Herz Bube
Die Welt ging unter, als ich mich mit elf Jahren in meinen besten Freund verknallt habe.
Schon damals war klar, dass ich darüber auf keinen Fall mit meinen Eltern reden kann. Die erste Erinnerung an einen CSD und tanzende Menschen mit Federboas und händchenhaltende Jungs und Mädchen ist in mein Gehirn eingebrannt, genauso wie das angeekelte und abwertende Schnauben meines Vaters und das Abwenden des Kopfes meiner Mutter zusammen mit der Aufforderung der beiden, ihnen über die Straßenseite zu folgen, weil ich nicht mit ‚solchen‘ Leuten in Kontakt kommen soll.
Mein bester Freund war mein größtes Geheimnis. Ich hab es ihm nie erklärt und er hat nie danach gefragt. Spielplätze, sein Haus, der Park, die Wiese hinter der Schule waren als Orte zum Treffen immer gut genug.
Meine Eltern mögen keine ‚Ausländer‘. Sie mögen viele Dinge nicht. Ich hab nie so richtig verstanden, wieso genau sie all diese Dinge nicht mögen, vor allem, da mein bester Freund der beste Mensch ist, den ich je kennen gelernt habe, ‚Ausländer‘ oder nicht.
Seit ich elf bin, geht es nicht mehr ums Leben. Es geht ums Überleben.
»Mit wem triffst du dich?«
Mit Cem.
»Mit Max.«
Strenge Eltern erziehen die besten Lügner.
Ich bin der beste Lügner, den ich kenne.
Mit zwölf habe ich aufgehört, meinen Geburtstag zu feiern. Weil ich Cem nicht einladen darf, feiere ich lieber gar nicht, als ihm zu sagen, dass meine Eltern es mir nicht erlauben würden, ihn einzuladen.
Mit dreizehn höre ich zum ersten Mal das Wort Schwuchtel von einem meiner Klassenkameraden. Ich verstehe nicht so richtig, was es bedeutet, bis ich es später bei Google suche und hinterher hastig meine ganze Internetgeschichte lösche aus Angst, dass meine Eltern mich erwischen.
Mit vierzehn bin ich immer noch in meinen besten Freund verknallt.
Meine Eltern fangen an zu fragen, ob es Mädchen gibt, die ich mag. Wenn es nach ihnen ginge, würde ich den Namen von einer nennen, die bei uns jeden Sonntag in der Kirche sitzt. Weil ich ein guter Lügner bin, sage ich ihnen, dass ich Anna hübsch finde und sie lächeln und nicken und ich bin in Sicherheit, während ich an Cems Zahnspange und seine viel zu tief sitzenden Baggypants denke und daran, dass er vor einer Woche Timo eine halbe Flasche Fanta über den Kopf geschüttet hat, weil er wieder mal das Wort Schwuchtel benutzt hat.
Eigentlich soll ich keinen Alkohol trinken, aber mit fünfzehn darf ich auf die erste Party meines Lebens gehen, weil meine Eltern einen Anflug von guter Laune haben. Ich bin zum ersten Mal betrunken.
Cem ist da und er bewirft mich mit Erdnussflips und ist genauso betrunken wie ich. Alle anderen sind nach draußen gegangen, um da irgendein Trinkspiel zu spielen. Ich wünschte, wir könnten öfter so allein sein, vielleicht öfter mal einen zusammen trinken, oder einfach bei mir im Zimmer hocken und Playstation spielen.
Cem versucht mich vom Sofa zu schubsen, aber er ist zu betrunken und wir landen beide auf dem Teppich.
Sein Gesicht ist definitiv viel zu nah an meinem und mein Herz explodiert fast in meiner Brust. Seine Augen sind sehr braun und sehr groß, als er mich anstarrt. Er riecht nach Bier und Erdnussflips und nach irgendeinem Deo, von dem ich nicht genug bekommen kann und bevor ich so richtig nachdenken kann, drückt er seine Lippen auf meine.
Ich habe meinen ersten Kuss mit meinem besten Freund im Alter von fünfzehn Jahren.
Es ist unkoordiniert und ein bisschen nass und es ist das allerbeste, was ich je in meinem Leben getan habe. Cems Finger in meinem Haar fühlen sich an wie der Himmel auf Erden.
Es ist mein erster und einziger Kuss.
Als mir wieder einfällt, wer ich bin und wer meine Eltern sind und ich daran denke, wie sie geguckt haben, als händchenhaltende Jungs an uns vorbei gelaufen sind, schubse ich Cem von mir herunter.
»Ich bin... ich steh nicht auf Jungs«, krächze ich. In diesem Moment verlässt mich mein Lügentalent vollkommen, aber Cems Gesichtsausdruck entgleist zunächst, bevor er ihn sehr sorgfältig wieder glättet, sich aufsetzt und nach einer weiteren Flasche Bier greift, als wäre nichts gewesen.
»Ich auch nicht«, sagt er, ext sein Bier und verschwindet aus dem Wohnzimmer.
Mein erster Kuss ist direkt gefolgt von meinem ersten Liebeskummer.
An diesem Abend verliere ich mit meinem ersten Kuss auch meinen besten Freund.
Mein erster Liebeskummer hält vier Jahre an.
Mit neunzehn Jahren bin ich immer noch in meinen früher mal besten Freund verliebt. Als er mich auf einer Party anschaut und sagt »Ich bin bi« fällt mein ganzes, sorgfältig gebautes Kartenhaus auseinander, das ich mir über acht Jahre lang aufgebaut und gewissenhaft verteidigt habe.
Es gab erst einen Ausrutscher, damals, mit fünfzehn, als ich Cem zurückgeküsst habe auf dieser Party.
Aber weil er gesagt hat, dass er nicht auf Jungs steht, gab es ohnehin nie den Hauch einer Chance zwischen uns.
Und jetzt, ganz plötzlich, sind die Schleusen geöffnet.
Es gibt keine unüberwindbare Mauer mehr.
Ich bin immer noch verliebt in Cem Atilgan, den Alptraum meiner Eltern. Meine erste und einzige Liebe ist ein atheistischer, männlicher Deutschtürke, der zu viel trinkt, raucht, flucht und in der Gegend herumhurt. Und zu allem übel ist er auch noch bisexuell.
Die Welt geht unter, seit ich elf Jahre alt bin. Und jetzt scheint es nach all den Jahren endgültig zu Ende zu gehen.