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Purpurnebel

Märchen aus der Schwarzen Herz Reihe
von

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Purpurnebel

Fast reglos hockte sie an der Mauer. Wartete unlängst schon auf den Tod. Seit Tagen war ihr keine Ratte mehr über den Weg gelaufen und ihr Hunger hatte vor einiger Zeit aufgehört. Für sie ein klares Zeichen, dass ihre Stunde bald geschlagen hatte. Sie war mit sich im Reinen. Wohlig streckte sie sich auf dem staubigen Boden aus und blinzelte. Vor ihr lagen die Ruinen, einer einst prächtigen Stadt, die wohl von einem großen Unglück heimgesucht worden war. Doch was genau in dieser Stadt passiert war, ließ sich nun beim besten Willen nicht mehr erkennen. Überall prangten schwarze Dornen aus Stein an den Mauern, Gebäude waren rissig und verfallen. Und noch etwas Unheimliches war ihr am ersten Tag sofort aufgefallen. Die steinernen Statuen, die Menschen darstellten. Es waren so viele. Und sie waren so erschreckend realistisch. Sie hatte schon öfter Statuen gesehen. Aber keine war bisher so detailgetreu wie diese. Für gewöhnlich waren zum Beispiel die Augäpfel bei Statuen blank. Das verlieh ihnen stets eine unwirkliche Aura. Die Augen dieser Figuren waren jedoch bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Die Pupille, die Iris und jedes noch so kleine Äderchen. Menschen schufen die seltsamsten Dinge. Doch diese machten ihr angst. Besonders die Tatsache, dass sie nach wie vor so makellos waren während die Gebäude um sie herum zerfielen. Sie war nun schon lange hier. Der Ort flößte ihr von Anfang an einen Schauder ein und doch war sie geblieben. Rund um die Ruinen erstreckte sich nur Prärie. Nun war sie hier inmitten ihrer stummen, steinernen Gesellschaft. Die Ratten waren zunächst zahlreich gewesen. Genau wie die Lebensmittel in den verlassenen Gebäuden. Doch dann schwanden sie nach und nach. Einige zogen weiter. Einige verendeten auf der Straße. In jedem Fall hinterließen sie keine Nachkommen. Nach und nach schwand die Nahrung. Irgendwie war sie froh an diesem Ort zu sterben. Andererseits war sie genauso froh, diesen Ort bald wieder zu verlassen. Der Grund dafür ist nicht allzu bizarr, wenn man die Tatsache bedenkt, dass die Beobachterin eine ganz besondere Katze ist. Sie kann Emotionen aus längst vergangenen Zeiten spüren. Vor sehr langer Zeit hatte hier eine große Zufriedenheit geherrscht. Danach waren es plötzlich Niedergeschlagenheit, Entsetzen und Chaos gewesen. Und nun war nichts mehr da. Keine Nahrung. Und das obwohl es zwei Wege für sie gab um zu essen. Die Sonne ging unter. Der Himmel verfärbte sich dunkelrot. Sie heftete ihren Blick auf ein paar Statuen am Horizont. Das letzte was sie sehen würde. Menschen geschaffen durch Menschenhand. Die Schatten wurden länger. Ihre Sinne spielten ihr Streiche. Die schattenhaften Gestalten schienen zu tanzen. Nun löste sich eine der Gestalten und kam auf sie zu. Sie beugte sich über sie und streckte die Hand über sie aus. Dann wurde es dunkel.
 

Als sie erwachte, stellte sie fest, dass sie auf etwas Weichem lag. Jemand hatte sie auf ein Kissen gelegt. Blinzelnd sah sie sich um. Sie befand sich in einem der verfallenen Gebäude. Da waren Schritte. Jemand näherte sich. Es war ein Kind. Ein kleines blondes Menschenkind. Eine Weile starrten sie nur einander an. Die Katze und das Menschenkind. Dann riss das Kind überrascht die Augen auf und trat einen Schritt zurück. Verblüfft legte die Katze den Kopf schief und starrte zurück. Sie konnte nicht verstehen, warum das Kind überrascht war. Wie konnte sie auch? War es für sie doch ganz normal, dass sich mit jeder Gemütslage auch ihre Fellfarbe veränderte.

