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Collide

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Uuuuuuuuuuuuuuuuh... endlich, dieses Kapitel hab ich so (oder so ähnlich) tatsächlich seit neun Jahren im Kopf... und endlich komm ich dazu, es zu schreiben ^___^/ Komplett anzeigen

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André warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, bis seine Schicht anfing. Genug Zeit für einen Kaffee. Mit einem Gähnen stand er wieder von der äußerst bequemen Couch im Pausenraum des 'Paradise Hill' auf, und machte die Kaffeemaschine an. Die Nacht würde interessant werden. Er hatte definitiv nicht genug geschlafen, aber wenigstens war es nur eine kurze Schicht. Und sobald er draußen war, umgeben von der Menge an Gästen, die einfach nur tanzen und Spaß haben wollten, und den Beat spürte, würde er schon wach werden. Und das Haus rocken, wie immer.
 

„Hey, du bist schon da!“
 

Ein Kribbeln breitete sich in seinem Nacken aus. Mit einem Lächeln drehte er sich zu Adam, der sich neben ihn gestellt hatte, und drückte ihm einen kurzen Begrüßungskuss auf die Lippen. Weich und süß, wie immer.
 

„Ja, irgendwie hab ich viel zu früh das Haus verlassen.“ Er lehnte sich mit dem Rücken an den Küchentresen und beobachtete Adam, wie er sich seine heiße Schokolade zubereitete. Es war ein Wunder, dass der Junge nicht regelmäßig einen Zuckerschock bei seinen Trinkgewohnheiten erlitt. „Du hast Pause?“
 

„Mhm, zum Glück. Es ist mega voll draußen.“
 

Adam verdrehte die Augen. Die wunderschönen, kristallblauen Augen. Die, die einen so intensiv anstarren konnten. So unschuldig. So traurig. Er hatte sich zuerst in diese Augen verliebt. Innerlich gab er sich einen Arschtritt. Der Zug war abgefahren. Adam war jetzt mit Leon zusammen. Und auch, wenn er nicht glaubte, dass das dauerhaft halten würde, er hatte keine Chance. Für Adam gab es nur Leon. Vermutlich für immer.
 

Und eigentlich war es lächerlich. Es war nicht das erste Mal, dass er verliebt war. Auch nicht das erste Mal unglücklich. Aber jedes Mal, wenn er Adam ansah, seine Augen, seine Haare, die sich im Nacken leicht kräuselten, sein süßes Lächeln, immer ein wenig unschuldig und ein wenig frech, wurde er doch wieder schwach. Mit seiner unerfüllten Liebe befreundet zu sein und zusammen zu arbeiten war wirklich nicht empfehlenswert.
 

So langsam sollte er wohl mal mit sich selber klar kommen. War Zeit, sich wieder ein paar heiße Dates zu organisieren.
 

„Wie war deine Weihnachtsfeier mit Leon?“
 

Und jetzt bitte: Smalltalk! Wenn er schon nicht Adams Partner sein konnte, so wollte er wenigstens sein Freund sein.
 

Adam sah ihn mit einem zutiefst genervten Blick an.
 

„Genauso, wie man sich das vorstellen kann. Ganz viel Blingbling, ganz viel Kohle und ganz viel sinnloses Geschwätz. Ernsthaft, an dem Abend hat Muse hier gearbeitet, und ich hab ihn dermaßen beneidet, das glaubst du gar nicht.“ Er nahm einen Schluck von seiner Schokolade und schloß kurz genießerisch die Augen. „Mhm. Du warst bei deinen Eltern über die Feiertage, oder? Wie war's?“
 

Diesmal war es an André, einen genervten Seufzer von sich zu geben.
 

