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Crystal Eyes

reloaded
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, mit diesem Kapitel sind wir jetzt auf dem aktuellen Stand... das Updaten wird jetzt langsamer erfolgen, da die Kapitel erstmal geschrieben werden müssen.. aber mindestens eins pro Woche wird es wohl werden... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger: SVV

Falls jemand meint, es braucht noch zusätzliche Triggerwarnungen, bitte Bescheid sagen, dann füge ich sie hinzu. Komplett anzeigen

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Adam starrte entnervt auf die Buchstaben und Sätze auf dem Blatt Papier vor ihm, während er unruhig mit seinem Kugelschreiber darauf herumtippte. Eigentlich sollte er eine Interpretation zu irgendeiner öden Kurzgeschichte schreiben, aber... wirklich, das war einfach nicht sein Ding. Er konnte einfach nichts damit anfangen, so sehr er sich auch den Kopf zerbrach. Mit einem Seufzen legte er eben diesen in den Nacken und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Und morgen war Abgabetermin. Und eigentlich sollte er ja auch noch ein bisschen schlafen.
 

Durch das geöffnete Fenster fiel das Licht des Vollmondes ins Zimmer und tauchte alles in schummriges Silber. Er spürte die Wärme der Nacht, hier, an seinem Schreibtisch, in seinem kleinen, gemütlichen Zimmer. Ach, verdammt... mit einem leisen Fluch schmiss er den Kugelschreiber in eine Ecke und sprang auf. Wie hieß es so schön, erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Leise machte er seine Zimmertür auf, schlich sich am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei ins Erdgeschoss runter, zog seine Schuhe an und verließ das Haus. Mit einem erleichterten Lächeln registrierte er das Klick, als die Haustür ins Schloss fiel. Was gab es Besseres als ein Mitternachtsspaziergang?
 

Es wehte ein leichter Wind, doch die Wärme des Tages war noch so stark, dass sie ihn sanft umhüllte. Das silbrige Mondlicht gab der Umgebung eine unwirkliche Färbung. Irgendwo miaute kläglich eine Katze. In der Ferne ertönte ein heiseres Frauenlachen, sinnlich, lasziv. Die Blätter der Bäume rauschen im Wind, während ein einsames Auto an ihm vorbeifuhr, vermutlich auf dem Weg zu einer berauschenden Party.
 

Adam strich sich einige Strähnen seiner schwarzen, nackenlangen Haare aus dem Gesicht und wendete sich in Richtung des kleinen Baches. Er liebte diese Zeit, die Stimmung, die sie mit sich brachte. Irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Hier und Dort, Jetzt und Dann. Keine Menschen, die ihn nervten, aber doch nicht richtig allein. Unwillig verzog er das Gesicht, als er wieder an seine Hausaufgabe dachte. Und die Schule, die er morgen wieder besuchen musste. Und die Menschen dort, die ihn für einen hirnlosen Schönling hielten, Gedichte schreibend oder Samariter spielend. Er hatte ein schönes Gesicht, zarte Gesichtszüge, lange Wimpern, einen graziösen Körper. Die Mädchen liebten ihn und hielten ihn für einen sanften Engel, während die Jungs ihn am liebsten auf den Mond schießen würden. Nicht nur, weil sie in ihm scheinbar eine Konkurrenz in Liebesdingen sahen – meine Güte, er hatte im Leben nie was mit irgendeinem Mädel gehabt! –, sondern auch, weil sie ihn für eine Schwuchtel hielten. Und das war ja bekanntermaßen ansteckend, also durfte man auf gar keinen Fall was mit ihm zu tun haben!
 

Allein der Gedanke an den ganzen Blödsinn, der in deren Köpfen vorging, verärgerte ihn. Auf die Mädels und ihre Schwärmereien hatte er keine Lust, auf die Jungs noch weniger, also machte er halt sein Ding. Allein kam er gut zurecht, er ließ die anderen in Ruhe, die anderen ließen ihn in Ruhe. Und in zwei Jahren war es eh vorbei, und er konnte nur hoffen, dass an der Uni mehr Leute mit Verstand waren.
 

Im Gedanken versunken hatte er nicht gemerkt, dass er sein Ziel bereits erreicht hat. Eine kleine Holzbrücke, die sich über den schmalen Bach spannte. Mit einem Seufzen lehnte er sich mit verschränkten Armen auf das Geländer und legte seinen Kopf darauf ab. Im Wasser spiegelte sich dunkel seine Gestalt, die schmale Silhouette, verwirbelt durch den Wind. Einige seiner Haarsträhnen fielen ihm in die Augen. Ein weiterer Makel. Blaue, kristallklare Augen. Sehr durchdringend, wie einige Leute nicht müde wurden, ihm zu erzählen. Irgendwo zwischen beängstigend und betörend. Manchmal könnte er seine Eltern echt zur Hölle wünschen für die Gene, die sie an ihn vererbt hatten.
 

Langsam entspannte er sich. Sein Atem wurde ruhiger, er ließ sich von den Wellen einlullen, von dem Rauschen des Wassers und dem Wispern der Baumkronen. Der warme Wind liebkoste seinen Nacken, überzog ihn mit Gänsehaut. Eine friedliche Nacht.
 

„Bezaubernd.“
 

Eine dunkle Stimme, in der ein leises Lachen mitschwang. Direkt neben ihm. Erschrocken zuckte er zusammen und richtete sich auf.
 

„Du solltest vorsichtig sein. Um die Zeit sind viele Leute mit unlauteren Motiven unterwegs.“
 

Der Mann lehnte neben ihm am Geländer und lächelte ihn mit seinen Augen, verzaubernden, rauchgrauen Augen, an, obwohl der Rest seines Gesichtes recht ernst wirkte.
 

„Du sahst aus wie ein junger Gott. Wirklich goldwert!“
 

Adam biss sich leicht auf die Unterlippe, streckte dann aber die Hand aus.
 

„Na, dann her damit... mit dem Gold!“, meinte er mit einem schiefen Grinsen, ein nervöses Zittern in der Stimme, während er den Fremden von oben bis unten musterte.
 

Der Wind spielte mit seinen langen Haaren, die im Mondlicht gold-weiß schimmerten. Um seine vollen Lippen lag ein süffisantes Lächeln, unterstrichen durch markante Gesichtszüge und eine Mimik, die Arroganz wiederspiegelte. Trotz der Wärme trug er einen weißen Rollkragenpullover, eine schwarze, enge Hose, die seine Beine wunderbar zur Geltung brachten, und ebenfalls schwarze Stiefel. Über allem hatte er einen cremefarbenen langen Mantel an, der sich bei jeder seiner Gesten bewegte. Der Fremde war groß, gut einen halben Kopf größer als Adam, der selbst nicht gerade ein Zwerg war, hatte breite Schultern, die zum Anlehnen regelrecht einluden, und eine schmale Hüfte. Alles in allem war er der Typ Mann, bei dem Frauen jeden Alters dahinschmolzen.

Aber zum Glück war Adam ja keine Frau.
 

Er lachte kurz auf, ein volles angenehmes Lachen, und senkte leicht den Kopf.
 

„Schachmatt! Leider habe ich kein Gold mit mir, sonst würde ich es dir natürlich geben.“
 

Adam schaute betont auf seine goldenen Ohrringe in Form von Kreuzen.
 

„Und was ist damit?“, erwiderte er, immer noch mit einem Zittern. Er würde es gerne unterdrücken, es gab keinen Grund, so nervös zu sein. Gut, es war nicht sonderlich normal, mitten in der Nacht von einer absolut – vermutlich – nüchternen Person angesprochen zu werden, die nicht nach dem Weg oder der Uhrzeit fragen wollte. Die einfach mal was von unlauteren Motiven und jungen Göttern schwafelte. Kein Grund, nervös zu sein, und wenn er es schon war, würde er es gerne wenigstens verbergen!
 

Der Mann lächelte und beugte sich etwas näher zu Adam.
 

„Und was bekomme ich dafür?“, fragte er leise und mit etwas heiserer Stimme.
 

Adam schreckte zurück, machte einen Schritt nach hinten und erwiderte das Lächeln verlegen.
 

„Äh, ich glaube, das war ein Missverständnis. Sorry, war ja nett, mich mit Ihnen zu unterhalten, aber... aber ich glaube, ich sollte jetzt gehen.. schönen Abend noch!“
 

Sein Gegenüber brachte in schallens Lachen aus und sah ihn mit einem Grinsen an.

„Nur keine Angst, Kleiner, ich tue dir nichts. Ich konnte mir aber so eine Vorlage doch nicht entgehen lassen. Lauf nicht gleich weg, ich wollte dich nicht erschrecken!“ Während er sich einige Strähnen aus dem Gesicht strich, steckte er sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie mit einem elegangen, schwarzen Feuerzeug an. „Du brauchst mich auch nicht zu Siezen. Ich bin vermutlich nicht sehr viel älter als du.“ Er warf Adam einen verschmitzen Blick zu, der in seiner Fluchtposition quasi erstarrt war. „Ich bin Leon. Ich beiße nicht und werde dir auch sonst nichts tun. Und du bist...?“
 

„Adam. Ich heiße Adam.“, meinte dieser immer noch etwas verschreckt, lehnte sich aber wieder an das Geländer, wenige Zentimeter von Leon entfernt. Atmen. Entspannen. Das war einfach nur ein komischer Typ mit einem irrsinnig schlechten Humor. „Wo kommst du her? Ich mein, ich hab dich hier noch nie gesehen... du bist ja doch... auffällig.. von deiner Größe her und so.“, fügte er hastig hinzu, bevor Leon auf falsche Gedanken kommen konnte.
 

Leon zuckte mit den Schultern. „Kein Wunder, ich bin erst vor kurzem hierher gezogen. Und heute bin ich auch das erste Mal überhaupt mal raus gegangen.“
 

„Und was machst du so? Schüler bist du ja keiner mehr, oder?“ Smalltalk war nicht grad Adams Stärke, aber man konnte es ja mal versuchen.
 

„Ich bin... Künstler. Größtenteils mal ich auf Leinwand, Öl, Acryl, sowas in die Richtung. Aber auch die ein oder andere Graphic Novel. Sowas in die Richtung.“
 

„Oh, okay... krass. Mit einem richtigen Atelier?“
 

Leon nickte und lächelte Adam an. „Ja, natürlich. Willst du es sehen?“
 

„Ähm.“ Verdammt, der Typ hatte ihn wieder in eine Ecke manövriert. Sollte das wieder nur ein Witz sein? „Eher nicht... ich muss eigentlich auch los. Schlafen... und so. Was für die Schule machen. Sowas halt...“
 

Das Lächeln um Leons Lippen vertiefte sich.
 

„Soll ich dich nach Hause begleiten? Es ist gefährlich um die Uhrzeit... so alleine unterwegs.“
 

„Nein, nein, nicht nötig.“ Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu stottern. Der Typ war nicht ganz koscher. „Es ist nicht so weit... und ich bin recht wehrhaft. Passt schon, danke. Ähm, ja... gute Nacht!“
 

Adam machte eine winkende Bewegung mit der Hand, drehte auf dem Absatz um und entfernte sich im Stechschritt von dem Mann. Er spürte seinen musternden Blick im Nacken, und die Gänsehaut kam diesmal nicht vom Wind. Wer lud jemand Fremdes bitte mitten in der Nacht zu sich nach Hause ein? Wie ein Psychopath sah der Typ zwar nicht aus, aber wenn man es denen ansehen würde, wären sie ja nicht so ein Problem... die Psychopathen.
 

Verwirrt strich er sich einige Strähnen aus der Stirn. Der Fremde war seltsam. Aber anziehend. Nicht auf erotische Weise – doch, wobei, auch das –, sondern eher auf.. er konnte es nicht in Worte fassen.
 

Anziehend.
 

Anziehend???
 

Was dachte er sich da eigentlich grad?
 

So ein Schwachsinn. Er war nicht schwul, verdammt. Warum sollte so ein dahergelaufener Tunichtgut anziehend auf ihn wirken? Mit einem energischen Kopfschütteln versuche er, diesen Gedanken loszuwerden, und legte nochmal einen Zahn zu, um endlich nach Hause zu kommen. In die sicheren vier Wände, fernab von nächtlichen, verstörenden Begegnungen.
 

Leise schloss er die Haustür auf und schlich sich wieder zurück in sein Zimmer. Seine Eltern hatten zum Glück seine Abwesenheit nicht mitbekommen.. wobei, sie hätten eh keine Probleme damit. Müde schmiss er sich auf's Bett. Die Arbeit für morgen konnte er jedenfalls vergessen. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Diese vollen Lippen. Weich. Süß? Die rauchgrauen Augen. Verführerisch und verschmitzt. Die tiefe Stimme, erotisch, rau, und dann das volle, wohlklingende Lachen. Warum zum Teufel hatte er diese Gedanken? Warum zum Teufel flatterte es so nervös in seinem Brustkorb? Verdammt...
 

Er sprang wieder vom Bett, nahm entschlossen einen Kugelschreiber in die Hand und atmete einmal tief durch. Interpretation. Kurzgeschichte. Jetzt! Und dann würden sich diese seltsamen Gedanken um irgendwelche ominösen Typen, die er eh nie wieder sehen würde, hoffentlich verflüchtigen!

Ein genervtes Seufzen entfuhr Adam, als er sich langsam auf die Treppenstufen im Inneren seiner Schule sinken ließ und den Regenguss draußen betrachtete. Am Morgen hatte noch warm die Sonne geschienen, weswegen er hier jetzt im leichten Hemd saß. Und ohne Schirm, natürlich. Er könnte hier warten, bis der Regen nachließ, vielleicht war es ja tatsächlich nur ein Schauer. Er könnte natürlich auch so nach Hause gehen, bis auf die Haut durchnässt werden und sich eine Lungenentzündung holen. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. In Anbetracht dessen, dass er dann einige Zeit nicht zur Schule müsste, vielleicht nicht die schlechteste Alternative. Nach der Katastrophe von Kurzinterpretation, die er abgeliefert hatte – wirklich keine Meisterleistung, aber was wollte man auch erwarten, bei wenig Schlaf, nur vier Stunden Schreibzeit und komischen nächtlichen Begegnungen –, konnte er darauf verzichten, noch mehr solcher geistigen Ergüsse abliefern zu müssen.
 

Er seufzte nochmal und betrachtete einen Moment die einzelnen Tropfen, die auf die Fensterscheiben perlten. Hier auf unbestimmte Zeit im Schulgebäude festzusitzen gehörte aber auch nicht grad zu dem, wie er gerne einen freien Nachmittag verbringen wollte. Seine Eltern würden erst abends nach Hause kommen, Geld für den Bus hatte er nicht, ein Auto sowieso nicht.. ach, Lungenentzündungen waren doch wirklich nicht so schlimm. Genervt stand er auf und verließ die Schule. Wie erwartet war er innerhalb von Sekunden durchnässt, und machte den Eindruck eines begossenen Pudels. Eines aggressiven, begossenen Pudels, denn seine Miene verzog sich zu einem Ausdruck größten Missfallens. Nass, kalt, feucht. Bäh. Den Blick stur auf den Weg vor sich gerichtet, bemerkte er erst nach einigen Sekunden, dass ein schwarzes Auto langsam neben ihm herfuhr. Sportlich, elegant. Teuer. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Bauchgegend aus, als eins der Fenster herunter gelassen wurde.
 

„Na, Adonis, brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte eine unverwechselbare Stimme, in der ein Grinsen mitschwang. „Oder soll ich dir lieber ein paar Schwimmflossen besorgen?“
 

Adam traute sich kaum, seinen Kopf zu drehen. Diese rauchgrauen Augen hatten in ziemlich penetrant die letzten Tage verfolgt, er wollte sie eigentlich nicht in real sehen.
 

„Sag mal, verfolgst du mich?“, blaffte er, den Blick weiter stur nach vorne gerichtet, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Der Wagen fuhr jedoch weiter neben ihm her.
 

„Nein. Ansonsten hätten wir uns in der letzten Woche wohl öfter gesehen. Also, was ist? Willst du weiter im Regen bleiben?“ Leon machte eine kurze Pause, ein süffisantes Lächeln in der Stimme. „Oder hast du etwa Angst, dass ich über dich herfalle?“
 

Adam gab einen unwilligen Laut von sich, sah Leon trotzig an, stapfte dann um das Auto herum und schmiss sich, nass wie er war, mit Schwung auf den Beifahrersitz.
 

„Gut, bring mich nach Hause.“ Er verschränke die Arme und richtete die Augen stur auf den Verkehr vor ihm. Es tropfte leise von seinem Hemd und seinen Haaren herunter, doch er ignorierte einfach die Tatsache, dass er gerade den Innenraum unter Wasser setzte.
 

Leon grinste ihn breit an, langte nach hinten und reichte Adam einen wolligen, marineblauen Rollkragenpulli.
 

„Hier, pack dich warm ein. Sonst wirst du krank!“ Und während er losfuhr, mit einem verschmitzten Seitenblick: „Du solltest vorher vielleicht aber das Hemd ausziehen...“
 

„Das... brauchst du mir nicht sagen...“, knirschte Adam zwischen seinen Zähnen hervor, streifte sich sein nasses Hemd ab und schlüpfte in den kuschelig weichen, etwas zu großen Pullover und mümmelte sich darin ein. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seinen Chauffeur, der in ein bordeauxfarbenes Hemd und eine beige Hose gekleidet war. Seine Haare hatte er zu einem französischen Zopf geflochten, und diesmal trug er silberne Kreolen mit Diamantsteinchen besetzt. Der gute Junge musste stinkreich sein. Verdiente man als Maler so viel? Nun ja, das sollte Adam ja eigentlich nicht interessieren, trotzdem war er etwas überrascht. Unter Künstler verstand er eher die armen Schlucker, die auf irgendwelchen Märkten irgendwelche Mittelklasse-Portraits an die Touristen verscherbeln wollten. Wobei, wenn er recht darüber nachdachte, war Leon schon bei ihrer ersten Begegnung meilenweit vom Klischee des armen Schluckers entfernt gewesen. Künstler... hm.
 

„Und, wo wohnst du?“, fragte Leon mit einem Seitenblick zu seinem Beifahrer und runzelte dann die Stirn. „Ist dir kalt? Oder warum kuschelst du dich so sehr in den Pullover?“
 

Adam errötete leicht. „Natürlich ist mir kalt. Schließlich bin ich auf die Knochen durchnässt. Außerdem ist das Teil schön weich.“ Und riecht gut, fügte er noch im Gedanken hinzu, doch er würde sich eher die Zunge abbeißen als das laut auszusprechen. Sonst würde Leon sich ja sonst noch was denken. Er nannte ihm schnell seine Adresse, während sein Blick abschweifte. Leons Hände lagen locker auf dem Lenkrad. Langgliedrige Finger, und tatsächlich, an einigen waren Reste von Farbe zu sehen. Dabei wirkte er so perfekt. Aber eigentlich unterstrichen diese Farbtupfer auf seltsame Weise Leons Perfektion. Gepflegt, sinnlich, aber nicht makellos. Wie sich seine Berührung wohl anfühlte?
 

„Ich nehme mal an, du willst mein Atelier auch mitten am Tag nicht sehen, was?“, riss dieser Adam aus seinen Gedanken
 

„Was soll denn das heißen?“, fuhr Adam verärgert auf, und versuchte die Röte zu überspielen, die seine Wangen überzog. „Glaubst du etwa, ich habe Angst vor dir, oder was?“
 

„Nein, keineswegs. Habe ich das auch nur mit einem Wort erwähnt?“
 

„Es klang mit!“, erwiderte er trotzig. Eine Zeit lang kaute er überlegend auf seiner Unterlippe, bis er sich schließlich Luft holend zu einem Entschluss durchrang. „Okay, zeig mir dein Atelier!“
 

Leon sah ihn überrascht an, lächelte dann jedoch zufrieden. „Bist du dir sicher?“
 

„Ja!“ Ihm gefiel dieses Lächeln nicht. „Warum nicht? Du hast mich ja eingeladen. Warum soll ich mir nicht sicher sein?“
 

„Gut, gut, wie du willst. Gerne.“
 

Leon zuckte, immer noch lächelnd, mit den Schultern und lenkte den Wagen in eine andere Richtung. Schweigend saßen sie nebeneinander, bis sie nach einigen Minuten an einem großen Haus ankamen, das fast schon einer Villa glich. Der riesige Garten machte einen sehr gepflegten Eindruck, genauso wie die Einfahrt, in deren Mitte ein kleiner Brunnen mit einer Nixenstatue stand. Der Weg wurde von einigen Fliederbüschen gesäumt, und den Hauseingang schmückten blutrote Japanische Ahornbäume. Die meisten anderen Pflanzen konnte Adam nicht mal im Traum benennen, doch er konnte sich gut vorstellen, wie wunderschön der Garten in voller Blüte sein musste.
 

Sie parkten, und während Leon schweigend seine Haustür aufschloss, trat Adam nervös hinter ihn. Gut, wenn er ein Psychopath war, dann zumindest ein stinkreicher. Der Garten hatte zumindest genug Platz, dass er irgendwo eine Leiche verbuddeln konnte, ohne dass jemand sie je wieder finden würde. Er musste innerlich lachen über seine absurden Gedanken, aber immer noch besser, als darüber nachzudenken, was zum Teufel er hier eigentlich verloren hatte.
 

„Willkommen!“
 

Leon verbeugte sich leicht und lud Adam mit einer Handbewegung ins Innere ein. Dieser schluckte, als er den Flur betrat. Oder, besser gesagt, die Eingangshalle. Der Boden war aus schwarzem Marmor, die Einrichtung in dunklem Mahagoni darauf abgestimmt. Zum ersten Stock führte eine breite Treppe aus dunklem Granit, und zwei weitere Treppen bildeten den Eingang zum Dachgeschoss. Die hellen Wände wurden mit Bildern verschiedener Stilrichtungen geschmückt, doch trotz ihrer Unterschiede waren sie perfekt aufeinander abgestimmt. Und vermutlich teuer. Sehr sehr teuer.
 

„Ich dachte, du bringst mich in dein Atelier.“, meinte Adam, allein, um einfach nur irgendwas zu sagen. Es war kaum zu übersehen, wie beeindruckt er war, doch er wollte es nicht offensichtlicher als unbedingt nötig machen.
 

„Das ist mein Atelier!“, antwortete sein Gastgeber und begab sich in Richtung der Treppe „Und mein Haus. Mein Atelier befindet sich im Dachgeschoss. Der Rest sind Küche, Bäder, Bibliothek, Wohn- und Schlafzimmer. Oh, und natürlich mein Pool. Komm mit, wir müssen nach oben.“
 

Adam folgte ihm schweigend und betrachtete alles mit riesigen Augen. Er traute sich kaum zu atmen oder auch nur einen falschen Schritt zu machen. Nicht, dass er stolperte und eines der teuren Porzellanväschen auf einer der teuren Kommoden auf dem teuren Teppich in dem bestimmt teuren ersten Stock zerbrach. Zwar waren die Zimmertüren geschlossen, doch er konnte sich gut vorstellen, dass es da drin ähnlich aussah. Ausgesuchte Möbel, wertvolle Teppiche, feinste Vorhänge, Möbel aus Mahagoni, Ebenholz oder Walnuss, die neuste Elektronik, die exquisitesten Accessoires. Meine Güte, was für Kunst produzierte der Typ, dass er so in Geld schwamm?
 

Leon stieß mit Schwung eine Tür auf und ließ Adam eintreten. Sie waren im Atelier angekommen. Ein riesiges Atelier. Mit gigantischen Fenstern in den Dachschrägen, die momentan vom prasselnden Regen nass waren. An einer Seite der geraden Wände stand ein Schrank, vermutlich für Zubehör wie Farben und Pinsel. Gleich daneben lehnten einige fertige oder halbfertige Gemälde an einem breiten Tisch, vermutlich der Entstehungsplatz für die Graphic Novels, die der Maler erwähnt hatte. Überall im Raum verstreut befanden sich verschiedene Sessel, Sofas, Diwane, Stühle, Tische, Kissen, Stoffe und Decken. Direkt neben der Tür war ein kleiner Kühlschrank angeschlossen. Trotz all diesem Zeug wirkte der Raum immer noch nicht voll.
 

Leon machte eine alles umfassende Handbewegung.
 

„Bitte schön, das ist mein Atelier. Gefällt es dir?“
 

Adam schluckte. Er fühlte sich leicht erschlagen. Hilflos zuckte er mit den Schultern und zeigte dann, um überhaupt etwas zu tun, auf das ganze Mobiliar und die Stoffe.
 

„Für was ist das ganze Zeug?“, fragte er neugierig.
 

„Für meine Motive.“ Leon machte es sich auf einem Sofa bequem und deutete Adam, es ihm gleich zu tun. „Ich will meine Modelle ja nicht nur blöd in der Gegend herumstehen lassen. Sie sollen sich auch mal auf einem Diwan lasziv räkeln oder nackt von irgendwelchen Stoffen umgeben sein. Das macht den Reiz eines Aktes aus.“
 

„Akt?“ Adam wäre fast über den Sessel gestolpert, auf den er sich gerade hatte setzen wollen. „Bist du etwa Aktzeichner?“
 

„Nicht nur. Ich bin an vielen verschiedenen Motiven interessiert. Manchmal Landschaftsbilder, manchmal Stillleben. Portraits, Ausschnitte. Außer abstrakte Kunst, die gefällt mir persönlich nicht sonderlich.“ Er zuckte mit den Schultern, sprang dann auf und schlenderte zum Kühlschrank. „Entschuldige, ich bin wohl kein guter Gastgeber. Was möchtest du trinken? Ich hab...“ Er warf einen Blick in das Innere des Kühlschranks. „Ich habe im Prinzip alles da, also keine falsche Bescheidenheit.“
 

Seufzend ließ Adam sich nieder und rieb sich einmal mit beiden Händen übers Gesicht. Es fühlte sich ein wenig warm an. „Wasser, bitte!“
 

„Wasser? Hätte nicht gedacht, dass du so gesund lebst.“
 

„Warum? Sehe ich etwa so... hatschi... krank aus?“ Er zog eine Augenbraue hoch und schaute ihn fast schon schockiert an.
 

Leon musterte ihn aufmerksam und bemerkte dann seine nasse Hose.
 

„Nein, du siehst nicht so aus, du bist es anscheinend. Oder wirst es zumindest bald. Komm, zieh die Hose aus.“
 

„Was?“ Adam zuckte zurück und sah ihn an wie das Kaninchen vor der Schlange. „Was soll denn das jetzt?“
 

Sein Gegenüber verdrehte leicht genervt die Augen. „Nein, das soll nicht sexuelle Nötigung sein, wie du vielleicht denkst. Ich will deine Hose zum Trocknen aufhängen. Währenddessen kannst du eine von mir haben. Dürfte dir eigentlich passen. Duschen solltest du vielleicht auch. Wir wollen ja nicht, dass du krank wirst.“
 

„Du hörst dich an wie meine Mutter.“
 

Leon grinste ihn an. „Sieh mich eher als besorgter Liebhaber.“
 

Adam warf ihm einen bösen Blick zu, ging zur Tür und sah ihn abwartend an. Auch wenn es ihm missfiel, Leon hatte Recht, er sollte aus den nassen Klamotten raus. Er könnte sich natürlich auch nach Hause bringen lassen. Könnte. Eigentlich. Wollte er aber nicht.
 

„Du willst doch, dass ich dusche. Also, wo muss ich hin? Noch kenn ich mich hier nicht aus.“
 

„Ach,“, Leon trat neben ihn, musterte ihn für einige Sekunden, und brachte dann seinen Mund ganz nah an sein Ohr, „willst du denn öfter kommen?“
 

Adam sah in nur kalt an. „Wo ist das Bad?“
 

Sein Gastgeber lachte leise. Ein volles, erotisches Lachen, mit einer Spur von Belustigung und Hohn. Es verursachte einen angenehmen Schauder auf Adams Rücken.
 

Leon führte ihn in den ersten Stock zurück und stieß eine Tür auf.
 

„Hier, bitte schön. Ich bringe dir ein paar Sachen zum umziehen. Zieh dich schon mal aus.“
 

Während er den Raum wieder verließ, blieb Adam leicht benebelt mitten im Raum stehen. Er konnte hier zwar im Prinzip nichts kaputt machen, aber... Er schüttelte den Kopf. In der Mitte befand sich ein riesiger Whirlpool, während die Dusche in einer Ecke Platz für zwei oder drei Personen gleichzeitg bot. An den Wänden hingen mehrere Spiegel, so dass man sich von allen Seiten begutachten konnte. Der Boden und die Wände bestanden aus weiß marmorierten Fliesen, über die Decke zog sich ein dunkelblauer Sternenhimmel mit zahlreichen integrierten Lämpchen. In einer Ecke stand eine kleine Bar aus dunklem Schiefer, die mehrere teure Kristallgläser und hochqualitative alkoholische Getränke enthielt. Neben dem Pool gab es einen kleinen Rolltisch, auf dem diverse Kleinigkeiten abgestellt werden konnten. Er war sich sicher, irgendwo versteckten sich auch die sexy Dienerinnen, die mit Palmwedeln für frische Luft sorgen und im Zweifelsfall einen mit Trauben fütterten.
 

„Hm... du bist ja immer noch angezogen.“
 

Leon kam mit einer nachtblauen Hose und einem champagnerfarbenen Kaschmirpullover zurück und legte sie auf den Rolltisch. Aus einem Schrank holte er ein Frotteehandtuch und tat es daneben. Dann drehte er sich zu Adam, der immer noch starr herumstand und sich keinen Zentimeter bewegt hatte, kräuselte kritisch die Augenbrauen und trat dann zu ihm. Vorsichtig streifte er ihm den Pullover über den Kopf. Keine Reaktion. Adam schien mit seinen Gedanken ganz, ganz weit weg zu sein. Mit einem süffisanten Grinsen fing Leon langsam an, ihm die zwei Hosenknöpfe aufzuknöpfen. Erst jetzt erwachte Adam aus seinem Dornröschenschlaf, sprang erschrocken ein Stückchen zurück und fixierte den Künstler mit böse funkelnden Augen.
 

„Sag mal, spinnst du? Was soll das werden, wenn’s fertig ist?“, fauchte er böse
 

„Ein nackter Adam, würde ich sagen. Oder willst du angezogen unter die Dusche steigen?“ Leons Lächeln strahlte ihn unschuldig an.
 

„Natürlich nicht. Aber das heißt ja nicht, dass du an meiner Hose herumfummeln musst!“
 

„Ich wollte dir nur behilflich sein, mehr nicht.“
 

„Danke, ich kann auf deine Hilfe bestens verzichten.“
 

Aufgebracht versuchte er, die Hosenknöpfe zu öffnen, was ihm jedoch absolut nicht gelingen wollte. Er zitterte zu sehr. Vielleicht, weil Leon ihn ziemlich in Rage versetzt hatte, vielleicht aber auch, weil dieser ihm mit einem sehr interessierten Blick zusah. Genervt seufzte er und machte zu Leon eine rotierende Bewegung mit der Hand.
 

„Dreh dich um!“
 

„Was?!“ Leon sah ihn ziemlich verblüfft an.
 

„Du sollst dich umdrehen. Ist das so schwer zu verstehen?“
 

„Nein, nicht wirklich.“ Schulterzuckend drehte Leon Adam den Rücken zu. „Aber dir ist schon klar, dass wir beide Männer sind?“
 

„Das ist es ja, was mir so Sorgen macht.“, knirschte Adam durch die Zähne.
 

„Hast du was gesagt?“
 

„Nicht so wichtig!“
 

Er schaffte es endlich aus seiner Kleidung zu kommen, schmiss sie Leon über die Schulter und eilte unter die Dusche. Erleichtert schob er die Milchglastür zu und lehnte sich gegen die Fliesen. Sein Herz schlug wie wild. Er konnte es sich nicht wirklich erklären, aber Leon machte ihm mächtig Angst. So verunsichert war er noch nie gewesen. Dabei war nichts passiert. Sie hatten geredet, mehr nicht. Aber die ganze Zeit drängten seine Instinkte ihn dazu, abzuhauen. Weg hier, nur weg. Und irgendwas anderes, irgendeine Empfindung tief in ihm, befahl ihm zu bleiben. Wenn er jetzt nur noch wissen würde, was das für eine Empfindung war. Wobei... vielleicht wollte er das gar nicht so genau wissen.
 

Während er hörte, wie Leon das Bad verließ, machte Adam das heiße Wasser an und stellte sich unter den wohltuenden Strahl. Er genoss die angenehmen Wassertropfen, die seinen geschmeidigen Körper entlang perlten und die Kälte aus seinen Knochen vertrieben. Eine wohlige Wärme hüllte ihn ein, während das Wasserrauschen seine wirren Gedanken vertrieb. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit verließ er die Dusche, wickelte sich bibbernd in das flauschige Handtuch und wartete einige Momente, bis er sich an die Zimmertemperatur gewöhnt hatte. Erst dann zog er die Hose und den Pullover an, beide ein bisschen zu groß, aber äußert bequem. Und wohlriechend. Mit einem unzufriedenen Grunzen vertrieb er den Gedanken aus seinem Kopf, während er wieder auf den Flur raustrat und sich umsah. Der frische Duft von Kaffee lag in der Luft. Er folgte ihm ins Erdgeschoss und die luxuriöse Küche, die in Rot und Schwarz gehalten war. Nun, Schwarz schien eine der Lieblingsfarben von Leon zu sein. Der, im Übrigen, gerade fröhlich pfeifend einen Kuchen in mehrere Stücke schnitt, während neben ihm die Kaffeemaschine brodelte.
 

Das unpassende Bild einer Hausfrau mit Blümchenschürze schwirrte kurz durch seinen Kopf und ließ ihn unweigerlich grinsen, bevor er schluckte und sich räusperte. Leon drehte sich zu ihm um und lächelte ihn fröhlich an. Ein umwerfendes, schwindelerregendes Lächeln.
 

„Schon fertig?“ Leons Blick wanderte zu Adams Füßen. „Du solltest wenigstens Schuhe anziehen. Warte, ich hol dir welche...“
 

Er wollte an ihm vorbei eilen, doch Adam schüttelte nur leicht den Kopf. Vielleicht war es gar nicht Leons Lächeln, dass seinen Schwindel verursachte.
 

„Nicht nötig, ich bin nicht so empfindlich.“ Er setzte sich an den Küchentisch aus schwarzem Glas und stützte seinen Kopf auf die Hände. „Was Warmes zu Trinken wäre aber schön.“
 

Leon sah ihn beunruhigt an. „Alles in Ordnung?“
 

„Klar, alles bestens.“ Aber irgendwie... seine Beine wollten ihn nicht so richtig tragen, und es war ihm leicht schummrig, aber er wollte es sich auf gar keinen Fall anmerken lassen. Dummerweise war er ganz, ganz schlecht im Lügen. Und Leons Hobby schien es zu sein, andere sehr genau zu beobachten. Dieser trat zu ihm und legte ihm eine Handfläche auf die Stirn.
 

„Du bist der reinste Backofen, Kleiner!“, meinte er und strich mit seiner Hand darüber. „Komm, leg dich ein wenig hin.“
 

„Vergiss es!“ Adam sprang resolut auf. „Bring mich lieber...“ Doch er konnte seinen Satz nicht zu Ende führen. Erschöpft und leicht keuchend verlor er das Gleichgewicht und stürzte gegen Leon. Überrascht fing er ihn auf und hielt ihn fest umklammert. Ein besorgtes Lächeln umspielte seine Lippen.
 

„Ich bring dich nirgendwo hin außer zum nächsten Bett, du kleiner Sturkopf!“
 

„Nein, schon gut...“ Aber Adam konnte Leon nichts entgegensetzten. Irgendwie tat es auch gut, seinen Kopf an diese Schultern anzulehnen. Die Augen zu schließen und sich einfach führen zu lassen. Die Hand um seine Hüfte zu spüren, die ihn stützte und festhielt. Wacklig gingen sie wieder die Treppen nach oben und in eins der Schlafzimmer. Sanft legte Leon Adam auf das Bett und breitete eine wohlig warme Decke über ihm aus. Adam atmete tief ein und zog automatisch die Decke fester um sich.
 

„Ruh dich aus. Ich ruf deine Eltern an, dass du hier bist.“
 

Adam schüttelte leicht den Kopf. „Sie sind nicht da.“
 

„Okay, dann mach ich das halt später. Ich komm gleich wieder.“
 

Er sah ihn aus halb geschlossenen Augen vorwurfsvoll an, doch es brachte nicht viel, da Leon ihn nur verschmitzt angrinste und durch die Tür verschwand. Mit einem Seufzen kuschelte er sich noch tiefer in die Kissen. Wenn er schon hier war, konnte er es sich auch gemütlich machen. Müde nahm er den Geruch war, der in der Decke und den Kissen hing. Ein herber Geruch, aber angenehm. Männlich. Irgendwie sexy. Der Geruch, den auch seine momentane Kleidung ausströmte. Der überall war. Leons Geruch.
 

Adam spürte ein leichtes Schwindelgefühl in sich aufsteigen, obwohl er im Bett lag. Ein Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus, zog seine Brust zusammen, setzte sich tief in ihm drinnen fest. Ein Kribbeln, das nichts mit seinem Fieber zu tun hatte. Ein Kribbeln, das er nicht kannte, nicht wollte. Und nicht wegbekommen würde.
 

„Ich hoffe, Kamillentee ist in Ordnung...“
 

Leon stutzte überrascht, als er ins Zimmer zurückkehrte, in einer Hand eine Tasse heißen Tees, in der anderen Hand eine Schale mit Keksen balancierend. Adam schlief, tief und fest. Er atmete leise und regelmäßig, nur ab und zu von einem trockenen Husten unterbrochen.
 

Mit einem Lächeln stellte er seinen Ballast auf der kleinen Kommode neben dem Bett ab und setzte sich neben seinen schlafenden Gast. Sanft strich er ihm ein paar Strähnen aus der Stirn und legte ihm seine kühle Hand auf die Wange. Ein zufriedenes Stöhnen entwich Adams leicht geöffnetem Mund. Leon fuhr mit seinen Fingerspitzen weiter nach unten, über die langen geschmeidigen Wimpern, seine zartroten weichen Lippen, die fiebergeröteten Wangenknochen. Er nahm eine der schwarzen glänzenden Haarsträhnen zwischen die Finger und drückte einen zärtlichen Kuss drauf, während ein wehmütiges Lächeln seine Lippen umspielte.
 

„Wunderschön!“, flüsterte er leise, nah an seinem Ohr, und hauchte ihm einen Kuss auf das Ohrläppchen. „Ich will dich.“
 

Mit einem tiefen Seufzen richtete er sich wieder auf und ließ noch für einen Moment seinen Blick auf Adam ruhen. Seine Gesichtszüge hatten sich im Schlaf entspannt, nicht der Hauch der Ablehnung und der Unsicherheit, die er sonst Leon entgegen brachte. Nur das Antlitz eines friedlich schlafenden Engels. Für einen Augenblick wurden Leons Augen hart.
 

„Ich krieg dich. Später. Jetzt werde erstmal gesund.“
 

Er strich noch ein Mal sanft über Adams Wangenknochen, bevor er aufstand und leise das Zimmer verließ. Und sich mit einem undefinierbaren Lächeln in sein Atelier begab.

Das Pochen in seinen Schläfen weckte ihn. Unwillig kniff er die Augen einen Moment zusammen, bevor er sie langsam öffnete. Half ja nichts, jetzt war er wach. Müde ließ Adam den Blick durch sein Zimmer schweifen, um... Moment, sein Zimmer? Erschrocken schnellte er auf, um direkt wieder mit einem Schmerzenslaut in die Kissen zu sinken. Die schnelle Bewegung passte seinen Kopfschmerzen gar nicht. Kurz schloss er die Augen, bevor er seine Umgebung etwas genauer betrachtete, um dann festzustellen, dass er sich gründlich geirrt hatte. Er musste höheres Fieber haben als er dachte, wenn er diesen Raum mit seinem Zimmer hatte verwechseln können. Allein das breite Doppelbett, in dem er sich befand, war das komplette Gegenteil von seinem eigenen Bett. Eine regelrechte Spielwiese mit Bettwäsche aus schwarzer Seide mit bordeauxfarbenen Nadeldruck. Den Boden bedeckte ein sandfarbener, weicher Teppich, passend zu der eine Nuance helleren Wand. Durch die breite Fensterfront auf der einen Wandseite tauchte die untergehende Sonne den Raum in rotorangenes Licht und zauberte einen sanften Glanz auf die Mahagonimöbel auf der gegenüberliegenden Wand. Das Schlafzimmerfeeling wurde von einem riesigen Kleiderschrank, dessen Vorderseite komplett aus Spiegeln bestand, und einer kleinen Kommode abgerundet. In einer Ecke lud schließlich eine breite, boreauxfarbene Rundcouch zum Dösen und Relaxen ein. Rechts und links neben dem Bett standen zwei Nachttische, auf denen sich mehrere Bilderrahmen, ein Weinglas und, zu Adams kompletter Verwunderung, ein kleiner, rosa Stoffhase befanden.
 

Mit gerunzelter Stirn streckte Adam seine Finger nach einem Bilderrahmen, als es ihn plötzlich fröstelte. Überrascht erstarrte er, betachtete seinen nackten Arm, und bewegte etwas unsicher die Beine. Das Einzige, was er an seinem Körper spürte, war die Decke.
 

Einige Augenblicke blieb er noch wie erfroren in der starren Position, bevor er aufgebracht aufsprang, die Augen vor Wut blitzend, die schönen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen gepresst. Und gleich darauf brach er auch fast schon zusammen. Er war schwächer als gedacht. Und auch kränker als gedacht. Adam ballte eine Hand zur Faust. Aber das gab diesem arroganten, notgeilen Bastard noch lange nicht das Recht, ihn auszuziehen. Wütend raffte er sich auf, schlang das Laken um seinen Körper, da nirgendwo Klamotten zum Anziehen zu sehen waren, und stapfte aus dem Zimmer. Leicht schnaubend sah er sich um.
 

Das Schlafzimmer befand sich am Ende des geschmackvoll eingerichteten Flurs. Ein weicher, dunkelbrauner Teppich erstreckte sich zu Adams Füßen, und an der in einem Terracoottaton gehaltenen Wand hingen wieder kunstvolle Gemälde. Adam warf nur kurz einen Blick drauf, ohne die Motive richtig wahrzunehmen. Die Inneneinrichtung der Villa konnte er sich ansehen, sobald einige andere Sachen mit dem Hausherrn geklärt waren.
 

Er lief langsam den Flur entlang und hörte schließlich von weiter unten eine tiefe Stimme. Die Lippen noch etwas fester zusammenpressend folgte er ihr und landete vor der Küche. Langsam schob er die Tür auf und blinzelte rein. Leon stand seitlich zu ihm gegen den Tisch gelehnt und telefonierte leise.
 

Adam musterte ihn einen Augenblick. Ein paar Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und fielen ihm frech ins Gesicht. Seine Ärmel waren aufgekrempelt und neben ihm befand sich eine Schale mit Wasser, daneben lag ein Tuch.
 

Plötzlich sah er auf, obwohl Adam nicht das geringste Geräusch gemacht hatte. Er lächelte, sagte noch etwas ins Handy und legte es dann beiseite.
 

„Wie ich sehe, bist du aufgewacht. Wie geht es dir?"
 

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Adam seinen Gastgeber und sah anschuldigend an sich runter.
 

„Ich wache in einem fremden Zimmer auf, hab' mordsmäßige Kopfschmerzen und muss dann noch zu allem Übel erfahren, dass ich NACKT bin. Kannst du mir das mal bitte erklären?“
 

Bei den Worten, die er leise, aber heftig hervor gestoßen hatte, war er zu Leon gestapft und sah ihm jetzt vorwurfsvoll ins Gesicht. Er kam sich zwar leicht dämlich vor, weil er einerseits kleiner war als dieser, andererseits nur ein Laken um sich gehüllt hatte und das nicht unbedingt einen beeindruckenden Anblick abgab, aber trotzdem wollte er seine Wut nicht so einfach verrauchen lassen.
 

