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Rivals' Reunion

von

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Nacht


 

XIII: Nacht

Expect to anticipate

Nothing comes for free

Except me

Yeah the night's in front of us

Let's tempt fate

Take the bait

Try and see

You and me

Forget what's behind us

The past is gone

We're gonna make it through the night

We can do no wrong

When we're doing it right.

(The Planet Smashers)

Limono Otoya im Interview
 

Ja, das ist etwas, was ich immer wieder gefragt werde: Wo komme ich eigentlich her? Was machen meine Eltern beruflich? Wie bin ich aufgewachsen? Haben sie meine musikalische Laufbahn gefördert? Wie war meine Schulzeit? Habe ich Geschwister? Ja ... ich kann es nicht mehr hören.
 

Ich gebe euch jetzt die Antwort, die ich allen anderen Journalisten bisher gegeben habe: Nichts aus meiner Kindheit oder Jugend hat auch nur das Geringste damit zu tun, wer ich heute bin oder was ich mache. Deshalb spielt es auch keine Rolle für euch oder sonst jemanden. Meine Eltern sehen mich höchstwahrscheinlich in den Medien oder hören unsere Songs und hassen all das wie die Pest.
 

Glaubt mir, sie wären glücklicher, wenn ich nicht ihr Sohn wäre und niemand sie auf mich ansprechen würde. Am liebsten wäre es ihnen wahrscheinlich, wenn sie mich umtauschen könnten und sich stattdessen einen Arzt oder Anwalt oder Börsenmakler aussuchen könnten. Vermutlich hoffen sie, ich wäre bei der Geburt mit jemand anderem vertauscht worden oder so, damit sie wenigstens nicht selbst schuld an diesem Missgeschick sind.
 

Ja, ich weiß, das klingt alles sehr hart, aber ihr habt keine Ahnung, wie meine Kindheit war. Und ich glaube auch nicht, dass ich euch das nur im Entferntesten beschreiben kann, ganz zu schweigen davon, dass es euch nicht das Geringste angeht. Also denke ich, es ist besser, wenn das hier völlig aus dem Spiel bleibt.
 

Meine Eltern werden es mir danken, wenn niemand mich zu ihnen zurückverfolgen kann. Vielleicht haben sie mittlerweile ihren Nachbarn erzählt, ihr Sohn werde vermisst, sei entführt worden oder sowas in der Art. Oder sie haben einen Schauspieler engagiert, um mich zu spielen. Ich sehe es lebhaft vor mir. So eine Farce.
 

Ob ich heute jemand anders wäre, wenn meine Kindheit anders verlaufen wäre … das ist eine interessante Frage. Hätte ich euch gar nicht zugetraut, so viel Tiefsinn. Klar hab ich mich das selbst auch schon gefragt. Ich hab gerade eben gesagt, meine Kindheit hat nichts mit dem zu tun, was ich heute mache oder wer ich bin. Natürlich stimmt das nicht so ganz. Es gibt sicher einige Kreuzungen in meinem Leben, an denen meine Eltern mich den einen Weg entlangjagen wollten und ich ihnen zum Trotz den anderen gewählt hab.
 

Meine Mutter wollte, dass ich Geige lerne, also hab ich Gitarre gelernt. Mein Vater wollte, dass ich Arzt werde und ich … Ihr habt ne Vorstellung davon, was ich meine. Aber ich hasse es, dass sie sogar auf diese Weise Gewalt über mich hatten. Die Ironie. Bis ich ausgezogen bin, haben sie mich manipuliert, egal, wie ich mich auch entschieden hab. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Diese Zeiten sind vorbei. Ich verspüre keinerlei Verbindung mehr zu ihnen. Keine Dankbarkeit, keine Verpflichtung, keinen Ärger und keine Enttäuschung. Sie sind mir ganz einfach egal. Alles, was uns verbindet, sind 50 Prozent unseres genetischen Materials.
 

