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Flügelschwingen

Lebensangst und Todesmut
von

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Gebrochene Flügel

Sie kannte keine Freiheit.

Und nun würde ihr auf ewig verwehrt sein, zu erfahren, was Freiheit bedeutete.

Sie kannte keine Liebe. Und doch würde sie … heiraten.
 

Katiya presste die Lippen zusammen. Sie fühlte sich gefangen wie der Engel in ihrer Spieluhr. Um sie herum eine Kugel aus Glas. Es war ihr erlaubt, sich im Takt der Musik um ihre eigene Achse zu drehen. Vorwärtskommen würde sie niemals.

Peter hatte sie von der Limousine auf die Wiese geführt.

Wasserfallförmig fielen die weißen Stofflagen bis zu ihren Knöcheln. Das Kleid war so schön und fein gearbeitet, dass es sich nicht viel von ihrem Hochzeitskleid unterscheiden würde. Der Verlobungsring fühlte sich wie ein Fremdkörper um ihren Finger an, als sie die Hände zu Fäusten ballte. Das Herz in ihrer Brust schmerzte, doch es hatte aufgegeben, um Gehör zu flehen.

Die Verlobung war die richtige Entscheidung.

Liebe war nichts als ein Märchen.

Katiya hob das Kinn, zog die Schulterblätter zusammen. Brust raus, Bauch rein. Zu dem sanften Lächeln, das sich schicken würde, konnte sie sich nicht durchringen. Das schwarze Loch in ihrer Brust sog an ihr, um den letzten Teil ihrer Selbst zu verschlingen, der noch ihr gehörte.
 

Ein Schaudern überlief sie.
 

Wie eine Puppe ließ sie sich weiter in die Menge führen. Stimmen summten in der Luft. Hier und da ein höfliches Lachen. Der süße Duft der Blumengestecke strömte in Katiyas Nase. Malvenblüten natürlich. Peter hatte sämtliche Geschütze aufgefahren, um ihre Verlobung als das zu feiern, was sie ihm bedeutete. Katiya und er — sie waren einander Schicksal. Sie war sein Herz.

Sobald sie endlich verheiratet wären, würde er jede freie Minute, die er hatte, mit ihr verbringen. Peter sollte im Immobilienbetrieb seines Vaters eine Führungsrolle übernehmen. Freie Zeit würde er dann hoffentlich kaum haben. Der Gedanke war bitter auf Katiyas Zunge. Und doch schmeckte sie seine Wahrheit.
 

Sie war eine Perfektionistin.

Übereilte Entscheidungen traf sie nicht.
 

Trotzdem war sie dabei, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. So flüsterte es ihr zumindest ihre innere Stimme zu, die sie zu ignorieren gelernt hatte. Egal wie laut sie wurde.

Katiya fuhr auf, als der satte Klang einer Tuba über den großen See von Aschenburg schallte. Der Wind rauschte durch den nahen Wald. Die Band spielte moderne Lieder aus den Charts. Oldies. Obwohl Peter für gewöhnlich eher ein Fan von klassischer Musik war, machte er für die Party eine Ausnahme und kam gern der breiten Masse entgegen. So hatte er es formuliert. Wenn es nach ihr ginge, hätte Katiya einen Trauermarsch angestimmt.

Sie kannte das Leben nicht. Und doch würde Katiya Zavarina in ein paar Wochen sterben.

Bald wäre sie nichts mehr als Peters Frau.
 

Mit einem Mal kribbelte es ihr in den Fingern. Sie wollte nach Hause. In ihr Musikzimmer. An ihr Piano. Sie wollte, dass die Töne sie in eine Welt trugen, in der keine unsichtbaren Ketten um ihren Gliedern lagen.

»Gefällt es dir?«, fragte Peter. Mit einem sanften Lächeln auf seinen geschwungenen Lippen sah er sie an. Die unter-gehende Sonne spiegelte sich in seinen silberblauen Augen wie im großen See.
 

»Ja. Schon«, erwiderte Katiya reflexartig auf Peters Frage.