Die Katze schüttelte sich. Als würde sie das sandgelbe Fell abschütteln, wurde ihr Fell fuchsrot. Sie schloss die Augen zur Hälfte und konzentrierte sich. Für das Kind sah es so aus als würde sie dösen. Das lag mitunter daran, dass sie kaum äußere Anspannung aufwies. In Wahrheit befand sie sich in einer Art Trance. Es war als würde sie unsichtbare Fühler ausfahren und das Kind damit abtasten. Freude. Schmerz. Leid. Es war so viel davon da. Zuerst war da diese riesige Wand aus Überraschung und Freude. Vermutlich weil das Kind in ihr einen neuen Gefährten sah. Dann ein Vorhang aus Trauer und Verlust. Vermutlich hatte es vor kurzem jemanden verloren der ihm wichtig war. Und dann wurde es schwierig. Den Kern von jemand anzuzapfen fand die tausendfarbige Katze immer schwierig. Schon bei Leuten, die ihn offen darlegten war es mehr als verzwickt. Außerdem waren erwachsene Menschen wesentlich einfacher zu lesen als Kinder. Zudem war dieses Kind sehr verschlossen. Es schien etwas vergessen zu wollen. Während sich die Gedanken der beiden kaum lesen ließen, geschah nebenbei etwas ganz Natürliches zwischen Kind und Tier.