~*~
 

Yami schlug seine Augen auf und war hellwach. Was ihn geweckt hatte, konnte er nicht sagen. War es ein Geräusch gewesen? Ein Traum? Er sah auf seinen Wecker: Er zeigte 3:30 Uhr. Er wollte sich wieder umdrehen und versuchen, weiterzuschlafen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Stattdessen schälte er sich aus der Bettdecke und setzte sich ans Fenster. Der Ausblick aus seinem Zimmer war nicht besonders spektakulär. Er sah lediglich eine kleine Wiese hinter dem Haus und einen an das Grundstück angrenzenden Wald. Der Mond schien hell auf die Wiese und die Baumkronen. Er schien fast voll zu sein. Alles wirkte friedlich und Yami ließ sich von seinem beruhigenden, kühlen Schein einlullen.
 

Plötzlich schob sich eine Gestalt in sein Blickfeld, die auf den Wald zusteuerte. Yami stieß einen Laut der Überraschung aus und rieb sich die Augen. Konnte das sein? Möglicherweise handelte es sich um jemandem vom Drehteam. Deren Trailer mussten hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Er blickte angestrengt hin. Aber nun sah er, dass seine erste Vermutung nicht zutraf: Deutlich konnte er einen weißen, wirren Haarschopf ausmachen: Es war Bakura, der da über die Wiese streunte. Gebannt verfolgte Yami, wie der Geist des Ringes geradewegs auf den Wald zuhielt und schließlich von den Bäumen geschluckt wurde.
 

Sofort kamen ihm dessen Worte von vorhin in den Sinn, denen er keinen Sinn hatte entnehmen können. Er wollte sich heute Nacht um das kümmern, was sie im Keller eingesperrt hatte … War das der Grund für seinen nächtlichen Ausflug? Aber was hatte er in dem kleinen Wald verloren? Was wusste Bakura, das ihm selbst verborgen war? Was hatte sie im Keller eingesperrt? Yami drehte sich wie in Zeitlupe um und suchte hektisch den Raum ab. Etwas brachte sein Blut in Wallungen, als habe er mit dem Gedanken daran diese unbekannte Bedrohung aufgeweckt. Im Zimmer blieb es ruhig, aber Yamis Glieder bebten vor Anspannung. Was sollte er tun? Wieder schoben sich die Bilder aus seinem Traum in sein Bewusstsein, er dachte an, an das Vertrauen, das er zu Bakura empfunden hatte, daran, dass dieser sein antikes Ich beschützen wollte und um sein Wohlergehen bemüht war. „Ach, verdammt, was solls“, fluchte er flüsternd und zog sich schließlich an. Er wusste, es würde ihm keine Ruhe mehr lassen, bis er es selbst herausgefunden hatte.
 

Er öffnete lautlos die Tür und schlich die riesige Treppe hinunter. Jede Stufe schien zu knarren wie ein ganzer Wald in einem heftigen Sturm und er befürchtete schon, jeden Augenblick würde jemand eine Tür öffnen und ihn fragen, was zur Hölle er vorhabe. Aber er schaffte es unbehelligt nach unten. Aufatmend schlich er durch den Flur und stockte sofort wieder. Wie angewurzelt blieb er stehen. Durch einen Spalt in der halb geschlossenen Wohnzimmertür schimmerte ein bläulicher Schein, matt nur, aber erkennbar. Yamis Herz begann gegen seine Brust zu pochen. Er war wie gelähmt. Wie lange er so dagestanden hatte, konnte er nicht sagen, aber die Neugierde siegte letztlich. Langsam bewegte er sich auf die Tür zu und drückte sie zaghaft mit der flachen Hand auf.
 

Am Wohnzimmertisch saß Seto an seinem Laptop, dessen Monitor das Zimmer in ein gespenstisches Licht tauchte. Yami atmete hörbar aus. „Oh Mann. Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!“, stieß er nach Luft schnappend hervor. „Ach ja, wieso das denn?“, fragte Seto, sich keiner Schuld bewusst, aber halb amüsiert, „und was machst du überhaupt hier mitten in der Nacht?“ „Dasselbe könnte ich ja wohl dich fragen!“, gab Yami energisch zurück. „Ich arbeite“, sagte Seto, „ist die beste Zeit. Niemand stört einen oder textet einen zu. Schlafen kann ich ohnehin nicht und Schlaf ist ganz nebenbei auch überbewertet.“
 