Der Pavillon sah nett aus. Das Buffet köstlich. Die anderen schienen Spaß zu haben. Die matschige Wiese duftete. Das Gras war noch immer nass vom Regen. Kalte Tropfen benetzten Katiyas Füße in ihren hohen Schuhen. Ein paar junge Männer in gesteiften Hemden und mit ordentlich frisiertem Haar sahen zu ihr hinüber. Bekannte von Peter aus der Uni. Lauter Leute, die sie nicht kannte. Leute, die Katiya schon in dem Moment, in dem sie ihr vorgestellt worden waren, wieder vergessen hatte. Peter führte Katiya vor wie eine neue Immobilie, die er erstanden hatte.

»Ich bin gleich wieder bei dir!« Sanft berührte er ihren Oberarm. Eine Illusion von Zärtlichkeit. Nähe. Katiya sah ihm nach, wie er zwischen den aufgestellten Tischen verschwand und zwei neu hinzugekommene Gäste willkommen hieß. Er lächelte. Wahrscheinlich fragte er, ob der Mann und seine Freundin gut hergefunden hatten.

Objektiv betrachtet war Peter von Malvenstein das Beste, was überhaupt jemandem passieren könnte. Er schenkte Katiya Aufmerksamkeit und ein Gefühl von Anerkennung. Doch mit ihrem Herz aus Eis war sie unfähig, seine Zuneigung zu erwidern. Ja, Peters Liebe … wirkte kontrolliert. Aufrichtig. Und doch maskenhaft. Unwillkürlich fuhr Katiya sich über die Oberarme. Hätte sie sich doch ein Jäckchen überziehen sollen?

Peter und die beiden anderen tauschten ein paar weitere Sätze, die vermutlich so leer waren wie Katiyas Magen.

Oh Gott, wenn er gleich knurren würde …! Ihre Augen flogen über das Buffet. Allein der Gedanke an diese Feier hatte dafür gesorgt, dass sie heute noch keinen Bissen herunterbekommen hatte.

 

Ja, sie war hungrig. Hungrig darauf, einem Menschen zu begegnen, der echt war.

Voller Sehnsucht, Leidenschaft und Sünde.

Ein Mensch, der es wagte, sich vom Spielfeld loszureißen, auf dem man sich über das schöne Wetter und über anstehende Herausforderungen im Studium unterhielt.

Sie wollte das Feuer spüren. Wollte, dass die Hitze ihre Haut versengte. Sie wollte sich verbrennen. Das wäre besser als die lauwarme Sicherheit. Sie wollte weinen, schreien, wütend sein dürfen. Sie wollte ausbrechen und davonlaufen. Ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken.
 

Die Menschen hier waren wie die Happen, die der Cateringservice vorbereitet hatte: Wunderschön anzusehen. Makellos und ansehnlich drapiert. Peters Bekannte hier stammten hauptsächlich aus der oberen Mittelschicht. Ein jeder von ihnen hatte etwas vorzuweisen: Ein Auslandsjahr. Einen Doktor. Irgendwelche anderen Auszeichnungen.

Katiya faltete die Hände übereinander.

Das Buffet war reich gedeckt. Egal wie viele dieser Happen sie kosten würde — ihr Hunger würde ungestillt bleiben. Und obwohl die Menge um sie herum summte, fühlte Katiya sich fürchterlich einsam.

Chira. Sie sollte Chira suchen. Ihre einzige Freundin, die …

Noch während Katiya in ihren hohen Schuhen über die Wiese stakste, kam sie sich vor wie ein Charakter in Die Sims: Jemand hatte den Befehl abgebrochen. Sie blieb stehen.

Wieso wollte sie zu Chira?!

Chira war keine Freundin. Sie hatte versucht, einen Keil zwischen sie und Peter zu bringen, um ihn für sich selbst zu gewinnen. Chira hatte sie hintergangen. Wieder glomm diese Hitze in Katiyas Magen auf. Ihre Kehle wurde eng. Sie hatte einmal davon gelesen, dass die Grundlage einer guten Beziehung Vertrauen war. Genauso wenig wie von Freiheit, Liebe und Leben wusste Katiya, ob es echtes Vertrauen überhaupt gab.