Sein Gegenüber lachte ihn aber auch dementsprechend an.
 

„Ganz ruhig, kleiner Kampftiger. Ich wollte nicht unbedingt, dass du mir meine Klamotten voll schwitzt, und deine sind immer noch nicht trocken. Also hab ich dich ausgezogen.“
 

„Ah, ja, klar... hast du keine alten Klamotten oder was? Hättest du mich nicht vorher fragen können? Ich steh nicht sonderlich drauf, von irgendwelchen fremden, alten Säcken angeglotzt zu werden!“
 

Wütend raffte er sein Laken noch enger zusammen und starrte Leon starr an, während dieser nur eine Augenbraue hochzog und sich offensichtlich ein weiteres Lachen verkneifen musste.
 

„Mach mal halblang, Tigerchen. Erstens bin ich grad mal 23, wenn schon, dann also ein junger Sack, zweitens warst du im Tiefschlaf, also hätte ich auf meine Frage wohl kaum eine Antwort erhalten, und drittens weiß ich ja nicht, was du von mir denkst, aber ich geil mich nicht an irgendwelchen Jungs auf, die wehrlos in meinen Armen liegen.“
 

„Ach nein, tust du nicht? Zutrauen würde ich es dir ja, nachdem, was du alles bei unserer ersten Begegnung von dir gegeben hast!“
 

Leons zweite Augenbraue folge der ersten. Er legte seine Fingerspitzen auf Adams nackte Schultern und schob ihn ein wenig nach hinten, um ihm besser in die Augen sehen zu können. Sie funkelten wie Kristalle, halb aus Wut und halb wegen des Fiebers, und nur die langen Wimpern warfen einen Schatten auf sie. Leon grinste sanft, und er legte einen Finger auf Adams Lippen, während die andere Hand ihn wieder zu sich zog. Er beugte seinen Kopf zu seinem Ohr und flüsterte leise mit einer durchdringend rauen Stimme:

„Glaubst du wirklich, ein kleiner, unerotischer und kindischer Junge wie du könnte irgendeinen Reiz auf mich ausüben?“
 

Klein? Unerotisch? Kindisch? Adams Augen weiteten sich leicht. Kindisch? Er atmete einmal tief durch. UNEROTISCH??? Mit einem tiefen Knurren stieß er sich von Leon weg.
 

„Du elender Bastard, hast du nichts besseres zu tun als mich mit dieser... mich zu beleidigen? Du alter, geiler Sack, du. Von wegen, junger Gott und Adonis und was weiß ich was. Und jetzt bin ich dir nicht mehr erotisch genug? Unerotisch? Alles, was du mal nackt gesehen hast, verliert seinen Reiz, oder was? Bietet ja nichts mehr, ist ja langweilig. Ich bin dir wohl nicht geil genug, oder wie? Arschloch! Ich brauch für dich nicht erotisch sein. Niemand hat verlangt, dass du mich fickst. Und ICH schon gar nicht.“
 

Mit hochrotem Kopf drehte er sich auf der Ferse um und wollte hocherhobenen Hauptes davon stolzieren, doch leider hatte er nicht mit dem Laken gerechnet. Ein Zipfel verfing sich zwischen seinen Füßen und er glitt ziemlich ungalant auf dem glatten Satin aus. Reflexartig griff er nach hinten, erwischte dabei aber nur Leons Hemd und riss ihn dadurch mit zu Boden. Dieser schlang jedoch intuitiv seine Arme um den Körper des Jungen und drückte ihn schützend an sich.
 

Adam keuchte leise. Er senkte die Augenlider, um seinen sich drehenden Kopf zu beruhigen, und lehnte sich nach hinten. An seinem Ohr hörte er das warme Keuchen Leons, der seine Arme immer noch um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Mit einer fahrigen Handbewegung wollte er sie abstreifen, überlegte es sich dann aber anderes und ließ die Hand einfach auf Leons Oberschenkel sinken. Ein angenehmer, herber Geruch stieg ihm in die Nase. Derselbe, den er schon auf dem Bett wahrgenommen hatte. Leons Duft. Er sank noch etwas mehr zusammen und genoss die Wärme, die der Körper hinter ihm ausstrahlte. Er drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, so dass Leons Atem über seine Stirn strich. So schön warm. So... schön...
 

Leon unterdrückte einen Schmerzenslaut. Bei dem Sturz hatte er einen Ellbogen an der Tischkante angeschlagen, und jetzt pochte es dort heftigst. Von dem Schreck, der ihn durchfahren hatte, als er Adam stürzen sah, ganz zu schweigen. Er schloss die Augen, um sich wieder zu fassen, und öffnete sie erst wieder, als er eine Hand auf seinem Oberschenkel spürte. Etwas überrascht hob er eine Augenbraue. Obwohl Adam ihn gerade ziemlich wütend beschimpft hatte, schien es ihm in seinen Armen gefallen, jedenfalls danach zu urteilen, wie er es sich dort bequem gemacht hatte. Und danach zu urteilen, wie er seinen Kopf zu ihm drehte. Fasziniert betrachtete er das gerötete Gesicht, die halbgeschlossenen Augen, die langen, schwarzen Wimpern, den leicht geöffneten Mund. Perfekt. Schmerzlich perfekt. Mit einem nachdenklichen, gierigen Blick lehnte er seine Wange gegen Adams fieberheiße Stirn, zog ihn noch enger an sich und verzog seine Lippen zu einem leichten Grinsen. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und entspannte sich, öffnete sie jedoch gleich wieder und tippte mit den Fingerspitzen auf Adams nackten Bauch.
 

„Ich weiß ja, dass es gemütlich ist, auf mir zu liegen, aber der Boden hier ist etwas kalt, und ich wage zu behaupten, dass es dir nicht unbedingt gut tut.“
 

Er quittierte Adams unerfreutes Stöhnen mit einem Lächeln und drückte ihn nach vorne, so dass sich dieser genötigt sah, aufzustehen, wenn er nicht wie eine leblose Puppe weiter dort sitzen wollte. Mit zittrigen Bewegungen raffte Adam das Laken und versuchte auf die Beine zu kommen. Er schwankte wie ein Fahnenmast im Sturm. Leon rappelte sich auf, packte seinen Gast um die Hüfte und bot ihm dadurch die nötige Stütze.
 

„Was hältst du davon, wenn du dich wieder hinlegst und dich ausschläfst? Ich rufe deine Eltern an und sag ihnen Bescheid, sie sollen dich morgen früh abholen und dich in der Schule entschuldigen. Na, ist das ein Angebot?“
 

Adam krallte seine Finger in Leons Hemd, um nicht mit den Beinen wieder einzuknicken, und nickte langsam. Leon musterte ihn belustigt. Der Kleine hätte wohl auch zugestimmt, wenn er ihm vorgeschlagen hätte, ihn in ein Mafiosobordell zu verkaufen. Er bezweifelte, dass auch nur ein Wort von dem, was er gesagt hatte, zu ihm vorgedrungen war. Nun ja, da er ja keinen unsittlichen Vorschlag gemacht hatte, zuckte er nur leicht mit den Schultern und half seinem kranken Gast, wieder nach oben ins Zimmer zu kommen. Es war keine leichte Sache, da das Fieber Adam jetzt komplett übermannt hatte und er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
 

Leon seufzte.
 

„Uhm... bevor du mich schlägst, weil ich es ungefragt mache, wie wär es, ich nehme dich auf die Arme? Das würde es uns beiden leichter machen.“
 

„Vergiss es, ich bin doch kein Weib!“
 

Es überraschte ihn milde, wie viel Empörung der Kleine noch in seinen Blick legen konnte, während die Stimme eher einem heiseren, absterbenden Flüstern glich. Er packte ihn noch etwas fester, seufzte noch einmal tief, und brachte ihn schließlich torkelnd zurück in sein Zimmer. Mit vorsichtigen Bewegungen, als ob es sich um eine Porzellanfigur handeln würde, legte er Adam auf sein Bett und deckte ihn fest zu.
 

Sanft strich Leon Adam ein paar Strähnen aus der Stirn.
 

„Ich brauch die Nummer deiner Eltern.“, meinte er leise, um den fast schon wieder schlafenden Jungen nicht zu stören. Dieser nuschelte nur etwas von wegen „Handy“, „Schultasche“ und „Mom“, und eine Sekunde später schlief er auch wieder tief und fest. Leon blieb noch einen Augenblick an seinem Bett sitzen und lächelte. Dann gab er sich einen Ruck und verließ mit einem Blick aus dem Fenster das Zimmer. Es war bereits spät, die Eltern würden sich wohl Sorgen machen. Er sollte schnellst möglich anrufen. Für einen Moment blieb er an der Tür stehen und betrachtete seinen schlafenden Gast. Mit einem liebevollen, siegessicheren Blick lehnte er seine Stirn gegen den Türrahmen. Ein selbstzufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
 

„Jetzt... gehörtst du mir.“

This land is mine

Adam stöhnte, zog die Decke noch fester um sich und öffnete halb ein Auge. Vorsichtig drehte er seinen Kopf und betrachtete das Zimmer. Natürlich, Leons Zimmer. Langsam, um jegliche zu schnelle Bewegung zu vermeiden, die seinem noch schwachen Körper zu viel werden könnte, stützte er sich auf seine Ellbogen. Vor die Festerfront waren bordeauxfarbene, leicht durchsichtige Vorhänge gezogen, die das Zimmer in ein Dämmerlicht tauchten, das nicht zu dunkel war, seine momentan empfindlichen Augen jedoch vor der Tagessonne schützte. Kleine Staubpartikel tanzten in einem Lichtstrahl, der durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hindurchschien und ein helles Muster auf den Teppich zauberte.
 

Mehrere Sekunden starrte er auf die Staubpartikel, fast schon fasziniert von ihrem Tanz, als plötzlich leise Töne in sein Bewusstsein vordrangen. Er drehte den Kopf etwas weiter und merkte, dass die Tür einen Spalt offen stand. Anscheinend befand sich Leon irgendwo im Haus, denn die Töne stammten von einem Lied, das in irgendeinem Raum gespielt wurde. Adam verstand kein Wort von dem Text, doch wirkte die Melodie sehr ruhig und heimelig. Er ließ sich wieder in die Kissen sinken und ließ seinen Blick weiterwandern. Auf einem Stuhl, der nicht weit von seinem Bett stand, lag seine Kleidung sorgfältig zusammengefaltet, daneben stand seine Schultasche. Über die Lehne hingen ein Bademantel und zwei Handtücher. Ihn durchfuhr kurz der Gedanke, ob wohl Leon die Kleidung zusammen gelegt hatte. Eine Haushälterin schien er nicht zu haben, doch traute er dem doch sehr feinen und gutgekleideten Künstler nicht wirklich hausmännische Fähigkeiten zu. Wobei ihm direkt wieder das gestrige Bild von der Hausfrau in Schürze in den Kopf schoss. Mit einem leichten Lächeln lehnte er sich noch etwas gemütlicher in die Kissen. Er spürte, dass es ihm besser ging, aber so wirklich stark fühlte er sich noch nicht. Nur, schlafen konnte er auch nicht. Mit einem Seufzen richtete er sich wieder auf und ließ die Decke von sich runter gleiten. Vorsichtig setzte er die Füße auf den Boden und stand wackelig auf. Es ging. Er spürte zwar ein leichtes Zittern in den Beinen, aber er würde wohl nicht direkt wieder einknicken. Langsam tapste er zum Bademantel und zog ihn sich über, betrachtete dann die zwei Handtücher und entschied, dass eine Dusche eine durchaus verführerische Idee war. Leon hatte anscheinend an alles gedacht. Nun, es war gewiss nicht das erste Mal, dass er Gäste in seinem Haus hatte. Vermutlich auch nicht das letzte Mal.
 

Adam strich sich kurz durch die Haare und nahm dann die Tücher an sich. Immer noch zittrig auf den Beinen verließ er das Zimmer. Etwas verwirrt starrte er den Flur entlang, schritt ihn dann langsam entlang und öffnete die nächstbeste Tür. Er seufzte. Irgendwie war ihm klar gewesen, dass sich direkt neben dem Schlafzimmer ein Bad befinden würde. Es war ein anderes als das, in dem er das erste Mal gewesen war, etwas kleiner und schlichter, nicht ganz so auf feuchtfröhliche Party ausgelegt, jedoch nicht minder elegant. Adam schluckte, schloss kurz die Augen und zog dann den Bademantel aus. Leicht überwältigt von dem Luxus, den ihn hier hinter jeder Tür aufs Neue erwartete, stellte er sich unter den Duschkopf und drehte das Wasser auf. Mit einem leisen Seufzer genoss er den warmen Strahl, der den Schweiß der letzten Stunden von ihm runterwusch. Die Augen leicht geschlossen betrachtete er die Wassertropfen, die an seinem Körper entlang nach unten liefen, den Dreck und, wie es ihm schien, die Müdigkeit mit sich nehmend. Für einige Minuten überließ er sich einfach dem Wasserstrahl und trat dann erfrischt und sauber nach draußen.
 

Der Dampf des heißen Wassers lag in der Luft, tauchte alles in nebeliges Licht. Er trat an den beschlagenen Spiegel, wischte einige Stellen frei und betrachtete sich. Langsam hob er die Hände und strich sich die Haare nach hinten. Mit den Augen folgte er den Wassertropfen, die von seinen Haaren seinen Hals entlang ronnen, über die Brust, hinab zu seinen Lenden. Mit bedächtigen Bewegungen folgte er mit den Fingerspitzen einer dieser Spuren. Irgendwie... tatsächlich, er sah gut aus. Nahezu makellos. Perfekt.
 

Einige Augenblicke verharrte er in seiner Bewegung, riss sich dann aber mit einem Ruck von seinem eigenen Anblick los und streifte sich den Bademantel über. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er würde jetzt wohl kaum zu einem kleinen Narzissten mutieren, der in sich und sein eigenes Aussehen verliebt war. Na, wäre ja noch schöner.
 

Adam trocknete sich kurz die Haare ab, huschte dann zurück in Leons Zimmer und zog sich seine Klamotten an. Dann packte er seine Tasche und verließ Leons Zimmer. Für einen Moment blieb er an der Tür stehen und betrachtete es noch einmal. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, das Bett in Ordnung zu bringen, so dass es ziemlich unordentlich und benutzt aussah. Trotzdem, im dämmrigen Licht, mit dem einzelnen Sonnenstrahl, mit den tanzenden Staubpartikeln und dem Lichtmuster auf dem Teppich, wirkte das gesamte Zimmer irgendwie friedlich, heimelig. Voller Ruhe und Entspannung.
 

Mit einem selbstironischen Lächeln drehte sich Adam weg und tapste den Flur entlang. Er brauchte nur der Musik zu folgen, um Leon zu finden. Anscheinend kam sie aus der Küche. Nun ja, den Weg dahin kannte er ja bereits. Die Tür stand komplett offen. Adam blieb kurz stehen und beobachtete Leon, wie er gerade heißes Wasser in eine Tasse goss, leise vor sich hin sang und sich sanft zur Musik bewegte. Er sah ihn zwar nur von hinten, aber er konnte sich den leicht verträumten Gesichtsausdruck bildlich vorstellen. Seine Haare, die er locker zusammen gebunden hatte, fielen wie feine, goldene Spinnweben über seinen Rücken. Sie bildeten einen faszinierenden Kontrast zu dem dunkelroten Hemd. Überrascht stellte Adam fest, dass er mal wieder darin versunken war, Leon einfach nur zu mustern. Wie aus einem kurzen Zauber herausgerissen, schüttelte er den Kopf. Sein Fieber. Das lag alles nur an seinem dämlichen Fieber, mehr nicht.
 

„Du hörst Dido?“
 

Leon zuckte zusammen und verschütte fast den Inhalt seiner Tasse. Überrascht drehte er sich zu Adam um.
 

„Ich hab dich gar nicht kommen hören.“
 

„Wundert mich auch nicht.“ Adam stellte seine Tasche neben den Türrahmen und setzte sich an den Tisch, sein Kinn auf eine Hand abgestützt. „Du warst ja auch mit Singen beschäftigt.“
 

„Mhm.“ Leon trat zu seinem kleinen Schützling und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Wie geht es dir? Dein Fieber scheint gesunken zu sein.“
 

„Mir geht’s auch besser.“ Er drehte seinen Kopf weg und strich sich die Haare zurück. „Ich dachte, du wolltest meine Eltern anrufen? Wieso bin ich dann immer noch hier?“
 

Leon lächelte leicht, trat an einen Schrank und holte eine weitere Tasse heraus. „Ich habe sie auch angerufen. Deine Mutter und ich waren uns aber einig, dass es besser wäre, wenn du bei mir übernachtest und sie dich dann heute abholt.“ Er machte einen anderen Schrank auf und begutachtete den Inhalt. „Willst du einen Tee? Oder was zu Essen? Du musst hungrig sein.“
 

Adam winkte ab. „Ein Tee reicht aus. Kamille, wenn du hast. Mit drei Löffeln Zucker.“
 

„Du magst es süß, kann es sein?“

Leon schüttete heißes Wasser in die Tasse, nachdem er den Teebeutel und den Zucker eingefüllt hatte, und stellte sie vor Adam. Sein eigenes Getränk in den Händen, setzte er sich ebenfalls.
 

„Sie ist sehr nett.“
 

„Wer?“
 

„Deine Mutter. Ich war etwas überrascht, dass sie es so fraglos hingenommen hat, dass du bei einem fremdem Mann bist und fiebrig im Bett liegst. Sie hatte anscheinend keine Hemmungen, dich über Nacht hier bei mir zu lassen.“
 

Adam zuckte mit den Schultern.
 

„Sie vertraut mir. Sie weiß schon, dass ich keinen Scheiß bauen werde.“
 

Leon lachte leise auf.
 

„Vertraut sie aber auch den Männern, mit denen du zu tun hast?“
 

Ein leicht verärgerter Ausdruck trat in Adams Augen.
 

„Ja. Weil ich selber auswähle, mit wem ich zu tun hab. Und weil sie dieser Auswahl vertraut.“
 

Mit einem süffisanten Lächeln hob Leon erstaunt beide Augenbrauen und schürzte die Lippen.
 

„Ein Segen, so eine Mutter zu haben. Beneidenswert.“
 

Adam sah ihn etwas erstaunt an, verbarg diesen Ausdruck aber sehr schnell. Dieser Satz hatte ihn jedoch neugierig gemacht. Es klang, als ob Leon keine so sonderlich tollen Eltern hatte. Gut, Adam hatte mit seiner Familie schon verfluchtes Glück, aber irgendwie... Es stand ihm nicht zu, danach zu fragen, selbst wenn Leon dann tatsächlich geantwortet hätte. Er senkte den Kopf und starrte in seine Teetasse, die Hände um sie geklammert. Einige Augenblicke herrschte Schweigen, fast schon ein bisschen unangenehm. Gerade, als Adam etwas sagen wollte, beugte Leon sich vor und berührte sein Handgelenk mit den Fingerspitzen.
 

„Würdest du wieder kommen?“
 

Der Junge sah auf, einen fragenden, misstrauischen Ausdruck in den Augen.
 

„Ich will dich malen.“ Leon lehnte sich zurück und sah ihn an, mit einem neutralen Gesichtsausdruck. Ohne diesen verschmitzen, verspielten Glanz in den Augen, den er normalerweise hatte. Eher wie ein Kunde, der die Ware musterte. „Ich habe es dir ja schon ein Mal gesagt, du siehst sehr gut aus. Und ich bin nun mal Künstler. Ich hätte dich gern als Modell.“
 

Adam machte eine wegwerfende Handbewegung. „Pff, ich dachte, ich bin unerotisch? Und jetzt willst du mich plötzlich malen?“
 

„Ja, du bist unerotisch. Für mich als Mann. Für mich als Künstler jedoch nicht. Für mich als Künstler bist du ein faszinierendes... Objekt.“
 

Adam schluckte, ignorierte den kurzen Stich, den er in seiner Brust gespürt hatte, und schaute Leon direkt in die Augen, mit dem selben neutralen Blick, den auch dieser ihm schenkte.
 

„Wie eine Ware? Nur ein Objekt?“
 

„Ja.“
 

Er senkte seinen Blick wieder und starrte seinen Tee nachdenklich an. Beim besten Willen, er konnte nicht sagen, ob ihn das Angebot schmeichelte oder abschreckte. Irgendwie hatte er Angst, von diesen Augen, die mal so kühl, so neutral, und dann wieder so verspielt, so überheblich blicken konnten, gemustert zu werden. Er würde viel Zeit mit diesem Mann verbringen. Sehr viel Zeit. Die Frage war nur, wollte er das?
 

„Hier.“ Leon schob ihm ein kleines Kärtchen hin. „Das ist eine Ausstellung von meinen Werken hier in der Stadt. Geh dahin, dann kannst du dir ein Bild davon machen, wie ich arbeite. Du musst dich nicht jetzt sofort entscheiden. Es ist immer etwas sehr intimes, über längere Zeit Modell für jemanden zu stehen, ich kann’s verstehen, wenn du zögerst. Ruf mich einfach an, wenn du dich entschieden hast. Lass dir Zeit.“
 

Adam starrte einige Momente auf die Karte, nickte dann und steckte sie sich in seine Hosentasche. „Ich ruf meine Mom an. Besser, sie holt mich ab.“
 

Das Telefonat dauerte nicht lang. Er gab ihr nur eine kurze Wegbeschreibung, mehr nicht. Seine Mutter würde bald da sein. Danach setzte er sich wieder an den Tisch und trank seinen Tee. Er und Leon sprachen nicht viel.
 

> This land is mine but I’ll let you rule <
 

Nur die Musik füllte die Stille zwischen ihnen. Es war nicht unagenehm, eher friedlich.
 

> I let you navigate and demand

Just as long as you know this land is mine <
 

Leon sang leise mit. Er hatte seinen Kopf zurück gelehnt und die Augen halb geschlossen.
 

> So find your home and settle in <
 

Adam stützte sein Kinn auf seine geschlosse Hand, die Finger der anderen Hand locker um die Teetasse gelegt. Einige Haare fielen ihm in die Augen. Sein Blick ruhte ruhig auf Leon.
 

> Oh, I’m ready to let you in <
 

Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. Es war irgendwas am Beginnen. Er hatte Angst davor und gleichzeitig erwartete er es mit großer Spannung. Es wirkte... wie ein fremder Wind.
 

> Just as long as we know this land is mine <
 

Ein eiskalter, fremder Wind.
 

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Lyrics: Dido - This land is mine

„Kannst du die Musik nicht ein bisschen leiser stellen, Schatz?“
 

Adam griff langsam nach der Fernbedienung und drückte auf die Pause-Taste. Es tat gut, die Musik so laut wie möglich aufzudrehen und sich alle Gedanken wegdröhnen zu lassen. Rammstein war dafür recht gut geeignet. Oder Megaherz. Oder... na ja, egal. Er drehte seinen Kopf zu seiner Mutter, die gerade mit zwei Tassen in der Hand ins Zimmer gekommen war und ihm eine der Tassen hinhielt. Mit einem dankbaren Lächeln griff er danach. Seine Finger versanken noch halb in dem Pullover, den er von seinem Vater geliehen hatte. Dieser Pullover war weich, kuschelig und ihm mindestens drei Nummern zu groß, da sein Vater in um einen Kopf überragte und das Kreuz eines Bären hatte, aber er war genau das Richtige für einen Kranken. Einen leicht melancholischen, nachdenklichen Kranken, der in Kuschelstimmung war.
 

Er nahm einen Schluck von der heißen Schokolade, während seine Mutter sich neben ihm auf dem Bett niederließ, die Beine an den Körper zog und ihn anlächelte. Sie trank Kaffee, wie immer. Der reinste Kaffeejunkie. Kein Wunder, dass sie manchmal ein bisschen aufgedreht war.
 

„Wie geht’s dir?“

„Uhm... schon besser, denk ich.“ Er tastete nach seiner Stirn. „Das Fieber ist weg, würde ich sagen.“ Er schielte zu seiner Mutter. „Aber ich glaube nicht, dass ich schon gesund genug für die Schule bin.“
 

Sie lachte leise auf. Adam liebte ihr Lachen. Es hatte etwas angenehmes, warmes und niemals bösartiges an sich. In diesem Lachen lag Geborgenheit und Wärme.
 

„Das dachte ich mir fast schon.“
 

Einige Sekunden schwiegen sie.
 

„Was ist zwischen dir und ihm?“
 

So eine ähnliche Frage hatte Adam bereits erwartet. Er hob hilflos die Schultern.
 

„Keine Ahnung.“
 

„Keine Ahnung?“
 

Sie blickte ihn einen Moment sehr intensiv an.
 

„Bist du schwul?“
 

Wieso musste diese Frau nur immer so direkt sein? Adam zuckte leicht zusammen.
 

„Keine Ahnung.“
 

Als ob es ein besonders faszinierendes Geschöpf wäre, starrte er in seine Tasse, doch er wusste, seine Mutter würde ihn nicht in Ruhe lassen, bis sie eine zufriedenstellende Antwort bekommen hätte.
 

„Er ist... keine Ahnung, es ist nicht so, dass er mich sexuell erregt oder so was. Oder das ich in ihn verliebt wäre. Jedenfalls glaub' ich das nicht, ich kenn ihn schließlich kaum und so. Aber er ist... irgendwie... faszinierend. Ich mein,“ er sah kurz zu ihr auf, „du hast ihn selbst erlebt. Er strahlt was aus. Charisma, Aura, Charme. Keine Ahnung, wie ich das nennen soll. Aber, dem verfällt doch jeder. Deswegen... ich glaube nicht, dass ich schwul bin. Wirklich nicht. Nur, er reizt mich. Irgendwie. Ich weiß nicht zu was oder so, aber er reizt mich.“
 

„Wieso hast du dann sein Angebot nicht gleich angenommen? Das mit dem Modell stehen.“
 

„Ich hab' Angst.“ Er seufzte leise. Keine Ahnung, zum wievielten Mal in seinem Leben er dem Himmel dafür dankte, dass er mit seinen Eltern über so was reden konnte. „Ich hab' Angst, dass er mich schwul macht.“ Sein Blick wanderte wieder zu seiner Tasse. „Er hat was aufdringliches. Nein, was... anziehendes. Ich hab' Angst, ihm nachzugeben. Ich glaube nicht, dass ich ihm standhalten kann.“
 

Seine Mutter schwieg einige Augenblicke.
 

„Hast du Angst vor dem Sex? Oder hast du Angst davor, herauszufinden, dass du vielleicht schwul bist?“
 

Er hob etwas verwirrt die Augenbrauen und sah sie verunsichert an.
 

„Macht dir das denn gar nichts aus?“
 

„Was?“
 

„Ein schwuler Sohn. Ich mein, ihr, du und Dad, würdet keine Enkelkinder kriegen und so.“
 

Sie sah ihn einen Moment verblüfft an und lachte dann leise auf.
 

„Mei, mei, worüber du dir Gedanken machst. Adam, Schatz, ich möchte, dass du glücklich bist. Ich habe dich nicht geboren, um irgendwann Enkelkinder zu bekommen, sondern damit du ein junger, vernünftiger Mann wirst, der glücklich ist. Es steht mir nicht zu darüber zu urteilen, wie du dieses Glück erreichst, solang du niemandem schadest.“
 

Mit einem verschmitzen Lächeln zog sie ihn in ihre Arme und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.
 

„Dad und ich werden dich immer lieben, egal was geschieht, egal was du machst oder was du bist. Klar?“
 

Er nickte langsam. Eigentlich war ihm das klar gewesen. So waren die Beiden halt, sie verurteilten nicht, sie nahmen hin und genossen es.
 

„Und? Wie steht’s jetzt?“ Sie fuhr ihm durchs Haar. „Willst du dich auf ihn einlassen?“
 

„Und schwul werden?“ Er drückte sich noch näher an sie.
 

„Hast du davor solche Angst?“ Ruhig legte sie ihre Hände auf seinen Rücken und hob ihren Blick überlegend nach oben. „Weißt du, nur weil du für ihn Modell stehst, und später vielleicht sogar mit ihm schläfst, heißt das nicht, dass du dann komplett schwul bist. Natürlich, es wäre möglich, es wäre auch möglich, dass du bisexuell bist. Oder das es einfach nur eine Probephase ist, um selber herauszufinden, was du willst.“ Sie schwieg kurz. „Du bist gerade mal siebzehn, Adam. Du musst dich auf nichts festlegen, selbst wenn du zwanzig, vierzig oder achtzig bist. Du hast dir bis jetzt doch nie einen Stempel aufdrücken lassen, wieso solltest du also jetzt damit anfangen?“ Sie drückte ihn ein wenig von sich weg und sah ihm in die Augen. „Du bist und bleibst Adam, egal was du machst. Du musst nur voll und ganz hinter deinem Tun stehen. Lass dich zu nichts überreden oder verführen, was du nicht willst.“ Ein leichtes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Selbst wenn es so ein verführerischer Mann wie dieser Leon ist.“
 

„Mom! Willst du Dad untreu werden?“ Adam blickte sie gespielt empört an.
 

Sie lachte leise auf. „Dummchen, natürlich nicht. Ich liebe deinen Vater. Aber Leon hat durchaus eine starke Ausstrahlung. Würd mich nicht wundern, wenn du ihm verfällst.“
 

„Was?“ Ihm fielen die Augen halb aus dem Kopf. „Und dann sagst du einfach so ‚Ja, mach' nur, geh zu ihm, tüdeldü’???“
 

Seine Mutter kniff ihm leicht in die Wange. „Wieso nicht? Ich glaube nicht, dass ich mir um dich Sorgen machen muss. Selbst wenn du ihm verfällst, selbst wenn er dir vielleicht sogar weh tut, Dad und ich sind immer an deiner Seite, wir werden dir helfen, so gut es geht. Und du selber, du bist stark, Adam. Auch wenn du auf Wölfe wie Leon wie ein kleines, hilfloses Lamm wirkst, du hast einen sehr, sehr harten Kern. Er kann dir nichts anhaben. Er würde nur deine Schale ankratzen, aber letztenendes würde er von dir an die Wand gespielt werden. Da bin ich mir sicher.“
 

Adam sah sie leicht verblüfft an. „Du hältst ja einiges von mir.“
 

„Natürlich, ich bin ja auch deine Mutter und liebe dich über alles. Und ich kenn dich immerhin seit deiner Geburt.“ Sie beugte sich vor und gab ihm einen leichten Kuss auf die Stirn. „Aber jetzt geh schlafen, damit du komplett gesund wirst. Du willst morgen doch noch zu seiner Ausstellung, nicht wahr?“
 

„Aye.“ Er machte einen verdatterten Gesichtsausdruck. „Woher weißt du das? Ich hab' mich doch selber grad erst dafür entschieden.“
 

„Ach, Schatz, du bist mein Sohn. Ich kenn dich besser als du glaubst.“
 

Sie nahm seine leere Tasse, stand auf und ging zur Tür. „Gute Nacht, Liebling.“ Gerade als sie zumachen wollte, steckte sie den Kopf noch mal rein. „Aber vergiss bitte nicht, Kondome zu benutzen.“
 

„Mom!!!“
 

Das Kissen knallte nur noch gegen die geschlossene Tür, während noch ihr leises Kichern zu hören war. Adam lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, den Mund schmollend verzogen. Es konnte wirklich nerven, so eine Mutter zu haben, die einen in- und auswendig kannte und kein Blatt vor den Mund nahm. Nach einigen Augenblicken aber ließ er sich auf den Rücken fallen, schaltete die Musik wieder ein und schloss die Augen. Sie hatte ja recht. Er würde sich mal seine Bilder anschauen. Vielleicht waren sie ja derart miserabel oder abstoßend, dass er sich dagegen entschied, Modell zu stehen. Vielleicht auch nicht.

Er knurrte leise, zog die Visitenkarte aus der Hosentasche und starrte sie an.
 

“Ihren letzten Kommentar hätte sie sich aber wirklich sparen können.“ murmelte er leise, stellte seinen Handywecker und machte dann das Licht aus. In den Pullover seines Vaters gekuschelt rollte er sich zusammen und schlief einige Augenblicke später ein. Das letzte Bild in seinem Kopf waren volle Lippen, die sich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen.

Der Regen klopfte leise, aber stetig gegen die Fensterscheiben der Gebäude. Draußen war es bereits ein wenig dämmrig, obwohl es erst früher Nachmittag war. Die Menschen hasteten durch die Straßen, teilweise unangenehm vom Regen überrascht, jedoch definitiv nicht sonderlich erfreut über ihn. Kleine Pfützen bildeten sich auf dem Asphalt, in denen sich am Abend wohl die untergehende Sonne spiegeln und hübsche Bilder auf die Oberfläche zaubern würde.
 

Eine dieser Pfützen umrundete Adam gerade. Er wollte seine Jeans nicht unbedingt nass machen, jedoch auch nicht die schöne, glatte Wasseroberfläche zerstören. Eine Kapuze über den Kopf gezogen und einen dicken Schal um den Hals gebunden, war er bestens gegen den Regen, die Kälte und eine eventuelle erneute Erkältung gewappnet, also machte ihm das Wetter auch nicht wirklich was aus, im Gegensatz zu den um ihn herum hastenden Leuten. Irgendwie passten das ruhige Rauschen und die sanften Tropfen auf seiner Jacke sogar perfekt zu seiner Stimmung. Obwohl er beim besten Willen nicht sagen konnte, was das für eine Stimmung war.
 

Einige Minuten später kam er schließlich bei seinem Ziel an, einem zweistöckigen, modernen Glasbau mit einer großen Eingangshalle, deren Boden aus Marmor bestand.
 

„Absolut edel, was? Passt zu Leon.“, murmelte er leise vor sich hin, während er sich zum Ticketschalter begab.
 

Man nannte das Gebäude „Vitreous Cabin“, gläserne Kabine. Der Name war nicht sonderlich einfallsreich in seinen Augen, aber laut den Infos, die er auf deren Website gelesen hatte, stellten hier nicht nur renommierte Künstler aus, die sich bereits einen Namen gemacht hatten, sondern auch talentierte Newbies, die teilweise noch nicht mal ihren Schulabschluss hatten. Hier sah man alles, was Können und Talent besaß und im Künstlerbereich es zu etwas bringen würde. Adam hatte nicht mal gewusst, dass es in seiner Stadt so etwas gab. Tja, man lernte auch nie aus.
 

Leons Werke befanden sich im zweiten Stock, den man über einen Fahrstuhl bequem erreichen konnte. Auch hier war der Boden aus weißem Marmor, während die Ecken von Pflanzen geschmückt waren. Zahlreiche gepolsterte Stühle und weiche Sofas luden zum Betrachten der Gemälde ein, ohne sich die Füße in den Bauch zu stehen. Luxuriös bis in alle Ecken und Enden. Hier hatten vermutlich sogar die Spinnen Netze aus Diamant. Jedenfalls kam es Adam so vor.
 

Er seufzte leise, da er sich absolut unpassend vorkam. Die Besucher trugen allesamt Markenklamotten oder edle Anzüge, während er sich in seinen ausgewaschenen Jeans, dem uralten Pullover und der abgewetzten Jacke ziemlich underdressed vorkam. Obwohl es nur ne dämliche Kunstausstellung war. Das Kinn stur nach vorne gerichtet und auf die Blicke einiger Leute gar nicht achtend ging er zu einem Bild. Sofort war seine Umgebung vergessen.
 

Es war kein besonders außergewöhnliches Motiv. Ein kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren mit zwei langen, blonden Zöpfen saß auf einer Schaukel und schwang hin und her. Sie trug ein luftiges, hellblaues Sommerkleid mit Gänseblümchenstickerei drauf, und violette Sandalen an den kleinen, zierlichen Füßen. Der Boden war bedeckt mit braungrünem Gras, von der Sommerhitze ausgetrocknet, und in der Nähe stand ein umgekipptes Körbchen mit roten, süßen Erdbeeren, von denen ein paar nach draußen gekullert waren. Das Mädchen selber hatte ihre dunkelgrünen Augen verträumt in den Himmel gerichtet, als ob es einer Schwalbe oder einer Schäfchenwolke nachschauen würde.
 

Es war jedoch nicht das Motiv, dass ihn so faszinierte. Es war eher die Lebendigkeit in diesem Bild. Man konnte förmlich die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren, das Gras unter den Füßen und die warme Luft in den Lungen. Würde man jetzt die Hand ausstrecken, könnte man die Haut des Mädchens berühren.
 

Langsam wanderte er zum nächsten Gemälde. Diesmal war das Motiv ein leerer Spielplatz bei Regen. Dunkle Wolken ballten sich zusammen, während die Schaukel sich einsam im Wind hin und her wog und sich auf der Rutsche Wasser sammelte. Ein mulmiges Gefühl des Alleinseins stieg in Adam auf und nach und nach, je nach Motiv, durchlebte er ein Sammelsurium verschiedenster Gefühle. Von höchster Glückseligkeit über tiefste Depression, von Freude und Kinderlachen bis zu Trauer und Todestränen, Sturheit, Ausgelassenheit, Sorglosigkeit, Arroganz. Jedes der Bilder, egal ob es eine Person, ein Tier, eine Pflanze oder eine Landschaft als Motiv hatte, vermittelte ein anderes Gefühl. Mit solcher Eindringlichkeit, dass man sich ihm unmöglich entziehen konnte.
 

Adam sah sich die Gesichter der anderen Besucher an, vor Angst, als einziger derart sensibel auf die Gemälde zu reagieren, doch nach den unterschiedlichen Ausdrücken auf den Gesichtern zu urteilen, die teilweise Unglauben, teilweise die Stimmung der Bilder widerspiegelten, hatte es die gleiche Wirkung auf alle.
 

Bei einem Gemälde blieb er schließlich stehen. Auf den ersten Blick passte es so gar nicht in die Sammlung. Es stellte eine schlichte Landschaft bei Sonnenuntergang dar. Einige dunkle Tannen standen am Rande des Bildes, den Mittelpunkt bildete ein stiller, grauer See. In weiter Ferne sah man einige angedeutete Berge, die hinter einigen Wolkenhügeln verschwanden. Ein durch und durch typisches Landschaftsbild. Langsam stieg es in ihm jedoch auf, kroch sein Rückrat nach oben und umfasste sein Herz mit eisiger Kralle. Angst. Pure, panische Angst.
 

Erschrocken drehte er sich um, um sich aus diesem Bann zu lösen, und sah sich prompt einer jungen Frau gegenüber, die ihn aus leicht geweiteten Augen anstarrte. Nach einigen Augenblicken, in denen keiner von beiden sich bewegte, lachte sie plötzlich auf.
 

„Entschuldige, kommt dir sicher doof vor, wenn dich jemand so anstarrt, was?“
 

Sie hatte eine angenehme, tiefe Stimme. Schwarze lange, glatte Haare, helle Porzellanhaut und dunkelbraune Mangelaugen. Eine schlanke Figur und gepflegte Kleidung. Eine wirklich hübsche Frau.
 

„Nein, nein, schon in Ordnung.“ Er lachte etwas nervös auf. Ihr Blick war sehr durchdringend, als ob sie bis auf den Grund seiner Seele schauen könnte. Wieso traf er in letzter Zeit nur dauernd solche verwirrenden Leute? „Ich hab' wohl auch einen etwas seltsamen Eindruck gemacht, wie ich da auf das Bild gestarrt hab, was?“
 

„Hm.“ Sie sah ihn nachdenklich an und trat dann näher an das Gemälde heran. „Du bist sehr sensibel. Die wenigsten Besucher können bei diesem Werk das versteckte Gefühl erfassen.“ Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Du hast bestimmt schon gemerkt, dass jedes Bild ein bestimmtes Gefühl vermittelt, nicht wahr? Dieses fällt jedoch aus dem Rahmen. Es ist so unterschwellig versteckt, dass nur sehr empfindsame Leute es merken. Und Angst bekommen.“
 

Toll, jetzt wurde er auch noch als Sensibelchen abgestempelt, und das nach nicht mal fünf Minuten des Kennens. Konnt’ ja nur noch besser werden. Er musterte erneut das Gemälde, doch diesmal befiel ihn nicht diese unbändige Angst wie davor. Vielleicht, weil er es diesmal nicht alleine anschaute. So standen sie einige Momente da, als die Frau sich dann mit Schwung zu ihm umdrehte.
 

„Bist du hier fertig?“
 

Etwas verwirrt starrte er sie an, nickte dann langsam. Dieses Landschaftsbild war das letzte Gemälde gewesen.
 

„Hast du Lust mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?“ Sie lächelte ihn freundlich an, klatsche sich dann aber plötzlich an die Stirn. „Oh, entschuldige, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sachiko.“
 

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und er ergriff sie etwas zögerlich.
 

„Eh, Adam. Ich heiße Adam.“ Was war nur an ihm dran, dass ihn in letzter Zeit dauernd irgendwelche wildfremden Menschen ansprachen? „Ja, eh... meinetwegen, gehen wir 'nen Kaffee trinken.“
 

„Super. Ich kenne da ein ganz schnuckeliges Cafe in der Nähe, ist gar nicht weit weg. Komm mit.“
 

Sie sprudelte förmlich über vor Energie. Wie konnte jemand nur soviel Energie haben? Adam schüttelte nur den Kopf und folgte ihr, einen letzten Blick auf das Landschaftsgemälde werfend. Welches Gefühl würde wohl ein Gemälde mit ihm als Motiv vermitteln?
 

Einige Minuten später hatten sie auch dieses „schnuckelige Cafe“ erreicht. Ein Insider, von selber hätte er es niemals gefunden, so wie es hinter Bäumen und Büschen versteckt war. Der Raum fasste vielleicht fünfzig Besucher, wenn überhaupt, und die Inneneinrichtung bestand aus weichen Polstern und dunklen Holzmöbeln. Wirklich sehr gemütlich, ein Cafe, in dem jeder jeden kannte, wie Adam auch sofort mitbekam, als der Mann an der Theke Sachiko überschwänglich mit einem Bussi links, Bussi rechts begrüßte. Dann wandte er sich mit lächelnden Augen Adam zu. Der Mann war schon älter, Mitte Fünfzig vielleicht, aber wirkte noch sehr rustikal und hatte einen warmen Ausdruck in den Augen.
 

„Na, was hast du denn diesmal für ein süßes Bürschlein abgeschleppt, Sachi?“ Er zog Adam an sich und wiederholte die „Bussi links, Bussi rechts“ - Prozedur auch bei ihm, ohne das der Junge Zeit hatte, sich auch nur irgendwie zu wehren. „Willkommen in der ‚Regenbogenkatze’, ich hoffe, es gefällt dir hier.“
 

Was war denn das für ein seltsamer Name? Adam lächelte jedoch nur etwas verunsichert und wurde gleich von Sachiko an einen Tisch am Fenster gezogen, ohne die Möglichkeit zum Antworten zu bekommen.
 

„Na, was willst du haben?“ Sie lächelte ihn freundlich an.
 

„Eh... ne heiße Schokolade.“ Er hatte noch nicht mal Zeit gehabt, in die Karte zu schauen. Aber gut, hier fackelte man anscheinend nicht lange.
 

„Gut.“ Eine junge Kellnerin kam mit einem Lächeln angetrippelt und Sachiko gab die Bestellung auf. Dann lehnte sie sich zurück und musterte Adam mit leicht zusammen gekniffenen Augen.
 

„So, und jetzt erzähl mir mal, woher du Leon kennst.“

Hätte er in diesem Augenblick etwas getrunken, hätte er es wohl über den ganzen Tisch verteilt. Stand seit neuestem auf seiner Stirn „Ich kenne Leon“?
 

„Und woher weißt du, dass ich ihn kenne?“ Ihm schien es irgendwie unpassend, Sachiko zu Siezen, und sie hatte anscheinend nichts dagegen.
 

„Uhm, du machst so einen Eindruck. Ich meine, du siehst nicht grad wie der typische Besucher von Kunstausstellungen aus, das heißt, wenn du eine besuchst, bist du vermutlich mit dem Künstler bekannt.“
 

„Und du kennst Leon näher?“ Er zog leicht eine Augenbraue hoch. Diese Erklärung stellte ihn nicht wirklich zufrieden, war aber irgendwie durchaus plausibel.
 