Yami überlegte einen Moment, dann fasste er einen Entschluss. Ob es der richtige war, konnte er nicht sagen. „Ich habe von oben beobachtet, wie Bakura in den Wald gegangen ist. Ich will ihm folgen und nachsehen, was er treibt.“ Auf Setos Gesicht glaubte Yami im Schein des Monitors Unglauben zu erkennen. „Kommt nicht in Frage!“, sagte er ernst, „Wenn dieser Idiot denkt, er müsse gegen die Regeln dieses Spiels hier verstoßen, ist das sein Bier. Damit hast du nichts zu tun.“ Yami schmunzelte, „Warum plötzlich so regelkonform?“, neckte er den KaibaCorp-Chef. „Weil ich nicht verantworten kann, dass du nachts draußen rumschleichst! Yami, bitte überleg dir das nochmal. Das ist doch Irrsinn. Was bringt dir das denn?“ „Bakura hat vorhin so eine Andeutung gemacht. Ich glaube, er hat irgendwas vor. Vielleicht was Gefährliches. Ich muss es einfach wissen.“ Seto seufzte. Dann klappte er den Computer zu. „Ich sehe schon: Du wirst dir das ohnehin nicht aus dem Kopf schlagen. Also gut, dann los. Bringen wir’s hinter uns.“ „Wir?“, fragte Yami, obwohl er bereits eine Ahnung hatte, worauf Seto hinauswollte. „Denkst du etwa, ich lasse dich allein gehen?“, raunte der Firmenchef, „dann hast du dich gewaltig geschnitten. Aber lass uns vorher noch nachsehen, ob wir eine Taschenlampe finden. Da wir unsere Handys abgehen mussten, brauchen wir irgendeine alternative Lichtquelle.“
 

Erleichterung durchströmte Yami. Insgeheim hatte er gehofft, Seto würde sich ihm anschließen, das musste er zugeben. Im Nachhinein fand er den Gedanken, allein im Wald herumzuspazieren, beunruhigender als er es in seinem anfänglichen Übermut getan hatte.
 

*
 

Yami war die perfekte Stille um ihn herum selten so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Selbst ihre Schritte waren nicht mehr als ein Knirschen im taufeuchten Gras. Er war angespannt, bis sie den Rand des Waldes erreicht hatten. Jeden Augenblick fürchtete er, jemand könne sie vom Fenster aus beobachten, so wie er es bei Bakura getan hatte, und ihnen nachkommen. Oder ein Mitglied der Filmcrew könne sie energisch zurückpfeifen. Erst als sie unbehelligt in den Schatten der dunklen Nadelbäume eintauchten, atmete er ein wenig auf.
 

Andererseits kamen nun womöglich die wesentlich größeren Probleme auf sie zu. Denn wo sollten sie suchen und auf was ließen sie sich ein? „Soweit so gut“, schien Seto Yamis Gedanken zu auszusprechen, als sie einige Schritte in den Wald hineingetan hatten, „und wo sollen wir nun suchen? Hast du denn soweit auch schon gedacht?“ Yami seufzte und verdrehte die Augen. „So groß ist dieser Wald ja nun auch wieder nicht. Wir werden schon irgendwann auf ihn treffen.“ „Wie du meinst. Ich hoffe, du weißt, was du tust“, Seto zuckte die Schultern. Yami drehte sich zu ihm um. „Ich denke, das tue ich. Ich bin mir sicher ich kann Bakura finden. Es ist so ein Gefühl. Aber wenn du mir nicht traust, dann kann ich das nachvollziehen. In dem Fall solltest du besser umkehren. Ich komme auch alleine klar.“ Seto musterte ihn für einen Moment eindringlich. Dann sagte er: „Nein, ich glaube dir. Lass uns gehen.“ Yami lächelte dankbar.
 

Während sie weiter und weiter in den Wald vordrangen, nahmen sie die wenigen Geräusche um sie herum so deutlich wahr wie laute Schüsse. Yami war wachsam und empfänglich für alles, das sie umgab. Es war, als wäre die Natur um sie herum lebendig, als zeige der Wald selbst ihnen den Weg, als führe er sie geradewegs in sein Herz hinein. Und Yami öffnete sich ganz für diesen Ruf und folgte den unsichtbaren Fäden, die ihn zogen. Sein Kopf war wie benebelt von der Monotonie ihres Marsches und der Dunkelheit, die wie Wasser höher und höher und ihm wie ein Rausch zu Kopf stieg. In das Rascheln der Baumwipfel schien sich jetzt ein leises Wispern zu mischen. Es waren kaum Worte, aber Yami verstand es dennoch nur zu gut. Er war so gefangen von diesen Klängen, dass er kaum merkte, wie Seto stehengeblieben war. Aber schließlich nahm er seine Schritte nicht mehr hinter sich wahr und drehte sich überrascht um.
 