Sie wurden voneinander abhängig. Dazu muss man wissen, dass das Kind nachdem es seine Eltern verloren hatte, ziellos umhergeirrt war. Es war, nachdem es lange Zeit nichts und niemanden um sich hatte, in diese Ruinenstadt gelangt. Dort hatte es die steinernen Menschen vorgefunden, die Statuen. Und da es sonst niemanden hatte, blieb das Kind in dieser Stadt. Es war ihm lieber, nur von steinernen Menschen umgeben zu sein, als ganz allein zu bleiben. Und so richtete es ich in einem der Häuser ein. Es baute sich dort seine eigene kleine Welt auf in der es künftig leben würde. Morgens wachte es auf, aß etwas von den Lebensmitteln, die es auftreiben konnte und ging die Stadt erkunden. Dabei grüßte es die Statuen höflich, als wären es richtige Menschen. Nach einiger Zeit kannte es die Stadt auswendig. Und mit der Routine kehrten auch die Angst und die Einsamkeit zurück. Voller Kummer setzte sich das Kind eines Tages neben eine Statue die ebenfalls ein Kind darstellte. Es erzählte der Statue von seinen Eltern, oder eher von dem was es noch über sie wusste. Nach einigen Sätzen gab es der Statue einen Namen und unterhielt sich mit ihr. Dabei dachte es sich die Antworten die sein Gegenüber geben würde, selbst aus und sprach sie mit verstellter Stimme laut aus. Nach diesem „Gespräch“ war das Kind so fröhlich, dass es fortan mit allen Bewohnern auf diese Weise kommunizierte. Bald konnte es die Stimmen von Hundert Bewohnern imitieren. Zudem suchte es sich neue Beschäftigungen. Es brauchte eine Arbeit, der es nachgehen konnte. Also suchte es nach einem scharfen Dolch und hackte damit die toten Dornenranken aus den verfallenen Gebäuden. Dann versuchte es ein paar der Häuser wieder aufzubauen. Dabei versuchte es aus gesammeltem Regenwasser, Staub und zerbrochenen Steinen eine art Lehm herzustellen, damit die Mauern „geleimt“ werden konnten. Wenn es regnete, brachen viele der Gebäude wieder auseinander. Dann schichtete das Kind sie wieder auf. Sah es sich zu Anfang noch als Mitbewohner dieser Stadt, war es nun zu seinem Beschützer geworden. Es erkundigte sich bei den Einwohnern ob ihnen ihr Leben in dieser Stadt gefiel und ließ sich von ihnen Geschichten aus ihrem Alltag erzählen. Seine Fantasie kannte dabei keine Grenzen. Doch diese war ein zweischneidiges Schwert. Hatte er zu Anfang noch von glücklichen Tagen von seinen Eltern geträumt, wurde er nun von Alpträumen heimgesucht. Seine Eltern erschienen ihm nur noch als kalte tote Statuen und wenn es mit ihnen sprach und sich bemühte mit ihren Stimmen eine Antwort zu geben, brach ihm die Stimme weg. Seine Eltern sahen es dann immer zornig an. Als wollen sie es wütend fragen, warum er ihnen keine Stimme geben wollte. Die Antwort war klar. Er hatte die Stimmen seiner Eltern längst vergessen. Und ihnen erfundene Stimmen in den Mund zu legen erschien dem Kind nicht richtig. So waren die Einzigen stummen Statuen seine Eltern die ihm nun immerfort im Traum erschienen. Mit der Zeit verlor das Kind jeglichen Lebensmut. Die Unterhaltungen wurden schleppend und mürrisch. Einmal stritt es sich heftig mit einem Nachbarsjungen. Gegen Ende beschimpfte es den Jungen so heftig, dass es sich am nächsten Tag bei ihm entschuldigte. Sie versöhnten sich und das Kind legte dem Jungen versöhnlich den Arm um die Schultern. Die steinernen Schultern gaben keinen Millimeter nach. Da brach das Kind in Tränen aus. Es wurde in sich gekehrter. Es sprach nach wie vor mit den Statuen. Doch es aß kaum noch etwas und saß lange Zeit apathisch da. Dann schlenderte es durch die Gassen und stellte sich vor, es wäre ein Gespenst. Dass es für alle unsichtbar war und deshalb keiner auf es reagierte wenn er vorbeiging. So traf es auf die Katze. Es war mehr als überrascht. Die einzigen lebendigen Wesen die es zu Gesicht bekommen hatte waren Ratten. Diese Katze war für das Kind wie ein kostbarer Schatz, über den es aus Zufall gestolpert war. Sie atmete noch, also schlief sie nur. Ganz behutsam hatte es die Katze hochgehoben und in sein Haus getragen. Und nun hatte sie ihre Farbe gewechselt und starrte es an. Es war schon seltsam. Obwohl die beiden kein Wort