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The whole time

von
Koautoren: abgemeldet  sma  Toshi

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Da war sie wieder.

Sein Blick wanderte etwas scheu hinüber zu der jungen Frau zwei Tische weiter, die in ein Buch vertieft schien, dessen Titel er nicht erkennen konnte. Aber so zerlesen, wie der Einband aussah, hatte sie es wohl nicht zum ersten Mal in der Hand. Oder war es vielleicht ein Buch aus der Leihbücherei? Neugierig hatte er den Kopf geneigt, um das Cover des Buches zu inspizieren, doch viel gab es da nicht zu sehen. Schlicht in dunklem Blau gehalten mit einer Art Schnörkel. Viel mehr erkannte er nicht. Eigentlich, mahnte er sich in Gedanken, spielte das auch überhaupt keine Rolle. Er würde einfach seinen Kaffee trinken und dann die restliche Pausenzeit vertrödeln. Genau wie letzte Woche und die davor und die davor.

In der ersten Woche in seinem neuen Job hatte er noch jede Pause im Büro verbracht. So gut ihm die Arbeit gefiel, sie war oft stressig und man vergaß schnell die Zeit vor lauter Dingen, die es zu erledigen galt. Im Büro zu bleiben, hieß also keine Pause zu machen. Ob nun das Telefon klingelte oder eine E-Mail eintraf, die beantwortet werden wollte. Zu tun gab es immer genug. Entsprechend war es wenig verwunderlich, dass die meisten seiner Kollegen tunlichst vermieden, die Pause im Büro zu verbringen. Einige, die nahe bei wohnten, fuhren sogar nach Hause. Vermutlich würde ihm genau das passieren, wenn er im Büro bliebe. Eine Kollegin hatte ihm geraten, in der Pause einfach raus zu gehen, ein wenig durch die Stadt zu schlendern, irgendwo einen Kaffee zu trinken und die Menschen rundherum zu beobachten. Meistens kam er dazu jedoch gar nicht. Als Teilzeitjobber war er die meisten Tage nur halbtags im Büro.
 

Heute allerdings war Dienstag. Genau genommen der dritte Dienstag, den er jetzt schon in dem kleinen, unscheinbaren Café saß und an seinem Kaffee nippte, der deutlich besser schmeckte als die Brühe, die der Automat im Büro ausspuckte. Die freundliche Bedienung, eine Frau in ihren Vierzigern mit einem Lächeln, das einen sofort ansteckte, war ihm ohne Vorurteile begegnet. Auch dann noch, als sie bemerkte, mit welch starkem Akzent er Deutsch sprach. Die meisten Leute bekamen dann von allein so einen Blick, bei dem ihm direkt unwohl wurde. Ein Blick, der sagte: “Du gehörst hier nicht her” oder “So einer wieder”. Dabei war hier auch sein Zuhause, auch wenn er nicht akzentfrei sprach. Er verstand jedes Wort wunderbar, hatte keine Probleme im Alltag und lebte bereits seit vielen Jahren in Deutschland. Dass er immer noch diese Blicke erntete und wohl immer ernten würde, ärgerte ihn.

Heute war imCafé nicht viel los. Während der Urlaubszeit wäre das sicher anders, aber im Moment waren sie, die Frau und er, die einzigen Gäste, sodass die Bedienung nicht viel zu tun hatte und in der Küche werkelte wie auch die letzten Male, bis die kleine Glocke über der Tür ankündigte, dass ein Gast das Café betrat. Modern war das kleine Café nicht wirklich, gab man der Wahrheit die Ehre. Eher ein wenig altmodisch mit bunt bezogenen Stühlen aus hellem Holz, kleinen Tischdeckchen und einer gemütlichen Atmosphäre. Ein wenig so, als wäre man bei seiner Familie zu Besuch. Aber genau so gefiel es ihm. Mit den modernen, verchromten Theken und steril anmutenden weißen Möbeln konnte er sich nicht recht anfreunden. Hier aber, wo die Stühle nicht zusammen passten, keine Neonröhre, sondern eine Lampe mit Glühbirnen den Raum erhellte, fühlte er sich wohl. Offensichtlich war er damit nicht ganz alleine, tröstete er sich, den Blick noch immer auf die junge Frau gerichtet, vor der auf dem Tisch die Eieruhr unerbittlich weiterlief.
 