„Ich durfte die herzallerliebste, supersüße Singletochter von einer der Freudinnen von meiner Mutter kennenlernen. Diesmal hat meine Mutter auf den Typ 'Süß mit riesigen Möpsen' gesetzt. Und damit mein ich nicht die Hunde.“
 

„Ernsthaft?“ Adam lachte leise auf. Mhm, er liebte dieses Lachen. Verdammt. „Gibt sie immer noch nicht auf?“
 

„Leider nicht. Sie denkt immer noch, dass alles wäre eine pubertäre Phase, und es braucht nur das richtige Mädel kommen. Irgendwie will sie auch nicht verstehen, dass man mit 26 schon länger aus der Pubertät raus ist.“
 

„Oh, apropos Pubertät.“ Er grinste. „Thomas meinte, er müsste dringend was mit dir besprechen. Du sollst in sein Büro kommen, sobald es geht.“
 

André musste sein Grinsen erwidern. Die Assoziation passte ganz gut. Thomas, der Besitzer des 'Paradise Hill', war bereits Ende 40, groß, hatte eine Glatze, Vollbart und ein Kreuz wie ein Schrank, benahm sich aber für gewöhnlich nicht unbedingt so. Er verliebte sich täglich neu, wobei seine Opfer von süß und niedlich bis zu supermännlich und megaschwul reichten. Dabei nölte er sie seine Mitarbeiter regelmäßig mit seinen neusten Eroberungen – oder dem neuesten Liebeskummer – zu und ließ sie an seinen liebestollen Gedanken teilhaben. Bei ihm hatte man tatsächlich öfter das Gefühl, dass die Pubertät ihn voll im Griff hatte. An und für sich war er aber ein guter Kerl. Er engagierte sich mit Herzblut in der schwulen Szene, und sein Haus war die Anlaufstelle Nummer 1 für jeden, der sein Herz ausschütten musste, und die Tür stand dementsprechend – im wahrsten Sinne des Wortes – immer offen. Ihn und André verband seit über zehn Jahren eine lose, aber gute Freundschaft. Seit der Zeit, als André selber noch ein hilfloser Junge auf der Suche nach seiner eigenen Identität gewesen war. Eine Zeit, die er zum Glück schon lange hinter sich gelassen hatte.
 

„Na, dann geh ich lieber.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Ich muss mich auch noch aufwärmen und umziehen. Hoffentlich dauert es nicht zu lang.“ Mit einem verschmitzten Lächeln warf er Adam eine Kusshand zu. „Bis später!“
 

Auf dem Weg zu Thomas' Büro hörte er den Bass aus dem Tanzraum. Es kribbelte ihn in den Fingern, oder besser gesagt, in den Füßen, endlich raus zu gehen. Er liebte das Tanzen. Sich zu der Musik zu bewegen, sie in sich zu spüren, sie in Bewegung umzuwandeln, er konnte sich nichts besseres vorstellen. Er grinste. Tatsächlich, nicht mal Sex war so gut, wobei es immerhin sehr nah rankam.
 

Nach einem kurzen Klopfen betrat er das Büro. Es war kitschig wie immer. Die Wände waren voll mit Fotos von Mitarbeitern, ehemaligen Mitarbeitern, vielleichthoffentlichzukünftigen Mitarbeitern, beste Freunde, beste Feinde, beste Gäste, Leute, die keiner kannte, aber irgendwie mega Spaß hatten, Tänzer, Barkeeper, Ex-Lover und und und. Dazwischen befanden sich Postkarten, Eintrittskarten, Flyer, Buttons, Fähnchen, Blümchengirlanden, Schals und was man sich sonst noch alles als Erinnerungsstück irgendwohin hängen konnte. Es wirkte nicht wie ein Büro, sondern wie ein Sammelsurium an Erinnerungen. Zumindest wurde es einem nicht langweilig, wenn man hier mal länger auf den Chef warten musste, weil er sich mal wieder mit irgendwem irgendwo festgequatscht hatte.
 

„Hey, du wolltest mich sprechen?“
 

„André!“ Thomas sprang direkt auf, umschlang ihn mit einer Bärenumarmung und drückte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange. „Mein Mann! Wie war dein Urlaub? Wieder ein paar süße Mädels kennengelernt?“
 

„Ja, wie immer. Meine Mutter lässt dich schön grüßen.“ Er lächelte und ließ sich auf einen der bequemen Sessel nieder. Thomas fand, Stühle im Büro waren viel zu spießig, also hatte er Sessel für seine Gäste aufgestellt. Sessel mit einem gräßlichen, roten Überwurf und bunten Plüschkissen. Ernsthaft, er war ein einziges, laufendes schwules Klischee. Wenigstens war er nicht Raumausstatter oder Friseur. „Ich muss mich gleich fertig machen. Adam hat gesagt, du willst mit mir reden?“
 

