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Verlorene Sonne

von

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Kapitel 3

Dämmerlicht, Brokatvorhänge und der Gestank nach kaltem Rauch, der in den Wänden hing, egal, wie oft man lüftete. Das waren die ersten Eindrücke, die Tom von Mr. Magicks Kanzlei erwartet hatte. Stattdessen sah er sich mit Zierdeckchen, Katzenbildern und dem Duft nach Asia-Take-Away konfrontiert.

„Pfuldigung“, nuschelte der Mann hinter dem günstigen Schreibtisch eines namhaften schwedischen Möbelherstellers um einen Bissen Pad Thai herum. Er deutete auf die beiden Stühle ihm gegenüber. „Feffen Fie–“ Hastig schluckte er und räusperte sich. „Setzen Sie sich doch bitte.“

Marlene und Tom führten eine stumme Debatte, ob sie nicht lieber auf dem Absatz umkehren und verschwinden sollten. Die Erkenntnis, dass keiner von ihnen wusste wohin, überzeugte sie zu bleiben.

In Ermangelung eines besseren Zeitvertreibs bis Mr. Magick sein Mittagessen zur Seite geschoben und etwas Platz auf seinem Schreibtisch geschaffen hatte, musterte Tom den Mann. Er war ein paar Jahre älter als er selbst, vielleicht Anfang bis Mitte dreißig, schmal gebaut, straßenköterblondes Haar, von dem ihm einzelne Locken über die Stirn und bis zum Rand seiner Brille fielen; dazu eine spitze Nase und scharfe Wangenknochen. Er bewegte sich mit einer gewissen Agilität, allerdings mangelte es ihm an Grazie.

Bevor Tom seine Inventur fortsetzen konnte, sah Mr. Magick ihn direkt an; die Farbe seiner Augen glich von Sonnenstrahlen geküsstem Sumpfgras. Tom schrak innerlich zurück. Wenn er zu so schwülstigen Metaphern griff, bedeutete das meistens, er fand sein Gegenüber attraktiver, als er sich zu diesem Zeitpunkt eingestehen wollte.

Offenbar – hoffentlich – nichtsahnend über Toms inneren Monolog blickte Mr. Magick zwischen ihm und Marlene hin und her. „Was kann ich für Sie tun?“

Wie üblich kam Marlene sofort zum Punkt. „Meine Schwester ist seit gut eineinhalb Wochen verschwunden.“

Mr. Magicks Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte. „Waren Sie bei der Polizei?“

Marlene zeigte sich weniger geheimnisvoll. Die Hände zu Fäusten geballt, drehte sie die Augen zur Decke. „Von wie vielen Typen muss ich mich heute eigentlich noch wie der letzte Vollidiot behandeln lassen? Ja, ich war bei der Polizei. Nein, die wollen nichts unternehmen. Ja, ich weiß, dass meine Schwester eine erwachsene Frau ist, die machen kann, was sie will. Nein, das ist kein typisches Verhalten für sie. Reicht das, um die nächsten fünf Minuten dümmlicher Fragerei zu überspringen?“

Mr. Magick blinzelte träge, wie eine Katze im Sonnenlicht. „Ich nehme an, dass ich Ihre Schwester finden soll?“

Marlene schnaubte. „Das wäre ein Anfang.“

„Leider bin ich völlig ausgebucht.“

Aller Sauerstoff schien aus dem Raum zu weichen. Anders konnte sich Tom jedenfalls nicht erklären, weshalb ihm das Atmen plötzlich so schwerfiel. „Was?“

Entschuldigend spreizte Mr. Magick die Finger. „Vermisstenfälle fressen viel Zeit und die habe ich frühestens in zwei Monaten wieder. Ich kann Ihnen die Namen einiger Kollegen nennen, die möglicherweise noch über Kapazitäten verfügen. Alternativ schlage ich vor, dass Sie weiterhin auf die Polizei vertrauen. Wenn Sie hartnäckig bleiben, wird sie sicher nochmal einen genaueren Blick auf den Fall werfen.“

„Einen Scheiß wird sie“, murmelte Tom, aber seine Worte gingen in Marlenes aufgebrachtem Fluchen unter. Man musste ihr eine gewisse Kreativität zugestehen.

Nachdem sie ihrem Frust vorerst Luft gemacht hatte, legte sich Stille über den Raum. Marlene starrte Mr. Magick an, als hoffte sie, er würde in Flammen aufgehen. Mr. Magick starrte regungslos zurück. Tom versuchte derweil, Frusttränen zurückzudrängen.

Als Marlene endlich ihr Schweigen brach, schnitt ihre Stimme wie Rasierklingen. „Haben Sie einfach nur Angst vor Martin Pfahlhammer, oder stehen Sie auch auf seiner Gehaltsliste?“

Mr. Magick verharrte noch immer regungslos, doch etwas nur schwer Greifbares änderte sich an seiner Körperhaltung. Sie wirkte nicht länger desinteressiert, sondern angespannt. Nahezu … was? Lauernd? „In welchem Verhältnis sta– steht Ihre Schwester zu Pfahlhammer?“

„Er hat sie gelegentlich als Escort gebucht“, erklärte Tom, darum bemüht, nicht ganz so überrumpelt zu klingen wie er sich fühlte. Oder gar so, als hätte er diesen Namen eben zum allerersten Mal gehört. „Soweit wir wissen, war er der Letzte, der“, sie lebend gesehen hat, „mit ihr Kontakt hatte, bevor sie verschwunden ist.“

„Wann war das?“

„Letzten Montag.“

„Hat sie zuvor irgendetwas erzählt? Kam ihr etwas an ihm“, Mr. Magick schien seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen, „seltsam vor?“

„Inwiefern?“, fragte Tom. Das plötzliche Interesse von Mr. Magick war ihm nicht ganz geheuer.