»Bist du nervös?«

Katiya fuhr zusammen. Ach nein. Bitte kein Smalltalk! Bitte … Sie hätte nicht so lange herumstehen sollen. Vermutlich schrie alles an ihrer verlorenen Gestalt danach, angesprochen zu werden. Sie sah auf. Und blickte in das hübsche Gesicht von Peters Schwester. Wie auch Peter war Zoe groß und schlank. Ihr hellblondes Haar war zart und passte zu ihrer zierlichen Gestalt. Mit ihrem stets ausdruckslosen Gesicht sah sie aus wie ein Mannequin.

Nervös?

»Danke.« Verdattert nahm Katiya die Sektflöte entgegen. Sie fühlte sich absolut deplatziert. Voll von Resignation, wie auf dem Weg zum Schafott. »Nein. Ich bin nicht nervös.«

Zoe lächelte mild, als wüsste sie es besser. »Das ist auch deine Feier.«

Was sollte sie darauf erwidern? Katiya rang sich zu einem Lächeln durch. Eigentlich freute sie sich nicht, Zoe zu sehen. Sie erinnerte sich nicht daran, jemals eine echte Unterhaltung geführt zu haben, die über den üblichen Smalltalk hinausging. Immer, wenn sie versuchte, ehrlich mit ihr zu diskutieren, gab Zoe sich pikiert und wechselte das Thema. Ausgerechnet seit ihrer Verlobung war zu der steifen Affektiertheit von Peters Schwester eine weitere Wand an Distanz hinzugekommen. Gerade jetzt, wo es darum ging, in ihre Familie einzuheiraten, fühlte Katiya sich dort verlorener denn je. Weder Peter noch seine Familie konnten sie aus dieser Glaskugel, in der sie lebte, befreien. Niemand vermochte das.

Wäre Katiya ein chemisches Element, so wäre sie ein Edelgas. Unfähig, eine Bindung einzugehen.

Und auch, wenn sie ihre Zeit für sich und ihre Gedanken schätzte und liebte, fühlte sie sich einsam in ihrer unfreiwilligen Isolation.

»Versuch, wenigstens einen guten Eindruck zu hinterlassen!«, setzte Zoe neu an. Verwirrt über den Unterton, den sie nicht einordnen konnte, wandte Katiya sich ihr wieder zu. »Es gibt eigentlich keine Frau, die Peter verdienen würde.«

Katiya erwiderte das Lächeln, bis — Augenblick. Das Lächeln erstarb auf ihren zartrosa geschminkten Lippen. Hatte Zoe eben gesagt, dass sie Peters nicht wert war?!

Vielleicht war Peter auch ihrer nicht wert.

Sie wünschte, den Gedanken zurücknehmen zu können. Er war nicht fair und arrogant.

Sie stellte das Sektglas ab und schenkte Zoe ein kühles Lächeln, bevor sie so tat, als würde sie sich weiter am Buffet umsehen. Sie sehnte sich die Grabesstimmung zurück. Nun nämlich war alles in ihr wieder in Aufruhr. Einatmen. Ausatmen. Ihre Gedanken waren frei. Sie gehörten ganz ihr.
 

War das ihre Zukunft? Ein Leben in Gedanken?
 

Das Wasser, das von der Wiese auf ihre Zehen spritzte, war unangenehm kalt. Bestimmt würde es in Kombination mit ein paar verirrten Halmen ihre weißen Schuhe von innen heraus grün verfärben.

Peter war der erste Mensch, der ihr so etwas wie Wärme entgegenbrachte. Und auch, wenn sie schon froh um seine Freundschaft gewesen wäre, sollte sie dankbar sein, dass sie ihn hatte. Gäbe es sie nicht, würde Peter dann einfach eine andere Frau an die Seite gestellt bekommen …? Sie würde niemanden mehr finden, der sie liebte, wie Peter es tat.