„Nun ja, wir sind quasi zusammen aufgewachsen. Sehr enge Freunde, also.“
 

„Freunde? Keine Lover?“
 

Noch bevor er sich auf die Zunge beißen konnte, war diese Frage schon draußen. So unverschämt hatte er eigentlich nicht sein wollen, aber sie lachte nur.
 

„Nein, nur Freunde. Er hat nie Interesse an mir gezeigt.“
 

„Du aber an ihm?“ Scheiß drauf, wenn es ihr nichts ausmachte, konnte er auch fragen, egal wie unverschämt es klingen mochte.
 

„Wer nicht? Oder willst du mir etwa sagen, du könntest dich so einfach seinem Charme entziehen?“ Sie lächelte, etwas wehmütig. „Aber es war nie die große, unglückliche Liebe. Ich war es eigentlich zufrieden, mit ihm befreundet zu sein. Mehr hatte ich wirklich nicht nötig.“
 

„Aha.“ Adam schwieg. Es wurden die Getränke gebracht und er beschäftige sich damit, in seine heiße Schokolade zu starren und den Regentropfen, die immer noch sanft gegen das Fensterglas schlugen, zuzuhören.
 

„Nun, wie hast du ihn kennen gelernt?“ Sachiko nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sah ihn unter leicht gesenkten Lidern fragend an.
 

„Neugierig bist du gar nicht, was?“
 

„Doch, bin ich.“ Sie lächelte leicht. „Genauso wie du.“
 

Adam seufzte leise und zuckte mit den Schultern.
 

„Bei einem Spaziergang. Er hat mich angesprochen. Danach hab' ich ihn noch mal zufällig gesehen und er hat mich gefragt, ob ich ihm Modell stehen will. Und heute bin ich halt zu seiner Ausstellung gegangen, um mal zu schauen, was er so produziert. Das war’s.“
 

„Du sollst für ihn Modell stehen? Oha.“ Es schien, als ob sie noch etwas hatte sagen wollen, aber sie verkniff es sich.
 

Er sah sie leicht verwirrt an. „Ja. Ist das so seltsam?“
 

„Nein, nein, überhaupt nicht. Er ist so ein Typ, der einfach jemanden auf der Straße anspricht, wenn er ihm gefällt.“ Sie lehnte sich zurück und spielte nachdenklich mit einer Strähne ihres langen Haares herum. „Und, willst du es denn machen? Ihm Modell stehen?“
 

„Keine Ahnung.“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Ich hab' mich noch nicht entschieden.“
 

Sachiko legte ihren Kopf leicht schief. „Darf ich dir dann einen Tipp geben? Falls du vorhast, für ihn zu arbeiten, verlieb dich nicht in ihn. Er würde dir nur weh tun, glaub mir.“
 

Adam verschluckte sich fast an seiner Schokolade und sah sie verdattert an. „Danke für den Rat, hatte ich eigentlich nicht vor. Ich werd ihn aber trotzdem beherzigen.“
 

„Sehr gut.“ Sie lächelte erleichtert. „Es wäre nämlich wirklich schade, wenn du an ihm zu Grunde gehst.“
 

Toll, super Neuigkeiten. Da kam ne wildfremde Frau daher und warnte ihn davor, sich in Leon zu verlieben. Zu allem Übel kannte diese Frau ihn schon seit 'ner halben Ewigkeit, ihre Warnung hatte also durchaus Hand und Fuß. Adam starrte aus dem Fenster und beobachtete gespannt, wie das Regenwasser an den Blättern eines Busches nach unten tropfte. Nicht, dass er irgendwas in die Richtung vorgehabt hätte, aber sonderlich rosige Aussichten waren das nicht. Und mit so jemanden sollte er zusammen arbeiten?
 

Adam wollte gerade ansetzen zu sprechen, als plötzlich ein Handy klingelte. Es schien Sachikos zu sein. Nach einigen kurzen Sätzen klappte sie es zu und sah Adam entschuldigend an.
 

„Tut mir leid, ich muss dringend was erledigen. Bleib ruhig noch sitzen, wenn du willst, bestell auch noch was. Ich lad' dich ein, dass geht dann alles auf meine Rechnung. Sag dem Mann hinter der Theke einfach Bescheid.“
 

Sie drückte ihm kurz einen Kuss auf die Wange und wollte schon loslaufen, als er sie an der Hand festhielt. Überrascht sah sie ihn an.
 

„Was rätst du mir?“ Er sah sie aus hilflosen, kristallklaren Hundeaugen an. „Soll ich für ihn Modell stehen?“
 

Sachiko starrte ihn einen Moment lang an und seufzte dann leise.
 

„Ich glaube nicht, dass ich dir da einen vernünftigen Rat geben kann, dazu kenn' ich dich nicht gut genug. Tu, was du für das Beste hältst. Leon ist manchmal etwas schwierig zu handhaben, aber wenn du dich nicht allzu sehr auf ihn einlässt, dürftest du das schon hinkriegen, denk ich.“ Sie lächelte. Es sollte wohl beruhigend wirken, verfehlte aber die Wirkung auf Adam. „Wenn was ist, kannst du dich gern an mich wenden, jederzeit.“ Schnell nahm sie einen Stift aus der Tasche und schrieb eine Nummer auf einer Serviette auf. „Ruf mich einfach an, egal um welche Zeit.“
 

Mit einem letzten freundlichen Blick steckte sie ihm die Serviette zu und verschwand dann aus dem Cafe. Adam seufzte. Na, sonderlich beruhigend klang das ja nicht grade. Was war Leon nur für ein Mensch, dass es so eine Warnung benötigte?
 

Er blieb nicht mehr lange sitzen. Trotz der freundlichen Atmosphäre war ihm die Luft in dem Raum auf einmal zu stickig, zu schwer geworden. Also bezahlte er die Rechnung, denn sich von Sachiko einladen zu lassen kam ihm gar nicht in den Sinn, und verließ das Cafe. Draußen sog er erst mal tief die regenschwere Luft ein. Für einen Moment hob er sein Gesicht dem Himmel entgegen und ließ die Tropfen auf seine Haut prasseln. Die dunklen Wolken schluckten das schwache Sonnenlicht und tauchten die Straßen in dämmriges Grau, ließen jedoch bereits ein wenig blauen Himmel durchscheinen. Gegen Abend würde es eindeutig aufklaren. Vielleicht konnte er dann auf dem Heimweg sogar einen schönen, feurig roten Sonnenuntergang genießen.
 

Das brachte ihn alles aber bei der Entscheidung nicht ein bisschen weiter. Adam seufzte und blieb stehen. Nachdenklich starrte er in die Pfütze, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Verliebt war er nicht. Nein, definitiv nicht. Aber irgendwas... irgendwas reizte ihn einfach. Wie er ihn ansah. Wie er mit ihm sprach. Wie er ihn berührte. Wie er ihn anlächelte. So überheblich, so selbstsicher, so absolut arrogant. Und irgendwie... so absolut verzaubernd. Mist, er benahm sich wie ein kleines Mädchen, dass einem Ritter auf dem weißen Pferd begegnet war. Verärgert kickte er einen Stein weg, der in der Nähe lag, und stapfte weiter. Trotzdem, seit ihrem Treffen hatte Leon seine Gedanken nicht mehr verlassen. Die ganze Zeit, immer wieder, musste er an ihn denken. Er blieb wieder stehen. Nein, er war nicht verliebt, er war neugierig. Verdammt neugierig, was hinter dieser arroganten Fassade steckte, verdammt neugierig, wie weit der Kerl ihn treiben würde. Und wie weit er ihn treiben würde. Wer wen zuerst wahnsinnig machen würde. Wer zuerst fliehen würde.
 

Adam seufzte. Eigentlich war das Ergebnis schon klar gewesen, als er das erste Gemälde von ihm gesehen hatte. Er wollte es wissen, wollte wissen, welches Gefühl Leon mit Adam als Motiv vermitteln würde. Wollte wissen, ob dieser Mann, der alles in seiner Nähe zu sich heran zog und damit spielte, wie es ihm grad gefiel, auch ihn, Adam, derart in der Hand haben würde.
 

Mit einem entschiedenen Lächeln zog er sein Handy und tippte die Nummer ein. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden geliebt außer seinen Eltern. In seinem ganzen Leben war er noch nie bis in die tiefsten Ebenen seines Herzens verzweifelt gewesen, hatte noch nie einen derartigen Schmerz gespürt, dass es ihn zu zerstören drohte. Er war gespannt, ob Leon ihm diese Gefühle vermitteln würde können.

Im Hintergrund lief leise Musik, zu leise, als das man den Text hätte mitverfolgen können, aber die Melodie wirkte beruhigend. Im Zimmer war es warm, aber man hörte draußen den Regen auf den Boden prasseln. So langsam bekam Adam das Gefühl, dass die Welt demnächst im Regen untergehen würde, so, wie es in den letzten Tagen geschüttet hatte. Zwar niemals wirklich viel, aber dafür stundenlang. Ihn fröstelte, wenn er daran dachte, dass er später in die Kälte raus gehen müsste. Auch wenn Leon ihn nach Hause fahren würde, er musste erst mal die Strecke zum Wagen zurücklegen, dieser würde erst mal warm werden müssen, und überhaupt... Bäh.
 

„Könntest du mal bitte dein Gesicht so lassen wie es ist?“ Leon zog leicht verärgert eine Augenbraue hoch.
 

„Darf ich nicht mal mehr denken, während ich hier sitze?“
 

„Doch, darfst du, aber musst du dabei dein Gesicht verziehen?“
 

„Ich hab mein Gesicht nicht verzogen.“
 

„Doch, hast du.“
 

„Nein, hab ich nicht.“
 

„Doch, ha...“ Leon seufzte. „Du bist echt ein kleines Kind, weißt du das?“
 

„Bin ich nicht.“ Adam zog einen Schmollmund.
 

Nicht, dass er es ernst meinte, aber er hatte sehr schnell gemerkt, dass Leon es nicht leiden konnte, wenn man ihm widersprach. Natürlich hatte er beim Gedanken an das Regenwetter das Gesicht unbegeistert verzogen. Und natürlich benahm er sich gerade wie ein kleines Kind. Aber wenn er damit den großen Maler ärgern konnte, nutzte er es mit Freuden aus. Und dass Leon verärgert war, konnte er überdeutlich an den rauchgrauen Augen sehen, die von einiger Entfernung her zu ihm rüber funkelten.
 

„Würdest du dich bitte in Position begeben?“ Er warf ihm einen unmissverständlich auffordernden Blick zu. „Wir haben nicht bis in alle Ewigkeit Zeit.“
 

„Natürlich, mein Meister, natürlich.“ Adam setzte sich etwas bequemer hin. „Schließlich werde ich auch irgendwann mal alt und runzlig und bin dann für dich nicht mehr zu gebrauchen, nicht wahr?“
 

Wie erwartet bekam er keine Antwort drauf. Wenn es um seine Arbeit ging, war Leon unerwartet konzentriert und ließ keine Späßchen zu. Erst nachdem er entschieden hatte, dass sie beide genug für den Tag gearbeitet hatten, konnte er wieder so locker sein wie sonst auch immer.
 

Adam musterte ihn unter leicht gesenkten Augenlidern. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie sich ein Mal die Woche für zwei bis drei Stunden treffen würden. Es war gerade mal die zweite Sitzung, doch während Adam einfach nur irgendwelche Posen einnahm, hatte er mehr als genug Zeit, Leon zu beobachten. Und einiges über ihn zu lernen. Zum Beispiel, wodurch er sich ärgern ließ. Oder dass er ein konzentrierter Arbeiter war. Oder dass er die Angewohnheit hatte, sich leicht auf die Unterlippe zu beißen, wenn er komplett in seine Zeichenwelt abgetaucht war. Die Art, wie er sich die Strähnen zurückstrich, die sich aus seinem lockeren Pferdeschwanz gelöst hatten. Oder wie er nervös mit dem Fingern auf einem Knie rumtippte, während er auf seinen Skizzenblock starrte und sich überlegte, was er an diesem und jenem Detail verbessern konnte. Adam hatte verflucht viel Zeit, um diese ganzen kleinen Dinge in sich aufzusaugen. Er hätte es fast genießen können.
 

Konnte er aber nicht.
 

Die Augen, die stets auf ihm ruhten, machten ihn mehr als nur ein wenig nervös. Sie durchdrangen seinen Körper, fuhren in jede Spitze seines Seins und saugten jegliche Information auf, die sie fanden. Zumindest kam es ihm so vor, obwohl ihn Leon nur mit den neutralen Augen eines Künstlers betrachtete. Aber sein Blick war sehr intensiv, intensiver als gut für Adam war. Das merkte er immer mehr und mehr. Die Gänsehaut, das Zittern, die innere Erregung. Auch wenn er Leon nicht anschaute, auch, wenn er gelangweilt eine Zimmerecke, den Boden oder die Decke musterte, spürte er ihn. Deutlich. Mit jeder Pore. Und das nervte ihn tierisch.
 

Trotz der Ausstrahlung, die er bereits von Anfang an von Leon hatte ausgehen spüren, hatte er sich noch der Illusion hingegeben, dass er dagegen halten konnte. Dass er ihm nicht wie ein kleines, naives Häschen verfallen würde. Er seufzte leise.
 

"Verdammt, Adam!!!"
 

Adam zuckte leicht zusammen. Seine Mimik hatte sich wohl wieder verändert. Leon sah aus, als ob er kurz davor war, den Stift samt Block und Stuhl durch den Raum zu werfen.
 

"Du bist echt anstrengend, weißt du das?"
 

Leon strich sich durch die Haare, legte seinen Block und den Stift auf den Boden und starrte Adam einen Augenblick an, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Finger ineinander verschränkt. Dann schloss er kurz die Augen und stand mit Schwung auf.
 

"Machen wir eine Pause. Anscheinend kannst du dich ja grad nicht konzentrieren." Er löste das Haarband aus seinen Haaren, das er immer benutze, um sie zurückzuhalten, und warf Adam einen Blick zu. "Hast du Lust auf einen Tee? Oder heiße Schokolade? Bei dem Wetter schadet was Warmes nicht."
 

Ohne eine Antwort abzuwarten schritt er voran und verließ das Atelier. Adam blieb noch einen Augenblick auf dem Sofa sitzen und sah ihm verdattert nach. Typisch. Mal wieder absolut typisch. Wenn ihm etwas nicht passte, entschied er selbst, was man tun würde. Wer hatte denn bitte behauptet, er würde eine Pause brauchen? Hä, wer zum Teufel nochmal? Und vielleicht wollte er ja eiskalte Cola statt heißer Schokolade. Verdammt noch mal, konnte der Kerl nicht mal zumindest so tun als ob ihn interessieren würde, was andere dachten? Konnte er nicht einmal fragen "Und was hältst du davon?"? Wütend griff Adam nach dem nächstbesten Kissen und pfefferte es quer durch das Atelier. Wenn es so weiterging, würden sie nicht mehr lange zusammen arbeiten. Und das schon nach der zweiten Sitzung.
 

Verärgert stapfte er nach unten in die Küche. Leon hatte bereits zwei Tassen auf den Tisch gestellt. In einer hing ein Teebeutel, die andere war mit Schokopulver gefüllt.
 

"Und was, wenn ich auch 'nen Tee gewollt hätte?" Die Stirn leicht gerunzelt starrte Adam in seine Tasse.
 

Leon zog ein wenig überrascht eine Augenbraue hoch.
 

"Ich dachte, du magst es süß? Heiße Schokolade ist definitiv süßer als Tee. Aber ich kann dir auch Tee machen, wenn du willst. Kamille, mit drei Zucker?"
 

"Nein, nein, schon okay, ich trink Schokolade."
 

"Gut."
 

Was war denn das gewesen?
 

Leon drehte sich wieder zum Schrank und kramte ein wenig darin rum, während Adam seinen Rücken förmlich durchbohrte. Wann zum Teufel nochmal... Woher wusste er, dass er Kamillentee nur mit drei Mal Zucker wollte? Oder dass er es süß mochte? Hatte er das mal erwähnt? Und selbst wenn, das wäre nur nebenbei gewesen. Völlig unwichtig. Und so was merkte sich der Kerl? Etwas hilflos ließ er sich auf einen Stuhl plumpsen. Kaum zu glauben. Absolut nicht zu glauben. Er achtete doch tatsächlich auf seine Umwelt. Ab und zu zwar nur, wie es schien, aber immerhin. Besser als nichts. Wie konnte man da denn bitte noch wütend sein?
 

Mit einem Seufzer ergab sich Adam in sein Schicksal und nahm die Tasse entgegen, die Leon ihm einige Augenblicke später reichte. Der Dampf der heißen Schokolade stieg ihm ins Gesicht und er wärmte seine kühlen Finger daran. Im Vergleich zum Atelier war die Küche recht kalt. Draußen regnete es immer noch und würde wohl auch nicht so schnell aufhören. Innerhalb einiger weniger Wochen war der Herbst eingebrochen. Die Bäume verfärbten sich bereits und verloren ihre Blätter, der Himmel blieb grau und die Stimmung im Allgemeinen trüb. Trotzdem, irgendwie, wenn man eine heiße Schokolade in der Hand hielt, nichts zu tun hatte und einfach aus dem Fenster starrte, war es sogar ein recht angenehmes Gefühl.
 

Ein warmes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, bis er plötzlich bemerkte, dass Leon ihn beobachtete.
 

"Woran denkst du?"
 

Er lehnte ruhig an der Küchentheke, die schlanken Finger um die Teetasse geschlungen. Seine Haare fielen ihm in seidigen Strähnen über eine Schulter, während sich seine Muskeln unter dem enganliegenden, weinroten Rollkragenpullover abzeichneten. Die rauchgrauen Augen, deren Lider leicht gesenkt waren, musterten Adam mit dem Blick eines Panthers, der kurz davor war, seine Beute anzuspringen.
 

Adam schluckte schwer und fixierte einen Ast, der von Außen gegen die Fensterscheibe stieß.
 

"An nichts... nur, wie angenehm es ist, wenn's draußen so schlechtes Wetter hat, drinnen zu sitzen und was Warmes zu trinken."
 

Er sah nicht hin, jedoch merkte er, wie Leon sich von der Theke abstieß und sich ihm gegenüber an den Tisch setzte, den Stuhl mit der Lehne nach vorne. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Irgendwie wusste er immer, wenn sich der Künstler zu nah bei ihm aufhielt. Wie jetzt. Selbst wenn sie ein Tisch trennte, es war nah, gefährlich nah. Er brauchte sich nur vorbeugen und die Hand ausstrecken um ihn zu berühren. Mehr nicht.
 

Er tat es aber nicht.
 

Es wunderte Adam nicht wirklich, dass er darüber ein wenig Bedauern verspürte. Er war ihm verfallen, schon längst. Die Frage war nur noch, wie lange er ihm stand halten würde. Wie lange es dauern würde, bis Leon aus seinen Neckereien und Spielchen ernst machen würde.
 

"Stimmt."
 

Leons Stimme klang ruhig, verträumt.
 

Ein kurzer Blick Adams zeigte ihm, dass auch dieser aus dem Fenster starrte, versunken in irgendwelche Gedanken. Es war jedoch nur ein kurzer Moment, bevor er abrupt den Kopf wegdrehte. Einen Augenblick lang lag auf seinem Gesicht ein schuldbewusster Ausdruck, bevor dieser Entschlossenheit wich. Adam schluckte. Er konnte nicht sagen, ob er wirklich wissen wollte, was in Leons Kopf vorging. Manchmal, ganz selten, ganz kurz, hatte er einen Ausdruck in den Augen, der Adam eine eiskalte Gänsehaut verursachte. Ganz selten, ganz kurz. Aber intensiv genug, um ihm Angst einzujagen.
 

"Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich."
 

Adam zuckte zusammen. Hatte er gerade laut gedacht? Nein.
 

Überrascht schaute er zu Leon, der mit einem Ruck aufgestanden war.
 

"Hä?"
 

"Das hat mir mal eine Freundin gesagt. Keine Ahnung, ist mir grad nur so eingefallen." Er lächelte Adam an, dieses Lächeln, das spielte. Ein komplett falsches Lächeln. "Nicht so wichtig. Gehen wir lieber wieder hoch, ich will heute noch ein bisschen weiterkommen."
 

Ohne ein weiteres Wort stellte er seine Tasse ab und ging voraus.
 

"Eh... eh, ja, warte mal."
 

Adam tat es ihm leicht verwirrt gleich und folgte ihm. Mal wieder hatte sein geliebter Künstler selbständig entschieden, dass es Zeit war, weiterzumachen. Er sollte sich eigentlich schon dran gewöhnt haben. Hatte er aber nicht. Trotzdem war er im Moment nicht sonderlich verärgert. Vielleicht war es tatsächlich besser, Leons Blicke auf sich zu spüren statt mit ihm an einem Tisch zu sitzen. So konnte er zumindest eine gewisse Distanz zu ihm halten. So gehörte ihm seine gesamte Aufmerksamkeit. Ohne dass er an irgendwelche Freundinnen dachte.
 

Ergeben postierte er sich wieder auf dem Sofa, während Leon seinen Stift und Block wieder aufnahm und sich auf dem Stuhl niederließ. Er regulierte seine Pose nach seinen Anweisungen noch ein bisschen, und dann verfielen sie beide wieder in tiefes Schweigen.

Nicht, dass sie sonst sonderlich viel reden würden, aber diesmal war es irgendwie unangenehm. So als ob irgendwas in der Luft liegen würde. Adam konnte es beim besten Willen nicht benennen, er konnte nichts sonderbares an ihrer vorherigen Unterhaltung erkennen, und trotzdem, es war unangenehm. So als ob er Leon ernsthaft verärgert hätte. Verdammt.
 

"Hast du diesen Samstag frei?"
 

Leon sah gar nicht von seinem Block auf, als er diese Frage stellte, und bemerkte deswegen auch nicht, wie Adam überrascht zusammen zuckte. Die Augen auf einen Punkt im Zimmer gerichtet, verkrampfte er sich ein wenig.
 

"Kommt drauf an. Weswegen?"
 

"Ich würde gern ins Kino gehen." Mit zwei Fingern strich er sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, schaute dann etwas verwundert auf und griff nach dem Haarband. Während er sich die Haare zurückband, den Bleistift zwischen den Zähnen, warf er Adam von unten her einen fragenden Blick zu. "Mir ist eigentlich egal, welcher Film. Aber da läuft ein neuer, irgendein Fantasy. Magst du doch, oder? Und da ich keine sonderlich große Lust habe, allein hinzugehen..."
 

Er zuckte vielsagend mit den Schultern und ließ seinen Zopf los. Adam starrte den Boden an. Es klang wie ein Date. War es natürlich nicht, schließlich hielt er nur als Ersatz für fehlende Datinggenossinnen her. Aber es klang zumindest danach.
 

"Hast du keine Weiber, die mit dir da hin gehen wollen?" Ihm gefiel der Gedanke nicht, ein Ersatz zu sein.
 

Erstaunlicherweise hörte er ein leises Lachen. Leise und spöttisch.
 

"Hätte ich mit einem 'Weib' hingehen wollen, hätte ich eines gefragt. Ich will aber mit dir hin."
 

Adam drehte langsam den Kopf zu Leon. Sein Lächeln war diesmal ehrlich. Gefährlich, berechnend, aber ehrlich. Boom. Bang. Mauer gefallen. Abwehr zerstört. Schutz nicht mehr vorhanden.
 

"Meinetwegen."
 

Das Lächeln wurde zu einem siegessicheren, vorfreudigen Grinsen.
 

"Du wirst es nicht bereuen."
 

Adam sah ihn einen langen, langen Moment an. Wieso zweifelte er nur an diesen Worten?

Adam zog seine Jacke enger um sich und warf einen Blick nach oben. Die Wolken drohten bereits den nächsten Schauer an, aber es würde wohl noch ein wenig dauern. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen und schaute zu Leon zurück, der im Inneren des Kinos stand und immer noch damit beschäftigt war, seinen Mantel zuzuknöpfen. Nebenbei flirtete er noch ein wenig mit der Kassiererin, also war es nicht wirklich ein Wunder, dass er so lange brauchte. Adams Laune sank jedoch. Er war mit IHM hier, musste er sich da an irgendwelche Frauen ranschmeißen? Und musste er selber wie eine eifersüchtige Ehefrau klingen? Maaaan...
 

Leicht verärgert stapfte er vorne dran in Richtung des Autos, ohne weiter darauf zu achten, ob Leon hinter her kam oder nicht. Der Abend war eigentlich völlig okay gewesen. Sie hatten kein einziges Mal gestritten. Nun, gut, sie hatten auch nicht viele Möglichkeiten dazu, da Leon ihn zu Hause abgeholt hatte und sie direkt zum Kino gefahren waren. Trotzdem, selbst in der filmfreien Zeit hatten sie sich normal unterhalten, nichts besonderes, nichts schlimmes, keine Zickereien oder sonst was. Und jetzt das! Verdammt, wieso war er denn nicht mit dieser Schnecke ins Kino gegangen, hm? Wieso?
 

Adam grummelte leise vor sich hin. Er versuchte erst gar nicht vor sich selber zu leugnen, dass er eifersüchtig war. Für heute Abend hatte er gehofft, Leon für sich zu haben. Und nicht mit irgendwelchen aufgetakelten Tussen teilen zu müssen.
 

Plötzlich wurde er an der Schulter gepackt und herum gerissen.
 

"Sag mal, wohin stampfst du denn so? Ohne mich bringt dir das Auto herzlich wenig."
 

Leon sah umwerfend aus. Das war das erste, was Adam in diesem Augenblick dachte. Einfach nur umwerfend, mit den von der Kälte leicht geröteten Wangen, den hochgesteckten Haaren und dem dunklen, engen Mantel. Fast ein bisschen weiblich, aber auf angenehme, höchst verführerische Art und Weise.
 

Adam zuckte nur mit den Schultern und sah ihn mit einem leicht schmollenden Gesichtsausdruck an.
 

"Konntest du dich endlich von deinem Flirt trennen? Ich frier mir hier sonst was ab."
 

"Na, na, so kalt ist es nun auch wieder nicht."
 

Leon grinste ihn wissend an und strich ihm durch die Haare. Adam schlug zwar seine Hand weg, doch ließ er sich davon nicht beirren, nahm ihm am Jackenärmel und zog ihn in eine andere Richtung.
 

"Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Die Kleine war wirklich nicht mein Geschmack."
 

"Ich bin nicht eifersüchtig! Wieso sollte ich denn bitte schön eifersüchtig sein? Du kannst schließlich machen, was du willst, ich werde mich sicher nicht einmischen.", entrüstete sich Adam und zog seinen Arm weg. „Ich wollte nur los...“
 

Gefährlich. Das, was er gerade gesagt hatte, war gefährlich. In Leons Augen blitzte es bereits hinterlistig, doch Adam hatte nicht vor, dieses Thema weiter zu vertiefen.
 

"Wohin gehen wir eigentlich?"
 

Vorsichtshalber trat er einen Schritt zur Seite und schaffte etwas mehr Distanz zwischen sich und Leon. Dieser quittierte Adams Handlung nur mit einem zufriedenen Lächeln.
 

"Ich dachte, wir könnten noch was trinken gehen. Hier in der Nähe ist eine nette, kleine Kneipe. Nicht viel besucht, aber mit sehr freundlichen Leuten. Schnuckelig."
 

Adam seufzte nur und strich sich die Haare zurück. Wieso eigentlich nicht? Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es erst kurz nach halb elf war. Der Abend war noch jung, er hatte wirklich nichts dagegen, noch ein bisschen mehr Zeit mit Leon zu verbringen. Auch, wenn er wieder mit irgendwelchen dahergelaufenen Weibern flirten sollte.
 

"Na, meinetwegen. Du gibst mir aber einen aus."
 

"Und was krieg ich dafür?" Sein Lächeln wurde etwas breiter.
 

Adam sah ihn leicht genervt an. "Du kommst etwas länger in den Genuss meiner Begleitung."
 

"Oh, du bist zu gütig." Er grinste schelmisch. "Wusste gar nicht, dass man deine Begleitung so billig kriegt. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich es schon früher angeboten. Und wie viel kostet dann eine Nacht? Ein Abendessen?"
 

"Unverkäuflich."
 

Adams Gesicht lief rot an. Er fixierte einen Punkt in der Ferne und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch ihm war irgendwie klar, dass Leon ihm die Scham trotzdem ansah.
 

Dieser Gedanke wurde auch durch sein lautes Auflachen sofort bestätigt. Er wollte gerade was erwidern, als Leon ihn plötzlich in die Arme riss und ihm einen Kuss auf den Scheitel drückte.
 

"Du bist so grässlich süß, nicht zu fassen. Dass du wegen so was rot wirst."
 

"Wah, hör auf! Lass mich los!"
 

Atemlos stieß er ihn von sich und sah ihn finster an.
 

"Mach das nie, nie wieder, verstanden? Ich bin nicht irgendein Welpe, mit dem du spielen, ihn knuddeln und verarschen kannst, okay?"
 

"Hey, hey." Leon hob abwehrend die Hände hoch. "Nun sei nicht so empfindlich. Ich verarsche dich nicht. Ich mein das alles todernst. Du bist wirklich süß."
 

Sein Blick sagte aber etwas anderes. Adam schnaubte entrüstet.
 

"Danke, ich verzichte, süß genannt zu werden. Weder von dir noch von irgendwem sonst, kapiert?" Er sah sich mit gerunzelter Stirn um. "Wo ist denn jetzt diese dämliche Kneipe? Sie wird ja wohl nicht soweit entfernt sein."
 

"Nein, wir sind gleich da." Seine Stimme klang amüsiert. "Nur noch dort um die Ecke."
 

Arg, wieso verdammt musste er sich auch dauernd über ihn lustig machen? Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, stapfte er neben ihm her. Er kam sich dabei zwar wie ein Elefant vor, der neben einer leichtfüßigen Gazelle hertrippelte, aber das war egal. Plötzlich breitete sich ein Grinsen seinem Gesicht aus, er warf einen Blick zu Leon und lachte dann laut los. Verwirrt starrte sein Begleiter ihn an.
 

"Alles okay? Hat dir die Kälte die Gehirnzellen eingefroren oder wieso lachst du plötzlich?"
 

"Nichts, nichts. Nicht so wichtig." Immer noch leise lachend winkte er ab.
 

Leon mit einer Gazelle zu vergleichen war wirklich so ziemlich das Unpassendste, was man machen konnte. Wenn er sich so eine Gazelle vorstellte, mit ihren großen, braunen, unschuldigen Augen, dem feingliedrigen Körper und den leichten Sprüngen, und dabei Leon anschaute... Nein, er war ein Panther, ein Tiger, ein Löwe, irgendein gefährliches Raubtier, das jederzeit zum Sprung bereit war, um seine Beute zu erlegen, aber gewiss keine unschuldige, süße Gazelle, die bei Gefahr davon lief.
 

Seine Laune hatte sich schlagartig verbessert, was mitunter auch an Leons komplett verwirrten Blick lag. Innerlich klopfte er sich auf die Schulter. Anscheinend war er doch in der Lage, den großen Meister aus dem Konzept zu bringen. Nicht immer, aber immer öfter.
 

Immer noch ein Grinsen auf den Lippen kamen sie schließlich bei der Kneipe an. Es sah von außen sehr unscheinbar aus. Normalerweise wäre Adam wohl komplett blind dran vorbei gelaufen. Das Schild mit dem Namen war unleserlich und die eine Fensterscheibe wirkte verraucht und verstaubt. Es wunderte ihn ein bisschen, dass Leon, der immer fein gekleidet war und wie jemand wirkte, der nur die gepflegtesten und edelsten Etablissements aufsuchte, so eine Kneipe kannte oder gar selber besuchte. Im Inneren setzte sich der Eindruck des Äußeren fort, billig, unscheinbar, unwichtig. Der Raum war, bis auf zwei, drei Besucher, komplett leer. Am Tresen stand ein älterer Herr mit einer schwarzen Weste, der gelangweilt ein paar Gläser putze und wohl den Barkeeper darstellte, und unterhielt sich mit einer ebenso gelangweilten Kellnerin, die sicher bereits Ende 40 war und sich einen ganzen Schminkkasten ins Gesicht geklatscht zu haben schien. Billig, absolut billig.
 

Adam rümpfte leicht die Nase, während Leon sich davon nicht stören ließ, mit großen Schritten zur Theke schritt und die Kellnerin in seiner Umarmung halb zu Tode drückte. Sie gab einen überraschten Laut von sich und japste elendig nach Luft, brach dann jedoch, als sie erkannte, wer es war, in ein unangenehm lautes, aufdringliches Lachen aus, das in einem Raucherhusten endete.
 

"Mein süßer, kleiner Leon, Schätzchen, das du hier mal wieder auftauchst." Sie gab ihm zwei dicke Schmatzer auf die Wangen und einen auf den Mund. "Lange nicht gesehen, mein Zuckerherzchen. Wie geht's dir, alles in Ordnung?"
 

"Nu', jetzt lass den arm'n Jung'n doch mal zu Atem komm'n, Maria." Der Pseudo-Barkeeper lächelte die zwei freundlich an und klopfte Leon auf die Schulter. "Der Bub is' scho' ganz blau im G'sicht."
 

Leon lachte auf, nahm seine Hand und zog ihn in eine kurze Umarmung, während Adam bedröppelt dran stand. Das gab's doch nicht. Schätzchen? Zuckerherzchen? Bub? Das waren nun wirklich keine Substantive, die er mit Leon in Verbindung gebracht hätte. Und eigentlich hätte er auch erwartet, dass dieser dagegen heftigst protestiert würde, anstatt es mit einem Lachen hinzunehmen. Verrückte Welt. Und sie wurde immer verrückter, je länger er Leon kannte.
 

Etwas fehl am Platz stand er einige Schritte entfernt und sah den Dreien zu, wie sie die neuesten Neuigkeiten austauschten, über irgendwelche schlimmen Rückenleiden stöhnten und sich dabei immer wieder anlachten. Da fiel der Blick der Kellnerin plötzlich auf ihn, und er wusste plötzlich nur zu gut, wie sich ein Kaninchen im Angesicht der Schlange fühlte.
 

"Oh du meine Güte, Herzchen, wieso sagst du denn nicht, dass du Begleitung hast?"
 

Wie ein Kampfschiff steuerte sie auf ihn zu und betrachtete ihn von allen Seiten, fast wie ein Pferd, das zum Verkauf stand. Fehlte nur noch, dass sie seinen Mund öffnete und die Zähne testete.
 

"Mei, mei, mei, da hast du aber ein hübsches Exemplar von Mann aufgetrieben." Sollte man das als Kompliment ansehen? "Frisch und knackig. Zum Anbeißen!" Vom Pferd zum Obst. "Aber etwas schweigsam, ne?" Na, wie sollte man da denn auch bitte was sagen? "Wie ist er denn im Bett?"
 

"Ich war mit ihm noch nicht im Bett!!!" Adam sah sie entrüstet an. Wie unverschämt konnte man eigentlich sein?
 

Leon lachte nur auf und zog eine Augenbraue spöttisch hoch. "Noch nicht?"
 

"Und ich werde es auch nie sein, verdammt." Er wendete sich Maria zu und sah sie fest an. "Wir sind nur Geschäftspartner."
 

"Was, Geschäftspartner?" Sie sah ihn halb geschockt an und wendete sich dann Leon zu. "Du kaufst dir deine Begleitungen bereits? Herzblatt, dass hast du doch gar nicht nötig."
 

Adam riss fassungslos seinen Mund auf, während Leon sich an der Theke festhalten musste, um vor Lachen nicht zusammen zu brechen. Wütend trat der Kleine zu ihm ran, packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran.
 

"Würdest du das bitte, bitte aufklären? Ohne, dass die gute Frau", er nickte kurz zu Maria rüber, "es nochmal missversteht."
 

"Ja, klar doch, klar doch." Leon schnappte kurz nach Luft, ohne das sein fettes Grinsen verschwand, legte einen Arm um Adams Schultern und zog ihn zu sich heran. Mit einem treuherzigen Blick sah er Maria an. "Ja, ich bezahle ihn, aber nur, weil seine Familie einen Haufen Schulden hat und er sich sonst nicht mit mir treffen könnte. Aber er ist genial im Bett, um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen."
 

"LEON!!!"
 

Leon lachte, wich jedoch nicht schnell genug aus und kassierte einen Stoß von Adams Ellbogen. Seine leicht schmerzende Seite reibend grinste er Maria frech an.
 

"Nein, nein, alles gelogen. Er steht mir Modell und ich bezahl ihn dafür. Und heute waren wir nur im Kino. Zusammen im Bett waren wir leider auch noch nicht."
 

"Na, du hast mich jetzt aber erschreckt." Halb entrüstet, halb amüsiert hielt sie sich theatralisch die Hand aufs Herz. "Und ich dachte schon, mein armer, kleiner Leon, so tief abgerutscht. Ne, ne, das geht ja mal gar nicht, ne."
 

Trotz Adams bösem Blick lachte Leon wieder, ein warmes, fröhliches Lachen. Eins, das Adam bei ihm noch nicht gehört hatte. Von der Seite her musterte er ihn einen Augenblick. Seine grauen Augen strahlten, sie hatten einen ehrlichen Glanz von Übermut und Freude. Ein leises Seufzen entwich ihm. Er hätte nicht gedacht, dass Leon zu so etwas in der Lage war. Wie viele verschiedene Seiten hatte der Künstler noch an sich?
 

„Jetzt“, er drehte Leon zu sich herum, „darfst du mir zwei Getränke ausgeben. Dafür, dass du nichts besseres zu tun hast als mich zu verarschen. Mich und die arme Frau da.“
 

Er warf noch einen kurzen Blick zu Maria, die immer noch leicht kicherte. Sonderlich beleidigt wirkte sie ja nun wirklich nicht. Anscheinend waren der Barkeeper und sie schon an Leon und seine Späßchen gewöhnt.
 

„Ja, der Kleine hat Recht. Du solltest ihm wirklich einen ausgeben.“ Maria lächelte Adam an und bugsierte die beiden zu einem Tisch, der in einer gemütlichen Ecke stand. „Ihr wollt bei dem Wetter doch bestimmt was Warmes haben, nicht wahr? Was willst du denn, Kleiner?“
 

„Eh, ne heiße Schokolade.“ Er runzelte die Stirn. „Und, ich heiße Adam. Nicht ‚Kleiner’!“
 

Sie grinste ihn an. „Adam, so, so. Gut, eine heiße Schokolade. Und dir, Leon? Wir haben Himbeer-Kirsche-Tee, wie wär’s damit?“
 

„Oh, ja, sehr gerne.“
 

„Jut, jut, ich bin dann gleich wieder da.“
 

Wie ein behäbiges Wiesel wuselte sie davon und ließ die beiden wieder allein. Mit einem Seufzen setzte sich Adam auf die Eckbank, hielt einen Moment inne, bis sich auch Leon nieder gelassen hatte, und funkelte ihn dann zornig an. Nun ja, halbwegs zornig, aber man konnte ja mal so tun als ob.
 

„Sag mal, was sollte das denn?“
 

„Na, na, nimm das doch nicht so ernst.“ Leon lehnte sich zurück, nahm einen Bierdeckel in die Hand und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. Er warf Adam einen verschmitzen Blick zu. „Ich hab doch nur ein bisschen rumgeblödelt, mehr nicht. Maria hätte das nie ernsthaft geglaubt, das hast du ja selbst gesehen. Und Jefferson genauso wenig.“
 

Leon und rumgeblödelt? Das waren zwei Wörter, die Adam bis jetzt nicht in einem Satz zusammen benutzt hätte. Man lernte nie aus.
 

„Trotzdem, lass es das nächste Mal bleiben, okay? Ich lege wirklich keinen Wert darauf, von irgendwem für schwul gehalten zu werden.“, knurrte er leise, während er die Hände um den Zuckerbehälter gelegt hatte und ihn anstarrte. Irgendwie brauchte er immer irgendwas zum Anstarren und Festhalten, wenn er mit Leon redete.
 

„Wieso?“ Gleichgültig zündete dieser sich eine Zigarette an und legte den Kopf leicht schief. „Kann es dir nicht egal sein, was andere denken? Jedenfalls hab ich dich bis jetzt so eingeschätzt, dass du dich nicht sonderlich um die Meinung anderer kümmerst. Hab ich mich etwa geirrt?“
 

„Nein, hast du nicht.“ Adam zog die Augenbrauen zusammen. Er wusste nicht, ob er aufbrausen sollte wegen dem provozierenden Unterton in Leons Stimme, oder ob er ruhig und ernsthaft auf diese Frage antworten sollte. Die Entscheidung fiel auf letzteres. „Aber ich mag es nicht, wegen irgendetwas beurteilt zu werden, was ich gar nicht bin. Wenn man eine schlechte Meinung von mir hat, dann soll die doch bitte auch mit Tatsachen untermauert sein.“
 

Leon starrte nachdenklich dem Zigarettenrauch hinterher. „Und es ist keine Tatsache, dass du schwul bist?“
 

„Nein, ist es nicht.“
 

„Woher weißt du das?“ Er drehte seinen Kopf zu Adam. „Hattest du schon mal eine Freundin? Hast du es schon mal mit einem Mann probiert? Irgendwas von beidem?“
 

Adam schnaufte auf. „Was hat das damit zu tun? Ich hatte weder Interesse bis jetzt an einer Frau noch an einem Mann.“ Gut, letzteres stimmte nicht so ganz, aber das musste er Leon ja nicht unter die Nase reiben. Schließlich saß ja genau der Mann, an dem er Interesse hatte, genau vor ihm.
 

„Eben. Deswegen kannst du ja wohl auch nicht wissen, was du bist. Es gibt so viele Möglichkeiten, und du hast ja anscheinend noch keine einzige ausprobiert. Außerdem bist du gerade mal Siebzehn, du bist noch nicht mal ganz aus der Pubertät raus, du kannst ja noch gar nicht wissen, was du willst.“
 

„Behandle mich nicht wie einen kleinen, unreifen Jungen!“ Adam wurde einen Ton lauter. „Nicht nur werde ich sehr, sehr bald Achtzehn, ich denke, ich bin auch reif genug, um einschätzen zu können was ich will oder nicht will.“
 

„Ich behandle dich nicht wie einen kleinen Jungen.“ Leon seufzte auf, als ob er ein bockiges Kind vor sich hätte. „Ich lege nur die Tatsachen dar. Auch wenn du rein vom Gesetz her bald erwachsen bist, macht es dich hier“, er tippte sich an die Stirn, „und hier“ sein Finger berührte die Herzgegend, „noch lange nicht erwachsen.“
 

„Ach, du bist aber mit einen 23 Jahren hier und hier“ Adam wiederholte seine Geste mit funkelnden Augen, „etwa erwachsen, oder was? Wem willst du das bitte erzählen? Du hältst dich vielleicht dafür, du wirkst vielleicht so, aber ich wette, du bist es nicht. Ich wette, du bist noch weit davon entfernt, nicht wahr? Und du tust nur so, als ob du erwachsen bist. In Wahrheit bist du ein mindestens genauso kleiner, bockiger Junge wie ich.“
 

Leons Augen blitzten auf. Anscheinend hatte Adam es geschafft, ihn wütend zu machen, aber er bereute es kein bisschen. Von diesem notgeilen Sack brauchte er sich wirklich nichts sagen und sich schon gar nicht als kleinen Jungen bezeichnen lassen.
 

„Na, wen haben wir denn da?“
 

Sowohl Adam wie auch Leon zuckten beide bei der unerwarteten Stimme zusammen. Noch bevor einer von beiden reagieren konnte, hatte die zugehörige Person Leon einen kurzen Kuss auf die Lippen gedrückt und lächelte Adam fröhlich an.
 

„Was für ein Zufall, dass ich euch beide hier treffe. Na, wie geht’s? Was dagegen, wenn ich mich dazu setze?“
 

Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ sich Sachiko auf einen Stuhl gleiten und schaute neugierig von einem zum anderen.
 