Verunsichert sah der Chef der Kaiba-Corporation sich um, ließ seinen Blick über die Baumkronen schweifen. Im fahlen Mondlicht sah Yami, dass er blass war. „Du hörst es auch, nicht wahr?“, fragte Yami fast flüsternd, um die Ehrfurcht des Augenblicks nicht zu zerstören. „Schon möglich“, sagte Seto langsam, als wollten die Worte seine Lippen kaum passieren. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Unbehagen ab. Er wollte es nicht wahrhaben, aber Yami wusste, dass auch Seto empfänglich für all das war. „Ich denke, irgendwas will uns zeigen, wo es lang geht. Komm, lass es uns einfach ausfinden.“ Sie setzten sich langsam wieder in Bewegung. Yami verschloss sich nicht mehr vor dem Flüstern, das zugleich um sie herum und tief in ihm zu sein schien.
 

„Siehst du, nun gehen wir am Ende doch noch zusammen vor die Tür“, sagte Seto mit einem trockenen Lachen, als sie durch die wachsende Finsternis dem Schein der Taschenlampe folgten, „nur dass uns hier niemand sieht und unser Zielort nicht gerade so lauschig ist wie ein nettes Restaurant.“ Yami musste schmunzeln und schüttelte ungläubig den Kopf. Seto hatte ihn kalt erwischt. Er hätte nicht geglaubt, dass er das Thema ausgerechnet in dieser Situation auf diese banale Art und Weise aufkochen würde. „Das hast du jetzt gesagt. Ich lasse das mal so stehen“, erwiderte er mit einem amüsierten Unterton, noch halb abwesend. Als sie sich das letzte und das einzige Mal gesehen hatten, seit Yami in den USA lebte – es war nun ca. 9 Monate her – hatte keiner von ihnen über den Grund gesprochen, warum sie sich damals aus den Augen verloren hatten. Insgeheim hatte Yami gehofft, es könne immer so sein wie an diesem Abend, ungezwungen und leicht, aber irgendwann mussten sie wohl unweigerlich bis zum Grund ihres Scheiterns vordringen.
 

„Ja, ich habe es gesagt. Es ist ja auch wahr. Ich sehe keinen Grund, warum wir das totschweigen sollten“, erwiderte Seto ohne nachzudenken. Yami zwang sich, ihm seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er nahm sich Zeit, zu antworten. dann sagte er leise, „Ich sehe aber auch keinen Grund, warum wir überhaupt darüber reden sollten. Es ist lange her, also …“ Er machte einige weitere Schritte, bevor er bemerkte, dass Seto erneut stehengeblieben war. Er hielt ebenfalls inne. Mit einem unwohlen Gefühl drehte er sich um. Er war jetzt alarmiert und hatte den leisen Verdacht, dass nun zum wiederholten Mal ein Moment gekommen war, in dem jemand Dinge aus der Vergangenheit auf den Tisch brachte, die er eigentlich lieber begraben gelassen hätte. Warum wurden ihm diese Gespräche und Augenblicke ständig ohne seine Zustimmung aufgedrängt?
 

„Yami, bitte warte einen Moment“, sagte Seto besänftigend. Yami sah ihn aufmerksam an, erwartungsvoll und nun doch ein klein wenig neugierig. „Bitte versteh mich nicht falsch“, fuhr der Firmenchef fort, „Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich habe das nicht gesagt, weil mich das belastet oder ich mich für irgendwas entschuldigen möchte. Ich weiß, dass es dafür längst zu spät ist und dass das auch vollkommen sinnlos wäre nach so vielen Jahren. Auch ich habe irgendwann verstanden, dass ich die Gelegenheit dazu verpasst habe. Ich sage nur, es ist nichts, worüber wir nicht reden können. Wir müssen uns doch nicht mit Samthandschuhen anfassen und ich will auch nicht, dass die Stimmung zwischen uns seltsam ist oder all das zwischen uns steht. Nach acht Jahren weiß ich, was ich falsch gemacht habe und was ich hätte tun müssen, damit du nicht gegangen wärst, also lassen wir die Sache doch einfach ruhen und fangen neu an.“
 