Sie sah auf die glatte Wasseroberfläche des Sees. Die Villen ihrer Familien lagen an dem großen See nahe dem Zentrum von Aschenburg. Peters Familie, die von Malvensteins, lebte seit jeher hier. Die anderen Häuser ringsum den See gehörten den Thorolfs und den erst vor ein paar Jahren hinzugezogenen van Dors. Auch die van Dors waren wohlhabend und obwohl sie im Stadtgeschehen ihren Platz noch nicht völlig gefunden hatten, waren sie wichtig.

Ja, der See und die Villen bildeten das Herz der Stadt: Würde es aufhören zu schlagen, würde Aschenburg nicht mehr funktionieren.
 

Wind rauschte durch die Wipfel der Nadelbäume.

Trotz allem waren ihre Familien keine echte Einheit. Vielmehr standen sie sich wie die schwarzen und weißen Figuren beim Schach gegenüber. Gedankenverloren fingerte Katiya an ihrem silbernen Verlobungsring herum. Ihre Familie, die Zavarins, und Peters Familie, die von Malvensteins, bildeten gemeinsam die eine Seite. In Katiyas Kopf waren sie die schwarzen Figuren. Sie waren düster. Geheimnisvoll.

Auf der anderen Seite standen die weißen Figuren: Die Familie Thorolf. Wie auch Peters Familie lebten die Thorolfs schon seit vielen Generationen in Aschenburg. Damit das Spiel funktionierte, musste es beide Seiten geben. Trotzdem war es oberstes Ziel einer jeden Partei, die Partie letztendlich für sich zu entscheiden.

»Da bin ich wieder.« Peter tauchte neben Katiya auf. Hatte er ihre und Zoes schleppende Unterhaltung beobachtet? Kalte Nadeln kribbelten über Katiyas Haut. Peter sollte nicht wissen, dass seine Schwester und sie sich nicht ausstehen konnten. Sie beide waren von klein auf in der Elite von Aschenburg groß geworden. Stets dazu erzogen, zu funktionieren. In der Theorie könnten sie beste Freundinnen sein.

»Komm, lass uns rüber zum Buffet gehen!« Peter schenkte Katiya ein weiches Lächeln. Seine Brauen sanken dabei immer etwas nach unten. »Da ist Rudi.«

Aber Katiya wollte nicht mit Rudi sprechen. Sie würgte gegen den Kloß in ihrem Hals an.

Rudi war der Sohn der Thorolfs. Also einer von der weißen Mannschaft. Er war ein zurückhaltender junger Mann. Immer höflich und zuvorkommend. Obwohl er Medizin studierte und ziemlich gut darin war, hängte er es nie an die große Glocke. Katiyas und Rudis Großväter waren früher einmal gute Freunde gewesen. Katiyas Vater Silas und Rudis Mutter Fiona waren Geschwister. Und trotzdem … fand Katiya einfach keinen Draht zu ihrem Cousin.

»Schön, dass du es hergeschafft hast! Wie geht es dir, Rudi?« Mit seinem charmantesten Lächeln trat Peter an Rudi heran. Katiya folgte ihm. Wenn das Licht so in Peters hellblonde Lockenpracht fiel, glänzte sie wie gesponnenes Gold.

»Oh, be-bestens!« Rudi zuckte zusammen, als Peter ihn ansprach, und vergrub die Hände in seinen Jeans. Mit eingezogenem Kopf stand er wie bestellt und nicht abgeholt am Rande des Buffets unter dem Pavillon, als suchte er nach einer Ausrede, schnell wieder gehen zu dürfen. Das war Katiya auffallend sympathisch. Ihre Augen flogen über Rudis rot-schwarz kariertes Hemd. Das war scheußlich. Der offizielle Dresscode lautete zwar Freizeitkleidung. Doch mit diesem Outfit bewies Rudi die Stillosigkeit, die bei ihm aber wohl in der Familie lag.

»Herzlichen … Herzlichen Glückwunsch euch beiden zur … zur Verlobung«, stotterte Rudi. Nervös warf er sich eine wirre Strähne seines roten Haars aus der Stirn. Sommersprossen zeichneten sich auf seiner blassen Haut ab.