„Ehm.... ja.“ Nervös knetete Thomas seine Finger. „Machen wir es kurz und schmerzlos. Ich hab eine Bitte an dich.“ Er holte tief Luft. „Also... ich war über die Weihnachtsfeiertage bei meiner Schwester.“
 

Er machte eine Pause. Eine lange Pause. André zog fragend eine Augenbraue hoch. Unter kurz und schmerzlos verstand er was anderes.
 

„Jaaaa?“
 

„Mein Neffe... er wurde von der Schule geschmissen. Das Umfeld, in dem er momentan ist... naja, es ist nicht so gut für ihn. Er ist erst 15 und leicht zu beeinflussen und... naja... hat wohl ein bisschen Probleme.“
 

Wieder eine Pause. Thomas' Augen fixierten André flehentlich, doch der zuckte nur mit den Schultern.
 

„Worauf willst du hinaus?“
 

„Naja... ich hab mit meiner Schwester gesprochen... ich möchte den Jungen da raus haben, er braucht ein anderes Umfeld, jemand, der ihm ein bisschen Halt gibt. Er ist noch so... naja, unerfahren, unschuldig und so. Deswegen... ich hab ihn schon hier an der Schule angemeldet, er kommt nach Silvester hierher.“
 

„Okay.“ André runzelte die Augenbrauen. „Was hat das mit mir zu tun?“
 

„Najaaaaaa...“ Für Andrés Geschmack hatte dieses Gespräch zu viele 'najas'. „Du weißt, wie es bei mir zu Hause ist. Es sind immer fremde Leute da... und dauernd kommt oder geht jemand... und einige Leute sind jetzt auch nicht so empfehlenswert für einen 15jährigen...“
 

„Thomas...“ So langsam ahnte er, worauf das alles hinauslaufen sollte.
 

„Und deswegen dachte ich, er könnte vielleicht bei dir eine Zeit lang wohnen? Bittedaswürdemirsehrhelfen!!!“
 

„Thomas!“ Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Sah nicht so aus, als ob er es pünktlich auf die Bühne schaffen würde. „Ist das dein Ernst? Ich soll irgendeinen fremden Jungen bei mir aufnehmen? Du weißt, dass ich ein Loft habe? Ich hab nicht mal ein zweites Bett... soll er die ganze Zeit auf der Couch schlafen, oder was?“
 

„Du hast doch die Galerie!“ Thomas' Gesicht erstrahlte. Anscheinend hatte er dieses Argument erwartet, und schon das richtige Gegenargument vorbereitet. „Du nutzt die doch nicht, da würde ein Bett hinpassen. Ich kauf das naürlich auch. Und du kriegst Geld für alle Ausgaben und alles.“
 

„Thomas, das ist immer noch ein Loft!“ Hilflos rieb sich André übers Gesicht. Das war so ziemlich die dümmste Idee, die sein Chef jemals gehabt hatte. Und er hatte schon einige dumme Ideen gehabt. „Da gibt es nicht eine einzige Tür. Wie stellst du dir das vor? Soll ich den Kleinen immer rausschmeißen, wenn ich Besuch bekomme?“
 

„In letzter Zeit hast du aber keinen mehr abgeschleppt.“
 

„In letzter... Zeit, ja, aber ich hab vor, das wieder zu ändern. Die Idee ist bescheuert!“
 

„Ich bitte dich!“ Thomas legte seine Hände bittend zusammen. „Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Ich vertraue dir, bei dir hat er es gut. Und von seiner Mutter muss er weg, ernsthaft. Jede Sekunde, die er dort verbringt, schadet ihm. Er ist echt ein süßer Junge, er wird dir keinen Ärger machen.“
 

André starrte ihn fassungslos an. „Über welchen Zeitraum reden wir hier denn?“
 

„Mhm, bis ich einen Ort gefunden habe, der passender ist. Vielleicht kann ich ja auch einen Bereich bei mir im Haus abgrenzen. Auf jedenfall... keine Ahnung, ein, zwei Monate?“
 

„Ein, zwei Monate???“ Seine Stimme überschlug sich fast.
 