Yami senkte den Kopf. Die Gedanken jagten einander in seinem Inneren. Er war überrascht, wie viel Setos Worte mit ihm machten. Er vergaß manchmal, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, was dieser für ihn gewesen war. Wie ehrlich und unbeholfen er sein konnte und wie sehr er ihm unter die Haut ging. Er hatte diesen Menschen gewinnen wollen wie ein Spiel, ihn lösen wie ein Puzzle. Er hatte ihn halten und ihm helfen wollen, aber Seto hatte ihn nicht gelassen. Und er hatte Yami diesen Halt nie zurückgegeben. Nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Aber vielleicht war es auch einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Für keinen von ihnen beiden.
 

„Ich gebe dir Recht: Ich bin es leid, dass das dieser Elefant im Raum unsere Beziehung belastet. Lass es uns endlich abhaken. Und falls dich das beruhigt: Ich weiß nicht, ob IRGENDETWAS, das du hättest tun können, etwas an meiner Entscheidung geändert hätte“, sagte er leise. Er hatte neu anfangen wollen und Seto war nun mal einer der Fäden gewesen, die ihn an seine Vergangenheit und sein Schicksal banden. Und auch jetzt wollte er einfach vergessen. Er wollte das Thema nicht aufwärmen, wollte nicht, dass es wirkte, als beschäftige ihn all das auf irgendeine Weise. Auch Seto sollte es nicht beschäftigen und ihm dadurch das Gefühl geben, etwas versäumt zu haben. Auch wollte er Seto nicht beruhigen oder ihm sagen, dass er ihm verziehen hatte, weil es keinen Grund dazu gab. Es gab nichts zu verzeihen.
 

Es gab nur Zeit, die Gras über alles wachsen und alles banal und bedeutungslos erscheinen ließ. Aber die ihn auch in ihren Klauen hielt, immer wieder nach ihm griff und ihn in ihre endlosen Windungen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft saugte. Hier an diesem zeitlosen Ort mitten im Wald so fern von der Realität, die sie lebten und mit einem ganzen Fernsehpublikum teilten, mehr denn je.
 

Er ballte seine Hand zur Faust. Es war, als könne er nicht atmen. Noch immer stand er da, den Kopf gesenkt. Und zum ersten Mal seit er damals entschieden hatte, all das hinter sich zu lassen, stieg eine Reue in ihm auf, die ihn ganz für sich einnahm. Und die vage Frage nahm in seinem Kopf Gestalt an, ob er sich falsch entschieden hatte. War alles, was er hatte glauben wollen, nur eine ausgeklügelte Ausrede gewesen, um sich einer Verantwortung zu entziehen? Er konnte nicht mehr sagen, was wahr war und was nicht. Hatte er nur den einfacheren Weg gewählt? War er vor sich selbst fortgelaufen? Hatte er seine Freunde und Verbündeten im Stich gelassen, weil er zu sehr von sich selbst eingenommen war? Hätte er mehr für Joey da sein müssen? Hätte es etwas geändert, wenn er mehr um Seto gekämpft hätte? Und sollte er nicht zum jetzigen Zeitpunkt wissen, warum er sich mit Bakura so sehr verbunden fühlte?
 

Aber er war so müde gewesen, nach alldem, was gewesen und von ihm gefordert worden war. So müde … Und auch jetzt war er müde. Morgen würde alles ganz anders aussehen. Morgen würde die Welt wieder im rechten Licht erscheinen. Dennoch: Zum ersten Mal fragte er sich selbst, ob die leiseste Chance bestand, dass Seto jetzt anders über ihre Beziehung dachte als damals.
 

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf, um die lästigen Gedanken abzuschütteln. Natürlich dachte Seto jetzt anders. Es war viel zu lange her. Alles. Alles war anders und auch wenn die letzten acht Jahre für ihn selbst gewesen waren wie ein langer, farbenfroher Traum, hatte sich die Realität hier doch verändert. Die Zeit war in Domino nicht stehengeblieben. Und was verloren war, war verloren. Also was sollte diese Gefühlsduselei, wo sie nicht angebracht war?
 