„Was ist denn los? Hab ich euch etwa so überrumpelt oder was?“
 

Leon fasste sich als erster. Er schüttelte kurz den Kopf und sah sie dann misstrauisch an.
 

„Woher kennt ihr euch denn? Wüsste nicht, dass ich dir was von Adam erzählt hätte.“
 

„Wir haben uns in der ‚Vitreous Cabin’ getroffen, als er sich deine Ausstellung angesehen hat. Er ist mir gleich aufgefallen, ich hab ihn angesprochen und wir sind einen Kaffee trinken gegangen. Mehr nicht, also brauchst du gar nicht eifersüchtig sein.“
 

„Ich bin nicht...“ Er seufzte auf. „Okay, schon gut. Interessant.“
 

Es klang nicht wirklich, als ob er es interessant finden würde. Sein Blick wanderte zu Adam, der unzufrieden auf seiner Unterlippe kaute.
 

„Schön, dich zu sehen, Sachiko.“, brachte der Junge etwas gequält raus. Ihm war es eindeutig unangenehm, dass sie so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. „Eh, ich komm gleich wieder. Wo sind die Toiletten?“
 

Er brauchte ein bisschen Luft zum Atmen, ganz eindeutig. Nachdem Sachiko ihm mit einem verwunderten Blick die Richtung gewiesen hatte, flüchtete er halbwegs und ließ die Beiden allein.
 

Es herrschte einige Augenblicke Stille. Leon rauchte seine Zigarette fertig und zündete sich gleich darauf eine neue an, während Maria kurz vorbei kam, den Tee, die heiße Schokolade und zwei warme Waffeln mit Sahne und Erdbeeren vorbei brachte und Sachikos Bestellung aufnahm. Dann war es wieder ruhig.
 

„Misch dich nicht ein.“ Leon kippte ein wenig Zucker in seine Tasse und rührte fast schon gelangweilt um.
 

Sachiko lächelte ihn unschuldig an. „Ich habe kein Wort gesagt.“
 

„Brauchst du auch nicht.“ Er warf ihr einen kurzen, intensiven Blick zu. „Ich seh's dir an. Und ich kenn dich lange genug. Misch dich nicht ein.“
 

„Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du mit den Jungen spielen könntest. Er hat es nicht verdient.“
 

„Ich spiele nicht mit ihm.“ Er gab einen milden Knurrlaut von sich.
 

„Aber ernst meinst du es auch nicht.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. Sie beugte sich vor und legte ihre Finger auf Leons Handgelenk. „ Ich will nicht, dass du ihn zerstörst. Er ist jung, er ist naiv. Er lässt mit sich spielen. Ist das wirklich nötig? Es gibt da draußen genug andere Häschen, mit denen du dich vergnügen könntest.“
 

„Ich spiele nicht mit ihm. Wie oft soll ich das wiederholen, bis du es verstehst?“
 

„Nein?“ Sie zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Das denkst du vielleicht, aber du merkst nie, wann etwas für dich Spiel und wann etwas Ernst ist.“ Die Arme verschränkend lehnte sie sich wieder zurück. „Ich weiß, wieso du das tust. Wieso er dich interessiert. Deswegen wirst du ihn zerstören. Deswegen meinst du es nicht wirklich ernst mit ihm.“
 

„Sachiko!“ Leon fixierte sie und ließ es nicht zu, dass sie ihren Blick abwendete. „Wir kennen uns lange und du bist mein bester Freund. Ich vertraue dir in allen Dingen. Aber du hast kein Recht, so weit zu gehen. Misch dich nicht ein und zieh keine Schlüsse, die aus der Luft gegriffen sind. Verstanden? Das ist meine Angelegenheit, und nur meine. Du hast damit nichts, rein gar nichts zu tun.“
 

Sie senkte ihren Blick auf ihre Hände, die ein wenig unsicher mit der Tischdecke spielten.
 

“Ich mach mir nur Sorgen.“, meinte sie leise, so leise, dass es fast nicht zu hören war. „Nicht nur um ihn. Auch um dich. Vor allem um dich.“
 

Er wendete seinen Blick ab, die Hand mit der Zigarette gegen die Wange gelehnt, und beobachtete Maria, wie sie mit Jefferson schäkerte.
 

„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Ich brauch kein Kindermädchen, sondern einen Freund.“
 

Es trat wieder Stille ein. Eine ruhige Stille, die zwar nicht angenehm, aber auch nicht unangenehm war. Sie wurde erst durch Adams Auftauchen unterbrochen. Er blieb einen Moment stehen und schaute sie etwas erstaunt an.
 

„Ihr habt euch ja nicht sonderlich viel zu sagen.“ Verwirrt setze er sich und zog die heiße Schokolade zu sich heran, ohne Leon auch nur eines Blickes zu würdigen. So schnell verrauchte seine Wut nicht.
 

„Wir haben schon miteinander gesprochen.“ Sachiko zwinkerte neckisch. „Weißt du, wir kennen uns schon so lange, da können wir auch mal schweigend beieinander sitzen, das macht auch nichts.“
 

„Oh, ja, ach so, okay.“
 

Adam verzog kurz das Gesicht, als ob es ihm egal wäre, und zuckte dann zusammen. Leon hatte ihn an der Schulter angetippt und deutete auf den Teller mit den Waffeln.
 

„Die hat uns Maria spendiert. Geht aufs Haus, also kannst du dir eine nehmen.“ Er wendete sich an seine Freundin. „Kannst die andere haben, ich hab momentan keinen Hunger.“
 

„Oh, du bist ein Schatz, Leon. Du weißt ja, wie sehr ich die Teile liebe.“ Sie nahm sich die eine und schob die andere Adam zu, wieder neckisch zwinkernd. „Lass es dir schmecken, Adam. Wenn Leon schon mal so großzügig ist, sollten wir das ausnutzen. Schließlich ist er das nicht allzu oft.“
 

Sie lachte kurz leise auf und stürzte sich auf ihre Portion, während Adam es ihr etwas gemütlicher und gesitteter gleich tat. Sein Blick schweifte inzwischen doch wieder zu Leon, der immer noch mit der Zigarette in der Hand ins Leere starrte. Bei diesem Anblick kühlte sein Ärger noch ein wenig mehr ab. Nicht komplett, aber wenn er ihn so anschaute, nahm er es ihm nicht mehr wirklich übel, dass er sich wie ein kleiner Junge benommen hatte. Solche oder ähnliche Auseinandersetzungen würden wohl noch öfter kommen. Er seufzte mal wieder innerlich. Was soll’s, das Leben wäre langweilig, wenn’s einfach wäre.
 

Mit neuem Elan wendete er sich Sachiko zu und verstrickte sie in ein Gespräch über Waffeln, Süßigkeiten und Filme. In der ganzen Zeit saß Leon nur dabei und hörte schweigend zu, doch hatte Adam nicht das Gefühl, dass es ihm nicht gefiel, deswegen ließ er sich nicht in der Konversation stören.
 

Schließlich, es waren mehrere Stunden vergangen, trennten sie sich mit dem Versprechen, sich mal wieder zu sehen. Adam und Leon liefen still nebeneinander her zum Wagen und sagten auch wegen der Fahrt zu Adams Haus kein einziges Wort. Es war jedoch ein angenehmes Schweigen und keiner von beiden sah einen Grund, es zu stören. Nur ab und zu spürte Adam Leons Augen auf sich ruhen, verbunden mit einem seltsamen Gefühl, dass er beim besten Willen nicht einordnen konnte.
 

Vor der Hauseinfahrt parkte Leon schließlich und stieg aus. Überrascht folgte ihm Adam.
 

„Du musst mich nicht bis zur Tür bringen, das schaff ich schon alleine.“
 

Leon schwieg und lächelte ihn nur an. Wieder dieses falsche, fast schon Angst einflössende Lächeln. Adam erschauderte kurz und lief die Einfahrt hoch, in der Hosentasche nach dem Schlüssel kramend. Vor der Tür blieb er stehen und blickte Leon entgegen, der die Hände in den Manteltaschen vergraben hatte und ihm folgte, als ob er alle Zeit der Welt hätte.
 

„So. Ehm... danke fürs Herbringen. Der Abend war eigentlich ganz nett, können wir ja irgendwann mal wiederholen.“, stotterte Adam vor sich hin. Leon hatte so einen seltsamen Blick drauf. Er verhieß nichts Gutes.
 

„Ich würde gerne auf das zurückkommen, was du vorhin gesagt hast.“, meinte er mit leiser, rauchiger Stimme.
 

„Was ich gesagt habe? Was hab ich denn gesagt?“ Adam lachte nervös auf. Was zum Teufel hatte er gesagt?
 

„’Du kannst machen, was du willst’.“
 

Noch bevor Adam reagieren konnte, hatte Leon sich bereits vorgebeugt und drückte seine Lippen sanft auf Adams Mund.
 

Die Zeit blieb stehen.
 

Adam konnte nicht mal die Augen schließen. Im Hintergrund begann es leise zu regnen. Leons Augen waren geschlossen, die dichten Wimpern berührten fast seine Wangen. Einige Strähnen fielen ihm in die Stirn. En Auto fuhr vorbei und beleuchtete sein Gesicht kurz mit den Scheinwerferlichtern. Die Räder auf der Straße waren noch lange nach seinem Verschwinden zu hören. Adam umklammerte seinen Schlüssel etwas fester. Sie waren nur durch die Lippen verbunden. Ihr einziger Berührungspunkt. Es dauerte nur Sekunden.
 

Die Zeit lief weiter.
 

Leon löste seine Lippen wieder von ihm und lächelte ihn an, das Gesicht immer noch nah bei ihm.
 

„Bis Donnerstag. Sei pünktlich.“
 

Ohne ihn noch einmal zu berühren, drehte er sich um und schlenderte gemächlich zu seinem Auto. Einige Augenblicke später hörte Adam nur noch ein Türeklopfen, das Starten des Motors und wie Leon schließlich weg fuhr. Erst jetzt löte er sich aus seiner Erstarrung und wendete seinen Blick in seine Richtung. Seine Augen schweiften von einem Gegenstand zum anderen, wussten nicht, woran sie sich festhalten sollten. Langsam sank er nach unten auf die Treppenstufe, den Schlüssel immer noch fest umklammert. Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklicher, er begann die Regentropfen zu beobachten.
 

Die Mauer des Widerstandes bröckelte immer mehr.

Die kargen Sonnenstrahlen fielen durch die Baumkronen, während der kalte Wind durch die Blätter raschelte und wie eine Eishand unter die Haut fuhr. Adam beugte sich keuchend vor und zog seine Sportjacke etwas fester um sich. Sein Blick wanderte verärgert zum Sportlehrer, der sich in eine warme Jacke eingehüllt hatte und grad mit einigen seiner Klassenkameraden plauderte. Klar, wenn man so ein fettes Teil an hatte, störte einen der Wind kein Stück. Adam richtete sich wieder auf und blickte über den Sportplatz. Nur weil es heute nicht regnete und die Sonne ab und zu zwischen den dunklen Wolken hervorblitze, dachte der Typ, er könnte seine lieben Schüler nach draußen jagen, damit sie ein paar Bahnen rannten. Anscheinend war es ihm völlig egal, dass man sich bei dem Wetter umso leichter erkälten konnte, wenn man sich durch sportliche Betätigung erwärmte. Leise vor sich hinfluchend stapfte Adam zu seiner Wasserflasche, immer noch leicht fröstelnd. Kaum hatte er ein paar Schlucke genommen, hörte er auch die liebliche Stimme von Mister Ich-bin-der-Lehrer-ich-sage-wo-es-lang-geht.
 

„Adam, keine Pausen machen! Du musst noch fünf Runden laufen! Auf, dalli, sofort!!!“
 

Na, trinken war anscheinend auch nicht mehr erlaubt. Adam schenkte ihm ein kurzes Funkeln, warf seine Flasche wieder auf ihren Platz und betrat die Bahn. Außer ihm war nur noch ein anderer Mitschüler am Laufen. Gedämpft schimpfend setze er sich in Bewegung. Nur weil er sich nicht bei jeder Gelegenheit bei diesem Sack einschleimte, wie es die taten, die gerade um ihn herum standen und nicht mal die Hälfte der vorgegebenen Runden hinter sich hatten, es machten, wurde er von diesem korrupten Arschloch bei jeder Gelegenheit nieder gemacht. Aber gut, dass konnte ihm ja egal sein. Wenn er wollte, dass er rannte, würde er rennen. Schließlich joggte er mehrmals die Woche, die paar Runden würden für ihn gewiss kein Problem darstellen.
 

Im Gegensatz zu seinen Leidensgenossen, wie es schien. Er lief mehrere Meter vor Adam, so dass dieser einen guten Blick auf ihn hatte. Selbst aus dieser Entfernung hörte er sein Keuchen, und er hielt immer wieder mal an, um sich zu erholen. Bald hatte Adam ihn überholt. Er verlangsamte sein Tempo und sammelte kurz die Informationen in seinem Gedächtnis zusammen, die er über den Jungen hatte.
 

Es waren nicht viele.
 

Sein Name war Muse, er ging in die Parallelklasse und gehörte zu der Sorte Mensch, auf der immer rumgehackt wurde. Wie Adam es mitbekommen hatte, war er das Lieblingsopfer der Klassen- und Schulbosse, und auch der Sportlehrer behandelte ihn wie den letzten Dreck, da man bei ihm nicht gerade von Sportlichkeit reden konnte. Es kursierten haufenweise Gerüchte über ihn, die von Mafiazugehörigkeit über Massenvergewaltigungen bis zu Prostitution und Selbstmordversuchen reichten. Die Wahrheit kannte keiner, da sich noch keiner mit ihm näher befasst hatte. Und so was wie Freunde schien er nicht zu haben.
 

Muse war ein Außenseiter wie Adam. Nur das Adam sich nicht von anderen fertig machen ließ.
 

Innerlich zuckte er mit den Schultern. Er wollte mit ihm eigentlich auch nichts zu tun haben. Ihm konnte es schließlich egal sein, wenn jemand nicht den Mumm aufbrachte, sich zu wehren. Und er wusste zu wenig Fakten über ihn, als das er ihn interessieren würde. Er war nur ein flüchtiger Gedanke, um die Langeweile zu vertreiben.
 

„Hey, Schwuchtel.“ Adam zuckte leicht zusammen. „Adam, ihr könnt aufhören. Die Stunde ist vorbei.“
 

Ah, er war gar nicht gemeint gewesen. Adam schielte kurz zu Muse hin. Stimmt, das hartnäckigste Gerücht bestand darin, dass er schwul sei. Von der Seite her musterte er ihn. Er sah nicht wie der typische Klischeeschwule aus und von sich aus wäre Adam nie drauf gekommen. Groß, schlank, ein wenig knochig, aber in keinster Weise feminin. Seine Wangenknochen stachen etwas hervor und er ließ sich einen Spitzbart wachsen. Die schulterlangen, dunkelblonden Haare hingen ihm meistens ins Gesicht, da er eine leicht geduckte Haltung hatte. Würde er mit mehr Selbstbewusstsein auftreten und aufrecht gehen, würde ihn keiner nieder machen.
 

Einige Schritte hinter ihm betrat Adam die Umkleidekabine. Die anderen Jungs hatten sich bereits geduscht und den Raum längst verlassen. Klar, der Lehrer hatte für seine Lieblinge den Unterricht schon früher beendet. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte Muse sich tatsächlich immer erst dann zum Umziehen begeben, wenn die anderen alle schon fertig waren. Aus Rücksicht, weil er ihnen kein unangenehmes Gefühl vermitteln wollte? Aus Angst, zu sehr von den nackten Männerkörpern erregt zu werden? Was war an diesem Gerücht dran?
 

„Stimmt es, dass du schwul bist?“
 

Man sollte keine unbeantworteten Fragen mit sich herumschleppen.
 

Er hatte sich seinem Spind zugewendet und Muse nicht angeschaut, und hörte jetzt nur, wie eine Flasche zu Boden fiel. Zum Glück war sie aus Plastik, so dass sie nicht zerbrach. Mit einem Unschuldsblick drehte er sich zu ihm um und schaute in sein halb verärgertes, halb geschocktes Gesicht, dass ihn einige Momente lang anstarrte. Abrupt drehte der Junge sich wieder zu seinem Spind.
 

„Das geht dich nichts an.“
 

Seine Stimme klang heiser, ein wenig verängstigt. Adam fiel auf, dass er sie bis jetzt so gut wie nie gehört hatte.
 

„Na ja, willst du lieber, dass ich einem Gerücht glaube?“ Er drehte sich komplett zu ihm um und trat einen Schritt auf ihn zu. „Ist doch besser, wenn ich dich dann direkt frage.“
 

Muse gab einen verächtlichen Laut von sich. Er hatte sich immer noch nicht von seinem Spind weggedreht.
 

„Wenn ich es verneine, wirst du mir ja doch nicht glauben. Und wenn ich es bejahe, rennst du gleich los und erzählst es überall rum, nicht wahr?“
 

„Wieso sollte ich so was tun?“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte schief. „Mir liegt absolut nichts daran, den Anderen noch mehr Futter zu geben, um auf dir rumzuhacken.“
 

„Und wieso willst du es dann wissen? Vor allem, jetzt, plötzlich. Du hast mich doch sonst nicht mal mit dem Arsch angeschaut.“
 

„Es interessiert mich halt.“ Er legte den Kopf leicht schief. „Und mir ist eben gerade das Gerücht über dich eingefallen. Ich hab mich noch nie mit der Materie auseinander gesetzt, und du bist der erste eventuell Schwule, der mir über den Weg läuft und den ich fragen könnte. Also, bist du oder bist du nicht?“
 

Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich Muse zu ihm. Einige Augenblicke starrte er nur in Adams Gesicht, ließ seine Augen von einem Punkt zum anderen schweifen, als ob er etwas bestimmtes suchen würde.
 

„Ja, bin ich.“
 

Adams Lippen verzogen sich zu einen freundlichen, aber sehr mit sich selber zufriedenen Lächeln.
 

„Siehst du, so schwer war das doch gar nicht. Und ich werde jetzt sicher auch nicht zu den anderen rennen und irgendwas erzählen. Geht die schließlich nichts an.“ Er drehte sich zu seinem Spind um und kramte nach ein paar Klamotten, während er weiter sprach. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dich dann ab und zu diesbezüglich was frage. Du hast ja sicher Erfahrung, ne?“
 

„Wieso?“ Muse setzte sich auf die Bank und beobachtete Adams Rücken. „Wieso interessierst du dich dafür? Bist du etwa auch... schwul...?“
 

Adam hielt kurz in seiner Bewegung inne und warf einen Blick nach hinten.
 

„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Da gibt es jemanden. Einen Kerl. Aber... keine Ahnung, ob es nur Neugier ist. Irgendwie. Und... ach, keine Ahnung.“
 

„Du... hattest noch nie was mit einem Mann, oder?“ Adam schüttelte den Kopf. „Und mit einem Mädchen?“ Wieder Kopfschütteln. „Vielleicht bist du ja auch bi.“
 

Schulterzucken.
 

„Ich weiß es nicht.“
 

Er ließ sich ebenfalls auf der Bank nieder, gegenüber von Muse. Ein wenig wunderte ihn seine plötzliche Redefreude, aber vermutlich konnte Muse nie mit irgendwem darüber sprechen und war jetzt einfach froh, so was wie einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Adam sollte es nicht stören. Ein Knie an sich gezogen, starrte er einen Punkt auf dem Boden an.
 

„Ich weiß es echt nicht. Mir ist in meinem ganzen Leben bis jetzt noch nie jemand untergekommen, in den ich mich verliebt hätte. Egal ob Mann oder Frau.“ Er schwieg einen Moment. „Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich tatsächlich in ihn verliebt bin. Er... er lässt einem irgendwie gar keine Wahl. Wenn du was mit ihm zu tun hast, bist du von ihm gefangen. Definitiv.“
 

Muse hörte ihm schweigend zu. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, anscheinend, weil Adam ihn nicht mit Vorurteilen überhäufte.
 

Adam lachte etwas verunsichert auf.
 

„Sorry, dass ich dich hier so zutexte. Ich mein, wir haben ja sonst nie sonderlich miteinander gesprochen. Hast du nen Freund?“
 

Muse zuckte zusammen. Sein Gesicht erstarrte förmlich.
 

„Mhm.“
 

Er wendete den Blick ab, so als ob er nicht drüber reden wollte. Schien keine sonderlich glückliche Beziehung zu sein. Adam lächelte kurz und entschied, es vorerst dabei zu belassen. Vorerst. Seine Neugier würde früher oder später sowieso wieder siegen.
 

„Ich geh dann mal duschen.“
 

Er wartete einen kurzen Moment, doch Muse blieb sitzen. Hatte er Angst, aufdringlich zu sein? Nun, jedem das Seine.
 

Vorsichtig tappte er in den Duschraum, um auf den kalten und feuchten Fliesen nicht auszurutschen, zog sich aus und stellte sich leicht fröstelnd unter den Duschkopf. Genussvoll drehte er den Wasserhahn auf. Warmes Wasser benetzte seine schweißbedeckte Haut, während er die Augen schloss und sich langsam einseifte. Kaum hatte er die Augen geschlossen und seine Gedanken schweifen lassen, kamen sie auf Leon, obwohl er sich eigentlich mit Muse hatte beschäftigen wollen. Leon und das Treffen am Nachmittag. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er wusste nicht, was Leon machen würde. Ihm zur Begrüßung wieder küssen? Oder es gar nicht erst erwähnen? Es als gängigen Abschiedskuss abtun? Verdammt. Er könnte diesem Kerl den Hals umdrehen. Er würde es vermutlich sogar tun, sollte Leon so was nochmal machen. Mit einem kurzen Knurren drehte er das Wasser wieder zu und schüttelte sich kurz, so dass die Wassertropfen von seinen Haaren in alle Richtungen flogen. Nein, er würde Leon nicht den Hals umdrehen. Inzwischen kannte er seine Reaktionen auf Leon schon so gut, dass er sich sicher war, er würde sich nicht mal annähernd wehren, sondern genauso wie am Samstag völlig erstarrt dran stehen und es über sich ergehen lassen. Das Handtuch um die Hüfte wickelnd verließ er den Duschraum, auf dem Boden nasse Spuren hinterlassend. Muse saß immer noch so dran, wie er ihn verlassen hatte, mit trüben Augen ins Leere starrend.
 

Adam tippte ihn leicht an die Schulter. Er zuckte zusammen, die Augen erschrocken aufgerissen. Ein Lächeln breitete sich auf Adams Lippen aus, während er mit dem Daumen hinter sich deutete.
 

„Ich bin fertig. Du kannst also.“
 

„Oh, ehm. Ja, danke.“ Sein Blick kehrte schnell zum Boden zurück.
 

Adam lachte leise auf.
 

„Es stört mich nicht, wenn du mich anschaust. Ich glaube, du hast deine Hormone soweit im Griff, dass du mich nicht gleich überfällst, nicht wahr?“ Er tätschelte kurz seinen Kopf. „Ich bin nicht wie die anderen. Mir kommt es auf den Menschen an, nicht auf seine Sexualität.“
 

Muse sah auf. Sein Blick glich dem eines getretenen Hundes, der eine Streicheleinheit von einer unbekannten Person bekam. Oh je, Adam hatte eigentlich nicht vor gehabt, zum guten Samariter aufzusteigen. Aber gut, wenn der Junge jemanden brauchte, an den er sich wenden konnte... es kostete ihn ja nichts. Und vielleicht war er ja auch ganz sympathisch.
 

„Na ja, ich muss langsam mal los. Hab heute Nachmittag noch was vor.“ Er ging zu seinem Schrank und holte seine Klamotten raus. „Wir sehen uns ja vielleicht morgen, ne?“
 

„Ja.“ Muse stand auf und strich sich mit einer Hand über den Oberarm, ein wenig unsicher. „Bis morgen.“
 

Er verschwand zögernd im Duschraum, so als ob er Adam noch nicht gehen lassen wollte. So als ob er Angst hätte, würde er jetzt gehen, würde er ihn nicht mehr wiedersehen oder mit ihm reden können. Adam drehte sich nochmal zu ihm um. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gefühl bei ihm. Einen schalen Nachgeschmack auf der Zunge, sozusagen. Es war keine gute Idee, sich mit ihm anzufreunden. Es war auch keine gute Idee, irgendetwas mit ihm zu tun zu haben. Trotzdem. Jetzt war es zu spät, und Adam wollte es auch nicht anders. Wenn er Fragen hatte, konnte er sich an ihn wenden, immerhin war er darin schon etwas erfahrener. Und es gab jemanden, bei dem er sich wegen Leon auskotzen konnte. Auch wenn seine Mutter immer ein offenes, verständnisvolles Ohr für ihn hatte, sie war weder männlich noch schwul. Das war ein entscheidender Unterschied.
 

Mit einem Seufzer zog er sich an und ging in die kühle Mittagsluft hinaus. Der Wind wehte durch seine nassen Haare und ließ ihn frösteln. Mit einem unzufriedenen Knurren stülpte er sich seine Mütze über den Kopf, kuschelte sich noch mehr in seinen Halbmantel und machte sich auf dem Heimweg. Zum Glück war Sport die letzte Stunde, so dass er sich nicht noch irgendein langweiliges Fach antun musste. Jedoch war seine Freude darüber sehr getrübt, da er immer noch Leon vor sich hatte. Er konnte sich besseres für diesen Nachmittag vorstellen...
 

Der Wind blies immer noch heftig, als er einige Zeit später in Leons Einfahrt einbog. Kein Wunder, es war Oktober. Das Wetter wurde immer miserabler. Und der liebe Herr Künstler konnte ihn natürlich nicht abholen, nein, er musste bei dieser Kälte durch die halbe Stadt latschen, sich eventuell die Grippe holen und... Gut, auch egal. Adam seufzte. Er wollte ja gar nicht, dass Leon ihn abholte. Es war schon hart genug, mit ihm zwei, drei Stunden alleine im Atelier zu verbringen, da musste er sich nicht noch eine einsame Autofahrt antun. Vor allem nicht nach dem letzten Mal. Nein, wirklich nicht.
 

Zögernd trat er vor die Tür und starrte sie an, als ob sie eine giftige Schlange wär. Es würde doch bestimmt keinem auffallen, wenn er sich jetzt umdrehen und gehen würde. Oder?
 

Adam ließ langsam seine Luft aus seinen Lungen weichen. Es half alles nichts. Was sein musste, musste sein. Würde schon schief gehen. Und das seine Hände zitterten, und das sein Herz wie wild klopfte, das würde er einfach ignorieren. Nebensächlichkeiten. Absolute Nebensächlichkeiten. Leon würde das sicher nicht bemerken. Ganz bestimmt. Er hatte ja schließlich keine Adleraugen, denen jede noch so unwichtige Kleinigkeit auffiel. Ne, hatte er nicht.
 

Mit einem Gefühl, als ob er zum Galgen gehen würde, drückte er zögernd auf die Klingel und vergrub dann beide Hände tief in seinen Hosentaschen. Gespielt gelangweilt schaute er die Auffahrt entlang, während er innerlich tausend Tode starb. Wie zum Teufel sollte er ihn begrüßen?
 

Es vergingen einige Augenblicke, dann hörte er Schritte, die sich näherten. Er schluckte einmal, um seine trockene Kehle zu befeuchten, und wendete seine Augen langsam der Tür zu, die sich öffnete. Schlimmer hätte es kaum kommen können. Für einen Moment blieb wieder einmal die Zeit stehen.
 

Auf Leons vollen Lippen lag der Hauch eines Lächelns. Einige Strähnen seines nassen Haares fielen ihm in die Stirn. Ein Wassertropfen glitt seinen Hals entlang nach unten, über sein Schlüsselbein und verschwand irgendwo unter seinem halboffenem Hemd. Die goldene Kreole an seinem Ohr blitzte kurz auf, als er seinen Kopf leicht drehte und Adam für wenige Sekunden schweigend musterte.
 

„Hi!“
 

Seine Stimme klang ruhig, vermittelte unangenehme Schauer. Unangenehm für Adam.
 

„Du holst dir den Tod, wenn du bei diesem Wetter in so einem Aufzug rumläufst.“
 

Adams Fingernägel gruben sich in sein Fleisch. Wieso musste er nur mal wieder so verdammt gut aussehen? Langsam hatte er ernsthaft das Gefühl, dass Leon das absichtlich machte. Die Vorstellung, ihm den Hals umzudrehen, schien doch angenehmer als erwartet. Es hatte doch bestimmt niemand was dagegen, oder?
 

Leon lachte kurz auf. „Danke, dass du so um meine Gesundheit besorgt bist, aber ich denke, ich kann ganz gut auf mich selber aufpassen.“
 

„Das bezweifle ich irgendwie.“
 

Während sein Gastgeber zur Seite wich, glitt Adam an ihm vorbei ins Haus.
 

„Willst du eine heiße Schokolade?“ Leon schloss die Tür und ging in Richtung Küche. „Ich hab dir welche gemacht. Ist schließlich kalt draußen.“
 

„Ja, danke.“
 

Adam zog seine Jacke und Schuhe aus, legte die Mütze und den Schal auf die Korridorkommode und folgte ihm. An der Tür blieb er kurz stehen und fixierte seinen Rücken, so lang er sich mit den Getränken auseinander setzte.
 

Nichts. Kein Wort. Nicht mal eine Andeutung. Würde das noch kommen? Oder hatte Leon es unter „nie passiert“ abgelegt? Unwichtige Sache? Nicht weiter erwähnenswert? So ein Kuss hatte keine Bedeutung?
 

Wäre Adam davor noch froh gewesen, wenn Leon nichts über den Kuss gesagt hätte, machte ihn jetzt das Schweigen wütend. Konnte man so was einfach vergessen? Einfach tot schweigen? Oder als nichtig abstempeln? Verärgert biss er sich auf die Zunge. Würde er sich darüber aufregen, würde Leon es nur missverstehen. Würde vielleicht denken, ihm würde der Kuss was bedeuten oder er hätte ihm gefallen. Oder sonst etwas in die Richtung. Und das wollte er auf jeden Fall verhindern. Leon war jetzt schon so von sich selber überzeugt, er musste dem nicht noch absichtlich Nahrung geben.
 

Einmal tief durchatmend ließ er sich auf einen Stuhl nieder und legte seine Hände um die Tasse, die ihm Leon kurz darauf hinstellte.
 

„Der Winter sollte verboten werden.“ Er starrte seine Tasse an, als ob sie für alles verantwortlich wäre.
 

„Du bist eine Frostbeule.“ Leon strich ihm im Vorbeigehen durch die Haare und holte aus einem Schrank ein paar Kekse raus. „Es ist noch nicht mal Winter. Der Herbst hat ja noch nicht mal richtig angefangen.“
 

„Na und, kalt ist es trotzdem. Wieso kann es nicht immer Sommer sein?“
 

Adam setzte einen Schmollmund auf. Wieso mussten sie sich über solche Nichtigkeiten unterhalten?
 

„Zieh in den Süden. In Afrika wirst du nicht frieren.“
 

Leon lehnte sich gegen den Tisch und musterte Adam über seine Teetasse hinweg.
 

„Da wär ich mir nicht so sicher. Ich bin empfindlich.“
 

„Stimmt, ein kleines Sensibelchen.“
 

„Hey!“ Adam warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Ich bin nicht sensibel. Nur empfindlich. Das ist ein Unterschied!“
 

„Schon gut, schon gut, Kleiner.“ Leon lachte kurz auf. „Komm, lass uns nach oben gehen. Dort ist es auch ein wenig wärmer.“
 

Kleiner? Adam hatte nicht mal die Zeit, eine Antwort zu geben, so schnell verließ Leon die Küche, doch so war es wohl auch besser. Die Antwort hätte nur zu Unannehmlichkeiten geführt. Also verbiss er sie sich und folgte seinem Meisterkünstler ins Atelier, in einer Hand die Tasse, in der anderen den Teller mit den Keksen. Wenn sie schon mal da waren, konnte man sie schließlich auch mitnehmen.
 

Tatsächlich, oben war es um einiges wärmer. Leicht verwundert stellte Adam seine Mitbringsel auf einem kleinen Tischchen ab, während Leon ein paar Sachen zusammen suchte. Wärmer als normal. Er wollte gerade danach fragen, doch Leon war schneller.
 

„Zieh dich aus.“
 

Komplett überrumpelt verschluckte er sich an einigen Kekskrümeln und starrte Leon fassungslos an.
 

“Was?“
 

“Du sollst dich ausziehen.“ Leon lächelte ihn an, also ob diese Aufforderung das Normalste auf der Welt war. „Denk nichts Falsches. Ich hab schon genug Skizzen von dir, bei denen du angezogen bist. Wenn ich jedoch irgendwas Vernünftiges zeichnen will, brauch ich auch einige von deinem nackten Körper. Na ja, einige viele.“
 

Adam rührte sich nicht. Diese Antwort sickerte nur langsam in sein Bewusstsein. Natürlich, dass war eine logische Erklärung. Völlig logisch. Aber trotzdem...
 

„Du musst dich auch nicht ganz ausziehen.“ Leon verdrehte leicht die Augen. „Oberkörper reicht mir vorerst. Also, hopp, hopp.“
 

Ohne ein weiteres Wort kramte er nach einem Haargummi und flocht sich einen lockeren Zopf, verschränkte dann die Arme und blickte Adam abwartend an.
 

Dieser drehte sich langsam um, so dass er Leon im Rücken hatte und nicht anschauen musste. Vorerst der Oberkörper? Vorerst??? Sollte ihm diese Einschränkung gefallen?
 

Mit gemächlichen Bewegungen zog er sich seinen Pullover über den Kopf. Es war peinlich. Es war unheimlich peinlich, obwohl es nur der Oberkörper war. Obwohl er im Sommer regelmäßig vor allen möglichen Menschen so rumlief. Am liebsten hätte er das Haus sofort verlassen. Oder zumindest das Zimmer. Oder seinen Körper. Nur nicht mehr Leons Augen auf sich fühlen.
 

Als ob er alle Zeit der Welt hätte, knöpfte er das Hemd, das er unter dem Pullover trug, auf und ließ es nach unten gleiten. Er zitterte. Ganz leicht, kaum merklich, aber er zitterte. Nicht wegen der Kälte, sondern wegen der Wärme. Der Wärme der Person, die zu ihm getreten war und jetzt mit einem Finger sein Rückgrat entlang strich.
 

„Du treibst viel Sport, kann das sein?“ Er spürte Leons Atem am Hinterkopf. „Du bist sehr durchtrainiert.“
 

Seine Fingerspitzen wanderten über sein Schulterblatt weiter nach unten und blieben kurz über dem Hosenbund stehen. Langsam legte Leon seine Hand auf die Hüfte.
 

„Sehr schön.“ Adam konnte sein zufriedenes Lächeln hören. „Wirklich sehr schön.“
 

„Ein faszinierendes Modell. Für dich als Künstler. Nicht wahr?“ Aus Adams Stimme triefte der Sarkasmus.
 

„Ja, allerdings.“ Die Fingerspitzen glitten wieder nach oben, über die Schulter nach vorne zu Adams Kinn und hoben es leicht an. „Sehr erotisch. Für mich als Künstler.“ Langsam drehte er sein Gesicht zu sich. „Für mich als Mann“, er legte die andere Hand auf Adams Hüfte und schob den Daumen unter den Hosenbund, während er lächelnd die wütend funkelnden Augen seines Modells betrachtete, „unwiderstehlich.“
 

Gemächlich zog er ihn an sich und küsste ihn. Sanft. Genüsslich. Absolut von sich selbst überzeugt.
 

Adam erstarrte. Langsam schloss er die Augen, während ihm sein Herz bis zum Hals hochschlug. Seine Hände, die nutzlos an seinen Seiten herunter hingen, verkrampften sich, ballten sich zu Fäusten. In ihm breitete sich unerträgliche Hitze aus. Das Zittern wurde stärker.
 

Mit einem Ruck drehte er sich um und stieß sich von Leon weg.
 

„Lass das!“
 

Es war nicht viel mehr als nur ein Keuchen. Aber Leon hatte verstanden. Er trat einen Schritt zurück und musterte Adam ruhig, schweigend, während dieser alle Mühe hatte, sich wieder zu fassen.
 

„Lass das!“, wiederholte er und blitzte Leon wütend an. „Ich bin nicht dein Spielzeug. Ich steh dir Modell, mehr nicht. Absolut nicht mehr. Also hör, Gott verdammt noch mal, auf mit mir zu spielen. Du magst einen anderen Eindruck von mir haben, aber ich bin kein Püppchen, mit dem du machen kannst, was du willst. Verstanden? Hast du verstanden???“
 

Er zitterte immer noch wie verrückt. Wieso machte ihn dieser Mann nur so wahnsinnig? Wieso konnte er ihm nur so schwer wiederstehen? Würde es so weiter gehen, würde er ihm komplett verfallen, noch mehr als jetzt. Würde es so weiter gehen, würde er ihn wie eine kleine Porzellanfigur zerbrechen.
 

Leon trat zu ihm und zog ihn an sich, mit einer Hand über sein Haar streichelnd. Adam versteifte sich leicht.
 

„Ganz ruhig, ich hab verstanden.“ Er drückte in sanft von sich weg, ließ seine Hände jedoch auf seinen Schultern liegen. „Ich werde dich nicht mehr anfassen. Nicht mehr so.“ Leon lächelte, ein selbstsicheres Lächeln. „Aber glaube nicht, dass die Sache damit abgehakt ist. Du bist unwiderstehlich, in deiner ganzen Art. Und so leicht werde ich nicht aufgeben, was dich angeht.“ Er beugte sich vor und drückte ihm zärtlich seine Lippen auf die Stirn. „Früher oder später wirst du mir gehören. Vergiss das nicht.“ Einige Schritte zurück tretend strich er sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Ich geh nach unten. Sobald du dich beruhigt hast, machen wir weiter.“
 

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Raum. Adam schaute ihm nach, ohne ihn wirklich zu sehen. Verdammt. Verdammt. Verdammt!!! Er ließ sich auf den Boden fallen und verkrallte seine Hände in seinen Haaren. Verdammt noch mal. Ein bisschen mehr, und er wär eine hilflose, willenlose Puppe in seinen Händen gewesen. Er hätte alles mit sich machen lassen. War das Liebe? Oder Verlangen? Verdammt.
 

Mit einem Seufzer legte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nur noch ein bisschen mehr... Wie hätte das geendet? Hätte Leon es bei dem Kuss belassen? Oder wär er weiter gegangen? Hätte er es komplett durchgezogen? Und danach? Wären sie Lover geworden? Oder nur ein One-Night-Stand? Oder doch ein Paar? Nein, niemals. Nur ein Püppchen, nur ein Spielzeug. Eine Herausforderung, die es zu meistern galt. Und danach? Nur einer unter vielen. Mehr nicht.
 

Die Zähne zusammen gebissen schlug er mit der Faust kurz auf den Boden. Das war es nicht, was er wollte. Er wollte was anderes. Und er würde es kriegen. Entweder das... oder gar nichts.
 

Mit einem selbstironischen Lächeln sprang Adam auf und atmete einmal tief durch. Seine Finger strichen kurz über seine nackte Brust. Er würde Leon in den Wahnsinn treiben. Und als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen.
 

Seine Miene wurde entschlossen.
 

Schließlich war er ein Kampftiger.

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Das sieht absolut scheiße aus!“
 

„Ich hab doch nur... du musst dich nicht gleich so rabiat ausdrücken.“
 

„Ist doch wahr!“
 

Adam nahm den Pullover aus Muse’ Händen und begutachtete ihn noch einmal. Dann schüttelte er mit einem fast angeekelten Gesichtsausdruck den Kopf.
 

„Ne, das geht doch auf keine Kuhhaut, vergiss es. Darin würdest du wie ein 90-jähriger Opa aussehen.“ Mit einem letzten ablehnenden Blick stopfte er den Pullover an seinen Platz zurück und schaute sich kurz um. „Ich glaub nicht, dass wir in dem Laden was finden. Außerdem hab ich Hunger. Gehen wir was essen, dann können wir weiter schauen.“
 

„Okay.“
 

Muse’ Antwort kam ein wenig kleinlaut. Adam warf ihm einem Blick zu. Muse würde zu nahezu allem Ja und Amen sagen, was Adam vorschlug, soviel hatte er inzwischen mitbekommen. Er hatte ja von Anfang an gewusst, dass Muse nicht gerade das Selbstbewusstsein in Person war, aber wie gering es dann tatsächlich ausfiel, dass erstaunte ihn immer wieder aufs Neue.
 

Egal was er sagte, ob es „Gehen wir ins Kino“ oder „Hol Stöckchen“ war, Muse würde es machen, so als ob er Angst hatte, seinen neuen Freund durch eine Weigerung zu verärgern und zu verlieren. Eigentlich kein Wunder, schließlich hatte er bis jetzt nicht sonderlich viele Freunde gehabt, trotzdem war es Adam fast schon unangenehm.
 

Mit einem innerlichen Schulterzucken dackelte er aus dem Laden, Muse im Schlepptau. Seit sie das erste Mal miteinander ins Gespräch gekommen waren, hatten sie häufiger mal die Pausen miteinander verbracht. Zuerst war es Adam gewesen, der sich fast schon aufgedrängt hatte, aber inzwischen, obwohl nicht mal eine Woche vergangen war, suchte Muse von selber seine Gegenwart. Adam störte es in keinster Weise, so hatte er nicht nur ein wenig Gesellschaft, sondern auch einen Zeitvertreib. Und, vor allem, jemanden, der ihn von seinen Gedanken ablenkte. Gedanken, die ihn in jeder einsamen Minute quälten.
 

Nach der letzten Auseinandersetzung mit Leon hatten sie kaum noch ein Wort gesprochen, doch Leons Blicke hatten sich förmlich in Adams Körper eingebrannt. Jedes Mal, wenn er an ihre letzte Begegnung dachte, an die Berührung der Fingerspitzen, an den Atem, den er warm an seinem Hinterkopf gespürt hatte, an die weichen Lippen, an das angenehmen Gefühl des Körpers, den er im Rücken gehabt hatte, jedes Mal stand er kurz vorm Durchdrehen, davor, allen Stolz und allen Widerstand über Bord zu werfen und sich in Leons Arme zu schmeißen. Einzig, dass er weder eine einmalige Angelegenheit für Leon sein wollte, noch wusste, was er für diesen arroganten Künstler eigentlich empfand, hinderte ihn daran. Leise seufzte er. Das Leben konnte so hart sein.
 

„Hey, hörst du mir zu?“
 

Muse sah ihn fast ein wenig vorwurfsvoll an. Fast, nicht ganz, aber man durfte ja nicht zu viel verlangen.
 

„’tschuldige, was hast du gesagt?“ Adam strich sich leicht verwirrt einige Strähnen aus dem Gesicht. Dieser dämliche Leon hatte sich mal wieder wie eine fiese, kleine Schlange in seine Gedanken geschlichen und seine grauen Zellen nicht mehr losgelassen.
 

„Wo willst du essen?“ Muse trat ein wenig ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Sonderlich viel Auswahl haben wir ja nicht.“
 

„Nope.“ Adam runzelte überlegend die Stirn. „Wie wär’s, wir schnappen uns nen Döner und setzten uns dann in den Park? Ist ja warm genug für.“
 

Es war eher eine rhetorische Frage. Muse würde eh zustimmen, und so war es auch. Er hatte gerade mal Zeit, kurz zu nicken, da zog ihn Adam auch schon am Ärmel mit sich. Einige Minuten später hatten sie es sich bereits im Park auf einer Wiese bequem gemacht, in den Händen ihr Essen.
 

Konzentriert und schweigend widmeten sie sich ihren Kebabs, doch Adam konnte es nicht unterlassen und warf Muse immer wieder von der Seite Blicke zu. Er versuchte es gar nicht zu verbergen, so das Muse es merkte, ohne jedoch es zu erwähnen. Schließlich, Adam war mit seinem Essen fertig, sprang er auf, kniete sich hinter Muse und raffte seine Haare zusammen. Noch bevor der Junge sich wehren konnte, hatte er seinen Kopf zu sich gedreht und musterte ihn von allen Seiten.
 