miteinander wechselten, wussten sie sofort woran sie einander waren. Denn nun galt es für beide gegenseitige Überlebenshilfe zu gewährleisten. Zunächst päppelte das Kind die Katze auf. Es hatte gegen Ende als kaum noch etwas Essbares aufzutreiben war ein paar Ratten gefangen und diese gehäutet und gebraten verzehrt. Nun suchte es aus den Überresten seiner letzten Mahlzeit ein paar Fasern Fleisch zusammen und gab sie der Katze. Diese fraß alles restlos auf. Hatte sie mit dem Kind doch wieder etwas gefunden für das es sich zu leben lohnte. Was das Kind nicht wusste war, dass sie die Katze insgeheim von seinen Gefühlen ernährte. Davon hatte es nun wieder reichlich zu geben. Und so war es für jemanden der um das Geheimnis der Katze wusste nicht weiter verwunderlich, dass sie schon nach kurzer Zeit wieder so geschmeidig war wie früher. Für das Kind war es also regelrecht schockierend, als es die Katze am nächsten Tag nicht mehr an ihrem Platz auf dem Küchentisch vorfand. Kurz darauf kam sie dann wieder durchs Fenster in die Küche zurück. Im Maul trug sie eine dicke strampelnde Ratte, die sie dem Kind vor die Füße warf. Während das Kind die Ratte häutete und briet, spürte es den durchdringenden Blick der Katze im Nacken. Es beschloss, das Tier am nächsten Tag in die Stadt mitzunehmen, wo es mit den Bewohnern Freundschaft schließen sollte. Also nahm es die Katze am Morgen aus dem Korb und trug sie nach draußen. Die Katze sah ihm aufmerksam ins Gesicht, als sie sich den Statuen näherten. Dann kuschelte sie sich teilnahmslos in seine Arme. Das Kind redete freundlich auf die Statue ein. Die Katze döste. Doch wie erschrocken war sie dann, als die Statue zu reden begann. Sie krallte sich am Arm des Kindes fest und erstarrte. Doch das Kind plauderte munter weiter als ob nichts wäre. Natürlich verstand die Katze nichts von dem was die beiden sich erzählten. Doch auch ein Mensch hört ja schließlich den Unterschied ob zwei Katzen miauten, oder ob es nur eine war. Als sie an einer Reihe von Statuen vorbeigingen, grüßte das Kind diese. Und sie grüßten zurück. Dann unterhielten sie sich. Warum hatte das Kind keine Angst? Als die Katze ihm ins Gesicht sah, merkte sie auch, warum das so war. Auch wenn es eine fremde Stimme war. Das Kind bewegte unmerklich den Mund. Es sprach mit hundert Stimmen. Was hatte die Katze dort nur gefunden? Das Kind unterhielt sich auf diese Weise mit der ganzen Stadt. Da Katzen im Gegensatz zu Menschen Einzelgänger sind, war dieses Verhalten für die Katze nur schwer nachvollziehbar. Eine Katze hätte sich niemals dazu herabgelassen, sich Fantasiefreunde zu suchen. Wenn man als Katze allein war, dann war man es halt. Dennoch beneidete sie das Kind ein wenig um dessen Fähigkeit. Was wäre es für ein Spaß gewesen, Artgenossen mit hundert Stimmen zu verwirren. Seltsam, dass die Katze über Artgenossen nachdachte. Die hatte sie nämlich noch nie angetroffen. Dass das Kind sie um die Fähigkeit die Farbe zu wechseln beneiden könnte, daran dachte die Katze natürlich nicht. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit. So war es auch für das Kind mit den hundert Stimmen. Es merkte nicht, was es tat, wenn es die Stimmen imitierte. Also war es für das Kind auch keine Fähigkeit. Für andere Lebewesen ist Atmen auch keine besondere Gabe. Dieser Neid war ein weiterer Grundstein für ihre unzertrennliche Kameradschaft. Da sie einander nicht verstehen konnten, würden sie auch nicht mit sich prahlen. So konnten sie nicht miteinander streiten. Am Abend legten sie sich zum ersten Mal zusammen in eines der Betten. Obwohl es mitunter sehr warm war, lagen sie dicht beieinander. Die Hände hatte das Kind im langen Fell der Katze vergraben. Und auch das Gesicht verbarg es an der Brust des Tieres. Dies könnte man als zärtliche Geste missverstehen. Tatsächlich war es aber noch ein Körnchen Misstrauen gegenüber der Katze. Wie jedes Kind hatte es die Gerüchte von Katzen gehört, die Kindern im Schlaf den Atem raubten. Auf diese Weise war es vor dieser Finte gefeit. Dass die Katze es auf etwas anderes als den Atem des Kindes abgesehen hatte, konnte es nicht ahnen.
 