„Bitte!!!“
 

Mit einem entnervten Seufzer schloß André die Augen und massierte sich die Schläfen. „Wirklich, Thomas. Wie kommst du auf die bescheuerte Idee? Ich bin auch den ganzen Tag unterwegs, oder hier im Club. Ich hab keine Ahnung von Jugendlichen, und meine Babysitterqualitäten sind auch eher mäßig.“ Er fixierte seinen Chef. „Der Junge wäre den ganzen Tag allein. Und die Nacht. Mein Kühlschrank ist mit Bier und Tiefkühlpizza gefüllt. Warum fragst du nicht einen der anderen Jungs? Ich kann mir vorstellen, dass Adam ihn aufnehmen könnte, seine Eltern sind ziemlich locker drauf. Und wir haben noch einige andere... die Partner haben, die einen festen Rhythmus haben. Jeder wäre besser geeignet als ich.“
 

Thomas verzog seinen Mund zu einem leichten Schmollen und verschränkte die Arme. „Das glaube ich nicht. Wenn ich nicht wüsste, dass er bei dir gut aufgehoben ist, hätte ich dich nicht gefragt. Besser als bei allen anderen, da bin ich mir sicher. Du bist immer sehr... unverbindlich, ich weiß. Aber du bist ein guter Kerl, und übernimmst Verantwortung. Du würdest ihn nicht im Stich lassen, wenn er Hilfe braucht.“
 

Andrés grüne Augen funkelten ihn leicht verärgert an. „Ich möchte aber nicht in der Position sein, Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich möchte Spaß haben, Thomas. Chillen, weggehen, irgendwelche Typen aufreißen und ne geile Nacht haben. Und mir nicht überlegen müssen, dass zu Hause noch irgendein kleiner Junge wartet, der kein Abendessen hatte. Ich kann nicht mal kochen, verdammt. Willst du, dass er sich die nächsten Monate nur von Pizza und Fertigbolognese ernährt?“
 

„Bitte. Wenn es gar nicht geht, finde ich eine Lösung, aber bitte... wenigstens für ein, zwei Monate. Wenigstens, bis ich irgendwie was geregelt bekomme.“
 

Für einen Moment starrten sie sich an. Was für ein verplanter Tagträumer er auch sonst war, diese Sache schien Thomas tatsächlich ernst. Gut, es ging ihm um seinen Neffen. Er hatte nicht oft von ihm oder seiner Schwester erzählt, aber scheinbar war dort noch nie alles eitel Sonnenschein gewesen. Und vielleicht würde André dann auf andere Gedanken kommen, wenn er sich um den Kleinen kümmern sollte. Auch wenn ihm der Mangel an Privatssphäre schon jetzt auf den Sack ging.
 

„Okay. Ein, zwei...“
 

Weiter kam er nicht. Mit einem lauten „Jippie“ fiel ihm sein Chef um den Hals und erdrückte ihn fast in seiner Umarmung.
 

„Du bist der Beste! Superdupermegageil. Ich geh gleich morgen das Bett kaufen! Und klär alles! Er kommt dann kurz nach Silvester, denke ich. Ich geb dir dann ein paar Tage frei, dass du genug Zeit hast, um ihn kennenzulernen. Das wird super! Echt, ihr werdet euch prächtig verstehen!“
 

André wand sich aus der Umarmung, starrte Thomas nur entgeistert an und verdrehte dann die Augen. Und hoffte, dass dieser Neffe nicht das Temperament seines Onkels geerbt hatte. DAS würde er bestimmt nicht mal zwei Wochen durchstehen, geschweige denn zwei Monate.
 