Nachdenklich drehte er die Tasse in den Händen, deren Inhalt verlockend duftete. Die junge Frau sah nicht einmal zu ihm hinüber, sondern schob sich in diesem Augenblick eine Strähne ihres Haares hinters Ohr, die Augen weiter auf die Buchseiten gerichtet, während vor ihr eine kleine Eieruhr langsam ablief. Dass diese die Form eines rosafarbenen Schweinchens hatte und einige Sekunden vor Ablauf bereits schrillte, hatte ihn überhaupt erst auf die Frau aufmerksam gemacht, als er zum ersten Mal in dieses Café gekommen war. Wer trug schon eine Eieruhr mit sich herum? Ungewöhnlich genug war es allemal.

Tatsächlich hatte ihn das schrille Klingeln bei seinem ersten Besuch hier so heftig erschreckt, dass er beinahe die Tasse hätte fallen lassen, aus der er hatte trinken wollen. Verwirrt hatte er die Frau beobachtet, die erst ein Lesezeichen in ihr Buch schob, dieses dann zuklappte und es ebenso wie die Eieruhr in ihre Handtasche schob, ehe sie zahlte und ging. Diese Routine hatte er in den folgenden Wochen auch beobachten können und er ahnte, dass es heute nicht anders wäre. Das Warum hinter ihrem Tun hatte sich ihm von selbst erschlossen. Vermutlich arbeitete die Frau hier in der Stadt irgendwo und benutzte die Eieruhr als Erinnerung, dass ihre Pause gleich zuende war. Solange das rosa Plastikschweinchen tickte, konnte sie jedoch entspannt lesen und müsste nicht auf die Zeit achten. Dabei ertappte er sich selbst nämlich immer schnell, wenn er wusste, dass seine Pause bald vorbei sein könnte. Alle paar Minuten warf er einen Blick auf die Armbanduhr, prüfte, ob er schon zurück ins Büro müsste. Ein unangenehmes Gefühl, nur darauf zu warten, dass die Zeit verging oder aber viel zu knapp war, um noch etwas zu erledigen. Das hatte er schon morgens, wenn er die letzten Minuten verstreichen ließ, ehe er zur Arbeit fuhr. Meistens warf er dann noch schnell einen Blick aufs Smartphone, las Nachrichten auf Facebook oder Twitter, die ihn eigentlich nicht wirklich interessierten.
 

Es der fremden Frau gleich zu tun und mal wieder ein gutes Buch zu lesen, das nahm er sich schon lange vor. Doch wie so viele gute Vorsätze, hatte dieser es nie geschafft, Wirklichkeit zu werden. Immer kam etwas dazwischen, gab es noch dies und jenes zu erledigen, irgendwelche Nachrichten zu beantworten, Arbeit zu erledigen, Kleinigkeiten abzuarbeiten, die sich angesammelt hatten. Dabei las er eigentlich gerne und hatte es früher schon. Als Kind hatte er jeden Jugendkrimi verschlungen, den man ihm gegeben hatte. Diese Liebe zu Kriminalgeschichten war ihm geblieben, jedoch zumeist auf einen oder zwei Filme die Woche begrenzt, bei denen er nicht selten auf dem Sofa döste und am Ende kaum noch wusste, worum es eigentlich gegangen war.

Nicht ohne schlechtes Gewissen erinnerte er sich dann an den Roman, der schon seit bestimmt einem Jahr auf seinem Nachttisch lag. "Das Herz der Hölle" von Jean-Christophe Grangé. Von diesem Autor war auch "Die purpurnen Flüsse" gewesen, darum hatte er sich das Buch gekauft. Dabei war es dann allerdings auch verblieben. Er hatte bestimmt schon vier Mal begonnen, das Buch zu lesen und war nie weit gekommen, weil Wochen dazwischen lagen, ehe er es erneut zur Hand nahm und er dann schon gar nicht mehr wusste, was auf den letzten Seiten passiert war.
 