Peter lächelte. Irgendwie hatte Katiya Mitleid mit Rudi. Das Verhältnis zwischen den von Malvensteins und den Thorolfs war seit jeher kompliziert. Ihre Urahnen hatten zur Gründerfamilie von Aschenburg gehört. Während die von Malvensteins mit ihren Erfolgen glänzten, hatten die Thorolfs viel an Geld, Macht und Ansehen verloren. Katiyas Mutter führte sie stets als abschreckendes Beispiel für alles Mögliche an: Möchtest du enden wie ein Thorolf?

»Danke. Wir haben Glück. Selbst das Wetter scheint uns seinen Segen zu geben.« Peter spielte auf das unerwartete Aufklaren nach dem regnerischen Morgen an. »Wir« Er sah kurz zu Katiya, als wollte er ihr zeigen, dass das hier ihre gemeinsame Feier war, obwohl er alles organisiert hatte. »hätten ja auch gern deine Schwester eingeladen. Sarah.«

»Sachi«, murmelte Rudi und kassierte damit wieder einen irritierten Blick Peters. »Sie möchte Sachi genannt werden.«

Katiya jagte es ein Schaudern über den Rücken.

Ihre Cousine hätte garantiert etwas frischen Wind in diese steife Feier gebracht. Vor ein paar Jahren hatte Katiya sie Manga-Comics zeichnend in einem der Flure hocken gesehen. Einen vom Buffet geklauten Teller neben sich. Zu gern hätte Katiya sich damals zu ihr gesetzt.

»Wie auch immer.« Peter winkte ab, als wäre das nicht von Bedeutung. Das Flattern um seine Mundwinkel empfand Katiya als fast süffisant. »Wir wissen ja alle, dass Sarah aktuell leider in leicht fragwürdigen Kreisen verkehrt.«

Rudi zog die Schultern hoch und auch Katiya wusste, wovon Peter sprach.

Früher hatten Rudi und Sachi gemeinsam den schmutzigen Fleck auf dem weißen Teppich ihrer Familienfeiern gebildet. Rudi jedoch war dieser seltsamen Punkrock-Phase entwachsen. »Die Band ist gut«, wechselte er das Thema.

Peter schenkte ihm ein Lächeln. »Danke.«

»Ich spiel’ selbst kaum noch«, brachte Rudi schüchtern hervor. »Das … ist schon verrückt. Musik war immer meine … Leidenschaft. Mit zwölf hab’ ich schon meine ersten Songs geschrieben. Tja. Wir … werden wohl alle erwachsen, was?«

Rudi sollte das Thema lieber sein lassen. Peter, der seit seinem vierten Lebensjahr mit Klavier und Geige vertraut war, würde er wohl kaum beeindrucken können. Neid knurrte in Katiyas Brust. Rudi und seine Band waren einmal beim Frühlingsfest aufgetreten und—

Ein plötzliches Grollen ließ sie hochfahren. Instinktiv blickte Katiya zum Himmel. Ein paar Wolken hingen über ihnen, als wären sie zu gemütlich, um davonzuziehen. Ein Gewitter war aber nicht in Sicht. Woher dann ...? Das Grollen wurde lauter, schwoll zu einem Tosen an.

Motorenlärm.

»Hey, schaut mal!«, rief da einer von Peters Kommilitonen. Und noch bevor Katiya sah, wohin er deutete, jagte es ihr heiße und kalte Schauder über den Rücken. »Die mit den Motorrädern!«

»Scheiße!«, rutschte es Rudi leise heraus.

Katiyas Herzschlag beschleunigte.

Angst. Panik. Abstruse … Aufregung und Freude durchströmten sie. Die Gefahr … ließ sie sich lebendig fühlen.

»Was sind das für Rowdies?«

Vier Motorräder. Sie fuhren die Straße am See entlang. Umkreisten ihre Feier. Bedrohlich wie eine Horde von dunklen Geistern.

 

 

 

Sie glaubte, ihre Freiheit zu leben.
 