„Okay... ehm, wir klären später alles? Ich geh dann, ich muss eigentlich schon längst auf der Bühne stehen.“
 

„Ja, ja, ich danke dir tausendfach! Tanz dir die Seele aus dem Leib, mach dir einen schönen Abend! Du hast was gut bei mir! Ich liebe dich, Junge!!!“
 

Mit einem schiefen Grinsen verließ André das Büro fast schon fluchtartig, und begab sich nochmal kurz zum Pausenraum. Hatte er sich ernsthaft auf diesen Schwachsinn eingelassen? Naja, ein 15jähriger war kein Baby mehr, der konnte sich bestimmt selber bespaßen. Und wenn er, wie der Chef es sage, süß und nett war, würden sie schon irgendwie zurecht kommen. Trotzdem... er brauchte jetzt Kaffee, dringend einen starken, schwarzen, von den Toten erweckenden Kaffee. Adam hatte immer noch Pause, inzwischen hatte sich jedoch auch Muse zu ihm gesellt. Bei seinem Eintreten blickten sie ihn an, zuerst neugierig, dann etwas besorgt.
 

„André... alles okay? Du siehst blass aus. Schlechte Nachrichten vom Chef?“
 

„Schlechte Nachrichten?“ André rieb sich den Nacken. „Nein, nein. Cheffe meint nur, mein Leben auf den Kopf stellen zu müssen. Sonst nichts.“
 

Und irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass er damit richtiger lag als ihm lieb war.
 

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Das Bier zischte leise, als André den Verschluss öffnete. Müde starrte er aus dem Fenster. Der Ausblick war grandios. Es hatte schon was, im siebten Stock zu wohnen. Dadurch, dass es das höchste Gebäude in der Umgebung war, hatte er eine umfassende Aussicht, und konnte so regelmäßig die nächtliche Skyline überblicken mit den zahlreichen Lichtern und beleuchteten Straßen. In Kombination mit einem Feierabendbier und guter Musik war es Entspannung pur. Oder zumindest eine gute Vorbereitung auf spätabendlichen Besuch.
 

Er seufzte. Eigentlich steckte ihm noch der Silvesterkater – und, genau genommen, auch der Nachsilvesterkater – in den Knochen, aber heute kam Thomas mit seinem zukünftigen Mitbewohner. Sie wollten immerhin Pizza mitbringen, so musste er nicht kochen... oder das, was man bei ihm unter Kochen verstand. Er war schon froh, Nudeln halbwegs hinzubekommen und sie mit einer Tomatensauce zu vermischen, aber tatsächlich bestand sein Speiseplan hauptsächlich aus Fertiggerichten und Lieferserviceessen. Ernsthaft, wie sollte er sich denn bitte um einen Jugendlichen kümmern können?
 

Passend zu seinen Gedanken klingelte es. Er seufzte nochmal, und bemühte sich, ein etwas freundlicheres Gesicht zu machen. Es war besser, wenn er wenigstens versuchte, gut mit seinem Besuch zurecht zu kommen. Der Kleine konnte ja wirklich nichts für die Situation. Nachdem er die Musik leiser gedreht hatte, öffnete er die Tür, und noch bevor er irgendwas sagen konnte, wurde er direkt in eine feste Bärenumarmung gedrückt.
 

„André! Wir sind da!!!“
 

„Uff... ist mir aufgefallen.“ Er schnüffelte. „Und die Pizza auch.“
 

„Ja, natürlich, wir haben an alles gedacht!“
 

Thomas grinste ihn an, bevor er sich nach hinten umdrehte. Durch seine Größe nahm er quasi die gesamte Breite der Eingangstür ein, so dass er alles verdeckte, was sich hinter ihm befand. In diesem Fall auch den Jungen, der etwas verloren wirkte, während er die Pizzakartons in einer Hand balancierte und mit der anderen einen Rucksack festhielt. Neben ihm stand eine riesige Sporttasche, die bis zu der überschwänglichen Begrüßung vermutlich Thomas getragen hatte, ganz Gentleman, sozusagen.
 