„Yami … ist alles in Ordnung? Ich wollte dir nicht zu nahe treten …“, fragte Seto verunsichert und riss ihn aus seinen Gedankenkarussel. Abermals schüttelte Yami den Kopf, nun sichtbar für Seto. „Nein, nein, alles okay. Es war nur ein langer Tag. Also lass uns endlich Bakura finden und dann nichts wie zurück.“ Etwas hilflos nickte Seto. Dann setzten sie ihren Weg fort und für die nächsten Minuten hörte man abermals keinen Laut außer ihren gleichmäßigen Schritten auf dem blättergesäumten Waldboden, ihrem Atem, der für jeden von ihnen die Gewissheit war, dass der jeweils andere noch da war, und der Stimme, die sie leitete und für jeden von ihnen ein ganz persönliches Lied sang, Für Seto fand die flüsternde Stimme ihre ganz eigenen Worte, die ihn mit Grauen erfüllten, aber auch etwas in ihm anstießen. Aber davon ahnte Yami noch nichts.
 

*
 

Limono fand keinen Schlaf. Er war von Natur aus ein nachtaktiver Mensch und da er im Black Rainbow stets nachts arbeitete und morgens lange schlief, war er seit seiner Ankunft in der Villa völlig aus dem Rhythmus geraten. Er war kein großer Freund von Büchern und Elektronik jeglicher Art suchte man in diesem Haus vergeblich. Alle anderen waren brav in ihre Betten gewandert und Limono lechzte nach irgendeiner Art von Zerstreuung.
 

Irgendwann beschloss er, ein wenig das Haus zu erkunden und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was sie bisher noch nicht in Augenschein genommen hatten. Wer wusste schon, ob er nicht durch Zufall einen weiteren Hinweis auf das Rätsel um Miko und seine Familie entdeckte. Von den Fotographien an den Wänden starrte ihn der bleiche, unglückliche Junge durchdringend an und schien jeden seiner Schritte zu verfolgen. Limono lief ein kalter Schauer über den Rücken und er versuchte, den finsteren Augen keine Beachtung zu schenken. Als er im ersten Stockwerk am Treppenabsatz innehielt, um sich für eine Richtung zu entscheiden, vernahm er plötzlich ein Geräusch. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich in einem der Korridore eine Tür öffnete. In letzter Sekunde ging er hinter einer Säule in Deckung und beobachtete, wie Yami, dieser Möchtegern-Influencer, aus dem Zimmer trat und behutsam Stufe um Stufe der Treppe nahm. Limono wartete, bis der König der Spiele in der Eingangshalle angekommen war, dann setzte er ihm in gebührendem Abstand nach.
 

Als auch er schließlich ebenfalls die Treppe passiert hatte, war Yami verschwunden. Aus dem Wohnzimmer drang ein schmaler Lichtstreif. Vorsichtig pirschte sich Limono heran und spähte durch den Spalt in der halb geöffneten Tür hinein. Der junge Mann mit der Sternfrisur unterhielt sich drinnen leise mit Seto. Das Gespräch schien angespannt zu sein, aber Limono konnte die Worte nicht verstehen, da sie sich ganz am Ende des Raumes befanden und fast wisperten. Schließlich erhoben sich beide und Limono blieb gerade noch genug Zeit, zur Seite hechten, bevor sich die Tür wieder öffnete und die beiden gemeinsam heraustraten und so leise wie möglich die Eingangstür aufzogen.
 

Als diese sich mit einem dumpfen Schlag wieder geschlossen hatte, beeilte sich Limono, zu einem Fenster zu gelangen, von dem aus er sehen konnte, welche Richtung die beiden einschlugen. Fassungslos sah er zu, wie sie sich schnellen Schrittes auf einen kleineren Wald zubewegten und schließlich nicht mehr auszumachen waren. Augenblicklich schnellten Limonos Gedanken zu Umko. Er musste ihm unbedingt auf der Stelle davon berichten, welche interessante Beobachtung er soeben gemacht hatte! Was konnten diese beiden so plötzlich draußen wollen? Ohne diese Entscheidung zu hinterfragen, nahm er gleich zwei Stufen auf einmal bei seinem Weg nach oben. So leise er konnte, pochte er an Umkos Zimmertür und hoffte darauf, dass dieser nicht allzu fest schlief. Er klopfte drei Mal an, aber nichts tat sich. Als er schon enttäuscht wieder abziehen wollte, hörte er hinter sich ein Klicken, die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Umko blinzelte ihn ohne seine Brille auf der Nase verschlafen an. „Limono … was um Himmels Willen ist los?“, wollte der Schwarzhaarige irritiert wissen.
 