Nachdenklich folgte sein Blick der Frau, deren rosafarbene Eieruhr nun mit schrillem Klingeln zum Leben erwachte. Sie legte ihr Lesezeichen in ihr Buch, als sie es zu schlug, schob es in ihre Tasche und griff dann nach der Eieruhr, um diese abzustellen, ehe auch diese in der Handtasche der Frau verschwand. Sie nahm sich die Zeit einfach, ihr Buch zu lesen. Auch wenn es immer nur ein wenig war, jeden Tag. Er hingegen saß einfach hier und wartete darauf, dass die Zeit verstrich, in Gedanken immer bei der Arbeit. Vielleicht sollte er sich ein Beispiel an ihr nehmen?

Wenn er ganz ehrlich war, hatte er sowieso das Gefühl, viel zu viel Zeit zu verschwenden mit Dingen, die er nicht einmal gerne tat . Die Arbeit stand dabei außen vor. Nein, eher betraf es seine Freizeit. Nicht zuletzt war dabei sein Handy ein Begleiter geworden, der viel Zeit in Anspruch nahm, von der er selbst im Nachhinein fand, dass sie verschwendet gewesen war. Es war ja nicht so, als lese er gerne zig Statusnachrichten, folgte irgendwelchen Prominenten und Witze-Seiten oder ähnlichem. Eigentlich... Eigentlich wollte er gerne wieder in Ruhe auf dem Sofa liegen und einfach nur ein Buch genießen oder Musik hören. Allerdings nahm er sich dafür selbst im Urlaub selten Zeit. Nein, dann wollte der Rasen gemäht werden, das Elternhaus neu tapeziert, ein Freund zog um und ohnehin wollte er doch mal den Keller aufräumen. Immer gab es irgendetwas, das seine Aufmerksamkeit forderte und wenn nicht, dann gab es immer noch das Handy mit all seinen Apps und Kontakten, die ihm Nachrichten schickten und sofort eine Antwort erwarteten. Oft ertappte er sich dabei, da selbst kein Stück besser zu sein und sich sogar zu ärgern, wenn eine Nachricht gelesen worden war, aber jemand nicht antwortete. Als wäre es selbstverständlich, dass jemand nur darauf warte, abrufbereit zu sein.

Dieser Zwang, immer und überall erreich- und verfügbar sein zu müssen, den hatte er als Kind nicht gekannt. Erst später und jetzt als Erwachsener hatte ihn das mit dem Fortschritt der Technik eingeholt. Als Kind und auch als Teenager hatte er sich einfach noch die Zeit genommen, Dinge zu tun, die er liebte, Hobbys nachzugehen. Was war eigentlich aus dem Panorama geworden, das er mit viel Liebe eigenhändig gebaut und bemalt hatte? Bestimmt verstaubte es noch immer im Keller seiner Eltern, nie vollendet. Irgendwann hatte ihm die Zeit gefehlt und im Grunde tat ihm das wirklich Leid. Dieses Projekt war für ihn mit viel Herzblut verbunden. Eigentlich höchste Zeit, es in seine eigene Wohnung zu holen und doch noch fertig zu machen.
 

Eigentlich. Eigentlich hatte er die Zeit. Er musste sie sich nur nehmen, musste für sich entscheiden, dass er sich die Auszeit von den Wirren und der Hetzerei des oftmals stressigen Alltags nahm, um einfach zu entspannen und etwas zu tun, das ihn glücklich machte. Hätte man ihn gefragt, er hätte keinen Grund nennen können, wieso er das nicht tat. Es gab schlicht keinen. Die Hektik des Alltags riss ihn einfach mit sich und damit zugleich vergessen, was seiner Seele eigentlich wirklich gut tat. Die wenigen Stunden, die ihm gehörte und in denen niemand etwas von ihm verlangte, in denen keine Pflicht rief, keine Arbeit, kein Termin. Wann waren aus Pausen Zeiten geworden, die er nur abwartete, um weiterarbeiten zu können? Er erinnerte sich, in der Schule immer auf die Pausen hingefiebert zu haben, um mit seinen Freunden zu spielen, zu reden und den Druck beiseite zu schieben, den nahende Klassenarbeiten oder Noten ausübten.

