weiß, wem ich es sonst schreiben sollte. Meinem Vater und meinen Freunden kann ich nicht immer sagen, wie schrecklich alles ist und wie anstrengend und schwer und dass ich einfach manchmal glaube, dass ich nicht mehr kann und nicht weiß, wie ich so leben soll. Sie schauen mich dann immer mit so traurigen Augen an und ich weiß, sie reden dann mit den Ärzten darüber, weil sie Angst haben, dass ich Depressionen bekomme. Ein Arzt hat mit mir da auch schon drüber gesprochen. Ich müsse unbedingt zu einem Psychotherapeuten, damit ich mein Trauma zu verarbeiten lerne. Er lege mir das ganz dringend nahe. Blabla. Was ich will, danach fragt hier natürlich niemand. Ich will hier endlich raus. Die Reha wurde verschoben. Zweimal schon. Ich sei noch nicht soweit. Wenn ich noch länger hier herumliegen muss, drehe ich noch durch. Mein Vater ist da auch nicht unbedingt eine Hilfe. Er versuchts zwar, aber… Naja, er versuchts. Man sieht ihm an, dass er eigentlich auch total überfordert mit allem ist und nicht weiter weiß. Letzte Woche hat er angefangen, mir zu erzählen, wie er die Wohnung umbaut, damit ich auch mit einem Rollstuhl zurechtkomme. Ich weiß, er meint es gut, aber es erinnert mich daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich nach Hause komme und dann da festhänge. Er kann mich ja auch nicht jeden Tag pflegen. Pflegen, oh Gott! Ich bin ein Pflegefall! Das nur zu schreiben, fühlt sich surreal an.
 

Am liebsten möchte ich mich einfach einkugeln und schlafen. Dann nervt mich wenigstens niemand mit so dummen Fragen wie “Wie geht es dir?” oder Sprüchen wie “Das wird schon wieder”. Ich kanns echt nicht mehr hören. Selbst meine besten Freunde gucken nur betreten drein. Dass sie nur aus Pflichtgefühl herkommen, ist mir halt auch klar. Es ist öde hier, langweilig und mehr als ein paar Dinge aus der Schule haben sie auch nicht zu erzählen. Als hätte der Rollstuhl eine Mauer zwischen uns aufgebaut. Von heute auf morgen. Ich gehöre einfach nicht mehr dazu. Kein Lachen, keine Scherze, keine Insider. Anfangs kamen Marina und Nora noch fast jeden Tag, aber jetzt waren sie schon fast zwei Wochen nicht mehr hier. Sie rufen auch nicht an und schreiben nur ganz selten. Meistens abends vorm Schlafengehen. So wie man eben Leuten schreibt, auf die man eigentlich keine Lust und mit denen man nicht länger schreiben will, weißt du?
 

Ist schon ziemlich schräg, dass ich das ausgerechnet dir alles schreibe, oder? Immerhin kennen wir uns gar nicht und obendrein hast du mich ja erst in den Rollstuhl gesteckt. Aber wenigstens muss ich dir nicht erzählen, dass ich mich freue, nach Hause zu kommen und dass ich viel trainieren werde, um mein Leben bald ganz normal weiterzuführen und dass ich glücklich bin, dass es so gut vorangeht. Gefühlt tut es das nämlich gar nicht. Wie lange bin ich schon hier im Krankenhaus? Kanns nichtmal sagen. Jeder Tag fühlt sich gleich an. Man verliert völlig das Zeitgefühl. Ich habe einfach so gestrichen die Schnauze voll. Alle tun so, als wäre ich ein rohes Ei, tuscheln, wenn sie glauben, ich höre nicht hin und keiner traut sich, mir einfach ins Gesicht zu sehen und zu sagen, was ich sowieso weiß. Dass es kacke ist. Dass das alles richtig, richtig kacke ist und dass ich nie mehr werde laufen können, aber dass ich damit halt nun irgendwie lernen muss zu leben. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das bedeutet? Wie es ist, morgens nicht einfach aufstehen zu können, um einfach die Vorhänge zuzuziehen, wenn man noch ein wenig schlafen will? Nicht einfach mal zum Kühlschrank wandern zu können, wenn man Hunger hat? Ich käme vermutlich nichtmal dran, wenn ich im Rollstuhl sitze. Alles ist viel zu hoch. Ich hasse das.
 

Manchmal hasse ich dich auch. Du hast mir das angetan. Aber dann erinnere ich mich daran, dass du einfach nur dumm warst. Ich meine, du bist wohl nicht zum Spaß an der Freude in ein anderes Auto gefahren. Es war ein Unfall. Du warst schuld, klar, aber… ich weiß auch, dass du das nicht gewollt hast. Ich hätts auch gewusst, wenn du es mir nicht geschrieben hättest. Eigentlich bin ich einfach nur sauer. Nichtmal nur auf dich. Dir geht es bestimmt ziemlich dreckig damit. Würde es mir auch an deiner Stelle. In mir sehen alle das arme Mädchen, das nie mehr laufen kann und du bist die Böse, die besoffen gefahren ist. Dass dich diese ganzen Leute haben fahren lassen, darüber spricht keiner. Oder darüber, dass es scheiße schwer ist, wieder auf die Beine zu kommen. Also für dich. Ich komme ja nicht mehr auf die Beine. Haha. Da kommt der Galgenhumor durch.
 

Ich will, dass du etwas für mich tust. Als Wiedergutmachung sozusagen.
 

1. Ich will, dass du mir schreibst.

2. Ich will, dass du dich nie mehr betrinkst. Das mache ich auch nicht, wir haben also gewissermaßen einen Deal.

3. Bitte bring ein paar Blumen für mich zum Friedhof. Keine Rosen! Am Mittwoch nächste Woche. Das wäre mir wirklich wichtig, weil ich ja dieses Mal nicht hingehen kann. Papa wird bestimmt hingehen, aber das ist nicht das gleiche.
 

Gar nicht so schwer, hm? Kann nicht sagen, dass ich damit einfach so tun kann, als wäre nichts passiert, aber… ich denke, es ist ein Anfang.
 

Grüße

V.



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