„Kommt erstmal rein.“ André winkte sie ins Innere und schloß hinter ihnen die Tür. Während die beiden ihre Sachen ablegten, brachte er die Pizzakartons zur Küchentheke, stellte einige Teller und Besteck heraus, und wendete sich dann den beiden zu. „Okay, jetzt erstmal die Vorstellungsrunde. Ich bin André.“
 

Er streckte dem Jungen die Hand entgegen und nutze die Gelegenheit direkt, um ihn zu musstern. Der Junge war mindestens einen Kopf kleiner als er und eher schmächtig. Seine schulterlangen, rotblonden Haare fielen ihm ins Gesicht und wirkten, als ob er gerade frisch aus dem Bett gekrochen wäre. Zum Teil bedeckten sie seine Augen, die er auch eher auf den Boden gerichtet hatte. Als er Andrés Hand ergriff, blickte er ihn jedoch direkt an. Graublau, ein bisschen wie ein schmutziger Regenhimmel. Zusammen mit der Stupsnase und den zahlreichen Sommersprossen gab er tatsächlich das perfekte Bild eines unfertigen, süßen Jugendlichen ab, der die Welt erstmal noch kennenlernen musste. Sein Handgriff war jedoch fest und warm.
 

Na, vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden wie gedacht.
 

„Cyril.“ André merkte, wie der Junge seinerseits ihn musterte, und dann leicht lächelte. Seine Stimme war leise, schüchtern. „Die meisten nennen mich Cy.“
 

„Ihr versteht euch ja schon prima!“ Thomas klatschte begeistert in die Hände und strahlte sie mit einem riesigen Grinsen an. „Dann lasst uns doch erstmal essen, ich habe einen Mordshunger! Und dann kannst du ihm das Loft zeigen, André.“
 

„Mhm. Was wollt ihr trinken?“ Während Thomas es sich auf einem der Barhocker bequem machte, öffnete er den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. „Ich habe Wasser, Cola, Saft...“
 

Er zuckte kurz zusammen, als etwas ihn am Oberarm berührte. Cyril war hinter ihn getreten und lugte an ihm vorbei in den Kühlschrank, wobei er ihn mit seiner Wange gestreift hatte. Jetzt sah er ihn von unten herab mit großen Augen an.
 

„Cola?“
 

„Okay...“ André strich sich verwirrt durch seine kurzen, braunen Haare. Der Junge schien vertrauensvoller zu sein als erwartet. Er wirkte ein wenig wie ein verlorenes Kätzchen, das jetzt seinen Erretter vor sich hatte. Hoffentlich war er nicht wirklich so anhänglich wie er jetzt wirkte.
 

Die Abendunterhaltung bestritt hauptsächlich Thomas, während sie ihre Pizza aßen. Er berichtete von allen möglichen Leuten, die er kennengelernt hatte, den neuesten Begebenheiten im Paradise Hill, den neusten Besuchern in seinen eigenen vier Wänden, und natürlich, nahezu minutiös, wie die Hin- und Rückfahrt für die Abholung von Cyril gewesen war. Cyril blieb weitestgehend still, nickte nur hin und wieder oder gab zustimmende Laute, wenn es von ihm erwartet wurde, so dass André der einzige Gesprächspartner blieb. Es dauerte über zwei Stunden, bis nicht nur die Pizza vertilgt, sondern auch der Gesprächsbedarf von Thomas halbwegs gedeckt war.
 

„So, ich mach mich dann mal auf die Socken. Wie sieht es morgen aus? André, kannst du Cy bei mir vorbei bringen, dass er auch mal mein Haus kennenlernt?“
 

„Ich...“ André warf einen kurzen Blick zu dem Jungen. „Ich muss eigentlich bis zum Nachmittag arbeiten... danach würde es gehen.“
 

„Schon okay.“ Mit einem Lächeln hob Cyril abwehrend beide Hände. „Ich habe Google Maps, und ich weiß, wie man die Öffentlichen benutzt. Ich werde dein Haus schon finden, Onkel Thomas. André muss sich nicht bemühen.“
 

„Super, super, dann bis morgen, Cy.“
 

Thomas verteilte nochmal ausgiebig Küsschen, bevor er wie ein Wirbelwind aus der Haustür verschwand und die beiden sich selber überließ. André seufzte leise. Was redete man mit so einem Jugendlichen?
 