Trotzdem fühlte Sachi sich gefangener denn je. Verzweiflung und das Gefühl, in einen endlosen Schlund zu stürzen, verwusch mit dem Drang, zu lachen. Highway to Hell. Auf eine abgefahrene Weise passte es, dass ausgerechnet dieses Lied der alten Rockband AC/DC ihren Kopf ausfüllte und dort sogar das brüllende Röhren der Motoren übertönte. Die Dämmerung zog langsam auf. Sachi hasste die Finsternis, die sich mit der aufziehenden Nacht in ihrem Herzen meldete. Sie liebte den Nervenkitzel dieser spontanen, absolut dummen, aber verdammt reizvollen Aktion.

Ihre Finger krampften sich enger um den Lenker ihres Motorrads. Die bahnbrechende Geschwindigkeit. Für ein paar köstliche Augenblicke waren ihre brüllenden Gedanken stumm. Sie flog. Ihr Flügelschlag kraftvoll. Ihr Schrei schneidend wie der Ruf einer Harpyie.
 

Sie alle waren mitgekommen. Sven und seine langjährigen Freunde Akasya und Samir. Sven arbeitete mit ihr in der Werkstatt. Akasya war Friseuse und eine Sexbombe. Ihre Lippen pinselte sie sich meistens in einem schrillen Pink an und ihr viel zu starkes Augen-Make-up gab ihrem Gesicht etwas, das vielleicht auf eine Modenschau passte, aber ansonsten overstylt wirkte — an ihr aber auf eine verruchte Art und Weise gut aussah. Samir ... Nun. Er war der Größte ihrer Gruppe. Trank und rauchte für zwei. Sachi traute es ihm zu, dass er jemanden für eine Flasche Fusel oder ein Päckchen Zigaretten vermöbelte. Gemeinsam waren sie das pure Chaos.
 

Sachi schmiss sich in eine scharfe Linkskurve. Gefangen im Rausch jauchzte sie in ihren Helm. Bersten und Dröhnen in ihren Ohren. In ihrem Magen das Gefühl von Stärke. Von Bewegung.

Wie die Ameisen wuselten die piekfeinen Gäste dieser beschissenen Elite-Party herum. Dieser exklusiven scheiß Party, bei der keiner sie haben wollte. Sachi brüllte, bis ihre Stimmbänder vibrierten. Das Adrenalin brachte das Blut in ihren Adern zum Kochen, während die Tachoanzeige gemeinsam mit ihrem Puls höher und höher raste. Dieser Druck auf ihrem Herzen löste sich nicht.
 

Das da vorne war Rudi, oder? Wie ein Schluck Wasser in der Kurve stand ihr Bruder da bei dem Prinzesschen und ihrem Kerl. Peter von Malvenstein. Whoa, sie könnte kotzen. Sachi riss den Arm hoch und johlte. Die Umgebung verschwamm zu einem Strudel aus Grün, Grau, Braun und diesem unbändigen Drang, ausbrechen zu müssen. Sie war schnell. Viel zu schnell. Und sie wollte noch mehr Geschwindigkeit erreichen. Wie ein Hurricane wollte sie über die Wiese wüten. Diesen schicken Pavillon einreißen. Das Buffet sprengen. Aufs Kommando hin stürzten sie den grasbewachsenen Hügel zum See hinab. Schlamm spritzte, die Räder der Maschinen versackten im Morast. Rissen sich weiter.

»Alles Gute zur Verlobung«, schrie Sachi Peter und Katiya zu und reckte ihnen den ausgestreckten Mittelfinger entgegen, bevor sie wieder beide Hände an den Lenker nahm, um mitten durchs Buffet zu stürmen.

 

 

 

 

Es war eine Katastrophe. Angst hatte die Sensationsgier verschlungen. Katiyas Puls jagte. Der Lärm. Ihr weißes Kleid war schlammbespritzt. Was war das hier? Ein Anschlag? Scheppernd stürzten die dünnen Metallbeine des Pavillons übereinander. Glas brach. Katiya biss sich auf die Unterlippe, schmeckte Blut. Ihr Herz raste.