Mit der Zeit wurde das Kind beschwingter. Es hüpfte förmlich durch die Stadt und sang manchmal sogar dabei. Es sang mit hundert Stimmen. Mal bildete sich durch das Echo in engen Gassen ein Duett, mal ein Chor daraus. Die Katze tippelte hinterher. Manchmal legte sie sich auch nur auf eine Mauer, legte verstimmt die Ohren an und sah dem Kind dösend beim Tanzen zu. Für sie war menschlicher Gesang nur unzusammenhängender Lärm, den es so gut es ging zu ignorieren galt. Musikalische Katzen gibt es nicht. Es gibt nur Katzen, die ihren Haltern Respekt zollten, indem sie ihn tolerierten. Und die Katze fühlte sich dem Menschen ebenbürtig. Für Heucheleien war in so einer Beziehung kein Platz. Also blieb die Katze wo sie war und tollte nicht mit dem singenden Kind herum, so wie es mancher erwartet hätte. Ein Märchen ist schließlich nicht dazu verpflichtet auf penetrante Art und Weise Lügen zu verbreiten. Es macht nur mehr Spaß.

Mit der Zeit schien es, als würde die Stadt wieder zum Leben erwachen. Zwar wurden die Statuen nicht wieder lebendig. Doch etwas veränderte sich. Es war zunächst die Luft. Sie wurde klarer und frischer. So fragten sich Kind und Katze schon bald, wie sie es überhaupt mit dieser dicken, staubigen Luft von früher ausgehalten haben. Dann änderten sich die Farben. Zuerst lag ein dicker ockerfarbener Schleier auf der Stadt, so dass man den Eindruck bekam, es wäre immer kurz vor Sonnenuntergang. Nun war es als würde die Sonne immer aufgehen. Der Himmel war zwar immer noch bewölkt, aber die Wolken wirkten weniger düster. Und die Atmosphäre war sonderbar. Als würde sich die ganze Umgebung mit ihnen freuen. Statt tot und leer wirkten die Ruinen nun freundlich und lebendig.
 

Die Idylle wurde eines Tages jäh zerstört. Es begann am Morgen, als die Katze sich wohlig in der Sonne räkelte. Da riss sie erschrocken die Augen auf. Sonnenschein? Hier in den tristen Ruinen? Da stimmte doch was nicht. Außerdem war die Luft nicht so klar wie sonst. Sie war schwer und schwül. Wie damals… Damals? Nein, alles nur das nicht. Nicht wieder so ein Erlebnis wie im Moor. Finstere Erinnerungen prasselten auf sie ein. Nein, nicht! Wenn sie diese Tür jetzt öffnen würde, würde sie von der Angst überschwemmt werden. Sie würde keinen klaren Gedanken behalten können. Das durfte sie nicht. Wenn dieser letzte Damm erst einmal brach… Also schloss sie die Tür, drückte sie fest zu, schob einen Riegel vor und legte Ketten an.
 