„Willst du nicht mal was mit deinen Haaren machen?“ Adam legte den Kopf schief, kramte ein Haargummi aus seiner Tasche und band die Haare zusammen. „So sieht das viel besser aus. Nicht so ungepflegt. Schon mal daran gedacht?“
 

„Eh... würdest du das bitte lassen!“ Muse versuchte, ihm seinen Kopf zu entziehen, scheiterte jedoch kläglich. „Ich mag es so, wie es ist.“
 

„Du oder dein Lover?“
 

Er drehte weiterhin den Kopf von seinem neuen Freund hin und her. Erst jetzt fielen ihm seine Augen auf. Muse selber war nicht grad der Schönling von nebenan, doch seine Augen hatten eindeutig eine verzaubernde Wirkung. Ein dunkles, schokoladiges Braun, lange Wimpern, die äußeren Augenwinkel schmal und ein wenig nach oben gezogen.
 

„Ich.“ Es klang ein wenig wie ein Knurren. „Außerdem ist er nicht mein ‚Lover’!“
 

„Ja ja. Schon gut.“ Er starrte einen Moment länger nachdenklich in sein Gesicht, ließ es dann los und setzte sich im Schneidersitz dann vor ihn.
 

„Was ist?“ Muse wich ein wenig zurück. „Starr mich nicht so an.“
 

Er drehte seinen Kopf abrupt zur Seite, so dass sich einige Haarsträhnen lösten und wieder vor sein Gesicht fielen, doch Adam störte sich nicht daran.
 

„Darf ich was ausprobieren?“ Fragen kostet nichts.
 

„Was?“ In Muse’ Stimme schwang ein starker Hauch von Misstrauen mit.
 

„Darf ich dich küssen?“
 

Hätte er jetzt was getrunken, Muse hätte es sich bestimmt verschluckt. Oder im weiten Bogen ausgespuckt. Statt dessen fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf und sein Mund klappte runter. Es sah nicht wirklich toll aus, eher wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten war, aber Adam ignorierte es. Er hatte es sich jetzt in den Kopf gesetzt und wollte es auch durchziehen.
 

„Wie...wieso?“, stotterte Muse leise.
 

“Na ja... ich will wissen, wie es ist.“, meinte Adam lapidar. Wieso auch sonst?
 

„Mich zu küssen?“
 

„Nen Mann zu küssen.“
 

„Hast du... hast du diesen einen Kerl noch nicht geküsst oder wie?“ Muse entspannte sich ein wenig, blieb aber trotzdem in Hab-Acht-Stellung, so als ob Adam sich gleich wie ein wildes Tier auf ihn stürzen würde.
 

„Das ist kein Mann, das ist eine fiese, kleine Schlange. Außerdem, ich will einen Vergleich haben. Ob auch andere Kerle so ne Wirkung auf mich haben.“
 

„Ich hab nen Freund.“
 

„Na und? Der wird schon nicht gleich wegen einem Kuss ausflippen.“
 

„Ja, schon, aber... hier?“
 

„Hier ist keiner.“ Adam sah sich demonstrativ um. „Uns wird keiner sehen.“
 

Muse’ Blick blieb skeptisch. Er verzog etwas unwillig das Gesicht. „Muss das sein?“
 

„Ja.“ Adam wusste, dass es fies war, Muse so auszunutzen, vor allem, da der Junge sich in keinster Weise wehren würde. Aber, trotzdem, er war der einzige, den er fragen konnte. Außer seinem Vater hatte er keine anderen, männlichen Bekannten, und sein Vater... nun, er kam nicht wirklich in Frage.
 

„Okay.“ Muse wand sich ein bisschen. „Aber nicht lang. Und nicht mit Zunge, klar?“
 

„Erks... keine Sorge, ich hatte noch nie mit Zunge und will’s auch nicht mit dir ausprobieren.“
 

Adam atmete einmal tief durch, nahm dann Muse’ Gesicht zwischen seine Hände und drückte seine Lippen auf seinen Mund, so wie er es von Leon kannte. Die Augen geschlossen, versuchte er sich ganz auf das Gefühl des fremden Geschmacks zu konzentrieren, doch immer wieder funkten ihm die Erinnerungen an Leons Küsse dazwischen. Das Gefühl, das er da gehabt hatte. Das Herzklopfen. Der Stillstand der Zeit. Die intensiven Eindrücke seiner Umgebung. Das Zittern seiner Finger. Leons Duft. Leons Wärme. Leon.
 

All das fehlte.
 

All das wollte er aber haben.
 

Jetzt.
 

Plötzlich drang das fast schon panische Kläffen eines Hundes an ihr Ohr. Mit einem Ruck trennten sie sich und schauten sich beide mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen um. In nicht allzu weiter Ferne stand eine ältere Dame, das Gesicht in einem Zustand des markerschütternden Schocks, in der Hand die Leine eines nervtötenden, kleinen Kläffers. Eine Augenblicke starrten sie sich gegenseitig an, dann erwachte die Spaziergängerin aus ihrem Schockzustand, zischte einige Sachen vor sich hin, die weder Muse noch Adam hörten, die sich aber sehr nach Beschimpfungen anhörten, und stakste auf ihren knallroten Pumps davon. Wie hypnotisiert schauten sie ihr hinterher, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Wie in Zeitlupe drehten sie ihre Köpfe einander zu, tauschten einen skeptischen Blick und brachen dann beide in lautes Lachen aus.
 

Adam ließ sich nach hinten auf den Rücken fallen und rollte sich halb über die Wiese, während Muse sich vorbeugte, sich den Bauch hielt und sein Lachen in einem atemlosen Keuchen erstickte.
 

„Hast du ihren Blick gesehen? Zu geil.“, japste Adam.
 

„Ja, sie sah fast aus wie ihr Kläffer.“
 

„Aber voll, von oben bis unten. Hast du die Haare gesehen? Wie die abstanden?“
 

„Haben sich durch den Schock aufgestellt!“
 

„Yes, und kurz vorm Kläffen war sie auch.“
 

„Sie wollte mit dem Köter sicher im Partnerlook gehen.“
 

„Yeah, bestimmt!“
 

Es dauerte eine Zeit lang, bis sie sich beruhigt hatten. Immer noch ein wenig außer Atem drehte Adam sich auf den Bauch, die Lippen zu einem fetten Grinsen verzogen, und schielte zu Muse hoch.
 

„Ich küss dich nie, nie, nie wieder!“
 

„Na, Gott sei Dank!“ Muse grinste zurück. „Jetzt bin ich aber wirklich erleichtert. Du kommst nicht mal annähernd an meinen Lover ran.“
 

„Und du nicht an Leon.“
 

„Dann sind wir uns ja einig.“
 

Wieder prusteten sie wie zwei kleine Jungs los.
 

Erst nach einigen Minuten verfielen sie in einvernehmliches Schweigen, lagen beide auf dem Rücken und starrten in den Himmel, still, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Die Sonne schien auf sie herunter, in einem klaren, wolkenfreien Blau. Es war ausnahmsweise Mal ein warmer Tag, vermutlich einer der letzten des Jahres. Der Wind raschelte leise in den Wipfeln der Bäume, während einige Vögel vor sich hin zwitscherten.
 

„Absolute Idylle.“ Muse grinste.
 

„Jap. Wie aus einem Bilderbuch.“ Adam streckte sich. „Wollten wir nicht eigentlich noch Shoppen gehen?“
 

„Find das Gras grad so gemütlich.“
 

„Ja, und die Ameisen erst, die auf mir rumkrabbeln.“
 

Muse zog sarkastisch eine Augenbraue hoch. „Red keinen Scheiß, da sind keine Ameisen.“
 

„Doch, klar, siehst du die nicht? Die drei schwarzen Punkte, die grad auf deiner Stirn rumkrabbeln?“
 

„Ja, ich sehe die wirklich nicht. Hab keine Stilaugen, sorry.“
 

Adam lachte kurz auf und sprang dann auf die Füße.
 

„So, hopp, hopp. Ich brauch noch nen warmen Pullover für den Winter, sonst lauf ich als Eiszapfen durch die Gegend.”
 

„Kannst dich ja von deinem Leon wärmen lassen.“ Muse stand ebenfalls auf und klopfte sich sporadisch die Kleidung ab. „Macht der sicher gern.“
 

„Nee, lieber nicht. Der will mir sonst gleich an die Wäsche.“
 

„Und? Sagst halt Nein.“
 

Adam warf ihm einen selbstironischen Blick zu. „Ich könnte nicht Nein sagen, dass weiß ich jetzt schon.“
 

„Tja... das nenn ich Pech.“ Muse streckte ihm kurz die Zunge raus und strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn. „Musst halt Selbstbeherrschung lernen.“
 

„Pff... du hast gut reden, du kennst ihn ja gar nicht. Du würdest ihm niemals widerstehen können.“
 

„Will ich vielleicht auch nicht.“
 

Sich weiter kabbelnd verließen sie den Park und stürzten sich fröhlich in den Shoppingwahn. Die Stimmung hatte sich komplett geändert, und Adam genoss es in vollen Zügen. Muse benahm sich nicht mehr wie ein kleiner Hund, der seinem Herrchen folgen musste, sondern öffnete sich immer mehr, machte Witze oder flapsige Bemerkungen und stellte sich als sehr sympathischer Typ raus. Auch wenn man ihm immer wieder seine Unsicherheit anmerkte, so fühlte sich Adam bei ihm pudelwohl. In ihm breitete sich das Gefühl aus, dass er sich tatsächlich mit dem schüchternen Jungen anfreunden könnte, das sie vielleicht beste Freunde werden könnten. Innerlich seufzte Adam. Abwarten und Tee trinken, aber er hoffte, dass es klappen würde.
 

Es war bereits spät, als sie sich trennten. Muse nahm den Bus, während Adam entschied, nach Hause zu laufen. Er winkte Muse noch zu und trabte dann los. Die Nachtluft war kalt, er fröstelte leicht, doch irgendwie war er zufrieden. Zwischen den Wolken, die inzwischen aufgezogen waren, schaute immer wieder der Mond hervor, tauchte die Straße in silbriges Licht und warf schemenhafte Schatten auf den Asphalt. Es war nicht sonderlich viel los, so das Adam nur wenige Menschen traf. Er ließ seine Gedanken schweifen, doch sie beinhalteten nichts bestimmtes. Nichts, außer wieder Leon. Diesmal jedoch auf angenehme Weise, nicht dieses beängstigende, drängende, sondern wohlig warm, angenehm.
 

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden änderte er seinen Weg, der schließlich vor Leons Haustür endete. Adam zog die Jacke enger um sich. In der Küche brannte Licht. Es ging aus, einige Zeit blieb alles dunkel, dann ging es in einem Zimmer im ersten Stock wieder an.
 

Adam schloss kurz die Augen, atmete tief durch und drückte dann zitternd die Klingel. Es war fast zehn Uhr abends, er würde Leon eigentlich morgen wieder sehen. Eigentlich hatte er ihn auch gar nicht vorher sehen wollen. Eigentlich halt.
 

Die Hände wieder tief in die Taschen vergraben, an einer Seite die Einkaufstüte baumelnd, den Schal um das Gesicht gewickelt, bereute er es schon wieder gekommen zu sein. Das er jetzt hier war, würde Leon doch nur noch selbstsicherer machen. Und auf dumme Gedanken bringen. Adam würde wie ein süchtiges Hündchen wirken, dass von seinem Herrchen nicht los kam. Oder wie ein kleiner, dummer, bis über beide Ohren verknallter Junge. Fehlte nur noch, dass er einen Strauß Blumen in den Händen hielt und schüchtern auf den Boden blickte.

Aber er blickte nicht schüchtern, als die Tür nach einiger Zeit aufging. Und Leon blickte nicht selbstsicher. Oder in irgendwelchen Vermutungen bestätigt. Sondern überrascht. Überrascht und... erfreut.
 

„Hi.“
 

Mehr brachte Adam nicht raus. Er wusste gar nicht, was er eigentlich hier gewollt hatte. Leon sehen, ja. Und weiter? Ihn sehen und dann wieder gehen? Wohl kaum.
 

„Hi.“ Leon lächelte. Freundlich. Sanft. Unwiderstehlich. „Willst du eine heiße Schokolade?“
 

„Mhm.“
 

Leon stellte keine weitere Fragen, doch das wunderte Adam nicht. Es war in Ordnung so. Es passte so. Dann musste er sich zumindest nicht irgendwelche Antworten aus den Fingern saugen.
 

Langsam schloß er die Tür hinter sich und legte seine Sachen in der Eingangshalle ab, während Leon bereits in der Küche verschwunden war.
 

„Geh nach oben ins Wohnzimmer. Dort, wo das Licht brennt.“ Er steckte nur kurz den Kopf aus der Tür und winkte ihn hoch. „Ich komm gleich nach.“
 

Adam nickte nur und folgte der angewiesenen Richtung. Das Zimmer war nicht schwer zu finden, da es eines der ersten auf dem ersten Stock war. Er blieb für einen Moment im Türrahmen stehen und betrachtete alles. Wie auch der Rest des Hauses war es sehr geschmackvoll eingerichtet. Die Möbel waren in dunklem Braun gehalten, das ein wenig antik wirkte, während der Teppich hellgrau war. An einer Wand hing ein großer Flachbildfernseher, unter dem ein BluRay-Player und eine Stereoanlage standen, und an der linken Seite konnte man durch eine breite Fensterfront nach draußen schauen. Cremefarbene Vorhänge waren kunstvoll an den Seiten drapiert, und auf dem Fensterbrett reihten sich drei hübsche, Adam unbekannte Pflanzen auf. Um den gläsernen Wohnzimmertisch in der Mitte gruppierten sich eine weiche kamelbraune Couch und zwei Sofas in der selben Farbe. Auf den kleineren Schränken und in dem größeren Vitrinenschrank befanden sich mehrere Figuren aus Glas und Porzellan. Einige Kerzenständer mit langen, weißen Kerzen waren aufgestellt und angezündet, so dass die Flammen den Raum in ein warmes, orangenes Licht tauchten.
 

Auf dem Tischchen stand eine Tasse mit heißem Tee, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Anscheinend hatte Leon es sich gerade bequem machen wollen, als Adam ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Er strich sich kurz durch die Haare und ließ sich auf der Couch nieder, einen Fuß unter sich gezogen, während er den anderen auf dem Boden abstellte.
 

Adam hatte sich kaum gesetzt, da kam auch schon Leon ins Zimmer, in den Händen ein Tablett, auf dem Kekse und Adams heiße Schokolade waren. Er stellte es auf dem Glastisch ab, setzte sich ebenfalls auf die Couch und reichte Adam seine Tasse, alles, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
 

Den Blick gesenkt, nippte der Junge an seinem Getränk. Und jetzt?
 

Er spürte, wie Leon ihn musterte, fand es jedoch angebrachter, seine Tasse intensiv zu betrachten.
 

„Hast du was dagegen, wenn ich ein bisschen lese?“, frage Leon leise.
 

Adam schüttelte den Kopf. Er war hier ja unverschämterweise einfach unangemeldet aufgetaucht, wie könnte er da was dagegen sagen? Und so würde Leon ihn zumindest nicht dauernd anschauen, nicht mit diesen durchdringenden Blicken, sondern seine ganze Aufmerksamkeit seinem Buch widmen.
 

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Leon sein Buch nahm, doch anstatt sich zurückzulehnen, drehte er ihm den Rücken zu und legte sich nach hinten. Adam registrierte es erst so richtig, als er bereits das Gewicht von Leons Kopf auf seinem Oberschenkel spürte. Überrascht zuckte er zusammen, doch Leon würdigte ihn keines Blickes, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Lektüre, als ob nichts ungewöhnliches daran wäre, Adams Schenkel als Kopfkissen zu nutzen.
 

Schweigend legte Adam seine Hände noch fester um die Tasse und sah auf Leon hinunter. Mit den Augen fuhr er seine Züge nach, die Linien der Wangenknochen, das markante Kinn, die langen Wimpern. Bei seinen vollen Lippen, die jetzt leicht geöffnet waren, blieb er einen Moment stehen, bevor er zu den einzelnen Haarsträhnen des offenen Haares wanderte, die sich wie kleine, weißblonde Wasserfälle auf den Teppich ergossen. Die Seiten des Buches raschelten, als Leon sie umblätterte, und Adams Aufmerksamkeit wechselte zu den schlanken Fingern mit den gepflegten Nägeln. Er musterte sie etwas genauer. Am Mittelfinger der rechten Hand trug er einen silbernen Ring, in den Efeublätter graviert waren, und am linken Daumen glitzerte ein Reif aus Gold und Silber, mit einigen kleinen, hellblauen Steinchen besetzt.
 

Adam biss sich leicht auf die Unterlippe. Leon war ein Kunstwerk an sich, kein Wunder, dass er so von sich überzeugt war. Nur, wieso interessierte er sich so sehr für Adam, wenn er doch jeden anderen auf dieser Welt mit einem Fingerschnipsen haben könnte?
 

Vorsichtig löste er eine Hand von seiner Tasse und fuhr die Konturen von Leons Ohr nach, die äußere Ohrmuschel, das Ohrläppchen, die drei Kreolen. Leon sagte nichts, tat aber auch nichts mehr. Und Adam ließ sich nicht stören. Völlig in dessen Anblick versunken strich er über seine Schläfe zu seinem Hals hinunter und seinen Kiefer entlang. Bei seinem Kinn hielt er kurz inne und hob es dann in seine Richtung an.
 

„Du hast nur diese Schlacht gewonnen.“ Adam schaute in Leons Augen, die sich jetzt auf ihn gerichtet hatten. „Nur diese Schlacht. Der Krieg ist noch lange nicht vorbei.“
 

Leon lächelte nicht. Er schaute ihn nur an. Ohne Erwartung, ohne Gefühl. Er schaute ihn einfach nur an.
 

Langsam beugte Adam sich vor, strich mit seinen Lippen vorsichtig über seine Stirn, über seine Wangenknochen. Das heiße Gefühl in seinem Inneren ignorierte er. Das Herz, das fast aus seiner Brust brach, auch. Und die Vernunft hatte er sowieso schon lange weggeschmissen. Er nahm einfach nur auf. Leons Geruch. Leons Geschmack. Er wanderte mit den Lippen langsam das Kinn entlang. Die Tasse stellte er währenddessen auf den Tisch. Mit den Fingerspitzen beider Hände strich er über Leons Hals, an seinen Ohren entlang, über seine Schläfen. Nach einigen Augenblicken spürte er Leons Hand in seinem Haar, ein sanfter Druck, der in noch näher zu sich zog. Ohne einen weiteren Gedanken küsste er ihn.
 

Ganz kurz.
 

Dann nochmal.
 

Ein bisschen länger.
 

Adam schlang seine Arme um Leons Oberkörper.
 

Und dann blieb er dort. Bei diesen weichen Lippen. Bei diesen warmen Lippen.

Keiner von beiden bewegte sich mehr.
 

Die Welt hörte auf sich zu drehen.
 

Es schien wie eine Ewigkeit, bis Adam sich von Leon löste. Er zitterte nicht. Aber er konnte nichts sagen. Er wollte nichts sagen. Ohne den Blick von Leon abzuwenden, ohne sich von dessen Blick zu lösen, leckte er sich vorsichtig über die Lippen. Langsam wendete er den Kopf und stand auf. Leon hob nur kurz seinen Oberkörper an, um ihn aufstehen zu lassen, und ließ sich dann nach hinten sinken. Er schloss die Augen, während Adam nochmal kurz an der Tür stehen blieb.
 

„Das wiederholt sich nicht nochmal.“
 

Es kam ihm seltsam vor, das zu sagen. Leon antwortete nicht.
 

„Bis morgen.“
 

Leon antwortete wieder nicht.
 

Adam hatte keine Eile, als er das Haus verließ. Gemächlich zog er sich an und trat in die Kälte hinaus. Der Wind war wieder etwas stärker geworden, jagte die Wolken über den Himmel. Die Blätter raschelten, durchbrachen die Stille der Nacht. Und flüsterten ihm immer wieder das Gleiche zu.
 

Wieso hatte er das getan?

Der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, während der Wind durch die Bäume heulte und einige lange Äste gegen das Fenster schlug. Adam starrte mit einem finsteren Blick nach draußen in die Dunkelheit, ohne dem Geschirr, das er gerade wusch, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen.
 

„Ich versteh ihn einfach nicht.“ Ziemlich rabiat stellte er die Tasse, die er gerade bearbeitet hatte, ab und griff nach einem Teller, den er ins Waschbecken tauchte. „Er ist so ein Arschloch. Egoistischer Bastard. Mann, welche verdammte Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?“
 

„Du scheinst ja doch ziemlich in ihn verknallt zu sein.“ Muse nahm die Tasse, trocknete sie ab und stellte sie auf den Tisch. „Oder?“
 

Er duckte sich leicht, als Adam ihm einen bitterbösen Blick zuwarf.
 

„Nein, bin ich nicht. Es ärgert mich nur.“ Er ließ einen Stapel Besteck ins Wasser plumpsen und beobachtete, wie es langsam im Schaum versank. „Ich hätte erwartet, dass er zumindest irgendwas macht. Oder sagt. Irgendwas. Aber, gar nichts. Der ist mir noch nicht mal Nahe gekommen. Und er hat mich auch nicht so angeschaut wie sonst.“ Mit einem Seufzer drehte er sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Spülbecken und verschränkte die Arme. „Im Gegenteil.“ Seine Stimme wurde etwas ruhiger. „Er war kalt, absolut kalt. Er hat mich wirklich nur wie ein Modell, wie eine Ware behandelt. Mehr nicht. Kein Lächeln, keine Anmache. Gar nichts.“ Mit einem unzufriedenen Laut strich er sich durch die Haare. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn mit dem Kuss irgendwie verärgert haben könnte.“
 

„Vielleicht war es nicht der Kuss, sondern, dass du nach dem Kuss gegangen bist.“ Muse nahm eine weitere Tasse, während Adam sich an den Tisch setzte. „Willst du nicht weiter abwaschen?“
 

Adam schüttelte nur den Kopf, die Lippen zu einem leichten Schmollmund verzogen, und spielte an einem kleinen, ausgehöhlten Kürbis rum, in dem ein Teelicht brannte. Es war Halloween, eine Woche, nachdem Adam diesen verhängnisvollen Besuch getätigt hatte. Er hatte Muse zu sich nach Hause eingeladen, um sich mit ihm einen gemütlichen Abend mit Horrorfilmen zu machen. Sie hatten zusammen mit seinen Eltern zu Abend gegessen, doch da diese zu einer Halloweenparty eingeladen waren, hatten sie nicht nur bereits das Haus verlassen, sondern ihnen auch mit einem schadenfrohen Lächeln den Abwasch überlassen.
 

Eigentlich hatte Adam auch nicht vor gehabt, wieder an Leon zu denken, aber seit einer Woche drehte sich alles in seinem Kopf. Die letzte Sitzung war die reinste Katastrophe gewesen, jedenfalls für ihn. Er hatte einen Leon kennen gelernt, wie er nicht gedacht hätte, dass es möglich gewesen wäre. Kalt, unnahbar, unfreundlich. Vielleicht lag es nicht an ihm, vielleicht hatte den Künstler etwas anderes verärgert, aber so recht konnte er nicht daran glauben. Dazu hatten die rauchgrauen Augen ihn zu hart, zu kalt angeschaut. Und morgen sollte er wieder dahin. Eine ätzende Vorstellung.
 

„Jetzt mach dir darüber keine Gedanken.“ Muse stellte vorsichtig einen Teller neben die Tassen und setzte sich zu Adam. „Vielleicht lag es ja wirklich nicht an dir. Vielleicht ist es morgen ganz anders. Oder du sprichst es einfach an, dann erklärt er es dir vielleicht.“
 

Adam gab einen unzufriedenen Laut von sich. „Kannst du nicht morgen mit mir was unternehmen? Dann hab ich nen Grund, ihm abzusagen.“
 

„Kannst du doch auch so machen.“ Muse stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab. „Oder willst du ihn nicht anlügen?“
 

„Nee... will ich nicht.“

„Tja.“ Muse zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Morgen ist Allerheiligen. Wir gehen immer die Gräber besuchen, ich kann da nicht einfach so wegbleiben.“
 

„Schon klar.“ Adam stand mit einem Ruck auf und widmete sich wieder seinem Abwasch. „War auch nicht wirklich ernst gemeint. Ich werde ihn morgen einfach mal fragen.“
 

Einfach mal. Leichter gesagt als getan. Er wüsste nicht, ob er bei diesem kalten Blick, der ihm einen Gänsehaut über den Rücken jagte, überhaupt den Mut aufbringen würde zu fragen.
 

Muse nickte nur. Kurz legte er die Hand auf Adams Schulter und drückte sie, bevor er sich wieder seiner Aufgabe widmete. Adam schluckte. Diese Kälte machte ihm mehr aus, als er zugeben wollte. Diese Ablehnung traf ihn mehr, als ihm lieb war. Verdammtes Arschloch! Hätte er an diesem einen Abend nicht einfach zu Hause bleiben können? Dann hätte er diesen egoistischen Bastard niemals getroffen.
 

Mit einem Seufzer ließ er das Wasser aus dem Becken laufen und warf kurz einen Blick zu Muse. Wieso konnte er sich nicht in so einen netten Kerl verlieben wie Muse? Der war zumindest lieb, nett und umgänglich.
 

Plötzlich stutzte er. Schaute sich kurz unsicher um, so als jemand im Raum hätte sein können, der seine Gedanken las. Hatte er gerade was von „verliebt“ gedacht? Hatte er sich in Leon verliebt? Hatte er sich so einfach damit abgefunden auf Männer zu stehen? War er tatsächlich schwul?
 

„ARG!!!“
 

Erschrocken zuckte Muse bei Adams Aufschrei zusammen und starrte ihn an wie ein Kaninchen die Schlange.
 

„Was ist los?“
 

„Ach, nichts, verdammt.“ Adam trocknete mit einer rabiaten Bewegung die Hände ab und sah Muse auffordernd an. „Gehen wir die Filme schauen. Ich brauch Ablenkung.“
 

„Ehm... okay.“ Muse’ Gesichtsausdruck blieb skeptisch, aber er folgte ihm wie ein braves Hündchen ins Wohnzimmer, wo Adams Mutter bereits Knabberzeug und Getränke bereit gestellt hatte.
 

„Du bist um deine Eltern zu beneiden.“ Muse begutachtete alles mit einem sehnsüchtigen Blick.
 

Adam zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß. Deswegen würd ich die auch niemals eintauschen. So, was schauen wir zuerst?“
 

Es wurde ein amüsanter Abend. Trotz des Wetters, das eine unheimliche Stimmung verbreitete, zogen sie jede erdenkliche Szene ins Lächerliche und nahmen ihr den Schrecken. Sie kabbelten sich, alberten rum und ließen ihrer guten Laune freien Lauf, so dass es bereits sehr spät war, als sie schlafen gingen. Doch im Gegensatz zu Muse, der schon nach wenigen Minuten ruhig atmete, fand Adam keinen Schlaf. Nachdem er sich einige Zeit ruhelos rumgewälzt hatte, stand er auf, machte sich eine heiße Schokolade und setzte sich ans Fenster im Wohnzimmer. In der Hand die warme Tasse, die Stirn an die Scheibe gelehnt, starrte er nach draußen.
 

Die Kälte, die Muse mit seiner Anwesenheit für kurze Zeit vertrieben hatte, kam wieder zurück.
 

Der Wind peitsche die Regentropfen immer noch mit unverminderter Heftigkeit gegen die Fensterscheibe. Es würde wohl am Tag auch nicht besser werden. Vorsichtig legte er die Fingerspitzen auf das Glas und fuhr die Spur eines Tropfens nach. Sah aus wie eine Träne. In was zum Teufel noch mal hatte er sich da verstrickt? Ihm waren andere Leute doch bis jetzt immer egal gewesen. Egal, was sie dachten, egal, wie sie sich ihm gegenüber benahmen, egal, wie sehr sie ihn begehrten. Die Mädchen in seiner Klasse hatten nicht nur einmal versucht, ihn zu einem Date zu überreden. Und sie waren wirklich hübsch. Nett. Liebevoll. Nicht egoistisch, arrogant und voll von sich selber. Wieso nur er? Wieso nur dieser egozentrische Künstler? Wieso Leon? Es gab auf dieser Gott verdammten Welt so viele Menschen. So viele.

Gequält schloss er die Augen, seine ganze Handfläche auf das Fenster legend, als ob er eine Stütze suchte.
 

War es dieses Zittern, wenn er ihn berührte?
 

War es dieses Herzklopfen, wenn er ihm nah kam?
 

War es dieses Flattern im Magen, wenn er mit ihm sprach?
 

War es diese zugeschnürte Kehle, wenn er an ihn dachte?
 

War es das, was man Liebe nannte?
 

Langsam ballte er die Hand zur Faust. Er würde ihn nach dieser Kälte fragen. Und dann würd er dafür sorgen, dass sie verschwand. Diese Eiseskälte, die ihn gefrieren ließ.
 

Die Nacht verging nur langsam, während er in seinem Bett lag, die Decke anstarrte und dem Regen lauschte. Er stand auf, als es langsam dämmerte und der Himmel ein wenig aufklarte, machte Frühstück und wartete, bis Muse wach wurde. Sie redeten nicht mehr viel, und kurze Zeit später war Adam wieder allein im Haus. Ein wenig verloren streunte er von einem Zimmer zum anderen. Die Zeiger der Uhr blieben nicht stehen, tickten stetig weiter, und umso trockener wurde seine Kehle.
 

Er wollte nicht zu Leon gehen. Es würde definitiv unangenehm werden. Die Antwort würde bestimmt unangenehm werden. Trotzdem, die Zeit blieb nicht stehen.
 

Es wehte ein kalter Wind, als Adam am späten Nachmittag das Haus verließ. Die Sonne drang mit ihren Strahlen kaum durch die dunklen Regenwolken und in der Luft lag Feuchtigkeit. Es würde heute wieder regnen. Später, irgendwann.
 

Seine Schritte wurden langsamer, je näher er Leons kleiner Villa kam. Jedoch stutzte er, als er schließlich bei der Haustür ankam. Sie stand offen. Nicht weit, nur einen schmalen Spalt breit, aber sie stand trotzdem offen.
 

Vorsichtig stieß Adam sie etwas weiter auf und lugte ins Innere. Es war alles still.
 

„Leon?“
 

Es war absurd zu glauben, dass er ihn in diesem Haus hören könnte, aber versuchten konnte er es ja mal. Er bekam, wie nicht anders erwartet, keine Antwort. Leise schloss er die Haustür hinter sich. Vielleicht hatte Leon einfach nur vergessen, sie vernünftig zu schließen. Man musste ja nicht immer vom Schlimmsten ausgehen.
 

Trotzdem beunruhigt legte er seine Sachen ab und tappte auf Socken in den ersten Stock. Ohne sich umzuschauen wollte er schon Richtung Atelier laufen, als er plötzlich ein leises, gequältes Stöhnen vernahm. Überrascht drehte er sich zu Leons Zimmertür, von wo der Laut gekommen war. Ohne ein Geräusch zu verursachen tappte er vorsichtig zum Zimmer und öffnete die angelehnte Tür komplett.
 

Das Innere war in Dämmerlicht gehüllt. Die Vorhänge, die vor die Fenster gezogen waren, sperrten das spärliche Sonnenlicht aus, blähten sich jedoch immer wieder durch den Wind auf, da die Fenster gekippt waren. Zwei angefangene Weinflaschen lagen auf dem Boden, während eine weitere, fast leere neben dem Bett stand. Adam wollte einen weiteren Schritt rein gehen, hielt jedoch inne, als er etwas auf dem Teppich glitzern sah. Glasscherben. Rote Weinflecken auf dem Teppich. Ein weiterer, suchender Blick zeigte ihm auch die Flecken an der Wand. Das Glas war wohl gegen die Wand geschmettert worden.
 

Vorsichtig umging er die Splitter und trat zum Bett, auf dem Leon lag, den rechten Unterarm über die Augen gelegt, den linken Arm vom Bett runter baumeln lassend. Seine Haare waren ordentlich zu einem Zopf geflochten, seine Kleidung wirkte jedoch unordentlich, als ob er sich mehrmals auf dem Bett rumgewälzt hätte.
 

„Bist du unter die Alkoholiker gegangen?“ Adam sah ihn ungläubig an.
 

Leon zuckte zusammen. „Was machst du denn hier?“ Seine Stimme klang nicht sonderlich erfreut.
 

„Uhm... ich hatte eigentlich vor, dir Modell zu stehen. Schon vergessen?“
 

Er ging in die Knie und nahm Leons Arm weg, um ihm in die Augen zu sehen. Sie wirkten ein wenig glasig, doch nicht annähernd so abwesend, wie er es erwartet hätte.
 

„Heute ist Donnerstag?“ Mit einer fahrigen Bewegung tastete Leon neben sich auf der Kommode herum und starrte einige Sekunden auf die Uhr, die er dort fand. „Und es ist schon so spät?“
 

„Jep, ist es. Vielleicht solltest du nicht so früh am Tag mit dem Trinken anfangen, wenn du noch was von ihm haben willst.“
 

„Wo ist Sachiko?“ Leon ließ sich wieder zurück aufs Kissen fallen und gab einen unerfreuten Laut von sich. „Mir ist schlecht.“
 

„Also, Sachiko hab ich nirgendwo gesehen. Und wenn du kotzen willst, bitte sag vorher Bescheid. Meine Klamotten sind frisch gewaschen.“ Adam wusste nicht, ob er Lachen oder Weinen sollte. Er hatte ja mit einigem für diesen Nachmittag gerechnet, aber sicher nicht mit so was.
 

„Nein, will ich nicht.“ Er ließ sich wieder auf die Kissen zurück fallen. „So schlimm steht’s dann noch nicht um mich. Kannst du mir ein bisschen Wasser holen?“
 

„Ja, klar.“
 

Adam stand auf, nahm die drei Flaschen noch an sich und trottete nach unten in die Küche, vorsichtig um die Glassplitter herum tänzelnd. Gerade als er mit einem vollen Wasserglas zurück in die Halle trat, klingelte es an der Tür. Ohne groß nachzudenken ging er hin und öffnete. Sachiko starrte ihn einen Augenblick entgeistert an, mit Wind zersausten Haaren und einem schnell übergeworfenen Mantel, und wich dann einen halben Schritt zurück.
 

„Was machst du denn hier?“, fragte sie, anscheinend völlig schockiert.
 

Na, danke auch, seine Anwesenheit war heute wohl von keinem großartig erwünscht. „Krankenschwester spielen.“, meinte er trocken und verdrehte leicht die Augen. „Ich geh schon mal hoch zu Leon, er braucht sein Wasser. Ich nehm mal an, du weißt, dass er leicht angetrunken ist?“
 

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern trottete direkt wieder zu Leon ins Zimmer, hörte jedoch noch ein sarkastisches „Leicht?“, dass sich stark nach einen unfreundlichen Knurren anhörte, hinter sich. Bei seinem Schützling angekommen, wollte er ihm das Wasser hinhalten und ihm beim Trinken helfen, doch Leon stieß ihn nur unfreundlich weg.
 

„Das kann ich selber.“ Mit einer fast schon eleganten Bewegung schwang er seine Beine über den Bettrand und nippte an dem Glas. „War das Sachiko?“
 

„Jep. Frisch vom Wind reingeweht.“ Adam setzte sich rücklings auf einen Stuhl und betrachtete Leon. Seine Augen hatten einen toten Glanz, der nicht vom Alkohol herrührte. Wieso zum Teufel hatte er sich so gehen lassen?
 

„Na, das hast du ja mal wieder ganz toll hingekriegt.“
 

Adam zuckte bei Sachikos Stimme zusammen. Er hatte sie gar nicht kommen hören. Der Teppich schluckte jedes Geräusch. Ohne die Splitter vor der Tür auch nur eines Blickes zu würdigen, trat sie zu Leon, hob sein Kinn ein wenig hoch und musterte sein Gesicht.
 

„So viel war es gar nicht.“ Es klang fast wie die Rechtfertigung eines kleinen Jungen.
 

„Ich hab die Weinflaschen unten gesehen.“ Sachikos Stimme klang kalt.
 

Die zwei starrten sich einige Momente lang an. Es lag irgendwas in der Luft, irgendwas war zwischen ihnen, was Adam nicht so recht benennen konnte. Aber er spürte es. Und es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte die zwei für Todfeinde gehalten, nicht für alte Freunde.
 

Mit einem Ruck drehte Sachiko sich zu ihm um.
 

„Entschuldige, kannst du vielleicht ein bisschen Tee machen? Ich glaub, dass hilft Leon besser als das Wasser da.“
 

Sie lächelte ihn bittend an und er nickte nur schweigend. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, schloss jedoch die Tür nicht ganz hinter sich und blieb auch nach einigen Schritten im Flur stehen. Für wie blöd hielt sie ihn eigentlich? Auch wenn Neugier keine gute Eigenschaft war, diesmal wollte er wissen, worüber sie sprachen. Erfahren, wieso Leon sich in diesem Zustand befand.
 

Es verstrichen einige Augenblicke.
 

„Was macht er hier?“ Sachikos Stimme klang ungehalten, obwohl sie versuchte, leise zu sprechen.
 

„Wir haben donnerstags unsere Sitzungen.“, meinte Leon gelangweilt. „Ich hab vergessen, dass er heute kommt.“
 

„Erzähl mir nichts, Leon. Du vergisst so was nicht. Es war dir schlicht und ergreifend egal.“
 

„Na, und wenn schon, was geht es dich an?“
 

„Ich will nicht, dass du mit ihm spielst.“ Sie sagte das leise, fast bedrohlich. Es klang wie das Zischen einer Schlange. „Wenn er für dich nur ein Spielzeug ist, dann hör auf damit. Sag ihm, er soll nicht mehr kommen.“
 

„Er ist kein Spielzeug, verdammt. Er ist mein Modell.“ Es lag Wut in seiner Stimme, unterdrückte Wut.
 

„Also nur ein Objekt?“
 

„Du verstehst das nicht, Kas. Du kannst das gar nicht verstehen.“

„Oh doch, ich verstehe sehr, sehr gut. Besser, als du denkst. Ich kenn dich, Leon, schon seit Jahren. Und ich beobachte dich seit Jahren. Und ich sehe, was du jetzt, mal wieder, für Scheiße baust!“
 

„Mal wieder, was soll das heißen, mal wieder?“ Leon versuchte gar nicht mehr, seine Stimme zu dämpfen.
 

„Das weißt du ganz genau.“ Sachiko klang eisig. Kalt wie ein Eisstachel. „Die gleiche Scheiße wie mit...“
 

„Erwähn seinen Namen nicht! Erwähn seinen Gott verdammten Namen nicht!“
 

„Beruhig dich, Leon, und schrei mich nicht an.“
 

„In meinem Haus schreie ich an, wen ich will.“, meinte er, jetzt jedoch wieder ruhig, frostig.
 

„Mich nicht.“ Adam hörte Schritte. Sie schien zu Leon gegangen zu sein. „Nochmal, spiel nicht mit ihm, Leon. Ich hab gesehen, wie du ihn angeschaut hast. Wie du ihn beobachtet hast. Er ist dir bereits jetzt verfallen, und das weißt du ganz genau. Nutz es ja nicht aus. Ich mag ihn, ich will nicht, dass du ihm weh tust.“
 

„Hm.“ Ein verächtlicher Laut. „Wer tut hier bitte wem weh, hm?“
 

„Höchstens du dir selber. Wenn du dauernd den Schatten der Vergangenheit nachrennen willst, bitte, tu dir keinen Zwang an, aber zieh Adam nicht mit hinein.“
 

“Adam, Adam... meine Güte, wenn dir der Kleine so wichtig ist, geh, sprich mit ihm, dass er nicht mehr zu mir kommt. Dann werde ich deinem süßen, kleinen Spielzeug auch nicht mehr weh tun können.“
 

„Das ist nicht meine Angelegenheit. Letztenendes müsst ihr zwei das unter euch ausmachen. Ich will dir nur einen Rat geben.“ Sie seufzte. „Er ist anders. Und das weißt du.“
 

„Er ist nicht anders. Er ist genauso. Klein und jämmerlich. Zerbrechlich.“
 

„Dann pass auf, dass du ihn nicht zerbrichst.“
 

„Und was, wenn ich genau das machen will?“
 

„Willst du wirklich auf ewig ein arrogantes Arschloch bleiben? Willst du auf ewig einen Zaun aus Stacheldraht um dich herum aufstellen? Willst du wirklich jeden verlieren, der dir wichtig ist?“
 

„Du bist mir wichtig und dich werde ich nicht verlieren.“ Es klang fast ein bisschen jämmerlich.
 

„Aber nur, weil ich dich nicht liebe, jedenfalls nicht auf diese Weise.“
 

„Pff... er liebt mich doch auch nicht. Er ist nur fasziniert von mir, meinen guten Aussehen, meinem charismatischen Benehmen. Aber lieben tut er mich nicht.“
 

„Das weißt du nicht, Leon.“ Sie sagte das sanft, sehr sanft. „Und das wirst du nie erfahren, wenn du so weiter machst.“
 

Es breitete sich Stille aus und nach einigen Augenblicken setzte Adam seinen Weg in die Küche fort. Mit fahrigen Bewegungen suchte er die Tassen und Teebeutel zusammen, stellte heißes Wasser auf, starrte gedankenlos auf den Dampf, der hochstieg. Sein Herz schlug nicht. War es stehen geblieben? Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete. Seine Gedanken waren eingefroren.
 

Mit einer plötzlich heftigen Bewegung fegte er das Tablett und das Besteck vom Tisch. Es klirrte, doch nichts ging zu Bruch. Und selbst wenn, es wäre ihm egal gewesen.
 

Was sollte er von diesem Gespräch halten? Ein Spielzeug? Ein Objekt? War er wirklich nur DAS für Leon? Mehr nicht? Er schluckte schwer, um die Tränen zu unterdrücken. Hatte er sich so geirrt? Hatte er Leons Aktionen wirklich so falsch interpretiert? War dieses Lächeln, das er ihm ab und zu geschenkt hatte, das so liebevoll und warm gewirkt hatte, nur geschauspielert gewesen? Ein Lächeln, das man auch einem kleinen Hund geben würde? Er vergrub sein Gesicht in einer Hand. Und wer war ER? Wer war dieser obskure Jemand, dessen Namen Sachiko nicht erwähnen sollte? Ein Ex-Lover? Einer, der Leon vielleicht verlassen hatte? Eine einseitige Liebe?
 

Verdammt. Verdammt.
 

Es war doch wirklich mehr als Bewunderung. Es war mehr als nur Verlangen. Es war mehr, viel mehr.
 

Das Pfeifen des Wasserkochers ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Er starrte das Gerät einige Momente an, bevor er sich endlich entschloss, aufzustehen und Wasser einzufüllen. Fast automatisch hob er das Tablett und das Besteck auf, stellte Tassen und Teebeutel drauf und stakste nach oben. Vor der immer noch angelehnten Zimmertür blieb er für einen Augenblick stehen und schluckte schwer. Er hatte das Gespräch nicht mitbekommen. Adam versuchte, sein Gesicht zu entspannen. Er hatte nichts von alledem mitbekommen. Vorsichtig betrat er das Zimmer. Er wusste von nichts.
 

Sachiko und Leon sahen auf, als er eintrat. Sachiko hatte sich gegen das Fenster gelehnt, während Leon auf dem Bett saß, die Ellbogen auf den Oberschenkeln abgestützt und ein wenig nach vorne gebeugt.
 

„Das hat aber lang gedauert.“ Sachiko lachte leise auf. „Hast du dich verlaufen?“
 

„Na ja, nicht ganz. Hab die Tassen nicht gleich gefunden.“ Es erfüllte ihn fast schon mit Stolz, dass seine Stimme nicht zitterte, nicht bebte, sondern völlig normal klang.
 