»Warte hier auf mich, Liebling!« Peter hatte sie hinter einen umgestürzten Tisch geführt. Katiyas Augen flogen umher. Die Leute schrien. Brachten sich und ihre Wertgegenstände in Sicherheit vor den Bikern. Einer von ihnen hatte sein Handy laufen: Highway to Hell.

Wachsam bleiben! Katiya presste die Lider zusammen — nur um die Augen dann weit aufzureißen. Oh Gott. Zu viele Eindrücke. Zu schnell. Zu laut. Wo war Peter hin? Katiya tastete nach ihrem Handy. Mist. Die Handtasche lag in Peters Wagen. Sie war hilflos. Gefahr. Jeden Moment könnte sie Katiya treffen wie ein Blitz, der unvermittelt vom Himmel schoss. Der Lärm der Motoren. Instinktiv duckte Katiya sich hinter den Tisch. Die Wiese matschig unter ihren schlotternden Knien. Ein paar der feinen Happen wild zwischen den niedergedrückten Halmen verteilt. Wieder ging etwas zu Bruch. Und da entdeckte Katiya den Kopf der Gruppe.

Die außer Rand und Band geratene Tochter der Thorolfs.

Ihre Cousine Sachi.

Abscheu. Faszination. Neid. Die Emotionen stürzten auf Katiya ein wie eine dunkle Woge. Heiß und sengend. Katiya schlang die Arme um sich und schlotterte.

Sachi lachte und johlte, als hätte sie den Verstand verloren. Ihr Motorrad grollte wie ein blaues Ungetüm. Sie raste einen der letzten Tische des Buffets um. Die Bowleschale flog durch die Luft. Nein. Noch bevor die Schüssel am Boden zerschellte, durchzuckte Katiya ein Blitz von Entschlossenheit.

Sachi war beleidigt, weil man sie nicht eingeladen hatte. Und nun war sie hier, um sich dafür zu rächen ...?!

Wut kochte in Katiya hoch. Pochen in ihren Schläfen.

Die Welt um sie herum verstummte.

Dieser Moment war ein Sinnbild ihres Lebens, das ihr verbot, ihr Potential, ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte auszuschöpfen. Sie konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie alles vor ihren Augen vernichtet wurde.

Angetrieben von heißem Trotz raffte sie ihren Rock. Kletterte über den Tisch. Eines der lackierten Aluminiumbeine war zerbrochen. Katiyas Absätze versackten im Morast.
 

Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

Sie konnte diese Machtlosigkeit besiegen.

Das Einzige, das sie zurückhielt, war die Angst.

Die Angst zu sterben.

Die Angst, dieses Leben zu verlieren, das ohnehin nicht ihr gehörte.

 

Sie konnte Sachi aufhalten. Sachi, die glaubte, einfach tun und lassen zu können, was sie wollte.
 

Jegliche Konsequenzen waren ihr mit einem Mal gleichgültig, als Katiya auf die Überreste der Musikausrüstung zu rannte. Blechern und scheppernd gab sie noch ein paar Töne von sich. Wie das letzte Röcheln eines Sterbenden.

In Katiya brannte der Wunsch, Sachi einen Stoß zu versetzen, dass sie im Buffet auf der Wiese landete. Katiya fuhr herum. Das Tosen eines näherkommenden Motorrads.

»Du«, schleuderte Katiya Sachi zornentbrannt entgegen. Katiya war es nicht gewohnt, dermaßen zu brüllen. War es nicht gewohnt, dem Instinkt zu toben, nachzugeben.

Sachi hörte sie nicht. Ihr blaugefärbtes Haar wirbelte unter ihrem Helm hervor. Katiya biss die Zähne zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie Peter. Er hielt sich ein Handy ans Ohr. Bestimmt holte er Unterstützung. Da jedoch war sie schon unterwegs. Drauf und dran, Sachi den Weg zu versperren, indem sie sich mit weit ausgebreiteten Armen vor ihr aufbaute.

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht's im 1. Band von "Flügelschwingen". Mehr Infos dazu auf unserer Website Komplett anzeigen

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