Diese Gedanken beschäftigen ihn auch noch, als er schließlich seinen Kaffee bezahlte und sich auf den Weg zurück ins Büro machte. Dort jedoch verfiel er schnell wieder in den alten Trott. Akten stapelten sich, Unterlagen wollten bearbeitet werden, Anrufe getätigt, Termine vorbereitet und ehe er es sich versah, waren die Frau und ihre Eieruhr vergessen. Zumindest für einige Stunden. Erst am Abend, als sein Blick auf das Buch auf dem Nachttisch fiel, erinnerte er sich an die Fremde aus dem Café. Was hatte er zu verlieren, wenn er versuchte, es ihr gleich zu tun? Er griff unversehens nach dem Roman und schob diesen in den Rucksack, der auf einem Stuhl im Schlafzimmer stand. Einen Moment lang nur zögerte er, ehe er eine Kommodentür öffnete, dann eine Schublade und schließlich eine zweite, in der er fand, was er gesucht hatte. Eine Eieruhr hatte er nicht im Haus, aber eine kleine Sanduhr. Die hatte mal seinem Großvater gehört und war eines der wenigen Dinge, die dieser damals mit nach Deutschland genommen hatte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er das Kleinod in den Händen drehte. Die Zeit hatte kaum Spuren am dunklen Holz und dem Glas hinterlassen. Genau eine halbe Stunde zeigte sie an. Behutsam wickelte er sie in ein Staubtuch, ehe er sie in den Rucksack legte.
 

Beim ersten Mal fühlte es sich seltsam an, die Sanduhr aufzustellen und das Buch aufzuschlagen. Manchmal sah er zu der Frau hinüber, deren Eieruhr leise tickte und die nicht ein einziges Mal zu dieser sah, sondern ganz in ihr Buch vertieft schien. Es ihr gleich zu tun, war nicht so einfach, wie er geglaubt hatte. Dabei ließ die kleine Sanduhr durchaus ein leises Klingen ertönen, sobald der Sand durchgelaufen war. Aus Angst, die Zeit dennoch aus den Augen zu verlieren und womöglich zu spät zurück zur Arbeit zu kommen, sah er alle paar Minuten zur Sanduhr auf, während der Sand lautlos weiter hindurch rann. Entsprechend las er nur wenige Seiten und war in Gedanken beinahe mehr bei der verstreichenden Zeit als bei dem Roman in seinen Händen. In der zweiten Woche jedoch sah er nur wenige Male zu der Sanduhr, ehe es Zeit war, sie wieder einzupacken. Er merkte selbst, dass er mehr entspannte und anfing, in dem Buch zu versinken ohne die ganze Zeit an etwas anderes zu denken oder das Gefühl zu haben, unter Zeitdruck zu stehen. Schon in der dritten Woche war er ganz erstaunt, als das leise Klingen ertönte, das ihn daran erinnerte, dass seine Pause bald um wäre. Er fing an, seine Pausen zu genießen und sie nicht mehr als notwendige Unterbrechung zu betrachten. Er freute sich auf die ruhige Stunde im Café und darauf, zu erfahren, wie es in dem Roman weiterging.

Wirklich bewusst, wie weniger gestresst er allein deshalb im Alltag war, eben weil er nicht mehr nur alles mit Hektik und Druck annahm, bemerkte er einen Monat später. Wie hatte er so lange vergessen können, was es bedeutete, zu leben anstatt nur zu funktionieren? Wann hatte er vergessen, was es bedeutete, seine Zeit zu genießen? Als er das Buch zwei Monate später zum letzten Mal zuschlug, tat es ihm beinahe Leid. Hier zu sitzen und weiterzulesen, war zu einer willkommenen Routine geworden. Jetzt aber war die letzte Seite gelesen. "Scheint", murmelte er zu sich selbst, "als bräuchte ich ein neues Buch." Und auch bei dem soltle es nicht bleiben. An manchen Tagen würde man ihn dort sitzen sehen, die Augen halb geschlossen und einfach nur der Musik lauschend, die über die kleinen Ohrstöpsel drang oder aber die Nase tief in einem dicken Buch versunken, blind für die Welt um sich herum, während sich knifflige Rätsel lösten und brutale Verbrecher auf den Seiten seiner geliebten Krimis und Thriller gefasst wurden.



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