„Ehm...“ Er machte eine ausladende Bewegung. „Dann, willkommen. Ich würde dich ja rumführen, aber... eigentlich sieht man hier ja direkt alles, was es zu sehen gibt.“ Mit einem Nicken deutete er auf den Schreibtisch in einer Ecke des Raumes und auf den Fernseher. „Du kannst an den PC und den Fernseher, wie es dir beliebt. Bedien dich bei allem, was du brauchst. Fühl dich wie Zuhause.“
 

„Mhm.“ Cyril sah sich fragend um. „Wo... schlaf ich?“
 

„Ach, ja. Komm.“ André nahm seine Tasche und führte ihn die Treppe zur Galerie hoch. Der Bereich war zwar nicht sehr groß, doch reichte er für das Ein-Mann-Bett, die kleine Kommode und die Nachttischlampe völlig aus. „Im Moment ist hier nur das Bett, aber wir können bei Bedarf noch was dazu holen. Du brauchst vielleicht noch einen Schreibtisch, oder? Und eine Kommode oder so.“
 

„Mhm.“
 

„Bist du müde? Du kannst dich ruhig hinlegen. Der Tag war lang. Ich leg dir im Bad ein paar Handtücher raus, die kannst du dann immer nutzen.“
 

„Mhm, danke. Ich bin wirklich müde. Ich glaube, ich schmeiß mich direkt ins Bett.“
 

„Okay, dann... gute Nacht. Ich muss morgen früh raus, aber lass dich davon nicht stören. Im Kühlschrank findest du alles für's Frühstück.“
 

„Mhm.“
 

Sonderlich gesprächig wirkte der Kleine ja nicht. Sich am Kopf kratzend ließ André Cyril alleine, der immer noch ein wenig verloren vor seinem Bett stand. Naja, er war alt genug, um selber ins Bett zu finden. Vielleicht hatte er auch Heimweh. Die genauen Gründe, warum Thomas ihn so schnell wie möglich aus seinem Zuhause weghaben wollte, hatte er ihm leider immer noch nicht verraten, aber vielleicht war es auch zu privat. Ärger mit der Mutter oder sowas. Er würde es schon noch erfahren, und im Moment spielte es eh keine große Rolle.
 

André gähnte. Schlafen war keine schlechte Idee, wenn er es sich recht überlegte. Thomas' Quasi-Monolog zum Abendessen, das Bier und die Restmüdigkeit von Silvester machten ihn ziemlich fertig. Und morgen müsste er wieder in der Art School auftauchen. Er mochte zwar beide seine Jobs – Gogo-Tänzer im Paradise Hill und Tanzlehrer in der International Art School –, aber der Wechsel von Tag- und Nachtschichten konnte durchaus ziemlich anstrengend sein. Wobei er mit seinem Leben trotzdem ziemlich zufrieden war.
 

Nachdem er die Lichter ausgemacht und sich passende Shorts angezogen hatte – normalerweise schlief er gerne nackt, doch in Anbetracht seines Besuchs fand er das weniger angemessen –, ließ er sich auch müde in sein Wasserbett fallen. Von Cyril hatte er auf der Galerie nichts mehr gehört, scheinbar war der Junge tatsächlich direkt schlafen gegangen. Na, es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen. Sie würden noch genug Zeit haben, sich gegenseitig ausgiebig kennen zu lernen. Und mit diesem Gedanken fiel er auch in tiefen, traumlosen Schlaf.
 

Irgendwas weckte ihn. Er lag auf dem Rücken, so, wie er meistens schlief, spürte diesmal aber ein Gewicht auf sich drauf. Immer noch nicht ganz bei Sinnen öffnete er die Augen. Und erstarrte.
 

Cyril hatte es sich auf seinen Hüften bequem gemacht. Mit einem Lächeln, das weit entfernt von unschuldig oder naiv war, strich er über Andrés nackte Brust, über den muskulösen Bauch nach unten zu Regionen, in denen seine Finger wirklich nichts zu suchen hatten.
 

„Oh, du bist wach.“ Er beugte sich vor und umspielte mit der Zunge eine von Andrés Brustwarzen. „So macht es natürlich mehr...“
 

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. André packte ihm am Shirt und stieß ihn mit solch einer Heftigkeit von sich runter, dass Cyril mit einem schmerzhaften Aufschrei auf dem Boden landete.
 