„Keine Zeit für langatmige Erklärungen“, sagte Limono atemlos, „hör zu: Du glaubst mir das nicht! Eben sind Yami und Seto zusammen aus dem Haus geschlichen!“ Limono war hellwach und sein Gesicht glühte vor Tatendrang, aber Umko sah nur völlig verständnislos zurück. „Und … was habe ich damit zu tun?“ „Na – wir müssen ihnen folgen und sehen, was sie treiben!“, drängte Limono ungeduldig. „Limono – ich glaube du hast sie nicht mehr alle. Ich gehe jetzt wieder schlafen. Gute Nacht.“ Umko schickte sich an, die Tür zu schließen. „Aber … warte!“ Umko hielt in der Bewegung inne. Limono sah ihn an. Enttäuschung stieg in ihm auf.
 

Aber sein Ex-Mann hatte Recht. Was hatte er sich nur gedacht? Offensichtlich nicht das Geringste. Warum sollte Umko ihn bei einer solch kindischen und schwachsinnigen Aktion unterstützen? Alles war jetzt anders. Sie waren nicht dasselbe Team, das sie vor fünf Jahren gewesen waren, das nur allzu gerne Geheimnisse um befreundete oder bekannte Personen gelüftet und ohne Zögern zu absurden Beschattungsaktionen aufgebrochen war. Wie hatte er überhaupt nur daran denken können, dass Umko ihm folgen würde ohne Fragen zu stellen oder ihn zu verhöhnen? Plötzlich schämte er sich für diese brüske, unangemessene Annäherung. Er konnte die Distanz, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, förmlich in Umkos Augen lesen.
 

„Ich … tut mir leid. Du hast Recht. Was für ne dämliche Idee. Ich hatte wohl nen Blackout und hab nicht nachgedacht“, murmelte er kopfschüttelnd. Noch immer musterte Umko ihn aufmerksam. Dann fasste er sich mit der Hand an die Stirn. „Also … was genau hast du beobachtet?“, fragte er schließlich langsam. „Ich hab gesehen, wie der kleine Wichtigtuer die Treppe runter ist und sich im Wohnzimmer mit Seto unterhalten hat. Dann sind die beiden aus der Eingangstür raus – aber spielt keine Rolle. Also, sorry nochmal wegen der Störung und gute Nacht.“
 

Er machte auf dem Absatz kehrt und hatte es plötzlich eilig, sich der Situation zu entziehen. „Moment mal!“, nun war es Umko, der ihn zurückrief. „Also was denn nun? Erst reißt du mich völlig euphorisch aus dem Schlaf und jetzt ziehst du einfach so wieder ab?“ Er seufzte gequält. „Warum werd ich einfach nicht schlau aus dir“, murmelte er, mehr zu sich selbst als dass es für Limonos Ohren bestimmt war, „Also gut. Ich bin dabei. Gib mir zwei Minuten.“ Limono grinste. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Animegirl1224
2024-03-15T18:57:56+00:00 15.03.2024 19:57
Noch kein kommentar für diese geschicht??? Das kann ich gar nicht glauben. Ich bin zufällig hier drüber gestolpert und ich muss sagen deine story hat mich von anfang an gefesselt.
Die idee ist klasse. Ich mag die interviews am anfang der kapitel sehr. Auch die vielen hintergrund geschichten und die unterscheidlichen beziehungen der figuren untereinander sind toll. Ich mag deinen schreibstil. Lässt sich sehr gut lesen. Auch die mischung aus humor und mystery trifft genau meinen geschmack. Bin sehr gespannt wie es weitergeht.
Antwort von:  MizunaStardust
19.03.2024 19:00
Hallo :) Oh, danke! Das freut mich sehr. Die Geschichte ist schon ein bisschen älter. Ich wollte sie hier nochmal hochladen, da auf Fanfiktion.de aktuell wenig los ist im Fandom :) Freut mich, dass man sie immer noch lesen kann. Ich hoffe, du bleibst dabei! Liebe Grüße, Mizu


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