„Hat sie irgendetwas an seinem Verhalten oder seiner Art irritiert? Erschien er ihr … nicht normal?“

„Nicht, dass ich wüsste. Sunny hat nie negativ über ihre Kunden gesprochen oder Details über sie verraten.“ Aber stimmte das, oder verbreitete Tom hier nur die Propaganda seiner Agentur?

Mr. Magicks Blick ruhte auf ihm.

Zugegeben, Sunny hatte ein paar Anspielungen gemacht, dass der Typ etwas spezielle Vorlieben besaß, aber nie mehr als das.

Mr. Magick blinzelte nicht einmal.

Dabei war es längst zu einem Spiel zwischen Tom und Sunny geworden, sich mit ihren verrücktesten Erfahrungen gegenseitig zu übertrumpfen.

„Also?“, fragte Mr. Magick, mit einer Gleichgültigkeit als kannte er die Antwort bereits.

„Tatsächlich ist es ist ein bisschen schräg, wie wenig Sunny von dem Kerl erzählt hat“, räumte Tom ein.

„Hatte sie Angst vor ihm?“

„Angst?“ Tom nahm sich Zeit, über die Frage nachzudenken, blieb jedoch bei seiner ersten, instinktiven Antwort. „Nein.“ Zur Bekräftigung schüttelte er den Kopf. „Sonst hätte sie ihn niemals als Kunden behalten. Egal, wie hoch das Trinkgeld ausgefallen wäre.“

Gedankenverloren starrte Mr. Magick auf seinen Schreibtisch. Er bewegte keinen Muskel, lediglich die Falten auf seiner Stirn gruben sich zunehmend tiefer. Als er endlich sprach, war seine Stimme heiser und so leise, dass sie mit dem Straßenlärm vor dem Fenster zu verschmelzen drohte. „Ich glaube nicht, dass sie noch lebt.“

Toms Herz setzte einen Schlag aus. Einfach so hatte jemand diese tiefsitzende Angst ausgesprochen, die mit jedem verstrichenen Tag mehr zur Gewissheit geworden war. Und dennoch hörte er sich sagen: „Sie lebt.“

Mr. Magick erwiderte nichts, akzeptierte Toms Widerspruch jedoch mit einem knappen Nicken.

Marlenes Stuhl knarzte, als sie sich erhob. „Komm. Wir verschwenden hier unsere Zeit.“ Ohne Toms Reaktion abzuwarten, lief sie in Richtung des Fahrstuhls, der sie zurück ins Erdgeschoss des Bürokomplexes bringen würde.

Mit Schultern, die das Gewicht einer unliebsamen Wahrheit trugen, stand auch Tom auf. Für einen Augenblick verschwammen Katzenposter, Zierdeckchen und Mr. Magicks regungslose Gestalt, doch dann hatte er sich wieder ausreichend unter Kontrolle, um zur Tür zu stolpern.

„Warten Sie.“

Obwohl Mr. Magick nicht laut gesprochen hatte, schrak Tom zusammen. Alles an diesem Mann war zu intensiv. Sein Blick, seine Stimme – seine gesamte Präsenz. Tom fühlte sich wie im Auge eines Sturms, glaubte eine Sekunde lang sogar, Ozon zu riechen. Also tat er, was er immer tat, wenn das Leben ihn zu überwältigen drohte. Er sorgte dafür, dass ein arrogantes Lächeln seine Mundwinkel hob und gurrte: „Hm? Kann ich Ihnen noch … anderweitig behilflich sein?“

Mr. Magick schien blind für Toms Provokation. Oder sie interessierte ihn schlicht nicht. Oder – und das war die bei weitem erschreckendste Alternative – er durchschaute sie. „Ihre Schwester–“

„Freundin“, verbesserte Tom. „Sunny ist Marlenes Schwester und meine Freundin.“

Für einen Wimpernschlag huschte etwas, das verdächtig nach Enttäuschung aussah, über Mr. Magicks Züge. Dann zeigte er einmal mehr dieses träge Blinzeln und der Ausdruck war verschwunden. „Ich kann Ihnen nicht helfen, Ihre Freundin zu finden, weil sie höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben ist. Aber Sie können mir helfen.“

„Wobei?“

„Dabei Pfahlhammer zu stoppen. Irgendetwas stimmt in dieser Stadt nicht. Etwas“, Mr. Magick rang sichtlich nach Worten, „Etwas hat sich verändert und das Verschwinden Ihrer Freundin passt zeitlich zu gut, um es zu ignorieren. Ich muss herausfinden, was hier los ist.“

„Und warum sollte ich Ihnen dabei helfen?“

„Weil es das Richtige ist.“ Mr. Magick klang wie ein Erzieher kurz vor der Rente, der zum tausendsten Mal einem Kind erklärte, dass es sich nicht gehörte, andere Leute mit Sand zu bewerfen. Das Schlimmste daran war: Er hatte recht.

Toms Schultern sackten nach unten. Ihm fehlte die Kraft, die Rolle des desinteressierten Arschlochs aufrechtzuerhalten. „Was soll ich tun?“

„Sie gar nichts.“ Bevor Tom auch nur den Mund öffnen konnte, um Mr. Magick zu sagen, was er von dessen überaus charmanter Art hielt, fuhr dieser fort. „Ich brauche jemanden, der das Blut Ihrer Freundin teilt.“

„Das Blut meiner … Sie meinen Marlene?“

Mr. Magick nickte.

„Also besteht meine überragende Hilfe darin, sie zurückholen?“

Tom sah das erneute Nicken nur noch aus dem Augenwinkel, als er aus der Tür sprintete.



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