Bisher hatte die Sonne hier nie geschienen. Wo war das Kind? Panisch sah sich die Katze im Zimmer um. Es war nicht hier. Es musste raus gegangen sein. Warum? Bemerkte es die Veränderung denn etwa nicht? Diese beängstigende Aura. Die Luft stand. Sämtliche Muskeln hatte die Katze angespannt. Ihr Fell kribbelte. Als wäre es statisch aufgeladen. Sie erschauderte. Bald würde sich ihr Haar aufstellen. Das war schon einmal passiert. Wann war das? Sie schüttelte sich. Böse Vergangenheit.
 

Draußen vor der Tür war es erschreckend hell. So hell, dass die Katze die Augen zusammenkneifen musste. Dennoch. Es war kein schöner Tag. Etwas lag in der Luft. Als würde die Zeit still stehen. Die innere Anspannung der Katze wurde stärker. Ihr Fell plusterte sich auf. Wo war das Kind? Wie ein funken sprühender Fellball flitzte die Katze in einem alarmierendem Rot durch die steinigen Gassen. Bald schon hörte sie Schritte. Schnell versteckte sie sich in einer Nische. Doch es war das Kind, das an ihr vorbeieilte. Es schien von Panik erfasst zu sein. Doch wie konnte das sein? Es nahm doch niemals emotionale Schwingungen so gut wahr wie eine tausendfarbige Katze. Daran lag es auch nicht. Das stellte sie spätestens dann fest, als purpurne Nebelschwaden die Gassen fluteten. Sie krochen die porösen Mauern hoch und wurden immer dichter. Schnell kroch die Katze aus ihrer Nische und sprang auf eines der Dächer. Die ganze Stadt schien im Nebel zu schwimmen. Nur noch die Dächer waren zu sehen. Von dem Kind keine Spur. Doch da! Da klammerte es sich an eine Dachrinne und versuchte hinaufzuklettern. Doch ach. Immer wieder rutschte es ab und strauchelte. Die Katze blieb wo sie war. Was hätte sie auch anderes tun sollen? Zu ihm eilen? Und dann? Hinaufziehen konnte sie es wohl nicht. Vielleicht hätte sie es sogar so irritiert, dass es endgültig abgestürzt wäre. So blieb sie sitzen und beobachtete es weiterhin. Es sah bisher auch nicht allzu schlecht für das Kind aus. Wenn es so beharrlich weiter kletterte, würde es schon bald in Sicherheit sein. Und selbst wenn es fiele. Es war ja nicht sicher, dass der Nebel giftig war. Vielleicht machten sie sich ganz umsonst diese Mühe. Vielleicht war er total ungefährlich. Aber es war besser kein Risiko einzugehen. Außerdem konnte der Nebel nicht bis auf die Dächer steigen. Die lagen nämlich höher als die Stadtmauer, an der sich die Schwaden bauschten. Und daher… Die Katze blinzelte. Da war etwas! Auf der Stadtmauer. Etwas bewegte sich dort. Es waren die steinernen Dornenranken. Wie war das möglich? Die baumstammdicken Ranken ragten zum Himmel empor. Sie bildeten einen Wall, der die Stadtmauer anwachsen ließ. Somit stieg auch der Nebel bis über die Dächer. Da nützte es auch nichts, dass das Kind nun keuchend auf dem Dach lag. Nun konnte sie immerhin bedenkenlos zu ihm hin springen. So sprang sie aufgeregt von Dach zu Dach. Auf jedem Dach wechselte sie die Farbe. Das geschah bei ihr bei Gefahr automatisch und bot ihr oft Schutz vor Greifvögeln. So verwirrte sie diese. Sie sahen nur auf die Farbe der Beute. Und wenn diese ihre Farbe wechselte… Dann war es als würde der Greifvogel eine ganze Horde verfolgen müssen. Das irritierte sie. Mal rot mal schwarz mal blau… Die Farbenwahl schien keine Grenzen zu kennen. Man erzählte sich, dass sie sogar solche Farben erzeugen konnte, von denen man den Namen noch nicht kannte. Für einige musste man erst noch Namen erfinden. Doch davon ahnte die Katze natürlich nichts. Für sie war es eine Notwendigkeit. Sonst nichts. Nicht der Rede wert. Mann konnte sich nicht hinsetzen und über das Weglaufen nachdenken, während man vor etwas weg lief. Und wenn man Zeit hatte, darüber nachzudenken? Dann hatte man Wichtigeres im Kopf. Was solche Dinge betraf, musste man auf seine Instinkte vertrauen. Sie hatte die Hälfte des Weges bereits hinter sich gebracht, als ihr etwas am Horizont auffiel. Etwas flog von dort auf die Stadt zu. Für einen Greifvogel war es zu groß und zu unförmig. Es sah aus wie ein fliegendes großes Tuch. Plötzlich stürzte es hinab. Es landete auf dem gleichen Dach auf dem das Kind lag. Alarmiert sprang die Katze weiter auf ihr Ziel zu. Ihr Fell hatte sich wieder gesträubt. Doch das hatte diesmal auch einen guten Aspekt. So konnte sie im Sprung den Wind auffangen. Sie segelte wie ein bunter Wattebausch von Dach zu Dach. Schließlich konnte sie bereits erkennen, was dort vor sich ging. Das was vom Himmel gefallen war stand nun aufrecht bei dem Kind. Was genau es war, konnte die Katze noch nicht erkennen. Es trug einen weiten Kapuzenmantel, der im Wind flatterte. Die Katze kam fauchend zum Stillstand. Das Wesen beugte sich über das Kind, das noch immer keuchend am Boden lag. Der Nebel wurde dichter. Das Wesen hob das Kind an. Die Katze zögerte noch immer. Sollte sie wirklich eingreifen? Aber das lag nicht in der Natur von Katzen. Katzen beobachteten und flüchteten. Sie kämpften nur um ihr eigenes Leben. Nicht so wie Hunde. Die verteidigten auch ihren Herrn bis auf die Knochen. Aber von einer Katze, die für andere kämpfte, hatte man noch nie gehört. Mit einem Mal fühlte sie, dass ihre Barthaare nass waren. Die Nässe kam von ihren Augen. War das wegen dem Nebel so? Mittlerweile schoben sich die Dornenranken bereits über den Himmel. Dieser hatte sich durch den Nebel Purpur gefärbt. Die Katze wusste nicht, wie ihr geschah. Was konnte sie jetzt noch tun? Alle Fluchtwege waren versperrt. Würde sie nun das Zeitliche segnen? War das denn so schlimm? Schließlich hatte sie sich schon einmal auf der Schwelle des Todes befunden. Und damals war ihr der Tod aufgrund ihrer schlimmen Lage wie eine Erlösung vorgekommen. Jetzt war ihre Lage sogar noch schlimmer. Und dennoch. Sie war damals nicht gestorben. Und sie konnte auch jetzt nicht sterben. Der Grund damals der gleiche wie jetzt. Sie lebte nur noch weil… Entschlossen nahm sie ein letztes Mal Anlauf und sprang. Der Aufwind gab ihr so viel Schub, dass sie fast über ihr Ziel hinaus schoss. Hecktisch kratzten ihre Krallen über das Dach als sie aufkam. Dann stand sie vor der Gestalt. Sie hatte ihr den Rücken zugewandt. In ihren Armen lag das Kind. Die Katze wusste nicht, wie sie einen so großen Gegner angreifen sollte, nicht einmal wenn ihr eigenes Leben davon abhängen würde. Einen Gegner von hinten zu attackieren war bisher immer ein guter Plan gewesen. Aber dieser Gegner war definitiv zu groß. Sie würde in jeder Hinsicht unterliegen. Außerdem war noch nicht klar, was das Wesen vorhatte. Vielleicht wollte es sie zunächst gar nicht töten. Und wenn sie es von hinten ansprang, zwang sie es ja wohl dazu, sich zu verteidigen. Aber wenn sie gar nichts tat, würde es sich mit dem Kind davonmachen. Zuallererst musste sie also auf sich aufmerksam machen. Sie tat etwas für Katzen höchst Ungewöhnliches. Sie legte den Kopf in den Nacken und schrie. Das heißt, sie versuchte es. Doch es kam nur ein klägliches Maunzen heraus. Sie wurde nicht beachtet. In ihr brodelte die Wut. Es war ihr unmöglich, sich noch weiter zu beherrschen. Sie nahm Anlauf. Sie sprang. Sie öffnete ihr Maul weit.