„Ach so.“ Sie lächelte, doch es wirkte ein wenig gezwungen. Irgendwie nervös strich sie sich über einen Oberarm. „Na ja, ich werde dann auch mal gehen. Du versorgst ihn ja ganz gut, Adam, nicht wahr?“
 

Adam nickte, übersah jedoch nicht Leons Blick, der Sachiko anbettelte. Sie ignorierte es geflissentlich.
 

„Gut. Bleibt ruhig oben, ihr braucht mich nicht nach unten begleiten. Und du, Leon, bekommst hoffentlich einen deftigen Kater. Selbst schuld, wenn du soviel säufst.“
 

Ohne Eile ging sie zu ihm hin und drückte ihm einen Kuss auf den Mund, drehte sich dann zu Adam, der immer noch mit dem Tablett in der Hand an der Tür stand, und küsste ihn im Vorbeigehen auf die Stirn. Sie winkt noch kurz und schloss dann die Tür hinter sich.
 

Adam sah ihr einen Moment lang nach, trat dann an die Kommode und setzte sein Tablett ab.
 

„Welchen Tee willst du?“
 

Er brachte es nicht über sich Leon anzuschauen, wusste jedoch, dass er sich nicht einen Millimeter bewegt hatte.
 

„Erdbeer.“ Seine Stimme klang leise. Langsam wanderte sein Blick zu Adam. „Es ist besser, wenn du auch gehst.“
 

Überrascht drehte Adam sich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch. „Sicher, dass du das alleine schaffst? Ich mein, du bist immer noch betrunken.“
 

„Ja, es geht schon.“ Ein wenig schwankend stand er auf. „Entschuldige, dass du völlig umsonst gekommen bist. War keine Absicht.“
 

Wenn er Sachikos Interpretation glauben durfte, war es irgendwo schon Absicht gewesen. Aber das dachte er nur.
 

„Hm, schon okay.“ Er stellte die Tasse, in die er gerade Zucker gefüllt hatte, ab. „Ich find den Weg schon nach draußen, du musst mich nicht begleiten.“
 

„Ich bin der Hausherr hier.“, meinte Leon ein wenig unwillig. „Wenigstens einen Gast sollte ich zur Tür begleiten.“
 

Adam zuckte nur mit den Schultern. Ihm war es egal, also tappten sie beide schweigend nach unten, Leon immer einige Schritte hinter ihm. Genauso wortlos zog Adam sich an, doch er merkte, dass Leon ihn beobachtete, jede seiner Bewegungen, jeden Atemzug, so schien es ihm.
 

„Wir sehen uns dann nächste Woche.“, sagte Leon leise.
 

„Jap, ciao.“
 

Adam nickte noch und trat dann durch die Tür, die Leon ihm aufhielt. Es hatte inzwischen wieder zu Regnen angefangen und der Wind war fast noch heftiger als zuvor. Die Kälte drang durch seine Jacke, durch seine Haut, bis ins Innerste.
 

Plötzlich schlangen sich zwei Arme um ihn und er wurde nach hinten gerissen, mit dem Rücken gegen Leons Brust gedrückt. Er spürte seinen Atem an seinem Ohr, den Alkoholgeruch, gemischt mit Leons eigenem, herben Duft. Die Wärme seiner Haut. Die weichen Haare an seinem Hals. Ein leises Flüstern an seinem Ohr.
 

Genauso plötzlich ließ Leon ihn wieder los, trat einige Schritte zurück und schloss die Haustür. Adam bewegte sich nicht.
 

Die Blätter raschelten, wie ein Seufzer, wie ein Flüstern. Der Regen prasselte ohrenbetäubend auf den Boden, verschluckte die ganze Welt hinter einem grauen Schleier. Der Wind heulte herzzerreißend, schien Trauer und Verzweiflung in den Himmel zu brüllen.
 

Und immer, immer wieder wiederholten sich diese drei Worte in seinem Kopf.
 

Ich hasse dich.

Adam zog seine Mütze noch etwas weiter nach unten und schlang seinen Schal fester um sich. Die Kälte biss sich in der Kleidung fest und wollte sie gar nicht mehr los lassen. Zumindest war es nicht windig. Und es regnete nicht. Ein Blick nach oben machte ihm wieder die düstergrauen Wolken bewusst, die schon seit Tagen keinen Sonnenstrahl durchgelassen hatten. Der Wetterbericht hatte ja was von Schnee gesagt, aber so recht wollte er nicht dran glauben. Eher wieder Regen. Wie schon seit Ewigkeiten. So kam es ihm jedenfalls vor.
 

Den Halbmantel noch enger um sich ziehend warf er einen Blick um sich herum Er saß auf dem alten, abgedeckten Steinbrunnen im Park, da die Sitzbänke von Familien, greisen Spaziergängern und Cliquen von Jugendlichen besetzt waren. Normaler, nachmittäglicher Betrieb, doch da er so selten hier war, war es für ihn sehr ungewohnt. Menschenaufläufe konnte er einfach nicht ausstehen.
 

Mit einem Seufzer linste er auf sein Handy. 14:57 Uhr. Immer noch. Wieso konnte die Zeit nicht ein bisschen schneller vergehen? Er schaltete zu der SMS, die er in der Früh erhalten hatte.
 

„Komm um drei in den Park. Hab Lust was zu unternehmen. Leon.“
 

Leon. Allein schon, wenn er an den Namen dachte, bekam er einen halben Anfall. Es war natürlich mal wieder typisch, dass er ihm quasi keine Wahl ließ, ob er kommen wollte oder nicht. Mal wieder typisch. Und er folgte ihm. Er lehnte sich zurück und starrte in den Himmel. Nach dem letzten Mal hätte er eigentlich komplett den Kontakt zu ihm abbrechen sollen. Hätte ihn ignorieren sollen. Oder irgendwas anderes in die Richtung. Und nicht wie ein folgsames Hündchen springen, wenn er rief. Mal davon abgesehen konnte er es sich beim besten Willen nicht erklären, wieso er gerade ihn sehen wollte. Hatte er, Leon, nicht selbst gesagt, dass er ihn hasste? Es ihm leise, wie einen Fluch, wie eine Drohung ins Ohr gewispert? Und jetzt, plötzlich, wollte er mit ihm was unternehmen? Das war doch paradox, absolut paradox. Wusste der Kerl nicht, was er wollte?
 

Mit einem lauten Aufatmen lehnte Adam sich wieder nach vorne und schaute auf sein Handy. 14:59 Uhr. Wie pünktlich kam ein exzentrischer, egoistischer und absolut arroganter Künstler?
 

Plötzlich spürte er zwei Hände auf seinen Schultern. Sie übten nur ganz sanft Druck auf ihn aus, zogen ihn nach hinten, bis er gegen einen menschlichen, warmen Körper stieß. Er musste nicht mal nach hinten schauen, um zu wissen, wer es war. Er musste auch nicht fragen oder seine Stimme hören. Er konnte seinen Geruch riechen. Er konnte seine Wärme spüren.
 

„Du bist sogar pünktlich.“
 

Seine Augen waren immer noch auf den Display seines Handys gebannt.
 

„Du auch.“
 

Seine Stimme klang ruhig, leise, ein wenig amüsiert. Sie verursachte Schauder auf Adams Haut.
 

Langsam drehte er sich um und musterte Leon einige Augenblicke. Er hatte sich über die Brunnenabdeckung hinweg angeschlichen und kniete jetzt vor ihm. Adam saß ein wenig niedriger als Leon, so dass er zu ihm hochsehen musste.
 

Leon lächele. Mit den Augen, mit dem Mund. Ein komplett anderer Mensch als letzten Donnerstag. Komplett anders. Welches Gesicht war sein echtes?
 

„Was willst du von mir?“
 

Adams Frage klang giftig. Er wollte sich einfach nicht von Leon wieder einfangen lassen. Nicht mehr, nicht wieder.
 

„Hab ich das nicht geschrieben?“ Leon sprang auf den Boden runter. „Etwas unternehmen. Irgendwas. Ich wollte einfach mal raus aus dem Haus.“
 

„Und Sachiko hatte gerade keine Zeit oder was?“, fragte Adam, noch eine Spur bitterer.
 

„Ehm... keine Ahnung. Ich hab Sachi nicht gefragt. Ich wollte mit dir weg.“ Leon lächelte wie ein unschuldiger, kleiner Junge, nichts böses denkend, nichts böses kennend.
 

„Mit... mir?“ Adam konnte nicht anders als ihn ungläubig anstarren. „Und... was war mit dem, was du mir letzten Donnerstag gesagt hast?“
 

„Was hab ich denn gesagt?“ Leon zog eine Augenbraue hoch.
 

Konnte er sich denn wirklich nicht erinnern?
 

„Na, das, wo du mich umarmt hast.“
 

War das sein Ernst?
 

„Ich hab da nichts gesagt. Das musst du dir eingebildet haben.“
 

Konnte man sich das einbilden?
 

Konnte es tatsächlich nur das Rauschen des Regens gewesen sein?
 

Das Heulen des Windes?
 

Das Flüstern der Blätter?
 

Konnte er sich wirklich das alles nur eingebildet haben?
 

Oder war Leon einfach nur ein begnadeter Schauspieler und Lügner?
 

„Du hast gesagt, dass du mich hasst.“
 

Seine Stimme zitterte, aber Adam sah Leon nicht an. Selbst wenn es nicht stimmte, selbst wenn er es sich nur eingebildet hatte, der Gedanke, es wäre möglich, tat zu sehr weh. Und er wollte einfach nicht Leons Reaktion darauf sehen. Wollte nicht sehen, wie vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde die Zustimmung in seinen Augen aufblitzte. Wie er vielleicht eine Maske aus Unschuld anzog. Er wollte es nicht sehen. Und sich diese Hoffnung, es möge nicht stimmen, erhalten.
 

„Wieso sollte ich so etwas sagen?“
 

Er wollte lieber an eine Lüge glauben.
 

„Du hasst mich nicht?“
 

Er wollte lieber bei diesem Schauspiel mitmachen.
 

„Nein.“
 

Nein. Ernst. Ruhig. Emotionslos.
 

„Nein.“, wiederholte Adam leise und sah auf.
 

Leon stand direkt vor ihm und betrachtete ihn. Emotionslos. Sein Blick war nicht zu deuten.
 

Lüge?
 

Wahrheit?
 

War das nicht egal?
 

Adam ließ sich von diesem Blick, von diesen grauen Augen gefangen nehmen. Starrte sie an. Lange, sehr lange.
 

War nicht dieses komplette Gespräch unwichtig gewesen?
 

Wäre es nicht besser, es einfach zu vergessen?
 

Alles einfach zu vergessen?
 

Wäre es nicht leichter, viel leichter?
 

Seine Hände zitterten, weswegen er sie in den Jackentaschen vergrub. In seinem Inneren breitete sich ein Gefühl aus. Stark, übermächtig. Unmöglich, es zurück zu drängen. Hoffnung. Erleichterung. Absolute, unbändige Freude.
 

Sanft glitt Leon mit den Fingerspitzen über Adams Wange, sein Ohr entlang nach unten zu seinem Kinn und hob es leicht an.
 

„Du bildest dir interessante Sachen ein.“ Mit dem Daumen strich er über seine Unterlippe. „Wir sollten langsam mal gehen, meinst du nicht? Der Park ist bei dem Wetter nicht gerade angenehm.“
 

Und das Gefühl, sich selbst zu belügen.
 

Abrupt stand Adam auf und drehte sich weg. Seine Kehle war wie zugeschnürt, ausgetrocknet.
 

„Ja.“ Heiser, erstickt. „Ja, gehen wir.“
 

Mit steifen Schritten stakste er voran, schnell und zackig.
 

Er hasst mich nicht.
 

Er wusste nicht, ob Leon ihm folgte oder nicht, aber im Moment war es ihm auch egal.
 

Er hasst mich nicht.
 

Leon sah ihm kurz etwas überrascht an, holte dann jedoch sehr schnell auf und hielt ihn am Ärmel fest.
 

Er hasst mich nicht!
 

Mit einem Ruck drehte er ihn zu sich um. Es herrschte Stille. Hierher, zwischen die Bäume, verirrten sich kaum Menschen. Die Geräusche drangen nur gedämpft ans Ohr, übertönt vom Rascheln der Blätter.
 

Leon hob langsam seine Hand, legte die Fingerspitzen auf Adams Wange. Adam bewegte sich nicht. Stocksteif, wie erstarrt, schaute er ihn nur an. Schaute nur, aus leicht geweiteten Augen. Die Wimpern warfen zarte Schatten auf die Haut, die helle, weiche Haut.
 

Mit einem Finger strich Leon vorsichtig die Träne weg. Beugte sich vor, fing die andere mit seinen Lippen auf. Berührte Adam nur sanft, nur zart, wie Glas, wie Porzellan. Wie einen Schmetterling, dessen Flügel zu reißen drohen.
 

„Macht dir der Gedanke so viel aus, dass ich dich hassen könnte?“
 

Nur ein Flüstern, ein Wispern. Wie der Wind.
 

Adam zuckte mit den Schultern. Würde er auch nur ein Wort sagen, könnte er sich nicht mehr beherrschen. Könnte die Tränen nicht mehr zurück halten.
 

Mit einem Lächeln zog Leon ihn an sich, fuhr mit einer Hand durch Adams Haar, während dieser seinen Kopf in seiner Halsbeuge vergrub. Sich langsam vortastend, legte er seine Arme um seine Hüfte, schloss die Augen, achtete nicht auf die Tränen, die jetzt ungehalten über sein Gesicht flossen. Nahm Leons Geruch wahr, sog ihn in sich auf. Herb und rau. Zigarettenrauch, Aftershave. Leons Geruch.
 

Leon ließ ihn nicht los. Hielt ihn fest, streichelte immer wieder über sein Haar und seinen Rücken. Wartete, bis die stillen Tränen versiegt waren, hielt ihn weiterhin fest.
 

Langsam, nach einiger Zeit, in der sie einfach nur beieinander standen, löste Adam sich von ihm, trat ein paar Schritte zurück und strich sich über das Gesicht. Er lächelte zittrig und warf einen Blick zu Leon.
 

„Entschuldige.“ Etwas unsicher holte er eine Packung Taschentücher aus seiner Manteltasche. „Dein Mantel... er ist nass.“
 

„Schon in Ordnung.“ Leon lächelte zurück. Ruhig. Abwartend. „Brauch ich nicht.“
 

„Okay... okay.“
 

Er steckte die Packung wieder weg und wischte sich nochmal über die Augen. Hilflos sah er sich um, nicht wissend, wohin er sein Augenmerk richten sollte. Leon strich sanft eine Strähne aus seiner Stirn.
 

„Alles in Ordnung? Was war denn los?“
 

Adam zuckte nur mit den Schultern.
 

„Nichts. Keine Ahnung. War einfach zu viel in letzter Zeit.“
 

Wie könnte er ihm auch sagen, dass es Erleichterung war? Dass sich die Anspannung in ihm gelöst hatte? Wie konnte er sagen, dass es Leons Schuld war? Wie?
 

„War es der Gedanke, dass ich dich hassen könnte?“
 

Adam schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, irgendwie... nein.“
 

Das war es wirklich nicht. Nicht allein. Nicht nur.
 

„Hm.“ Leon legte den Kopf leicht schief und musterte ihn. „Macht es dir dann vielleicht Probleme, dass du schwul bist?“
 

„Was?“ Mit einem Ruck schaute Adam auf und starrte ihn ungläubig an. „Ich bin nicht schwul.“
 

„Nein?“ Er zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Etwa bi?“
 

„Ich... sag mal... wann hab ich denn bitte behauptet, ich würde auf Männer stehen, he?“
 

„Tust du nicht?“ Leon sah ihn irritiert an. Und kurz, ganz kurz, verdunkelte sich sein Blick.
 

„Nein, tu ich nicht!“
 

Sein Kampfgeist erwachte wieder. Wie konnte Leon so was behaupten? Der hatte doch überhaupt keine Ahnung!
 

„Hm.“ Überlegend tippte sich der Grund für Adams wütende Gedanken ans Kinn. „Und wieso hast du mich dann geküsst?“
 

„Wie... was... wieso?“ Adam sah ihn wortlos an, den Mund ein wenig aufgerissen. „Weil... weil...“ Ja, wenn er das nur selber wüsste. Er konnte sich für diese spontane Tat immer noch in seinen Allerwertesten beißen. „Weil... einfach so. Das heißt ja nicht, dass ich auf Männer steh. Ich hab mich jedenfalls noch nie zu einem Mann hingezogen gefühlt.“
 

„Aha.“, meinte Leon nur lapidar, verschränkte die Arme und musterte Adam von oben bis unten. „Aber von einer Frau?“
 

„Eh... ehm... nein.“ Adam errötete leicht. Musste dieses Gespräch wirklich sein? Wie zum Teufel hatte er es nur mal wieder geschafft, es in so eine unangenehme Richtung zu lenken?
 

Leons höchst überraschter, höchst ungewohnter Blick machte es jedoch wett. Seine Augen weiteten sich leicht und der Unglaube in seinem Gesichtsausdruck steigerte sich ins Unermessliche. Adam hätte fast zu Lachen angefangen, wenn er nicht der Grund für diesen Unglauben gewesen wäre.
 

„Du hattest noch keine Freundin?“
 

„Nein.“
 

„Sex?“
 

Die Röte in Adams Gesicht vertiefte sich. „Nein.“
 

„Hast du denn wenigstens geküsst? Also, bevor du mich getroffen hast?“
 

Inzwischen musterte der Junge höchst fasziniert seine Schuhspitzen. „Nein.“
 

„Ehm...“ Anscheinend hatte er es geschafft, Leon die Sprache zu verschlagen. „Onanierst du?“
 

Empört riss Adam den Kopf hoch und durchbohrte Leon wütend mit seinem Blick. „Das geht dich ja wohl einen feuchten Scheißdreck an!“
 

„Also nein.“
 

„Das hab ich nicht gesagt.“
 

„Also ja?“
 

„Das hab ich auch nicht gesagt. Es geht dich nichts an.“
 

„Also doch nein.“
 

„Arg, hörst du mir überhaupt zu?“
 

Inzwischen hatte Adam seine Hände zu Fäusten geballt. Und am liebsten hätte er eine von ihnen direkt in Leons arrogantes und selbstsicheres Gesicht geschmettert. Was ging ihn das alles an?
 

„Natürlich hör ich dir zu.“ Leon stupste kurz gegen seine Stirn und lächelte dann süffisant. „Ich wusste ja schon immer, dass du sehr naiv bist, aber für so jungfräulich und unschuldig hätte ich dich dann auch wieder nicht gehalten.“ Sein Lächeln wurde noch etwas breiter und in seine Augen trat ein höchst erfreuter Glanz. „Das heißt ja, dass mir dein erster Kuss gehört hat.“ Selbstzufrieden zählte er an den Fingern ab. „Und dein zweiter und dein dritter. Ich kann höchst zufrieden mit mir sein, wie ich sehe.“
 

„Oh, du bist so ein arroganter, selbstverliebter Bastard, das passt ja auf keine Kuhhaut mehr!“ Adam verschränkte zornig die Arme und fixierte Leon. „Bei dem ersten Kuss war ich unvorbereitet, sonst hättest du ihn nicht bekommen. Und den dritten hatte jemand anders, also bild dir nichts drauf ein.“
 

Überrascht zog Leon eine Augenbraue hoch. „Wer?“
 

„Ein Freund von mir.“ Adam grinste ihn spöttisch an. „Ein sehr guter Freund.“
 

„Männlich? Und du willst nicht schwul sein?“
 

„Ich hab nicht gesagt, dass mir der Kuss gefallen hat.“
 

„Und wieso hast du das dann gemacht?“
 

Um einen Vergleich zu dir zu haben. Aber das sagte Adam nicht.
 

„Einfach so, mir war langweilig.“
 

„War dir auch langweilig, als du mich geküsst hast?“
 

„Arg... sag mal, musst du dauernd drauf rumreiten? Ich könnt dich genauso gut fragen, ob dir langweilig war, als du mich geküsst hast.“
 

„Stimmt, könntest du. Und meine Antwort wäre, nein, ich hab das gemacht, weil es mir gefällt, dich zu küssen.“
 

Adam wand sich. Das hatte er jetzt eigentlich nicht wissen wollen. Mal wieder verfluchte er sich selber für seine dummen Antworten. Und Leon für seine Fragen. Und seine Antworten. Eigentlich, um genau zu sein, für seine gesamte Art.
 

“Schön für dich. War bei mir halt anders. Punkt. Könnten wir das Thema bitte lassen?“
 

„Uhm...“ Leon legte gespielt nachdenklich den Kopf zur Seite. „Nein. Ich möchte jetzt doch wissen, was du bist.“
 

„Und wieso, zum Teufel nochmal?“
 

„Na, weil ich wissen will, ob es sich überhaupt lohnt, mich an dich ranzumachen. Wenn du eigentlich nur auf Frauen stehst, kann ich mir die Mühe sparen.“
 

Adam blieb die Spucke weg. Dieser... dieser eingebildete Fatzke.
 

„Du brauchst dich gar nicht an mich ranmachen. Es bringt nichts, selbst wenn ich stockschwul wäre. Glaubst du, ich will, dass du dich in mich verliebst?“
 

Leon grinste leicht und schaute ihn aus großen, unschuldigen Kulleraugen an. „Vielleicht will ich dich auch nur ins Bett kriegen.“
 

Und DAS sagt der einem einfach frech ins Gesicht?
 

„Boah, du gehst mir so was von auf den Geist, du arroganter Bastard!“
 

„Du wirst langweilig. Lass dir mal etwas neues einfallen außer ‚arrogant’ und ‚Bastard’.“ Nachdenklich tippte er sich an die Unterlippe. „Wie wär’s mit ‚selbstverliebt’, ‚Arschloch’, ‚Mistkerl’, ‚egoistisch’, ‚Ratte’? Streng dich an, sei kreativ!“
 

„Kann es sein, dass diese Beschimpfungen schon mal jemand vor mir gebraucht hat?“
 

„Jep.“ Ein unschuldiger, engelsgleicher Blick aus rauchgrauen Augen. „Sehr, sehr häufig.“
 

Adam stand inzwischen kurz vor der Explosion, und dieser letzte Satz machte es nicht gerade besser. Wie konnte man mit so einem Blick zugeben, dass man ein Arschloch war? Wie konnte man sich dessen so sicher sein, die Krone der Schöpfung zu sein? Wie konnte man von sich selber denken, einfach unwiderstehlich auf andere zu wirken? War der Kerl denn wahnsinnig?
 

Ja, wahnsinnig von sich selbst überzeugt.
 

Er atmete einmal tief durch und schloss die Augen. Ruhe, nur Ruhe bewahren.
 

„Du solltest das nicht machen.“ Er spürte Leons Hand an seiner Wange. „Das wirkt so einladend.“
 

Abrupt riss er die Augen auf. „Ich lade dich zu gar nichts ein!“
 

Leon war einen Schritt näher getreten. Nahe, zu nahe. Er konnte wieder seinen Geruch riechen. Viel zu nahe.
 

„Wir sollten gehen. Diese Diskussion führt zu nichts. Sie ist beendet.“
 

Mit einem Ruck drehte Adam sich weg. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals hinauf und seine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Das Schlucken fiel ihm schwer, viel zu schwer. Konnte sich nicht die Erde auftun und Leon darin verschwinden? So als kleines Geschenk des Himmels?
 

„Du hast Recht.“
 

Adam sah es nicht, doch er spürte, wie Leon lächelte. Seine Nackenhaare stellten sich auf, trotzdem ging er weiter, ohne sich umzudrehen. Plötzlich fühlte er Leons Hand in seiner.
 

„Ich weiß auch schon, wohin.“
 

Leon zog ihn vorwärts, ohne seine Hand loszulassen. Erst jetzt merkte Adam, wie kalt es war. Wie sehr er gefroren hatte. Geistesabwesend starrte er auf ihre Hände. Wie warm Leons Hand war. Es gab keinen Grund, sie loszulassen. Oder?
 

Wütend auf sich selber knabberte er auf seiner Unterlippe herum. Wieso musste er so schwach sein? Es fühlte sich zu gut an, um etwas dagegen zu unternehmen, ja, aber konnte er nicht wenigstens ab und zu seine Abwehr gegenüber diesem Bastard aufrecht erhalten? Entschuldigung, nicht Bastard... selbstverliebte, egoistische Ratte. Oder so.
 

Von schräg hinten betrachtete er Leons Profil, die entspannten Gesichtszüge, den Blick nach vorne. Sein Lächeln, der freudige Glanz in seinen Augen, seine sanfte Berührung, seine leise wispernde Stimme... das alles machte es wert, ab und zu die Abwehr zu verringern. Eine Lüge zu Glauben. Und die Wahrheit zu leugnen. Ab und zu.
 

„Wohin willst du?“
 

Vorsichtig, fast mit Bedauern löste Adam seine Finger aus Leons Hand und trottete ihm wie ein braver Hund hinterher. Die einzige Reaktion Leons war, dass er seinen Schritt verlangsamte, bis Adam auf seiner Höhe war. Ansonsten nichts, absolut nichts.
 

„In ein Café hier in der Nähe. Es ist etwas erhöht, man hat einen guten Überblick über den Park.“
 

„Und wofür brauchen wir den?“ Adam zog eine Augenbraue skeptisch hoch. „Wüsste nicht, dass dieser Anblick so berauschend ist.“
 

„Doch, ist es.“ Leon lachte leise auf. „Lass dich einfach überraschen.“
 

Der Junge zuckte nur mit den Schultern. Leon würde sowieso seinen Willen durchsetzen, egal was war, wieso sollte er also widersprechen? Vor allem bei so einer unwichtigen Sache. Besser, er sparte sich seine Kräfte für andere Dinge auf.
 

Mal wieder merkte Adam, wie selten er doch draußen in der Stadt war, als sie vor dem Café standen. Es hatte zwei Stockwerke und war anscheinend die Anlaufstelle für Jugendliche und Junggebliebene. Schüler, Studenten, junge Pärchen und gelangweilte Jungarbeiter tummelten sich zuhauf in der unteren Etage, die mit Spielautomaten, Billardtischen, Kickergeräten und ähnlichen Zeug für die Kurzweil ausgestattet war, während sich das eigentliche Café im ersten Stock befand. Es sah recht hübsch gestaltet aus, mit zahlreichen Pflanzen, die als eine Art Trennwand zwischen den einzelnen Tischen aufgestellt waren, einen hellen Boden und hellblauem Mobiliar. Auf der der Tür gegenüberliegenden Seite befand sich eine breite Fensterwand, durch die man einen allumfassenden Blick über den Park und den Platz vor dem Gebäude hatte.
 

„Wusste gar nicht, dass es hier so etwas gibt.“, meinte Adam, während Leon ihn zu einem freien Tisch direkt am Fenster führte.
 

„Tja, und dabei bin ich es doch, der erst seit etwas mehr als einem Monat hier wohnt. Wobei ich in der Gegend aufgewachsen bin.“ Leon setzte sich, überschlug seine Beine und zündete sich eine Zigarette an. „Lass mich raten, du willst eine heiße Schokolade?“
 

„Oh, kannst du hellsehen oder was? Woher wusstest du das nur?“ Adam riss gespielt überrascht seine Augen auf, widmete seine Aufmerksamkeit dann aber schnell der Aussicht, die sich ihm von diesem Platz aus bot.
 

Sie saßen eine Weile schweigend da, bis die Bedienung sowohl ihre Bestellung aufgenommen wie auch gebracht hatte. Dann wand sich Adam Leon zu.
 

„Und wieso wolltest du jetzt genau hierhin?“
 

„Wegen dem Ausblick.“, meinte dieser nur lapidar und nahm einen Zug von seiner Zigarette.
 

„Haha... das ist ja wohl nicht dein Ernst, oder?“ Adam schnaufte kurz. „So scharf bin ich auf diese Aussicht auch wieder nicht.“
 

„Aber von hier aus kann man gut die Leute beobachten.“
 

„Wer hat gesagt, dass ich das will?“ Der Junge zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
 

Leon antwortete nicht, sondern beugte sich nur zum Fenster und deutete dann auf ein recht hübsches Mädchen, das unten auf einer Bank saß und sich mit einigen Freunden unterhielt.
 

„Wie gefällt sie dir?“
 

„Was?“
 

„Wie gefällt sie dir?“
 

Leon sah Adam abwartend an, während dieser ihn nur verwirrt anstarrte.
 

„Wofür willst du das wissen?“
 

„Uhm... sieh es als kleines Spiel an.“ Leon lehnte sich zurück und lächelte. „Ich nenn dir ein paar Leute, die du anschauen sollst. Stell dir vor, du würdest mit denen eine Beziehung anfangen. Du würdest sie küssen, du würdest mit ihnen ins Bett gehen. Den Charakter lassen wir mal außen vor. Dann sag mir, ob es dir gefällt oder nicht.“
 

„Und was genau soll das bringen?“
 

„Na ja, wenn du dir partout eine Beziehung mit einer Frau nicht vorstellen kannst, wirst du wohl auch kaum hetero sein, oder?“
 

Adam klappte leicht den Mund auf.
 

„Ist das alles, weswegen du mich hierher geschleppt hast? Weil du wissen willst, worauf ich steh?“
 

„Jep, absolut korrekt. Du bist dir doch selber nicht sicher, oder? Also helfe ich dir ein bisschen. Erleichtert dir bestimmt auch ein bisschen die Partnersuche, wenn du weißt, was du eigentlich willst.“
 

„Eh... eh...“
 

Adam sah ihn nur wortlos an und seufzte dann tief. Na, wenn es ihn glücklich machte. Leon würde sowieso nicht locker lassen, bis er ein zufriedenstellendes Ergebnis von ihm hatte. Mit einem weiteren Seufzer zuckte er die Schultern und musterte das Mädchen. Im Gedanken spielte er jedes Szenario durch, das Leon ihm vorhin aufgezählt hatte. Dann schüttelte er den Kopf.
 

„Nope. Die interessiert mich so sehr wie ein toter Fisch.“
 

„Und die da?“
 

Er wiederholte den Gedankengang. Das Ergebnis war das Gleiche.
 

„Und der?“
 

Adam betrachtete den Jungen, den Leon ausgesucht hatte, etwas genauer. Schlank, groß, markante Gesichtszüge. Er hatte was.
 

„Vielleicht.“
 

Ihm war es unangenehm, diese Antwort zu geben, aber er wusste, es würde nichts bringen, wenn er sich selber belog. Wenn er sich dieser Prozedur unterzog, wollte er zumindest auch ein realistisches Ergebnis bekommen.
 

Sie wiederholten das Spielchen noch mehrmals mit immer wieder verschiedenen Typen von Frauen und Männern jeden Alters. Das Ergebnis stellte sich als ziemlich klar heraus.
 

„Du bist stockschwul.“
 

Ohne eine Miene zu verziehen, nippte Leon an seinem Tee und betrachtete Adam über den Tassenrand hinweg.
 

„Anscheinend.“
 

Adams Stimme war ruhig, leise. Er hatte seine Stirn gegen die Fensterscheibe gelehnt und starrte nach draußen, fast komplett blind für das, was dort abging.
 

Schwul.
 

Absolut schwul.
 

Eigentlich hätte es ihm schon längst klar sein müssen. Wieso hatte er sich nicht früher darüber Gedanken gemacht? Wieso hatte es ihn nie gewundert, dass er die ganzen Mädchen, die hinter ihm her waren, abgewiesen hatte? Das er keine einzige interessant gefunden hatte? Er war fast achtzehn Jahre, verdammt. Da sollte sich doch normalerweise beim Anblick eines hübschen Mädchens was regen. Wobei, es hatte sich auch beim Anblick eines hübschen Jungen nichts geregt. Absolut nicht, nie.
 

Sein Blick wanderte zu Leon, der ihn immer noch über die Tasse hinweg musterte.
 

Langsam nahm er jedes Detail auf. Die langen Haare, die glänzenden Strähnen, die über die Schulter nach vorne fielen. Den Ring an seinem linken Mittelfinger, die silbernen Ohrringe in Form von Obelisken. Die vollen Lippen, die sich gegen den Tassenrand drückten, die rauchgrauen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Die Wangenknochen, die ein wenig herausstachen, das Kinn, das so stur und arrogant wirkte.
 

Er war schwul, hatte aber erst bei diesem Anblick angebissen. War Hals über Kopf auf diesen egozentrischen Künstler eingegangen. Und litt wegen ihm wie ein Hund, immer und immer wieder.
 

Mit einem Seufzer nahm er seine Tasse und trank einen Schluck.
 

Seine Sexualität tangierte ihn im Moment nicht sonderlich. Sie war unwichtig, zweitrangig, denn er hatte nicht vor, auf Partnersuche zu gehen. Er wusste, er würde niemanden finden, der ihm gefiel. Es war unmöglich.
 

Sein Blick wanderte zu Leon.
 

Es war unmöglich, diesen elenden Bastard in irgendeiner Weise zu toppen.
 

Mit einem weiteren, tiefen Seufzer blickte er wieder aus dem Fenster, während er auf seinen Oberschenkel, nicht sichtbar für Leon, mit dem Finger schrieb. Etwas, das er sich bis jetzt nicht hatte eingestehen wollen, etwas, das er bis jetzt in die tiefste Ecke seines Bewusstseins gedrängt hatte, um ja nicht darauf aufmerksam gemacht zu werden. Etwas, was er am liebsten ersticken würde. Und etwas, das er niemals vor einem anderen zugeben würde.
 

Adam liebt Leon.

Mit einem Ruck klatsche Adam sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Er zuckte zusammen, doch diese Abkühlung war bitter nötig gewesen. Sich mit beiden Händen auf dem Becken abstützend, hielt er für einige Momente inne und betrachtete sich fast wütend im Spiegel. Seine tiefschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und tropften ein wenig, seine Wangen waren leicht gerötet, das strahlende und kristalline Blau seiner Augen wurde von einem sanften, dunklen Schimmer überlagert. Vorsichtig streckte er seine Finger aus und berührte sein Spiegelbild, fuhr die weichen Züge nach, den schmalen, blassroten Mund, strich zu seinem Hals nach unten, zu seinen Schlüsselbeinen.
 

Abrupt drehte er sich weg und atmete tief durch. Zum Glück kamen nicht sonderlich viele Leute in die Männertoiletten des Cafés, ansonsten hätte man ihn vielleicht noch für einen selbstverliebten Narzissten gehalten. Auch wenn er wusste, dass er attraktiv war, selbstverliebt oder narzisstisch konnte man ihn gewiss nicht nennen. Eher das Gegenteil.
 

Leicht auf die Unterlippe beißend, schlug er kurz mit der Faust gegen den Beckenrand. Sein ganzes Leben lang hatte es ihn nicht ein bisschen interessiert, ob er gut aussah, ob er begehrenswert war oder mit anderen mithalten oder sie gar ausstechen konnte. Sein ganzes, verdammtes Leben lang, genau siebzehn Jahre, elf Monate und Gott verdammte zwei Wochen. Und das hatte sich mit einem Schlag geändert. Er wollte der Beste, Schönste, Charmanteste sein, den die Welt je gesehen hat. Er wollte mit einem einzigen Lächeln Herzen höher schlagen lassen, durch Wortwitz und Intellekt bezaubern, von Wissen nur so strotzen. Und das nur wegen einer einzigen, dummen Erkenntnis. Fast schon amüsiert schüttelte er den Kopf.
 

Er hatte sich verliebt.
 

Unsterblich.
 

Hals über Kopf.
 

Bis über beide Ohren.
 

Er, der jahrelang nicht mal großartig Sympathie für andere empfunden hatte.
 

Dabei hatte er sich immer so lustig darüber gemacht, wenn er beobachtete, wie sich seine Klassenkameraden auf den Kopf gestellt hatten, um ihrem Schwarm nahe zu kommen. Wie sie wie verrückt herum gesimst hatten, sich extra für die Person ihres Herzens neue Hobbies zulegten oder eine komplette Stilumwandlung machten.
 

Und jetzt war er selber kurz davor.
 

Mit einer einzigen Ausnahme. Er war seinem „Schwarm“ schon nahe. Sehr nahe. Nur noch nicht nahe genug. Und am liebsten hätte er diese verteufelten Schmetterlinge in seinem Bauch umgebracht. Einen nach dem anderen gegen die Wand klatschen oder drauf rumtrampeln. Irgendwas. Hauptsache, sie hörten damit auf, seinen Bauch auf den Kopf zu stellen. Und den Rest seiner Welt auch.
 

Er atmete noch einmal tief durch und versuchte sich zu sammeln. Leon saß immer noch draußen, genoss seinen Tee und wartete darauf, dass er wiederkam. Wobei Adam grad eher die Lust verspürte, sich in sein Zimmer zurück zu ziehen und die nächsten paar Jahre dort nicht mehr raus zu kommen. Oder eine Weltreise zu machen. Oder einen Trip auf den Mond. Oder Leon einen Trip auf den Mond zu schenken. Ohne Rückreiseticket, versteht sich. Sollte er doch den Mondhasen bezirzen, wenn’s ihm Freude bereitete.
 

„Aaaaaaaaaaaaarg!“
 

Wieso hatte er sich eigentlich zu diesem Treffen bereit erklärt? Wäre er zu Hause geblieben, wären ihm einige unangenehme Erkenntnisse erspart geblieben. Zum Beispiel, dass er schwul war. Oder dass er Leon liebte. Wobei ihm zweiteres als ein bisschen schlimmer vorkam. Aber nur ein bisschen.
 

Er strich sich mit beiden Händen seine Haare zurück, drehte sich nochmal zum Spiegel um und betrachtete sich einige Momente lang. Und was nun? Leon durfte seine Gefühle nicht erfahren. Definitiv nicht. Das hatte das Gespräch, dass er belauscht hatte, deutlich gemacht. Deswegen war er schließlich auch so schnell zu den Toiletten geflüchtet, damit Leon nicht die Gelegenheit bekam, in seinen Augen seine Gedanken zu lesen. Er hatte beim besten Willen keine Lust, nur ein Püppchen, irgendein Spielzeug zu sein, das man wegwarf, wenn man es nicht mehr brauchte. Einziges Problem, Leon war nicht nur wahnsinnig von sich selbst überzeugt, sondern auch ungewöhnlich aufmerksam, was die Gefühle anderer Leute anging. Zumindest die, die ihn betrafen. Und Adam war nicht gerade der beste Schauspieler. Eigentlich, um genau zu sein, war er ein hundsmiserabler Schauspieler. Und lügen konnte er sowieso schon drei Mal nicht.
 

Toll.
 

Wirklich ganz, ganz toll.
 

Jahrelang hatte er sich für ein ausgefuchstes Bürschchen gehalten, das welterfahren, gewieft und gegen alles immun war. Nur um jetzt zu erkennen, dass er die personifizierte Naivität und Unschuld darstellte. Seine eigene, kleine Welt ging gerade fröhlich den Bach runter, ohne sich um seinen seelischen Zustand auch nur im Geringsten zu kümmern.
 

Mit einem genervten Knurren verließ er die Toiletten und stapfte zum Tisch und somit auch zum Mann seiner Träume zurück. Was brachte es bitte, sich über den ganzen Kram den Kopf zu zerbrechen? Er wollte bestimmt nicht mit viel Mühe einen Schlachtplan austüfteln, wie er sich vor Leon schützen konnte, der dann in die Hose gehen würde. Und so wie er sein Glück kannte, würde sowieso jeder noch so geniale Schlachtplan in die Hose gehen. Also ließ er es lieber gleich bleiben und die ganze Sache einfach mal auf sich zu kommen. Er musste nur stur bleiben. Einfach nur stur. Und zumindest das konnte er meistens recht gut. Und, um es mal positiv zu sehen, es konnte ja nur noch besser werden...
 

Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er Leon sah. Er sah umwerfend aus. Gut, er sah immer umwerfend aus, aber so, wie die letzten Sonnenstrahlen sein Profil umrissen, seine Haarsträhnen zum Glänzen brachten, wie er ein Bein überschlagen hatte, an seinem Tee nippte und dabei nachdenklich aus dem Fenster blickte, wirkte er einfach unwiderstehlich. Und Adam kam sich wie ein Idiot vor, während er ihn betrachtete. Oder eher wie ein kleines, verliebtes Schulmädchen mit rosaroter Brille und Lolli im Mund, das einem strahlenden Ritter auf dem weißen Schimmel begegnet war. Machte die Liebe das eigentlich mit jedem? Jetzt wusste er zumindest, wieso er jahrelang einen großen Bogen um sie gemacht hatte.
 

„Da bist du ja.“
 

Adam zuckte erschrocken zusammen, als Leon sich zu ihm drehte. Er hatte doch gar kein Geräusch gemacht, wie hatte er wissen können, dass er zurück war?
 

Er nickte nur knapp und setzte sich wieder auf seinen Platz. Den Blick nach draußen gerichtet, spürte er überdeutlich, wie Leon ihn abschätzend musterte.
 

„Was?“, blaffte er und warf Leon einen düsteren Blick zu.
 

„Macht es dir so viel aus?“
 

Ja, es macht mir mächtig was aus, dir dämlichen Trottel verfallen zu sein. Aber das sagte Adam nicht. Mal davon abgesehen, dass Leon das auch nicht gemeint hatte.
 

„Tut mir leid, aber ja, es ist nicht gerade so ein tolles Gefühl, wenn man plötzlich erfährt, dass man schwul ist, und dann von der ganzen Welt verachtet wird.“
 

In seiner Stimme schwang ein genervtes Knurren mit, aber Leon ließ sich davon nicht irritieren. Seine Augen verdunkelten sich nur ein wenig.
 

„Es ist ja nicht so, dass das eine Krankheit ist und du auf einmal die Diagnose eines Arztes erfahren hast.“ Er nippte an seinem Tee und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Treiben unter sich. „Du warst es schon immer und hast es nur nicht gemerkt. Mal davon abgesehen weiß ich wirklich nicht, wo dein Problem ist. Homosexualität ist nichts unnormales. Es ist nur eine gleichwertige Alternative zur Heterosexualität. Genieß es doch einfach zu lieben, statt dir irgendwelche künstlichen Probleme zu schaffen. Außerdem“, er hielt kurz inne, „außerdem hatte ich bis jetzt eigentlich nicht das Gefühl, dass du dir aus der Meinung anderer großartig etwas machst. Kann es dir nicht egal sein?“
 

Adam schluckte. Eigentlich hatte Leon ja auch recht. Aber eben auch nur eigentlich.
 

„Mich stört es aber.“ Er starrte in seine Tasse. Die heiße Schokolade war inzwischen nur noch lauwarm. „Schwule sind weibisch, tragen pink, arbeiten als Friseure und... und... und ficken sich gegenseitig in den Arsch.“ Er erschauderte kurz. „Das ist so... wäh...“
 

„Bist du wirklich so voll von Vorurteilen? Seltsam, ich hätte dich für toleranter gehalten. Anscheinend irr ich mich immer wieder bei dir.“
 

Es klang enttäuscht und verletzt. Adam sah überrascht hoch, doch in Leons Miene zeigte sich keines der Gefühle, das seine Stimme vermittelt hatte. Hatte er sich das nur eingebildet?
 

Etwas verwirrt senkte er wieder den Blick. Natürlich hatte er Recht. Es waren Vorurteile. Und er wusste, dass sie absolut nicht der Wahrheit entsprachen. Dazu musste er nur Muse anschauen. Oder sich selber. Trotzdem. Es fiel ihm schwer, diese Tatsache, schwul zu sein, einfach so zu akzeptieren als ob es absolute Normalität wäre.
 

„Ich brauch wohl nur ein bisschen Zeit, um das zu akzeptieren.“, meinte er fast ein wenig kleinlaut und mit einem hilflosen Schulterzucken. „Ich weiß ja, dass diese ganzen Klischees nicht der Wahrheit entsprechen, aber... ach, keine Ahnung. Ich brauch nur ein bisschen Zeit.“
 

Sie schwiegen einige Momente, während Adam weiterhin intensiv den Tisch musterte. Plötzlich spürte er Leons Hand auf seinem Kopf, wie er sanft durch sein Haar fuhr und ihn beruhigend streichelte. Adam senkte ein wenig die Augenlider, um dieses Gefühl zu genießen. Es überraschte ihn immer wieder, welche Wärme, welche Geborgenheit Leon manchmal ausstrahlen konnte. Wie auch jetzt.
 