„Was zum Teufel... was machst du da? Das hat weh getan!“
 

„Was ich mache? Was ICH mache?“ Fuchsteufelswild verließ André das Bett, packte Cyril am Shirt und zog ihn nah zu sich ran. Der Junge balancierte nur noch auf seinen Zehenspitzen und musste sich an Andrés Unterarmen festhalten, um nicht komplett die Balance zu verlieren. „Was, in drei Teufels Namen, treibst du da? Hast du völlig den Verstand verloren?“
 

Cyril grinste ihn nur an, und leckte sich dann provozierend über die Lippen.
 

„Mich bedanken, natürlich.“
 

„Be... danken?“
 

„Ich will nicht in deiner Schuld stehen.“ Er strich aufreizend mit den Fingerspitzen über die Sehnen, die durch die Anspannung an Andrés Unterarmen hervortraten. „Du bist so nett und bietest mir eine Bleibe an. Da muss ich mich doch revanchieren.“
 

Für einen Moment verschlug es André die Sprache. Was zum Teufel... war das sein Ernst?
 

„Entschuldige, Kleiner.“ Sein Knurren betonte vor allem das letzte Wort. „Ich stehe nicht auf Kinder.“
 

Cyrils Grinsen vertiefte sich noch. Von seiner anfänglichen Schüchternheit war wirklich nichts mehr übrig geblieben.
 

„Wenn du mich lässt, beweis ich dir, dass ich kein Kind mehr bin.“
 

André atmete einmal tief durch, und ließ Cyril dann mit einem Stoß nach hinten los.
 

„Du gehst jetzt schlafen. In DEINEM Bett. Und wenn du sowas noch einmal machst, schmeiß ich dich aus dem Fenster, das schwör ich dir.“
 

Die Augen des Kleinen begannen zu funkeln. „Wir sind im siebten Stock...!“
 

„Richtig.“ André fixierte ihn. „Deswegen solltest du es dir genau überlegen, ob du das Risiko eingehen willst. Ich kratz dich dann nicht vom Asphalt ab. Und jetzt schleich dich, bevor ich es mir nochmal überlege und dich direkt rausschmeiß.“
 

„Ernsthaft?“ Cyril verschränkte die Arme und sah ihn beleidigt an. „Du bist schwul, Mann! Bist du impotent, oder was? Ich hab doch gesehen, wie du mich angeguckt hast!“
 

„Ich... habe keine Ahnung, wie das da so läuft, wo du herkommst.“ André atmete tief durch. Er wollte ins Bett. Er wollte schlafen. Und er wollte diesen verdammten Knilch weit weit weg haben. „Aber ich stehe nicht auf Kinder. Wenn ich dich irgendwie angeguckt habe, dann höchstens wie ein verlorenes Hündchen. Geh deine tollen Fähigkeiten an jemand anderem ausleben, aber wenn du sowas nochmal machst, wirst du es bereuen.“ Er sah den Jungen an, der immer noch schmollend an der selben Stelle stand. „Ich geh jetzt schlafen. Du kannst da meinetwegen die ganze Nacht stehen bleiben, aber wenn du dich mir näherst, gibt es Tote, das schwör ich.“
 

„Willst du mir Angst machen?“
 

Für einige Sekunden starrten sie sich an, bevor sich André wortlos umdrehte, sich unter seiner Bettdecke verkroch und bewusst mit dem Rücken zu Cyril zusammenrollte. Für einige Sekunden blieb es ruhig.
 

„Wichser!“
 

Dann hörte er, wie Cyril sich umdrehte, die Stufen zur Galerie hochtrampelte und mit voller Wucht auf sein Bett fallen ließ. Mit einem unterdrückten Seufzen drehte André sich auf den Rücken, fuhr mit seinen Händen durch sein Gesicht und starrte entgeistert an die Decke.
 

Süß und nett? Er und Thomas mussten dringend ein Wörtchen miteinander reden. Sein Blick schweifte zur Galerie.
 

Das konnte ja noch verdammt lustig werden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich gestehe... ich mag Cyril ^///^ Auch wenn er jetzt wirklich nicht wie der perfekte Mitbewohner wirkt :D Ich freu mich auf Kommentare, und bin gespannt, was ihr zu ihm sagt :3 Komplett anzeigen

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