„GROAAAR!“

Die Gestalt wandte den Kopf über die Schulter. Was sie sah, war eine blauschwarze Katze, die auf sie zu flog. Die Augen und das Maul weit aufgesperrt. Allerdings hatte sie ihre Augen nicht vor Wut aufgerissen, sondern vor Verblüffung. Verblüffung über das Löwengebrüll, das sich ihrer Kehle entrang. Und doch. Es war nur eine Katze. Die Gestalt zischte gereizt. Sie fing die Katze mit einer Hand aus der Luft und musterte sie. Dabei hielt sie das Tier so von sich gestreckt, dass es nicht unter die Kapuze blicken konnte. Die Katze versuchte in die Hand zu beißen. Schließlich warf das Wesen sie achtlos beiseite. Es hob das Kind erneut an. Auf seinem Rücken breiteten sich lederne rotschwarze Schwingen aus. Nein! Die Katze krallte sich an den Schwingen fest und versuchte sie zu zerfetzen. Erfolglos. Sie kreischte, biss und gebärdete sich wie toll. Immerhin hielt sie es damit vom wegfliegen ab. Das war genug. Das Wesen änderte seine Taktik. Es versuchte nicht mehr die Katze abzuschütteln. Es versuchte sie zu packen. Doch sei glitt ihm immer wieder durch die Hände. Sie wand sich um es herum. Schließlich ging ihr die Puste aus. Die Gestalt packte sie. Sie hob sie hoch. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit. Sie hatte sich davor gescheut, doch jetzt musste sie es letztendlich doch tun. Die tausendfarbige Katze beherrschte einen Angriff, der ihren Gegnern das Leben kosten konnte. Die gefürchtete Seelenmarter. Dabei wurde die Seele des Gegenübers zerquetscht und verschlungen. Dazu mussten allerdings gewisse Bedingungen erfüllt werden. Die Seele des Gegners musste komplett gelesen werden. Dazu musste der Kern der Seele regelrecht gewaltsam geknackt werden. Selbst wenn der Gegner anschließend entkam, trug es einen schweren seelischen Schaden davon. Also konzentrierte sie sich. Sie streckte unsichtbare Fühler nach der Seele des Wesens aus… und schrak zurück. Dort war nichts. Ein riesiger Abgrund erstreckte sich vor ihrem inneren Auge. Das Wesen starrte nur zurück. Nun konnte die Katze zum ersten Mal seine Augen sehen. Sie waren rötlich, purpurn. Im Grunde war es nicht wichtig. Die Katze hatte ja keine Namen für Farben. Aber sie wusste, wie menschliche Augen aussahen. Nicht so. Das Wesen schien einen Entscheidung getroffen zu haben. Es hob das Kind mit einem Arm hoch und hielt die Katze mit dem anderen an sich gepresst. Es spreizte seine ledernen Schwingen auf dem Rücken. Nachdem es kurz in die Knie gegangen war, stieß es sich vom Boden ab und schoss mit den Beiden nach oben. Der Katze verschlug es den Atem. So schnell sauste die Luft an ihr vorbei. Dann folgte der Schreck. Sie sah nach oben. Die Dornen hatten den Himmel fast zur Gänze bedeckt. Nur noch eine kleine Lücke über ihnen war noch offen. Die Katze wollte vor Angst die Augen schließen. Doch der pfeifende Wind zog ihr förmlich die Augenlieder zurück, während sie nach oben starrte. So beschränkte sie sich auf einen raschen Wechsel der Fellfarben. Dies alles geschah im Bruchteil von Sekunden.
 

Wir sehen das Wesen empor steigen. Weiter und weiter. Und die Lücke am Himmel. Sie wurde winziger und winziger. Ein kleiner Lichtstrahl. Er fiel durch die Dornendecke und tauchte die Gestalt mitsamt ihren Begleitern in ein helles Licht. Dies war ihr letzter Akt auf dieser Bühne. Ein wahrer Akteur wurde nicht von der Bühne beherrsch, sondern beherrschte die Bühne selbst und er wusste auch, wann er sie zu verlassen hatte. Und egal, wie dieser Akt enden würde, sie würden ganz gewiss keine Zugabe geben, sobald der Vorhang gefallen war.



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