„Mach dir nichts draus. Es wird schon werden.“
 

Seine warme Stimme verursachte einen angenehmen Schauder auf Adams Haut. Wie konnte jemand so arrogant sein und gleichzeitig so fürsorglich? Wieso konnte er nicht immer dieses warme Gefühl vermitteln?
 

Aber genau in diesem Moment, in dem er kurz die andere Seite von Leon sah, die liebevolle, zärtliche Seite, wusste Adam, wieso er sich in ihn verliebt hatte. Es war nicht nur dieser Charme, dieses unwiderstehliche Charisma. Es war auch diese Wärme, die immer wieder durchdrang. Wie zu dem Zeitpunkt, als Adam Fieber gehabt hatte und Leon sich um ihn kümmerte. Oder als er ihn urplötzlich abends besucht hatte und er ihn ohne eine Frage einfach aufnahm. Oder als er ihn heute, im Park, kommentarlos in den Arm genommen hatte. Diese Momente, das wusste er, waren selten, waren unheimlich kostbar, und deswegen bewahrte Adam sie tief in sich drinnen auf, wie einen wertvollen, unschätzbar wertvollen Schatz. Vielleicht der einzige Schatz, den er von Leon je bekommen würde.
 

Leon nahm seine Hand wieder weg, was Adam mit Bedauern registrierte, verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah Adam von unten an. Der Junge hob den Blick und musste unwillkürlich lächeln. Leon wirkte wie ein kleiner Dackel, der ein Leckerli haben wollte.
 

„Wollen wir noch was unternehmen?“ Leon lächelte ebenfalls, ganz leicht, ganz sanft.
 

„Und was?“ Er entspannte sich.
 

„Schlittschuhlaufen. Hier in der Nähe gibt es eine Eisbahn im Freien. Hast du Lust?“
 

„Schlittschuhlaufen?“ Adam zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr.“
 

„Na, dann wird’s Zeit.“
 

Ohne ein weiteres Wort stand Leon auf und ging an die Theke um zu zahlen, kam dann nach einigen Augenblicken beschwingt zurück und zog Adam auf die Beine, der immer noch ein wenig perplex an seinem Platz saß. Alles war wieder beim Alten. Leon nahm die Zügel in die Hand, ohne zu fragen. Doch diesmal störte Adam sich nicht daran.
 

Draußen war es kalt, eiskalt. Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor ihren Mündern und es schien, als ob es bald schneien würde. Es waren nicht mehr so viele Leute unterwegs, hauptsächlich noch Jugendliche und junge Erwachsene, die in Grüppchen zusammen standen oder irgendwohin gingen. Adam sah auf sein Handy. Sie waren über eine Stunde im Café gesessen, erstaunlich lange, wie er fand. Recht bald, und es würde komplett dunkel werden. Und kalt, sehr, sehr kalt.
 

Mit einem kurzen Frösteln zog er den Schal noch enger um sich und folgte Leon, der ohne große Umwege die erwähnte Eisbahn ansteuerte. Sie war nicht sonderlich weit entfernt, so dass Adam mal wieder höchst erstaunt darüber war, wie schlecht er sich doch in seiner eigenen Stadt, in der er seit seiner Geburt lebte, auskannte. Er sollte wirklich öfter rausgehen.
 

Das Eis schimmerte im letzten Schein der untergehenden Sonne orange und war in leichtes Dämmerlicht getaucht. Gerade als die zwei dort ankamen, wurden mehrere große Scheinwerfer angeschaltet, um für genügend Licht zu sorgen. Um die Bahn herum, die die Ausmaße einer kleinen Sporthalle hatte, befanden sich mehrere Buden, einerseits für den Eintritt und den Schlittschuhverleih, anderseits für das leibliche Wohl. Auf der Fläche selber hielten sich nicht sonderlich viele Leute auf. Die meisten standen an der Bande und schauten den wenigen Läufern zu oder saßen auf Bänken und unterhielten sich.
 

Adam blickte sich mit einem flauen Gefühl im Magen um. Für seinen Geschmack waren zu viele junge Leute hier, wodurch die Möglichkeit, jemanden zu treffen, den er aus der Schule kannte, sehr hoch war. Und das gefiel ihm so ganz und gar nicht. Doch Leon ließ ihm keine Wahl, sondern schleppte ihn zur Kasse und danach zum Schlittschuhverleih. Adam kam sich ein wenig wie ein Pudel vor, der von seinem Frauchen auf dem Arm herumgeschleppt wurde. Der hatte schließlich auch keine Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wohin er wollte.
 

Schweigend wechselten sie ihre Schuhe, doch während Leon dann ohne großen Aufhebens aufs Eis glitt und einige Meter fuhr, blieb Adam unsicher am Rand stehen und hielt sich an der Bande fest. Sein Blick folgte Leon, der aussah, als ob er auf dem Eis geboren wäre. Mit fließenden, leichten Bewegungen flog er über die Fläche. Er wirkte fast wie ein Lichtwesen, durch seine hellen Haare, die um ihn herum wehten, seinen champagnerfarbenen Halbmantel und der beigenen Hose. Tatsächlich fiel Adam erst jetzt auf, dass Leon heute sehr hell gekleidet war, obwohl er ihn an diesem Tag bereits öfter mal genauer gemustert hatte. Selbst die Handschuhe, die er jetzt trug, und der Schal waren weiß. Aber sein Augenmerk hatte ja auch immer auf seinem Gesicht, dem Ausdruck in seinen Augen und seinen Handlungen gelegen, nicht auf seiner Kleidung. Er seufzte. Leons nahezu makelloses Äußeres hatte nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt. Die meisten Leute hatten sich inzwischen der Beobachtung dieses unwiderstehlichen Mannes gewidmet, und vor allem der weibliche Anteil sah aus, als ob er sich sofort auf ihn stürzen wollen würde. Ein flaues Gefühl breitete sich in Adams Magen aus, ein Gemisch aus Eifersucht und Verlustangst. Wenn eine dieser Grazien Leon darum bitten würde, den Abend mit ihr zu verbringen, würde er es auch machen? Oder würde er bei seinem eigentlichen Date, dem absolut naiven und unschuldigen Schwulen, bleiben? Es war unwahrscheinlich, so verflucht unwahrscheinlich.
 

„Hey, bist du an der Bande festgeeist oder was?“ Leon kam neben ihm zu stehen und stupste ihn gegen die Stirn. „Rumstehen kannst du auch woanders.“
 

„Ich hab dir gesagt, dass ich schon Ewigkeiten nicht mehr gefahren bin.“, meinte Adam grimmig und sah die freie Eisfläche anklagend an. „Ich würd nur hinknallen, wenn ich da rausgehe.“
 

„Aha.“
 

Noch bevor Adam sich über diese lapidare Antwort wundern oder sonst irgendwie reagieren konnte, hatte Leon ihm mit der flachen Hand schon einen kräftigen Stoß in den Rücken gegeben.
 

„Waaaaaaaaaaaah!“
 

Adam schlitterte ziemlich ungraziös über das Eis, die Augen weit aufgerissen und wild mit den Armen fuchtelnd, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dieser Versuch scheiterte jedoch kläglich und einige Augenblicke später saß er bereits auf seinem Allerwertesten, während von hinten Leons schallendes Gelächter erklang.
 

„Du verdammter Mistkerl!“
 

Adam versuchte sich aufzurappeln, rutschte aber wieder aus und landete diesmal fast mit dem Gesicht auf dem Boden. Er hörte, wie Leon höchst schadenfroh Kreise um ihn drehte, ohne auch nur Anstalten zu machen, ihm zu helfen. Mit einen tiefen Knurren begab er sich in eine sitzende Position und warf dem Grund seiner jetzigen Situation wütende Blicke zu.
 

„Könntest du mir wenigstens aufhelfen, wenn du mich schon umschmeißt?“
 

„Ich hab dich nicht umgeschmissen, nur angestupst. Gefallen bist du selber.“ Leon schenkte ihm ein äußerst charmantes, süffisantes Lächeln.
 

„Ha, danke auch. Könntest du mir trotzdem helfen?“
 

„Nur, wenn du ‚bitte’ sagt.“
 

Adam schaute ihn mit einem Blick an, der selbst Superman getötet hätte, atmete dann aber nur einmal tief durch und versuchte sich an einem freundlichen Lächeln. Auch dieser Versuch scheiterte kläglich.
 

„Bitte.“
 

Mit einem zufriedenen Ausdruck in den Augen glitt Leon näher zu ihm ran, packte ihn an den Händen und zog ihn hoch. Er wartete, bis Adam halbwegs sicher auf den Kufen stand, und ließ ihn dann los.
 

„Siehst du, so schwer ist es doch gar nicht. Zumindest stehst du schon mal.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen.
 

„Ach, findest du?“
 

Leon hatte nicht mal Zeit, bei Adams Knurren überrascht zu schauen, da hatte sich dieser schon gegen ihn geschmissen. Mit einem Keuchen landete er auf seinem Rücken, während Adam halb auf ihm saß und ihn nach unten drückte.
 

„Siehst du.“ Sein Lächeln glich dem eines hungrigen Wolfes, der das schutzlose Lamm erblickt hatte. „Es ist doch schwerer als du denkst.“ Er beugte sich ein wenig vor. Seine Stimme war nur ein leises Raunen. „Rache ist süß.“
 

Sein Opfer sah ihn für einen Moment ungläubig an, lachte dann kurz auf und puffte ihn mit einem Grinsen gegen die Schulter.
 

„Schachmatt. Wir sind quitt, würd ich sagen.“ Leon drückte mit einem Zeigefinger gegen Adams Brust. „Aber du bist schwer. Würdest du bitte runter gehen?“
 

„Hey, ich bin nicht schwer.“, protestierte Adam, tat aber wie geheißen und stellte sich leicht wackelig auf die Beine.
 

Leon erhob sich weitaus eleganter und sicherer. Er klopfte kurz seine Klamotten ab und nahm dann Adams Hand.
 

„Komm, ich halt dich fest. Dann fällst du nicht so leicht.“ Mit einem Lächeln zog er eine Augenbraue hoch. „Du kannst richtig fies sein, weißt du das? Mein Rücken tut jetzt weh.“
 

„Dito. Selbst schuld, sag ich da nur.“
 

Adam streckte ihm kurz die Zunge raus und hielt sich dann mit beiden Händen an Leon fest. Er konnte ihm beim besten Willen nicht böse sein, denn er hätte an Leons Stelle wohl den gleichen Streich gespielt. Und außerdem... Leons Lachen war nicht bösartig gewesen. Im Gegenteil, es hatte sich absolut fröhlich und gelöst angehört. Wenn er es öfter hören könnte, er würde sich mit Freuden umschmeißen lassen.
 

Vorsichtig stieß sich Leon ab und zog Adam hinter sich her, der immer noch wackelig auf den Beinen stand.
 

„Du bist so elegant wie ein Nilpferd auf dem Eis.“ Leon musterte ihn mit einem schelmischen Grinsen, drehte sich um und fuhr rückwärts, immer wieder einen prüfenden Blick nach hinten werfend, während er Adam an beiden Händen hielt und mit sich zog.
 

„Ich glaub nicht, dass du schon mal ein Nilpferd auf dem Eis gesehen hast.“ Adam schaute kritisch auf seine Füße und wartete nur darauf, wieder den Boden zu küssen. „Und selbst wenn, ich habe nicht vor, elegant zu wirken. Mir reicht es vorerst, wenn ich nur auf den Füßen stehen bleib.“
 

„Na, das hoff ich doch mal. Denk dran, wenn du fällst, fall ich auch.“
 

Adam warf ihm einen frechen Blick zu. „Dann lohnt sich das Fallen wenigstens. Vielleicht sollte ich das absichtlich machen?“
 

„Danke auch, mir tut mein Rücken so schon genug weh. Also lass es bitte bleiben, ja?“
 

Der Junge lachte leise und löste seine Aufmerksamkeit für einige Momente von seinen Füßen, um Leon anzuschauen. Fast schlagartig trocknete seine Kehle aus und das Blut stieg ihm ins Gesicht, als ihm auffiel, dass sie auf andere wohl wie ein Liebespaar wirken mussten. Sich an den Händen haltend, einander gut gelaunt piesackend und fröhlich anstrahlend machte tatsächlich einen irritierenden Eindruck. Schmerzhaft irritierend. Sein Herz begann etwas schneller zu schlagen und es meldeten sich wieder diese nervtötenden Schmetterlinge in seinem Bauch. Konnte das nicht einfach Realität sein? Konnten sie nicht einfach wirklich ein Paar sein?
 

Mühsam schluckte er. Sollte er sich nicht mit dem begnügen, was er hatte? Er sah auf seine und Leons Hände. Dieser Friede, diese Ruhe zwischen ihnen war wirklich selten. Er dachte an den letzten Donnerstag, an den betrunkenen Leon, das Gespräch mit Sachiko, an seine letzten Worte. Er dachte an ihren ersten Kuss. An den Abend, als er plötzlich bei ihm vorbei gekommen war. Konnte es sein, dass sie tatsächlich auch ohne Streit auskommen konnten? War es möglich, dass sie vielleicht sogar zusammen passten? Dass sie vielleicht ein Paar werden konnten? Dass er für Leon vielleicht doch mehr als nur ein Modell, nur ein Objekt war? Oder waren das alles nur irgendwelche falschen Hoffnungen, Illusionen, die er sich auf Grund von schönen Momenten und zärtlichen Berührungen machte? Was war falsch, was richtig?
 

„Hey, Erde an Adam! Anwesend?“
 

Adam zuckte zusammen. Sein Gegenüber sah ihn ein wenig fragend an. Anscheinend hatte er gerade irgendetwas gesagt, was eine Reaktion verlangte.
 

„Sorry, was hast du gesagt?“ Adam zog die Augenbrauen zusammen. Er musste ja wirklich mächtig abgedriftet sein.
 

Leon lachte leise auf.
 

„Nicht so wichtig. Willst du eine Pause machen? Du siehst ein wenig fertig aus.“
 

Er nickte. „Jap, meine Beine tun schon ein bisschen weh. Ich muss mich wohl doch erst mal daran gewöhnen, Schlittschuhe zu tragen.“
 

„Du hast den ganzen Winter Zeit. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich es bei diesem einen Mal belasse, oder?“
 

Adam sah ihn ein wenig überrascht an, während er von Leon zur Bande gezogen wurde. „Hätte nicht gedacht, dass du so eine Leidenschaft für das Schlittschuhlaufen hegst.“
 

Der Künstler lächelte leicht. „Nicht für das Schlittschuhlaufen. Eher für dich.“ Er drehte sich um. „Ich dreh noch ein paar Runden.“
 

Ohne ein weiteres Wort glitt er davon, während Adam ihm sprachlos nachschaute. Wie konnte er so einen Satz hinschmeißen und ihn dann einfach allein lassen? Das war fies, verflucht fies!
 

Mit einem Seufzer lehnte er sich über die Bande und ließ die Arme baumeln. Seine Waden taten tatsächlich weh, morgen würde er vermutlich einen gehörigen Muskelkater haben. Aber es störte ihn nicht wirklich. Dafür war die Zeit mit Leon einfach zu schön.
 

Leicht gelangweilt sah er auf, um sich ein Bild darüber zu machen, wo Leon ihn eigentlich genau abgesetzt hatte, da stockte ihm der Atem. Es konnte doch nicht... hatte er sich geirrt? Nein. Genau vor ihm, nur wenige Meter entfernt, erkannte er einige Jungs und Mädchen aus seiner und Muse’ Klasse, mit denen er regelmäßig Sportunterricht hatte. Und so, wie sie alle in seine Richtung schauten, hatten sie ihn nicht nur erkannt, sondern vermutlich auch die ganze Zeit beobachtet. Und ihre Blicke ließen keinen Zweifel daran, wie sie sein Verhalten und Leons Anwesenheit deuteten.
 

Er schluckte schwer und wollte sich wegdrehen, doch da war einer von ihnen schon aufgesprungen und näher getreten, während einige der anderen ihm folgten. Adam kannte ihn nicht sehr gut, doch er ging in seine Klasse und war ein ziemlich eingebildetes Großmaul. Einer der Leitwölfe, sozusagen. Das konnte nur Ärger bedeuteten, mächtigen Ärger. Wieso musste das jetzt passieren?
 

„Na, wenn das nicht Adam Bacher ist. Kaum zu glauben, dass man dich auch in freier Wildbahn antrifft.“ Sein Kommentar wurde mit Lachen quittiert, doch Adam konnte beim besten Willen nichts amüsantes daran finden. Im Gegenteil, das unangenehme Gefühl in seinem Magen wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. „Kommst du öfter hierher?“
 

„Nein.“ Die Antwort war kurz und knapp, und der Ton zeigte deutlich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, doch es verfehlte seine Wirkung.
 

„Ach, tatsächlich? Wie schade.“ Die Ironie war kaum zu überhören. „Dabei hast du eine wirkliche Augenweide als Begleitung. Die Mädchen sind schon ganz aus dem Häuschen.“
 

„Ach, wie interessant.“ Er knurrte es mehr, denn das er es sagte. Pete. Der Kerl, mit dem er gerade sprach, hieß Pete. Kaum zu glauben, dass er seinen Namen wusste, wo er doch so gut wie keine Aufmerksamkeit seiner schulischen Umgebung schenkte.
 

„Jap, höchst interessant. Nur leider werden die wohl enttäuscht werden, die Mädels.“
 

Pete lehnte sich neben ihm auf die Bande und sah ihn von der Seite an. Inzwischen hatten sich auch die anderen zu ihnen gesellt und bildeten einen Halbkreis. Der einzige Grund, wieso Adam nicht sofort floh, war der, dass er noch auf dem Eis stand. Ansonsten hätte ihn nichts bei dieser erdrückenden Ansammlung von Menschen gehalten. Er kam sich vor wie ein Fuchs, der von den Jägern in eine Ecke gedrängt worden war. Eine höchst unangenehme Situation.
 

„Was genau willst du von mir, Pete?“, blaffte er bissig.
 

„Eigentlich nichts. Ich find es nur interessant, dass sich meine Vermutung endlich bestätigt hat.“
 

„Welche Vermutung?“ Er konnte es sich schon denken. Und er hatte Recht.
 

„Das du ne elende Schwuchtel bist.“ Pete spuckte das Wort förmlich aus. „Es ist ja schon sehr verdächtig gewesen, das du dich in letzter Zeit mit dieser schwulen Sau Muse abgibst, aber so, wie du mit dem Kerl da rumgeturtelt hast...“ Er sah ihn verächtlich an. „Sag, fickt er dich auch in den Arsch? So richtig? Wirst du geil davon, wenn du uns in den Duschen beobachtest? Holst du dir danach einen runter? Na, komm, sag schon, wie ist es, ein Schwanzlutscher zu sein?“
 

Die anderen lachten hämisch, doch bei Adam stellten sich nur die Nackenhaare vor Wut auf. Absolut wütend und gleichzeitig hilflos. Was sollte er sagen? Wie sollte er sich verteidigen? Er war schwul, es war eine Tatsache. Und egal was er sagte, Pete und die anderen würden doch nicht drauf hören oder von ihrer Meinung ablassen. Nur gingen ihm diese Beleidigungen mächtig gegen den Strich. Voller Zorn biss er sich auf die Unterlippe. Es war ja nicht so, dass das erste Mal auf ihm rumgehackt wurde. Allein schon dadurch, dass er ein Alleingänger war, war er prädestiniert dafür. Bis jetzt hatte er es immer ignorieren können, doch diesmal fühlte es sich nicht richtig an. Diesmal konnte, durfte er es nicht einfach ignorieren. Doch was zum Teufel sollte er sagen?
 

Plötzlich hörte er jemanden von hinten angefahren kommen und spürte einen Moment darauf einen warmen Körper an seinem Rücken. Leon legte seine Arme um Adams Schulter und sah ihn von der Seite an, ohne großartig auf die anderen zu achten.
 

„Was ist hier los, Adam? Wer sind die?“
 

Er wusste nicht, ob er froh über Leons Anwesenheit sein sollte, aber zumindest vermittelte es ihm ein wenig Sicherheit, ein wenig Halt. Auch wenn es trügerisch war.
 

„Nur ein paar Leute aus der Schule.“ Seine Stimme bebte ein wenig.
 

„Woho, da ist ja dein Stecher. Kann er mir meine Fragen vielleicht eher beantworten?“ Pete richtete sein Augenmerk auf Leon. „Na, komm, sag schon, wie ist es, den Kleinen zu ficken? Ist er schön eng? Stöhnt er schön? Ist es geil? Na los, erzähl uns, wie es ist, ne verfickte Schwuchtel zu sein.“
 

Adam warf einen Blick zu Leon, der schweigend die Leute musterte. Sein Gesicht war ausdruckslos, man konnte beim besten Willen nicht ablesen, was er dachte oder fühlte. Vielleicht war er solche Beleidigungen gewöhnt. Vielleicht störten sie ihn nicht. Oder er fand es unter seinem Niveau, darauf zu antworten.
 

Statt jedoch eine Antwort zu geben, drückte er Adam noch fester an sich und legte kurz seine Wange an seine Schläfe. Dann richtete er sein Augenmerk auf die Leute vor ihm.
 

„Tut mir leid, die Frage kann ich dir leider nicht beantworten.“ Leons Stimme befand sich eindeutig unter dem Gefrierpunkt. „Ich bin leider keine verfickte Schwuchtel und ich kenn auch keine, die ich fragen könnte. Aber wie wär’s, wenn du es selber mal ausprobierst, wenn es dich so brennend interessiert? Dann musst du andere nicht mit deinem dämlichen Fragen quälen.“ Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Vielleicht stellt sich ja einer deiner Freunde zur Verfügung. Die scheinen ja genauso interessiert daran zu sein wie du.“
 

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Adams Hand und zog ihn mit sich. Dieser strauchelte ein wenig durch die plötzliche Bewegung, wehrte sich aber nicht sonderlich.
 

„Ich will hier weg.“
 

Leon klang verstimmt. Wortlos steuerten sie den Ausgang an, zogen sich um und verließen die Eisbahn. Mit einem Mal war die Stimmung im Keller. Einfach so. Adam hätte Pete und die anderen dafür umbringen können. Genüsslich, langsam. Es hätte so ein perfekter Abend werden können. So absolut perfekt. Und dann das.
 

In einem Abstand von einigen Schritten trotte er hinter Leon her, bis sie von der Eisbahn nichts mehr sahen. Sie befanden sich auf einem ruhigen, verlassenen Weg, so dass sie kaum jemanden begegneten. Die Blätter raschelten und ab und zu schrie eine Krähe auf. Inzwischen war die Temperatur noch um einige Grade gesunken.
 

Adam schluckte. In seinem Inneren fühlte es sich ähnlich kalt an wie draußen. Er wurde das Gefühl nicht los, an dieser kurzen Auseinandersetzung und der damit einhergehenden schlechten Stimmung Schuld zu sein. Hätte er sich doch gleich entfernt, als er die Kerle entdeckt hatte. Hätte er sich doch kein Gespräch aufzwingen lassen. Hätte er doch selber etwas zu seiner Verteidigung gesagt. Mann, wie blöd war er eigentlich?
 

Plötzlich blieb Leon stehen und drehte sich zu ihm um. Er war immer noch wütend, dass sah man überdeutlich, doch er lächelte.
 

„Mach dir nichts draus. Solche Idioten gibt es immer wieder. Einige können es einfach nicht akzeptieren, wenn jemand anders ist als man selber.“
 

„Ja. Ich weiß.“ Adam starrte auf seine Schuhspitzen. Das machte es auch nicht wirklich besser. „Tut mir leid. Ich hätte... gar nicht mit ihnen reden sollen.“
 

„Es ist nicht deine Schuld, also vergiss es einfach. Ich nehm mal an, die haben dir dieses ‚Gespräch’ aufgezwungen, nicht wahr?“ Leon trat einen Schritt näher und strich mit dem Handrücken über seine Wange. „Wenn sie es nochmal versuchen, ignorier es einfach. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, ist Ignorieren immer noch das Beste.“
 

Adam nickte zögerlich, löste seinen Blick jedoch nicht vom Boden. Er fühlte sich schlecht, so hundsmiserabel schlecht. Und feige. Wie ein kleiner, ängstlicher Hase, der nicht den Mumm hatte, den Wölfen die Zähne zu zeigen.
 

Sein Begleiter seufzte leise. Mit einem undeutbaren Blick zog er ihn näher an sich und drückte seine Stirn gegen Adams.
 

„Du bist ausgekühlt.“ Langsam zog er seine Handschuhe aus und legte die warmen Handflächen auf Adams Wangen. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch krank und ich muss wieder Krankenschwester spielen. Glaubst du, ich hab Lust dazu?“
 

„Tut mir leid.“ Adam nahm Leons fürsorglichen, warmen Blick tief in sich auf und schloss dann selbst die Augen. „Tut mir leid.“
 

„Nicht nötig.“
 

Für einige unendliche Augenblicke verharrten sie so. Sie hörten zu Atmen auf, konzentrierten sich komplett auf die Wärme, auf das Gefühl des anderen. Dann, langsam, fast automatisch, hob Adam die Hände und legte sie auf Leons Hüfte, zog ihn näher an sich heran, spürte einige Momente später seine warmen Lippen auf den eigenen. Die Welt um sie herum hörte zu existieren auf. Die Bäume, die Kälte, die Krähen, die Nacht. Alles weg. Alles nicht mehr vorhanden. Nur noch sie beide. Allein sie beide.
 

Leon löste sich kurz von Adam und blickte ihn an. Ein undeutbarer Blick. Ein fragender Blick. Dann küsste er ihn noch mal. Gemächlich. Als ob er alle Zeit der Welt hatte. Langsam öffnete er seinen Mund und strich mit seiner Zungenspitze über Adams Lippen. Stupste sie an. Teilte sie behutsam und glitt über die Zähne. Ging tiefer, streichelte Adams Zunge. Abwartend, auffordernd.
 

Adam erzitterte kurz. Ein wenig hilflos krallte er seine Finger in Leons Mantel. Entspannte sich wieder. Genoss dieses neue, ungewöhnliche Gefühl. Vorsichtig bewegte er seine eigene Zunge, kam Leons entgegen, strich mit seiner über Leons Zungenspitze. Er beachtete nicht sein wild schlagendes Herz, seine zittrigen Hände. Es gab nur Leon. Einzig und allein Leon.
 

Nach einiger Zeit lösten sie sich voneinander. Adams Wangen hatten sich gerötet. Leon lächelte. Dann, etwas überrascht, schaute er nach oben. Sein Lächeln wurde breiter.
 

„Es schneit.“
 

Seine Stimme klang ruhig. Er löste seine Hände von Adams Wangen und überkreuzte sie hinter seinem Nacken bei den Handgelenken, während Adam seinen Blick ebenfalls zum Himmel richtete. Tatsächlich. Große, weiße Flocken schwebten leicht wie Federn zu Boden, begruben ihn unter einer dünnen, weißen Schicht und erzeugten eine Atmosphäre der Ruhe. Eine unschuldige, unbefleckte Ruhe.
 

Sie blieben einige Augenblicke so stehen, ohne sich vom Anblick der Schneeflocken zu lösen. Bis Leon sich schließlich wieder Adam widmete. Sein Gesicht wirkte ernst, doch in seinen Augen und den Winkeln seiner Lippen lag ein Lächeln. Adam erwiderte es, ein wenig unsicher, ein wenig nervös. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus und seine Kehle wurde wieder ungewöhnlich trocken. Aber es störte ihn nicht. Im Moment störte ihn gar nichts mehr.
 

Leon drückte ihm kurz einen Kuss auf die Lippen.
 

„Gehen wir.“
 

Adam nickte nur. Wortlos hakte er sich bei ihm unter und warf noch einen Blick auf die Umgebung. Die Bäume, die Wiesen, der Weg, alles wurde weißer und weißer, als ob jemand die Welt mit einem dünnen Tuch bedecken würde.
 

Der erste Schnee in diesem Winter.
 

Der schönste erste Schnee, den Adam jemals erlebt hatte.

„Liebt er dich?“
 

„Nein.“
 

Es klang irgendwie hart und kalt, sehr schmerzhaft, aber es war die absolute Wahrheit. Und Adam hatte wirklich nicht vor, sich irgendwelche falschen Illusionen zu machen. Egal wie nett, fürsorglich oder zärtlich Leon sich ihm gegenüber verhielt, er liebte ihn nicht. Mit einem Seufzer blieb er bei dem Drehständer mit den Handyanhängern stehen und schaute sie sich an. Er liebte ihn nicht.
 

„Und das macht dir nichts aus?“
 

Die Frage klang beiläufig, aber auch ein wenig verwundert. Muse gesellte sich neben ihn und nahm einen der Anhänger vom Haken, um ihn etwas genauer anzuschauen. Sie beide hatten spontan entschlossen, ein bisschen durch die Stadt zu flanieren, und waren gerade in irgendeinem Krimskramsshop kleben geblieben. Im Moment lag Adam Muse mit dem gestrigen Tag in den Ohren. Gut, im Moment war der falsche Ausdruck, im Grunde genommen hatte er den gesamten Tag kein anderes Thema gehabt. Er kam sich mehr und mehr vor wie ein kleines, verliebtes Mädchen, doch irgendwie konnte er nichts dagegen machen. Es war schließlich eine Tatsache. Er war verliebt, bis über beide Ohren. Und auch wenn es ihm nicht gefiel, er war dem hilflos ausgeliefert.
 

„Wieso sollte es mir etwas ausmachen?“, meinte er leicht verwundert und beugte sich über Muse’ Schulter, um den Anhänger ebenfalls zu begutachten. „Also, ich mein, was genau meinst du?“
 

„Na ja, er küsst dich, hält mit dir Händchen und tröstet dich. Er benimmt sich, als ob ihr ein Paar wärt, liebt dich aber nicht. Das ist doch... keine Ahnung, anstrengend. Und irgendwie...“ Muse schwieg einen Moment. „Er nutzt dich doch nur aus, oder? Ich mein, also, er hat dich, kann mit dir machen, was er will, aber da ihr nicht fest zusammen seid oder überhaupt gegenseitige Gefühle vorhanden sind, kann er sich auch noch mit anderen amüsieren.“
 

„Vielleicht macht er das nicht.“ Adam ignorierte den skeptischen Blick von Muse und nahm ihm den Anhänger aus der Hand. „Gefällt er dir?“
 

„Wer?“
 

„Der Anhänger, wer denn sonst?“
 

„Nein. Ich mag keine Katzen. Ich bin absolut allergisch gegen die Viecher. Außerdem“, er holte sich das Teil wieder und hängte es an seinen Platz zurück, „sind Handyanhänger was für Mädchen.“
 

„Und? Wir sind schwul, wir dürfen was mädchenhaftes an uns haben. Wir haben sozusagen die offizielle Erlaubnis der Gesellschaft.“
 

Muse lachte leise und ging weiter, während Adam ihm in Gedanken versunken folgte. Machte es ihm etwas aus, wie Leon sich benahm?
 

„Ehrlich gesagt,“, Muse drehte den Kopf ein wenig zu seinem Freund, der leicht erschrocken zusammen zuckte, „ich mag Leon nicht. Er kommt mir sehr arrogant und selbstverliebt vor. Vermutlich denkt er, er hat dich für sicher, und kann deswegen machen, was er will. Was mich aber nicht wirklich wundert. Du benimmst dich auch wie ein verliebtes Schoßhündchen.“
 

„Hey!“ Adam puffte ihn gegen die Schulter und zog die Augenbrauen zusammen. „Sag das nicht. Es ist einfach nur... es ist einfach nur schön. Es ist einfach nur schön, wenn er mich küsst und so. Wenn er nett ist. Und nicht selbstverliebt und arrogant.“
 

„Was er ja anscheinend öfter ist.“
 

„Ja, schon. Trotzdem. Er hat auch eine nette Seite.“
 

„Also, so wie ich das sehe,“, Muse drehte sich komplett zu ihm um und musterte ihn kritisch, „hast du eine fette, rosarote Brille an. Blick den Tatsachen mal ins Gesicht, Adam. Er liebt dich nicht. Er sieht in dir ein Modell, ein schönes Objekt zum Zeichnen und einen netten Zeitvertreib. Du spielst ihm ja auch wunderbar in die Hände. Lässt dich küssen, in den Arm nehmen und das ganze. Nicht mehr lange, und du landest mit ihm im Bett. Und spätestens dann bist du entweder sein Betthäschen oder abgeschrieben. Was ist dir lieber?“
 

„Nichts von beidem.“ Adam errötete leicht und widmete sich komplett den Haken mit den Ohrringen. „Ich will weder das eine noch das andere. Aber ich muss ja nicht mit ihm schlafen.“
 

„Früher oder später wirst du es tun.“
 

„Wer sagt das?“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab gar nicht das Bedürfnis danach.“
 

„Er aber.“
 

„Bis jetzt konnte ich mich noch ganz gut wehren.“
 

„Ja, bis jetzt. Bis jetzt war dir aber auch noch nicht klar, dass du schwul und ihn verknallt bist. Ich glaub, dass ändert einiges.“
 

„Ach, was.“
 

Er vertiefte sich in die Musterung von irgendeinem Ohrringpaar, ohne es wirklich zu merken. Musste Muse in so vielen Punkten recht haben? Ein Modell, ein schönes Objekt. Er hatte fast genau die gleichen Worte benutzt wie Sachiko. Dabei wusste er noch nicht mal von dem, was letzten Donnerstag geschehen war. Adam hatte es vorgezogen, es für sich zu behalten. Es würde nur zu sehr weh tun, es noch mal zu wiederholen und dann vielleicht eine niederschlagende Analyse dieser Dinge zu bekommen. Eine Analyse, die besagte, dass Leon sein „Ich hasse dich“ ernst gemeint hatte und im Moment nur mit Adam spielte, ihn als Zeitvertreib benutzte. Aber, wenn das der Fall war, hätte er sich dann gestern so sehr um ihn gekümmert? Hätte er Pete Kontra geboten und ihn dann so sanft geküsst? Ihm dieses Lächeln geschenkt und mit ihm diese freundschaftlichen Späßchen getrieben? Leon konnte bestimmt gut schauspielern, aber so gut? Wohl kaum, oder? Oder?
 

Es tat so gut, sich selbst zu belügen. Und sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen.
 

Er ließ seinen Blick nach draußen wandern, wo leise die Schneeflocken zu Boden schwebten. Die Welt wurde in Watte verpackt, nach und nach, und alles außerhalb kam ihm unwirklich, unrealistisch vor. Das, was ihn an der ganzen Sache störte, war es, nicht zu wissen, woran er war. Wenn Leon ihn tatsächlich nur als Zeitvertreib ansah, wollte er es wissen. Dann würde er vielleicht sein Herz nicht so sehr in die ganze Sache legen. Vielleicht.
 

„Brauchst du Ohrringe?“
 

Adam schreckte auf und sah Muse verwirrt an. „Was?“
 

„Ob du Ohrringe brauchst. Du starrst sie schon die ganze Zeit an.“
 

„Uhm. Nein, eigentlich nicht.“ Er tippte kurz an seine eigenen Stecker. „Das ist alles Modeschmuck, ich bräuchte schon echtes Gold oder Silber. Ansonsten kann ich die keine zwei Stunden tragen.“ Leicht gelangweilt sah er sich um. „Brauchst du noch irgendwas? Oder gehen wir weiter?“
 

„Gehen wir weiter. Hier gibt’s nichts für mich.“
 

Adam folgte Muse aus dem Laden raus. Draußen war es kalt geworden. Weiße Atemwölkchen bildeten sich, wenn sie ausatmeten. Für einen Augenblick genoss er die kalte Luft um ihn herum. Sein Blick wanderte zu Muse, der sich mit zusammengezogenen Augenbrauen umschaute. Er nahm sich die Zeit, um seinen Freund zu mustern, etwas, was er in letzter Zeit immer wieder gerne tat. In den Wochen, in denen sie sich kannten, hatte Muse sich geändert, zumindest ihm gegenüber. Die anfängliche Schüchternheit war nahezu komplett verschwunden, er sagte offen und ehrlich seine Meinung und scheute sich nicht, Adam mal zurecht zu stutzen, wenn es nötig war. Oder Halt zu geben, wenn er wegen Leon ein emotionales Tief hatte. Seltsam, jahrelang war Adam ohne Freunde ausgekommen, und plötzlich konnte er es sich nicht vorstellen, Muse nicht mehr an seiner Seite zu haben. Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Muse hatte sich wohl auch nicht träumen lassen, mit dem einzelgängerischen Adam eine Freundschaft zu schließen. Es wirkte fast wie eine Symbiose, in der sie sich gegenseitig etwas gaben, was der andere brauchte. Freundschaft, Selbstvertrauen, einen Rat oder einfach nur ein geduldiges Ohr. In so kurzer Zeit. Wie wäre es gewesen, wenn Adam Muse früher angesprochen hätte? Wär vielleicht sogar mehr daraus geworden als nur Freundschaft? Muse kam zwar nicht mal annähernd an Leon heran, was das Äußere betraf, aber er hatte was, vor allem, seitdem er sich seine Haare nach hinten zusammenband und nicht mehr lasch ins Gesicht hängen ließ. Sehr männliche Züge, aber trotzdem ein offenes, ehrliches Gesicht, manchmal ein wenig verletzlich, manchmal hart und verschlossen. Die braunen, sehr schönen Augen strahlten Wärme und Geborgenheit aus, und sein breiter Rücken, die breiten Schultern luden zum Anlehnen an. Er war sicher zärtlich. Niemals grob, arrogant oder selbstverliebt. Sicherlich.
 

Mit einem innerlichen Lachen und einem weinenden Auge schüttelte Adam den Kopf. Er war wirklich schwul, bis in die Haarspitzen. Hätte er sich seinen Freund sonst so vorgestellt und genau angeschaut? Trotzdem, es war zu spät. Nicht nur hatte Muse eine Liebesbeziehung, auch er selber war komplett Leon verfallen. Ohne irgendwelche Alternativen. Jetzt galt es nur noch, diesen exzentrischen Künstler von sich zu überzeugen. Eine sehr einfache Aufgabe, wirklich. Nun ja, das Leben wär ja langweilig ohne Herausforderungen.
 

„Sag mal, langweil ich dich?“
 

Der sarkastische Ton in Muse Stimme war kaum zu überhören, als er Adam mal wieder aus seinen Tagträumereien herausriss. Dieser sah ihn etwas verdattert an und weitete überlegend die Augen.
 

„Nein, wieso?“
 

„Weil du mir mal wieder nicht zuhörst. Wohin driftest du eigentlich dauernd ab?“
 

„Uhm... ich hab mir nur überlegt, was gewesen wäre, wenn ich dich vor Leon kennen gelernt hätte. Ich hätte mich wohl in dich verliebt.“
 

Adam sagte es eher beiläufig, während er seinen Blick zu irgendeinem Schaufenster wandte, aber aus den Augenwinkeln sah er sehr genau, wie Muse puterrot anlief. Er musste wieder lächeln. So süß!
 

„Themawechsel.“ Muse warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Mir ist grad aufgefallen, dass es schon spät ist. Ich muss bald los, zur Arbeit.“
 

„Zur Arbeit? Welche Arbeit?“ Adam zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Davon hörte er jetzt das erste Mal.
 

„Oh, weißt du das nicht? Ich arbeite in einer... eh, Bar. In einer Homobar. Abends als Barkeeper.“
 

„In ner Homobar?“ Es war irgendwie ein passender Job für Muse, aber Adam konnte seine Überraschung trotzdem nicht verbergen. „Darfst du das denn? Du bist doch noch gar keine 18.“
 

„Ich mach das schon länger, der Besitzer kennt mich und drückt da ein Auge zu. Ist zwar nicht ganz legal, aber was die Behörden nicht wissen... Na ja, was ich eigentlich sagen wollte, hättest du Lust, mal vorbei zu schauen?“
 

„In 'ner Homobar?“ Adam fielen fast die Augen aus dem Kopf. Was hatte er dort bitte verloren?
 

„Ehm.“ Muse warf ihm einen leicht belustigten Blick zu. „Schon vergessen, du bist auch homosexuell. Außerdem hilft es dir vielleicht, nicht dauernd an Leon zu denken, wenn du mit ein paar anderen in Kontakt trittst. Vielleicht findest du ja einen, der dir besser gefällt. Und der nicht nur sein Spielchen mit dir treibt.“
 

Er blieb skeptisch. Und so ganz hatte er sich mit seinem Schwulsein einfach noch nicht abgefunden. „Ich bin noch nicht 18.“
 

„Wenn du sagst, du gehörst zu mir, lassen die dich rein. Ist kein Problem.“ Muse warf noch mal einen Blick auf seine Uhr. „Du, ich muss los. Überleg’s dir einfach mal und sag mir dann morgen Bescheid, okay?“
 

Er gab Adam noch einen kurzen Kuss auf die Stirn, winkte ihm zu und verschwand dann in eine andere Richtung. Adam sah ihm einige Momente lang nach, während er sich den Schal enger ums Gesicht zog. Es hatte sich irgendwie eingebürgert, dass Muse ihn mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete. Irgendwie war das schwul, so richtig schwul. Aber es störte ihn nicht, in keinster Weise. Tatsächlich merkte er so langsam aber sicher, dass er Körperkontakt und Zärtlichkeiten über alles genoss. Anscheinend musste er ein Defizit von mehreren Jahren aufholen, da der Körperkontakt zu seinen Eltern wirklich nicht gezählt werden konnte.
 

Nachdenklich machte er sich auf den Heimweg. Es war bereits spät, die Sonne war schon untergegangen und die Straßen wurden nur noch von den Laternen beleuchtet. Die Kälte der Nacht kroch unter seine Kleidung, obwohl er eine ziemlich dicke Jacke, Schal und Mütze anhatte. Er blieb für einen Moment stehen und schaute nach oben, genoss die kalten Flocken auf seinem Gesicht, obwohl er vor Kälte leicht zitterte. Jetzt von Leon gewärmt zu werden. Eine Wohltat.
 

Er musste leise lachen. Vielleicht war es tatsächlich keine schlechte Idee, diese Bar aufzusuchen. Gleichgesinnte zu treffen, ein bisschen was zu trinken, zu tanzen und sich einfach von diesem blonden Gespenst, das sich in seinen Gehirnwindungen festgesetzt hatte, abzulenken war so langsam wirklich bitter nötig für ihn. Ansonsten würde er nur letztenendes sich zu sehr in diese seltsame Beziehung, die er zu Leon hatte, hineinsteigern und am Ende als liebeskrankes Wrack wieder rauskommen. Vielleicht würde er ja jemand anderen kennen lernen. Jemanden, der besser war als Leon. Auch wenn es so jemanden wohl nicht wirklich gab.
 

Er seufzte und setzte seinen Weg fort. Es tat weh, verflucht weh, wie hoffnungslos seine erste Liebe doch war. Fühlte es sich so an, wenn das Herz zu brechen drohte? Wenn es weinte und vor Einsamkeit fast verging? Fühlte es sich so an, wenn man sich nach jemanden sehnte, ihn in seinen Arm halten wollte, einfach nur bei sich? Die Wärme, die Präsenz des anderen spüren, die Haut, die Haare berühren, die Lippen?
 

Muse hatte Recht. Wie lange würde er sich vor dem Sex mit Leon schützen, wie lange dagegen wehren können? So sehr, wie er sich nach seiner Berührung sehnte, so sehr, dass es fast körperliche Schmerzen bereitete. Und was würde danach sein? Würde Leon es ignorieren, es ausnutzen? Würde er sich eine Zigarette anzünden, sich wieder anziehen und sich irgendwelchen anderen Dingen widmen? Würde er Adam in den Arm nehmen, ihn wegen den seltsamen, neuen Gefühlen trösten, ihn streicheln und festhalten? Adam wusste es nicht. Er konnte es sich nicht mal annähernd vorstellen. Leon hatte so viele Facetten, welche von ihnen würde er diesmal zeigen? Und egal, wie sehr Adam sie sehen, sie erfahren wollte, die Angst vor der Enttäuschung, der Zurückweisung fraß sich in sein Innerstes, ließ alles in ihm gefrieren und brachte es zum Erzittern. Er wollte nicht wieder diese Hilflosigkeit fühlen, die er nach dem Gespräch zwischen Sachiko und Leon gefühlt hatte. Er wollte nicht wieder diesen Drang in sich verspüren, zu laufen, einfach nur weit weg zu laufen und Leon und alles, was bis jetzt geschehen war, hinter sich zu lassen, zu vergessen. Jetzt, im Moment, so wie es war, war es gut. Das reichte ihm doch völlig. Mehr wollte er gar nicht. Wirklich nicht.
 

Mit einen genervten Knurren warf er seinen Kopf zurück und strich sich über’s Gesicht. Schluss, Aus, Ende. Für heute hatte er sich den Kopf genug über Leon zerbrochen. Es gab noch andere Themen, über die es sich nachzudenken lohnte. Ihm fiel im Moment zwar kein einziges ein, aber es gab sie bestimmt. Irgendwo.
 

Immer noch leicht genervt kam er schließlich zu Hause an. Noch während er sich in der Diele auszog, roch er bereits den Duft von frisch zubereitetem Essen. Anscheinend war sein Vater heute etwas früher nach Hause gekommen, so dass er hatte kochen können. Was das anging, war seine Mutter nämlich ein heilloses Desaster.
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen trabte er in die Küche.
 

„Hey, es gibt was Vernünftiges zu Essen! Das ist ja mal genial!“
 

„Was heißt hier ‚es gibt was Vernünftiges zu Essen’!“ Seine Mutter, die gerade den Tisch gedeckt hatte, kam zu ihm, gab ihm einen Stupser gegen die Stirn und gleich darauf einen Willkommenskuss auf die Wange. „Auch wenn ich koche, gibt es vernünftige Speisen.“
 

„Ja, aber lange nicht so leckere wie die von Dad.“ Fröhlich vor sich hin grinsend drückte er seinem Vater, der am Herd stand und über seine Nudeln wachte, kurz einen Kuss auf die Wange. „Wieso bist du heute so früh da?“
 

„Ach, die auf der Arbeit hatten mal einen gnädigen Tag und ließen mich früher gehen. Na ja, natürlich nicht, ohne mir einen Stapel an Arbeiten für zu Hause mitzugeben.“ Er lächelte ihn warm an. „Aber schön, dass du rechtzeitig zum Essen gekommen bist. Ich dachte schon, ich müsste mit deiner Mutter alleine bleiben.“
 

„Was natürlich sehr schlimm gewesen wäre.“
 

Adam lachte leise auf und half seiner Mutter beim Tischdecken. Es war schon etwas länger her, dass sie zu dritt zusammen gegessen hatten. Unter der Woche arbeiteten seine Eltern häufig bis spät abends, und am Wochenende waren ihre Planungen meistens auch so schlecht gelegt, dass sie selten zu einem gemeinsamen Mahl kamen. Dabei liebte Adam sie über alles. Es bereitete ihm immer große Freude, wenn er seine Eltern zusammen sah. Sie waren ein sehr glückliches Paar, und man musste kein Familienmitglied sein, um die Wärme und Liebe zwischen ihnen zu sehen. Und Adam war für sie immer ihr geliebtes Kind gewesen. Er wusste, nicht jeder hatte das Glück, eine solche Familie, solche fürsorglichen, liebevollen Eltern zu besitzen, und umso mehr genoss er es, wenn er Zeit mit ihnen verbringen konnte.
 

Während dem Essen unterhielten sie sich über verschiedene Dinge, die Arbeit, Verwandte, Bekannte, jedoch blieb Adam eher schweigsam. Er wartete auf eine jener Gesprächspausen, die zwangsweise irgendwann entstanden, wenn man ein Thema vollkommen ausgeschöpft hatte. Es gab schon länger eine Sache, die er bei seinen Eltern erfragen wollte. Auch wenn es bestimmt nicht in das gängige Elternrepertoire gehörte, war er sich sicher, dass sie sich damit auskannten. Schließlich kam sie, die Gesprächspause.
 

„Sagt mal,“ Adam zog die zwei Worte etwas lang, während er sich vollkommen darauf konzentrierte, ein paar Nudeln aufzuspießen, „wie ist eigentlich Analsex?“
 

Er hob gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie sein Vater seinen Kaffee über den gesamten Tisch spuckte, während seine Mutter Adam nur kurz überrascht musterte und dann schallend zu lachen begann. Er hatte nicht wirklich eine andere Reaktion erwartet. Seine Mutter war eine sehr lockere Frau, die problemlos über Sex sprechen und Tabus brechen konnte. Dahingegen war sein Vater zwar ein sehr freundlicher und warmer Mann, aber, nun, man könnte sagen, ein wenig prüde und bei bestimmten Sachen verschlossen. Manchmal wunderte Adam sich ernsthaft, wie diese zwei Menschen zusammen gekommen waren. Es gab wohl kaum zwei Personen, die mehr wie Tag und Nacht waren.
 

Mit geschäftigen Bewegungen und einem hochroten Kopf sprang sein Vater auf und holte einen Lappen, um den Kaffee aufzuwischen.
 

„Sag... sag mal, ist es denn bei euch schon so weit?“ Er sah seinen Sohn etwas verdattert und hilflos an. „Ich mein, bei dir und Leon.“
 

Diesmal war es an Adam, rot anzulaufen. „Nein, ist es nicht. Ich frag ja nur generell, rein aus Interesse.“
 

„Also,“, seine Mutter gluckste immer noch vergnügt, „solltest du da nicht eher Muse fragen? Er hat bestimmt mehr Erfahrung, zumindest was zwei Männer angeht. Nicht, dass ich dir nicht Auskunft geben will, aber wir können dir ja nur die heterosexuelle Sicht schildern.“
 

Die Röte in den Gesichtern ihrer beiden Männer vertiefte sich noch ein wenig. Diese Frau hatte wirklich keine Skrupel. Und obwohl es für Adam einer der lobenswerten Züge an seiner Mutter war, sie erschreckte ihn immer wieder damit.
 

„Ich frag lieber euch.“, meinte er, jetzt doch ein wenig kleinlaut. Muse mochte zwar sein guter Freund sein, aber er würde nur in diese Frage vielleicht etwas hineininterpretieren, was so nicht der Fall war.
 

„Nun,“ sein Vater setzte sich wieder an den Tisch, rückte seine Brille zurecht und starrte seine Kaffeetasse nervös an, „nun, du brauchst jedenfalls Gleitgel. Und viel Zeit und Ruhe. Musst entspannt sein und... und... nun ja... also...“
 

Ein Klingeln an der Tür befreite Adams Vater aus seiner misslichen Lage. Mit einem erleichtern Gesichtsausdruck sprang er auf, warf noch Adam einen entschuldigenden Blick zu und eilte aus der Küche. Adams Mutter lachte kurz auf.
 

„Du solltest deinen Vater wirklich nicht mit solchen Fragen schockieren. Er ist auch nicht mehr der Jüngste, weißt du.“
 

„Ha, ha, ha.“ Adam erstach eine weitere Nudel, immer noch einen hochroten Kopf. „Ich vergesse immer wieder, dass du die Tabulose in der Beziehung bist. Und dass er über einige Dinge nicht so leicht sprechen kann.“
 

„Was heißt hier ‚tabulos’?“ Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Ich nehm die Sachen nur nicht so ernst wie er.“
 

Adam wollte gerade antworten, da kam sein Vater zurück. Er hatte einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht, ein wenig fasziniert, ein wenig schockiert, und ziemlich verwirrt.
 

„Du hast Besuch, Adam.“ Er deutete in die Diele.
 

Mit einem fragenden Blick und zusammen gezogenen Augenbrauen stand er vom Tisch auf und verließ die Küche. Er wüsste nicht, wer ihn um die Zeit besuchen konnte. Muse war bei seiner Arbeit, und sonst gab es wirklich niemanden.
 

Als er in die Diele raustrat und seinen Gast erblickte, wäre er fast wieder in die Küche zurückgewichen. Leon sah so absolut deplaziert aus. Er trug einen edlen, schwarzen Mantel, schwarze Lederhandschuhe und eine dunkle Hose, hatte seine Haare zu einem französischen Zopf geflochten, so dass nur ein paar wenige Haarsträhnen in seine Stirn fielen, und an seinen Ohren baumelten diamantbesetzte goldene Obelisken. Alles in allem wirkte er wie ein Millionenerbe aus reichem Hause, und stand dabei in einer warmen Diele, die mit einer einfachen Kommode, einem Kleiderständer, einem dunkelbraunen Schränkchen für die Schuhe und einem dunkelroten Teppich ausgestattet war. Es wirkte wie ein Pfau, der sich in einen Hühnerstall verirrt hatte.
 

„Was machst du denn hier?“, frage Adam überrumpelt. Was hatte der Kerl hier verloren?
 

„Danke, mich freut es auch, dich zu sehen.“ Leon löste sich von der Musterung der Umgebung und lächelte Adam freundlich zu. „Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich die nächsten zwei Wochen nicht da sein werde. Deswegen fallen unsere Modellstunden auch ins Wasser.“
 

Und dafür kam er extra her? So was konnte man ja auch über Telefon sagen, oder?
 

„Oh. Okay. Wo bist du denn?“ Adam konnte irgendwie nicht wirklich einen klaren Gedanken fassen. Er hasste es, ihm unvorbereitet zu begegnen. Und das jetzt war mehr als unvorbereitet.
 

„In New York. Mein Bruder hat anscheinend plötzlich Sehnsucht nach mir bekommen und zu sich bestellt. Und so eine liebliche Bitte kann ich ja beim besten Willen nicht abschlagen.“ Leons Stimme klang stark sarkastisch. Anscheinend war er nicht wirklich einverstanden mit dieser kleinen Reise.
 

Adam hob die Augenbrauen. Er hatte nicht mal gewusst, dass Leon Geschwister hatte. Aber das er sich von seinem Bruder auch noch sozusagen herumkommandieren ließ, war sehr erstaunlich. Er zog es jedoch vor, seine Gedanken nicht auszusprechen.
 

„Okay. Gut, dann sehen wir uns ja in zwei Wochen wieder.“
 

„Hm. Ich hätte noch eine Bitte an dich.“ Leon kramte in seiner Manteltasche und hielt Adam einen Schlüssel hin. „Könntest du dich in der Zeit um mein Haus kümmern? Die, die das normalerweise macht, kann grad nicht, und ich möchte ungern, dass meine Pflanzen in der Zeit eingehen. Wärst du so lieb?“
 

Der Junge starrte den Schlüssel einige Augenblicke an. Ach, deswegen war er gekommen. Ein Schlüssel ließ sich schlecht über Telefon übergeben. Dazu war nicht mal Leon fähig.
 

„Ja, klar. Mach ich.“
 

Er nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Tasche. Irgendwie, für einen einzigen, kleinen Moment hatte er doch tatsächlich dran gedacht, Leon hatte ihn einfach nur kurz sehen wollen. Aber das war natürlich nur ein dämliches Hirngespinst. Sie hatten sich ja erst gestern gesehen, das reichte Leon bestimmt. Er hatte ja noch andere Bekanntschaften als diesen kleinen, naiven Jungen, um die er sich auch bestimmt viel lieber kümmerte. Adam schluckte. Zumindest war er gut genug für einen Pflanzensitter.
 

„Danke schön.“ Leon lächelte. „Ich muss auch schon los, mein Flug geht bald. Wir sehen uns dann ja in zwei Wochen wieder. Ich werde wohl Dienstag oder Mittwoch dann wieder da sein.“
 

„Hm.“ Adam nickte nur. „Gute Reise. Komm gut an.“
 

„Danke, mach ich. Und entschuldige bitte nochmal für die Störung. Dein Vater sah ein bisschen überrascht aus.“
 

„Macht nichts, schon in Ordnung.“
 

Leon lächelte ihm noch einmal zu, drehte sich dann um und öffnete die Haustür. Draußen schneite es immer noch, ruhig, still. Die Auffahrt war komplett weiß übertüncht, wie ein Teppich aus feinem Mehl. Adam trat hinter Leon, um die Tür hinter ihm zu zu machen. Durch die eindringende kalte Luft erzitterte er kurz, aber irgendwie störte es ihn nicht. Er würde Leon für zwei Wochen nicht sehen, da wollte er zumindest noch ein bisschen was von seiner Wärme spüren. Von seinem Geruch riechen. Ein bisschen noch. Ein bisschen mehr. Nur ihn zu berühren, nur das traute er sich nicht. Obwohl er ihm doch so nah war.
 

Plötzlich drehte Leon sich nochmal zu ihm um, und bevor Adam auch nur irgendwie reagieren konnte, hatte er ihm schon sanft einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber Adams Inneres zerbarst fast vor Wärme. Eine so leichte, eine so kurze Berührung, wie konnte sie nur so göttlich schön sein?
 

„Bis in zwei Wochen.“
 

Leichtfüßig stolzierte Leon die Treppen und die Auffahrt hinunter, ohne sich noch ein weiteres Mal umzudrehen. Adam sah ihm nach, bis er in sein Auto eingestiegen und los gefahren war. Mit einem tiefen Seufzer ließ er die Tür zufallen und lehnte sich dagegen, den Kopf nach hinten gelegt. Sein Blick fiel auf den Kalender, der über der Kommode hing. Zwei Wochen, hm? Ein Datum war mit einem Herzchen fett und rot umrandet. Adam schloss kurz die Augen. Leon würde an seinem Geburtstag nicht anwesend sein. Bis jetzt hatte er nicht gemerkt, wie gerne er ihn dabei gehabt hätte. Bis jetzt hatte er nicht gemerkt, wie gerne er eigentlich Leon die ganze Zeit bei sich gehabt hätte. Wobei es doch eigentlich völlig lächerlich war. Er war nur ein Modell, ein Zeitvertreib, wenn Leon mal langweilig war, ein Aufpasser für die Pflanzen. Aber nie und nimmer war er ein Lover. Ja, man konnte nicht mal sagen, dass sie Freunde waren.
 

Er seufzte wieder. Diese Frage hatte er sich schon so oft gestellt, und immer noch keine Antwort gefunden. Was war er eigentlich für Leon?

„Du hast diese Strähne inzwischen fünf Mal zurecht gezupft, Adam. Langsam dürfte sie doch richtig sitzen, oder?“
 

„Mom.“ Adam klang leicht genervt. „Wenn du nichts besseres zu tun hast als an meinem Äußeren rumzumäkeln, geh doch bitte und hilf Dad bei seiner Arbeit. Er vermisst dich bestimmt schon.“
 

Seine Mutter zog ihre Beine an den Körper und machte nicht die geringsten Anstalten, sich vom Fleck wegzubewegen. Mit einem amüsierten Lächeln musterte sie ihren Sohn.
 

„Ich mäkle nicht an deinem Äußeren rum, im Gegenteil. Du siehst wirklich umwerfend aus. Und genau deswegen musst du diese Strähne nicht noch ein sechstes Mal zurecht zupfen.“
 

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu und dann einen kritischen in den Spiegel, vor dem er jetzt eine geschlagene Stunde gestanden hatte. Es war Samstagabend und er hatte sich entschlossen, diese Homobar, in der Muse arbeitete, aufzusuchen. Tatsächlich hatte den Ausschlag dazu erst sein Sportlehrer gegeben. Mit einem angeekelten Gesichtsausdruck hatte er den beiden nach der Sportstunde am Donnerstag, als sie zu den Umkleideräumen gehen wollten, gemeint, sie sollten doch bitte warten, bis die anderen fertig und wieder weg waren, und erst dann sich selber umziehen und duschen. Adam wäre ihm am liebsten an den Kragen gegangen, jedoch hatte ihn Muse weggezogen und beruhigend auf ihn eingeredet. Sein Ärger war aber nicht verraucht. Nur weil das von Pete feucht fröhlich verbreitete Gerücht rumging, dass die zwei schwul wären, musste man ihn ja nicht gleich wie ein knabenvernaschendes Monster behandeln. Vor allem, da er an den Ärschen seiner Mitschüler bestimmt kein Interesse hatte. Schließlich hatte er entschieden, er könnte sich auch in einer Homobar sehen lassen, wenn das Gerücht von seiner Sexualität schon rumging. Mal davon abgesehen, dass es eine gute Möglichkeit war, sich von Leon abzulenken. Oder, besser gesagt, seiner Sehnsucht nach Leon.
 

„Geht das wirklich? Seh’ ich nicht ein wenig zu konservativ aus? Oder überstylt?“
 

Mit einem skeptischen Blick strich er sich nochmal durch die Haare und betrachte sich eingehend. Er trug einen kirschroten, ärmellosen Rollkragenpullover, der seine durchtrainierten Oberarme gut zur Geltung brachte. Um sein linkes Handgelenkt war mehrfach ein schmales Lederband geschlungen, während an dem rechten drei dünne, kupferfarbene Armreifen baumelten. Den rechten Mittelfinger zierte noch dazu ein breiter, einfacher Kupferring. Als Ohrringe hatte er sich zwei Stecker mit blutroten Rubinen von seiner Mutter geliehen. Seine Hose war tiefschwarz, hatte an jedem Hosenbein noch zusätzlich zwei Taschen, an denen jeweils wiederum zwei Bändel angebracht waren, und zwei dunkelbraune, dünne Streifen an den Seiten. An den Schlaufen für den Gürtel waren noch drei rotgoldene Kettchen befestigt, die von der Gürtelschlaufe über der vorderen Tasche zu der über der Gesäßtasche führten. Seine Haare hatte Adam mit Gel ein wenig in Form gebracht, so dass die Haarspitzen am Hinterkopf ein wenig abstanden, während die Ponysträhnen halb ein Auge verdeckten. Um draußen nicht zu erfrieren, würde er noch eine schwarze Kapuzenjacke und Handschuhe anziehen, doch die würde er in der Bar ablegen, da es nach Muse’ Beschreibung eher einer Diskothek glich denn einer Bar und somit sehr warm sein würde.
 

Alles in allem war er eigentlich recht zufrieden mit seinem Äußeren. Zumindest dafür, dass er noch nie im Leben Tanzen gewesen war und dementsprechend im Stylen auch keine Übung hatte.
 

„Nein, Adam, du siehst umwerfend aus. Die Kerle werden dir reihenweise zu Füßen liegen, glaub mir.“ Seine Mutter verdrehte belustigt die Augen.
 

„Ich will doch gar nicht, dass sie mir zu Füßen liegen.“ Er zupfte nochmal an einer Ponysträhne und warf dann einen kurzen Blick auf die Uhr. „Gut, ich sollte langsam los. Muse erwartet mich gegen zwölf.“
 

Mit seiner Mutter im Schlepptau verließ er sein Zimmer, sprang die Treppen ins Erdgeschoss nach unten und zog sich an.
 

„Wenn was ist, ich hab mein Handy dabei. Ruf mich einfach an.“ Er lächelte seiner Mutter zu. „Ich hoffe mal, dass es spät wird.“
 

„Na, ich hoffe mal, dass es dir Spaß machen wird.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf dich auf und geh nicht mit irgendwelchen Kerlen mit, die du nicht kennst. Und sag Muse, er soll auf dich aufpassen, verstanden?“
 

„Ja, klar, Mom. Er ist ja auch mein Babysitter, ne?“ Er zog seine Kapuze über den Kopf und öffnete die Haustür. „Sag Dad tschüss von mir. Er soll sich nicht überarbeiten.“
 

„Natürlich, mach ich. Viel Spaß, mein Schatz.“
 

Mit einem letzten Winken verließ er das Haus. Ausnahmsweise hatte es sogar aufgehört zu schneien und der Himmel war aufgeklart. Der fast volle Mond tauchte die Straßen in silbernes Licht und warf schemenhafte Schatten auf den Boden. Adam fröstelte kurz. So wirklich warm angezogen war er dann doch nicht, weswegen er auch einen Zahn zulegte. Er traf kaum Menschen, da die meisten den Abend entweder in ihren warmen Häusern verbrachten oder bereits zur Disco gefahren waren. Nun ja, er war halt ein Spätzünder. Er musste innerlich grinsen. Nicht nur, was die Discobesuche anging, wie ihm schien.
 

Die Homobar, wie es Muse nannte, lag im zentralen Partybereich der Stadt, dort, wo man auch alle anderen Discos, Bars und sonstige Vergnügungsstätten finden konnte. Natürlich auch nicht zu vergessen der Rotlichtbereich, der jedoch durch zwei, drei Parallelstraßen von der Partymeile abgetrennt war und somit nicht wirklich viel damit zu tun hatte. Man merkte sofort, wenn man sich den Discos näherte, da die Anzahl an Leuten stark zunahm und ein belebtes Gewusel herrschte. Adam schlängelte sich durch die meist schon leicht angetrunkenen Nachtschwärmer hindurch und kräuselte angewidert die Nase. Er konnte es beim besten Willen nicht verstehen, wieso man sich schon zu so früher Stunde zukippen musste. Wo blieb denn da der Spaß? Aber gut, seine Leber war es ja nicht, die darunter leiden würde.
 

Ganz kurz streiften seine Gedanken Leon, der dem Alkohol anscheinend auch nicht ganz abgeneigt war, wenn er schlechte Laune hatte, jedoch schob er ihn sofort weit von sich weg. Er hatte sich geschworen, diese zwei Wochen möglichst wenig an seinen Künstler zu denken, und schon gar nicht an diesem Abend, an dem er einfach nur Spaß und Ablenkung haben wollte. Es gab selbstverständlich keine leichtere Sache als das, vor allem, wenn er täglich in seinem Haus war, aber zumindest dieser Abend sollte frei von Gedanken an Leon sein.
 

Schließlich fand er zum „Paradise Hill“, wie die Diskothek hieß, sogar ziemlich problemlos, da sie sich zentral neben einigen anderen Discos befand. Er fand ja schon den Namen ein wenig... nun, zweideutig, aber da Muse dort arbeitete, hielt er den Schuppen doch für halbwegs vertrauenswürdig. Für einige Momente blieb Adam einige Meter entfernt stehen und musterte die ausnahmslos männlichen Besucher, die fröhlich ein- und ausgingen. Einigen konnte man das Schwulsein förmlich ansehen, zumindest, wenn man nach den gängigen Klischees ging. Vor allem ein Typ in engen Schlangenlederhosen und einem bauchfreiem Oberteil hätte ihn fast zu einem Lachanfall verleitet. Jedoch hätte er die meisten, hätte er sie auf der Straße getroffen, nie und nimmer für homosexuell gehalten. Erstaunlich, wie wenig die Klischees doch zutrafen. Und mal wieder vergaß er Muse und sich selber, die ja beide genauso wenig diesen Vorurteilen entsprachen.
 

Einmal tief einatmend näherte Adam sich schließlich dem Eingang. Der Türsteher sah ein wenig bedrohlich aus, groß, dunkel angezogen und sehr muskulös. Er fixierte Adam auch sofort.
 

„Ausweis, bitte.“ Seine Stimme klang gefährlich.
 

Adam kramte seinen Personalausweis raus und streckte ihn vor.
 

„Ich bin ein Freund von Muse. Er hat gesagt, ich könnte rein.“ Er hoffte nur, dass es klappte. Seine Lust, jetzt wieder unverrichteter Dinge heimzukehren, war nicht gerade groß.
 

Bei Muse’ Namen leuchteten die Augen des Türstehers kurz auf und sein hartes Gesicht entspannte sich. Er brachte sogar ein freundliches Lächeln zustande.
 

„Ah, ja, er hat mir Bescheid gesagt, dass du vorbei kommst. Na dann, viel Spaß da drin. Aber tret’s nicht breit, wie alt du bist, sonst gibt’s nur Probleme für den Besitzer, klar?“
 

Adam nickte nur, huschte an ihm vorbei und nahm sich nur noch kurz die Zeit, um im ziemlich schlicht eingerichteten Vorzimmer den Eintritt zu zahlen. Bereits hier hörte er die Musik, oder, besser gesagt, den Bass, von drinnen, die zum Tanzen einlud. Und gewiss bleibende Hörschäden anrichtete.
 

Immer noch etwas unsicher öffnete er die zwei Schwingtüren und betrat den Tanzsaal. Und wäre fast vor der Masse an Leuten und der Stärke der Musik wieder zurück geschreckt. Und dann erst sah er sich genau um, während sein Kiefer leicht nach unten klappte.
 

Die Halle war gigantisch, zumindest soweit es Adam in dem Licht und bei den ganzen Leuten einschätzen konnte. Die Decke bestand aus Spiegelglas, und immer wieder zuckten dunkelrote Blitze zum Beat der Musik darüber, die für einige Sekunden den Raum aufleuchten ließen, begleitet von violetten und dunkelgrünen Strahlen von Scheinwerfern, die über die Menge schweiften und sich im Wechsel von einem einzigen zu nach und nach fünf aufteilten und wieder zurück. An der linken und rechten Seite gingen gläserne Treppen zu einer weiteren Ebene hoch, deren Boden ebenfalls durchsichtig war, so dass man von unten die Leute oben sehen konnte. Gegenüber dem Eingang befand sich eine breite, dunkelfarbene Bühne, die sich fast über die komplette Wand zog und auf der hinten einige DJs mit ihren Gerätschaften standen und für die Musik sorgten, während sich davor fünf Gogo-Tänzer dazu bewegten. Fast direkt daran schlossen sich links und rechts die Theken an, an denen mehrere Barkeeper Getränke ausschenkten. Die Thekenfläche und die Regale mit den Gläsern und Flaschen bestand ebenfalls aus Glas, die Front aus dunklem, mit Silber marmoriertem Material. Scheinbar willkürlich standen im Raum verteilt sieben oder acht Säulen, um die die Leute herumtanzten. Sie wiesen das gleiche Material auf wie die Thekenfront und waren etwa drei Meter hoch. Auf einer Seite waren schmale Stangen angebracht, an denen man auf die Plattform, die sich oben befand, gelangen konnte. Diese Plattform diente ebenfalls als Tanzfläche für die Gogo-Tänzer und war zu deren Sicherheit umzäunt. Die Umzäunung störte jedoch in keinster Weise, im Gegenteil, sie wurde gekonnt in die Tanzeinlagen mit eingebunden.
 

Adam schluckte. Diese komplette Einrichtung beeindruckte ihn mehr als nur ein bisschen. Er wusste ja wirklich nicht, ob es überall so aussah, aber zumindest konnte er gut verstehen, wieso es hier so gut besucht war. Tatsächlich war die komplette Tanzfläche gefüllt. Nicht so sehr, dass man sich quasi nicht mehr bewegen konnte, aber doch genug, um sich nicht allein vorzukommen. Und es standen immer noch haufenweise Leute am Rand und schauten den Tanzenden zu oder befanden sich auf der Galerie. Adam schluckte nochmal. Und es waren alles Männer, allesamt.
 

Mit einem Seufzer schlängelte er sich an der Wand entlang zu einer der Theken. Muse musste hier irgendwo sein, und tatsächlich stand er mit ein paar anderen dran und unterhielt sich. Sie hatten alle eine schwarze Weste mit weißen, langen Ärmeln an, jedoch war der Reißverschluss bei den Westen bis Mitte der Brust offen, so dass man einen guten Einblick auf die nackte Haut hatte. Gehörte wohl zum Service dazu, dass die Bedienungen etwas hermachten und anregend wirkten. Adam lächelte. Muse fühlte sich hier, zwischen Gleichgesinnten, anscheinend sehr wohl, da seine Gesichtszüge entspannt und fröhlich waren, etwas, was Adam in der Schule niemals zu Gesicht bekam, außer in seiner eigenen Gegenwart.
 

Er stellte sich an die momentan recht leere Theke und winkte Muse zu. Dieser entdeckte ihn fast augenblicklich, grinste ihn fröhlich an und beugte sich zu ihm rüber, während Adam seine Jacke auszog.
 

„Hab mich schon gefragt, wo du bleibst. Du hast dir Zeit gelassen.“
 

„Nya, musste mich doch erst noch herrichten. Ich bin nicht sonderlich geübt im Stylen.“ Er reichte Muse seine Jacke, in deren Tasche er die Handschuhe stopfte. „Kannst du die irgendwo verstauen? Wenn ich die anbehalte, schwitz ich mich noch zu Tode.“
 

„Ja, klar.“ Er nahm sie entgegen, verschwand kurz durch eine Tür und kam dann einige Augenblicke später wieder zurück. „Gut siehst du aus. Von wem hast du denn die Ohrringe geklaut?“
 

„Von meiner Mutter.“ Adam lachte. „Muss ich aber zurück geben, das Kompliment. Die Weste steht dir.“ Er rutschte auf einen der Barhocker, die an den Rändern der Theke aufstellt waren, und blickte sich einmal kurz um. „Hast du nicht gesagt, dass wär eine Homobar? Homo bedeutet für mich aber auch Frauen, nicht nur Männer.“
 

„Na ja, Schwulendisco trifft’s besser, jep. Es wird nur allgemein als Homobar gehandelt.“ Muse stütze sich mit einem Ellbogen auf der Theke ab und legte sein Kinn in die Handfläche. „Willst du was trinken? Ich geb’ dir einen aus. Ah, und bevor ich es vergesse, nimm nichts zu Trinken von anderen an. Die meisten Leute sind zwar in Ordnung, aber es gibt einige, die um jeden Preis Gesellschaft für die Nacht haben wollen, und da benutzen die auch schon gerne mal Drogen oder Aphrodisiaka.“
 

Adam zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Das klang ja wirklich aufbauend. „Okay, merk ich mir. Uhm... keine Ahnung, was so gängig ist, ich trink nicht viel Alkohol. Also bitte auch nichts starkes, ich will nicht komplett besoffen nach Hause kommen.“
 

Muse lachte kurz auf. „Ja, klar, kein Problem. Moment, ich mach dir nen Cocktail, dauert nur einen Augenblick.“
 

Der Junge nickte und nutzte die Wartezeit, um sich ein wenig umzuschauen. Irgendwie fühlte er sich immer noch nicht ganz wohl hier, umgeben von lauter Männern, von lauter schwulen Männern, wohlgemerkt. Und so, wie ihn einige von ihnen anschauten, schien er so eine Art Frischfleisch zu sein, dass es zu erobern galt. Er hatte jedoch wenig Lust, gejagt zu werden.
 

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Die Besucher waren gut gemischt. Von offensichtlich stockschwulen über wohl gepflegt und gut gekleidet bis zu Testosteron pur war jegliche Art Mann vertreten, aber irgendwie sprach ihn keiner so wirklich an. Die Art Leon verirrte sich anscheinend nicht in solche Locations. Er seufzte. Nicht an ihn denken, ja nicht an ihn denken! Es gab noch andere Männer außer Leon.
 

Adam richtete seine Aufmerksamkeit auf einen der Gogo-Tänzer, der auf einer der Säulen tanzte. Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte er ihm gerade zugezwinkert? Wohl kaum, bei diesem Licht musste das eine Sinnestäuschung gewesen sein. Trotzdem musterte er ihn etwas genauer. Muskulös, braungebrannt und oben ohne. Gut aussehend. Das waren die ersten Dinge, die ihm auffielen. Er trug enge Jeans, die seine Oberschenkel und seinen Hintern betonten, schwarze Stiefel und ein Lederhalsband. Seine kurzen, aufgegelten Haare hatten einen kastanienfarbenen Ton und eine Augenbraue war gepierct. Er tanzte sehr aufreizend, sexy, mit fließenden, selbstbewussten Bewegungen. Es war eine Wohltat, ihm zuzuschauen. Und mit leichtem Erstaunen merkte Adam, dass es tatsächlich noch andere Männer außer Leon gab.
 

„Gefällt er dir?“
 

Adam hätte fast erschrocken aufgeschrieen, als Muse sich plötzlich wieder zu ihm gesellt hatte. Er schob ihm ein Glas mit einer dunkelblauen Flüssigkeit zu. Irgendein Cocktail, den er wohl gerade fabriziert hatte.
 

„Wer?“
 

„Na, er.“ Muse deutete mit dem Kinn auf den Tänzer.
 

„Hm.“ Adam zuckte nur mit den Schultern. Er wusste im Moment noch nicht, wie er „gefallen“ definieren sollte.
 

„Er heißt André. Ein alter Hase hier, tanzt schon seit Ewigkeiten. Wenn du willst, stell ich ihn dir vor.“
 

„Nee, lass mal. Ein andermal vielleicht.”
 

Adam widmete seine Aufmerksamkeit wieder komplett Muse. Er wollte es nicht gleich am ersten Abend mit neuen Bekanntschaften überstürzen. Mit einem kritischen Blick nahm er einen Schluck von dem Getränk, das sein Freund ihm vorgesetzt hatte. Man schmeckte den Alkohol noch raus, jedoch wurde es fast komplett von einem fruchtigen Geschmack übertüncht. Er hoffte ernsthaft, dass da nichts hochprozentiges beigemischt war, aber selbst wenn, ab und zu konnte man sich ja betrinken. Oder zumindest antrinken.
 

Muse und er unterhielten sich noch eine Zeit lang, so gut es bei dem Lärm ging, über belanglose Dinge, bis Muse sich schließlich doch um seine Arbeit kümmern musste.
 

„Wie wär’s, geh auf die Tanzfläche, tanz ein wenig.“ Er lächelte ihn aufmunternd zu. „Hier juckt es keinen, wenn du es nicht kannst. Lass dich einfach von der Musik mitreißen, dann klappt das schon.“
 

Mit einem Stupser gegen seine Stirn ließ er Adam allein und verschwand im Raum hinter der Theke. Adam seufzte. Es war vielleicht keine schlechte Idee, schließlich war er in einer Disco, die ja bekanntermaßen zum Tanzen da war. Er musterte die Tanzfläche kritisch. Und Muse hatte Recht. Bei der Masse würde keiner auf ihn Acht geben. Also schlängelte er sich zwischen den Leuten hindurch in die Mitte, dort, wo am meisten los und er somit am unauffälligsten war.
 

Zuerst beobachtete er die anderen skeptisch, während er sich nur vorsichtig bewegte. Ihm blieb halb der Mund offen stehen, mit welchen Bewegungen sie tanzten, wie genial das aussah, wie fließend und harmonisch, zur Musik passend, als ob sie damit verbunden wären. Er schloss die Augen. Aber das, was sie konnten, konnte er doch schon lange.
 

Für einen Moment blieb er einfach auf der Tanzfläche, in der ganzen, sich bewegenden Menge stehen, lauschte auf die Musik, den Beat, ließ es auf sich einwirken. Und begann sich dann zu bewegen, die Augenlider halb wieder angehoben. Er verlor seine Hemmungen, bestimmte seine Bewegungen nach der Musik, erlaubte ihr, ihn zu bestimmen, mit sich zu ziehen. Die Tanzfläche, der Raum, alles gehörte ihm. Nachgeben, sich fallen lassen. Das war alles, was er jetzt machte.
 

Er wusste, dass die anderen ihn beobachteten, neugierig musterten. Und er wusste, er war gut. Er war begehrenswert.
 

Adam wusste nicht, wie lange er schon auf der Tanzfläche gewesen war, als er plötzlich einen Körper hinter sich spürte, jemanden, der seine Hände auf seine Hüften legte. Ein bisschen überrascht drehte er sich um. André. Der Gogo-Tänzer. Er lächelte ihn an und zog ihn näher an sich, passte sich seinen Bewegungen an. Es störte Adam nicht. Er wusste nicht, ob es am Alkohol oder an der ganze Stimmung lag, aber es störte ihn einfach nicht. Mit einen Lächeln legte er die Arme um seinen Hals, während Andrés Hände in seinen Gesäßtaschen verschwanden und ihn noch ein bisschen fester an sich drückten. Er spürte seine Muskeln, seinen nackten Oberkörper. Er roch den Schweiß, der jedoch nicht unangenehm war, in keinster Weise, sondern herb und männlich. Anregend. Er spürte die Hände an seinem Gesäß, die leicht zudrückten, die harten, durchtrainierten Schenkel an seinen eigenen. André beugte sich zu ihm runter, küsste ihn. Es schmeckte süß, bitter. Es war ein Kuss, den er so bis jetzt nicht gehabt hatte. Wild, forsch. Erobernd. Sein Innerstes begann zu kribbeln. Er gab sich einfach hin, spürte die Zunge des anderen, genoss sie.
 

André glitt mit seinen Händen langsam unter Adams Oberteil, ohne den Kuss zu unterbrechen, streichelte den Bereich unter dem Hosenbund, ließ seine Finger dort ruhen. Adam erzitterte kurz. Die etwas kühlen Finger an seiner nackten Haut, die sanften Berührungen, der wilde Kuss. Verdammt, es gab noch andere Männer außer Leon! Andere Männer, die ihn begehrten. Wieso sollte er sich so auf ihn versteifen?
 

Die Zeit verstrich, in der sie so miteinander tanzten, eng miteinander verschlungen. Schließlich löste sich der Tänzer von ihm, lächelte ihn mit einem zufriedenen Blick an, nahm ihn bei der Hand und führte ihn von der Tanzfläche zur Theke zurück. Muse hatte sich wieder dort eingefunden und grinste Adam jetzt fröhlich und wissend entgegen. Der Junge blickte André kurz entschuldigend an und zog seinen Freund zu sich rüber.
 

„Hast du ihn zu mir geschickt?“, fragte er, nicht wütend, nur neugierig. Er fühlte sich berauscht, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
 

„Jep. Er hat sich nach dir erkundigt. Anscheinend hat er dich von dem Tanzplateau aus gesehen.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich hab euch auf der Tanzfläche gesehen. Na, gefällt er dir?“
 

Adams Blick wurde ein wenig unsicher und er wollte gerade was erwidern, da hatte André ihm schon einen Arm um die Schulter gelegt und ihn näher an sich rangezogen.
 

“Hey, Muse, mix uns mal was schönes. Geht auf mich.“ Er schaute Adam fragend an. „Du willst doch bestimmt noch was, ne?“
 

Adam nickte nur. Er hörte jetzt das erste Mal Andrés Stimme. Sie war tiefer als Leons, rau von zu viel Rauch. Sie verursachte ein Kribbeln auf seiner Haut. Er wusste auch nicht, ob ihm noch mehr Alkohol gut tun würde, aber irgendwie wollte er sich auch nicht dagegen wehren. Er wollte es einfach nur genießen, die gesamte Nacht ohne Reue genießen.
 

Es dauerte nicht lange, da hatte Muse ihnen bereits zwei weitere Cocktails kredenzt. André nahm einen an sich, drückte den anderen Adam in die Hand und zog ihn dann wieder mit sich, diesmal auf die Galerie hoch. Dort waren mehrere Sitzgelegenheiten, Sofas, Couchen, Stühle und ähnliches Verteilt, etwas, was Adam von unten nicht gesehen hatte. Zu einer der Couchen führte André ihn, stellte ihre Getränke auf einem Tischchen vor ihnen ab und drückte Adam nach unten. Ohne Vorwarnung küsste er ihn. Wieder. Und wieder. Adams Herz schlug ein bisschen schneller. Ihm wurde warm, fast heiß, unerträglich heiß. Er spürte den Druck des fremden Körpers auf ihm, die Hände, die seinen eigenen Körper erforschten. Er wusste, wie weit er gehen wollte, er wusste, wo seine Grenzen waren, aber André schien einen guten Instinkt zu haben, diese Grenzen nicht zu überschreiten, sondern nur sehr nahe an sie ran zu kommen. Er hörte die Musik um sich herum, die tanzenden Menschen, die Gespräche, aber er bekam nichts wirklich mit. Seine Konzentration richtete sich voll auf André, auf seine Lippen, seine nackte Haut, die Wärme, die er ausstrahlte. Es war ein komplett anderes Gefühl als das, das Leons Nähe bei ihm verursachte. Es waren zwei verschiedene Welten. Und er wollte diese eine Welt mit ganzem Herzen genießen, wollte sich von ihr treiben, von ihr mitreißen lassen. Und für einen Moment den ganzen Rest vergessen.
 

Die Nacht wurde lang, sehr lang. Sie tanzten, sie tranken, sie küssten sich. In verschiedenster Reihenfolge. Sie redeten nicht viel miteinander, nur unwichtige, belanglose Dinge, aber sie lachten viel. Adam wusste nicht, ob es am Alkohol lag oder ob er mit André einfach wirklich so auf einer Wellenlänge war. Er merkte auch kaum, wie die Zeit verging, wie sich der Raum langsam leerte und die Gäste nach und nach gingen. Sie saßen gerade auf einer der Couchen und schwiegen, als Muse zu ihnen kam. André hatte seine Arme um Adam gelegt und seinen Kopf in dessen Haar vergraben. Adam sah nur etwas müde auf, als er von seinem Freund angestupst wurde.
 

„Es wird Zeit. So langsam schließen wir.“
 

„Mhm.“ Adam schälte sich aus Andrés Umarmung. „Ein bisschen Schlaf wird mir auch nicht schaden.“
 

„Arg, Muse, du störst.“ André lächelte bedauernd und hielt Adam kurz am Handgelenk fest. „Ich ruf dich an. Vielleicht können wir ja uns mal unter der Woche sehen.“ Er zog ihn zu sich runter und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Vergiss mich nicht.“
 

Adam erwiderte nur das Lächeln, müde und etwas unsicher, nahm die Jacke von Muse und folgte ihm nach draußen. Irritiert von dem Licht blinzelte er. Es dämmerte bereits.
 

„Verdammt, tun mir meine Füße weh.“ Er streifte schnell seine Jacke über und kuschelte sich in sie rein. „Und es ist verdammt kalt.“
 

Muse lachte leise auf. „Im Gegensatz zu der Hitze der Nacht, was? Deine Lippen tun dir nicht zufällig weh, hm?“
 

Adam streckte ihm nur kurz die Zunge raus und hakte sich bei ihm unter. „Ich will nur noch ins Bett. Ich glaub, ich werde bis morgen früh durchpennen.“
 

„Oi, weich mir nicht aus.“ Muse stupste ihn leicht in die Seite. „Spann mich nicht auf die Folter. Wie findest du ihn?“
 

„Willst du mich verkuppeln?“ Adam zog die Augenbrauen zusammen und zuckte dann mit den Schultern. „Er ist nett. Ich versteh mich gut mit ihm. Er sieht gut aus und kann gut küssen. Das war’s.“
 

„Das war’s?“ Mue hob skeptisch eine Augenbraue. „Ihr habt die ganze Nacht lang aneinander geklebt. Das sah nach ein bisschen mehr als nur ‚gut verstehen’ aus. Er hat jedenfalls definitiv einen Narren an dir gefressen.“
 

„Ich aber nicht an ihm.“ Adam seufzte. „Muse, sag mal, willst du uns verkuppeln?“
 

“Um ehrlich zu sein, ja, will ich. Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich Leon nicht mag. Mir wäre es viel lieber, du würdest dich in André verlieben. Er mag zwar sehr forsch und rau sein, aber er ist zumindest ehrlich und treibt keine Spielchen.“
 

„Du kennst Leon noch gar nicht. Außerdem...“ Adam schwieg kurz. Er hatte schon öfter in der Nacht den vergleich zu Leon gezogen. Und André hatte wirklich gar nicht mal schlecht abgeschnitten. Aber es war nur ein ‚nicht mal schlecht’, es war kein ‚besser’. „Es fehlt mir was. Er ist nicht Leon. Ich...“ Er fuhr sich etwas unsicher durch das Haar. „Ich mein, als er mich geküsst hat, es hat mir gefallen und so. Und wir haben uns gut unterhalten, aber... Es war einfach nicht Leon. Es war anders, komplett anders. Bei Leon fühl ich mich einfach nur wohl. Er... er muss nur da sein, muss nur anrufen, ne SMS schreiben, irgendwas. Er brauch mich nur anschauen, und ich werde halb wahnsinnig vor Glück. André wäre... also, er wäre für mich nie mehr als nur ein Kumpel, jemand, mit dem ich weggehe und den Abend verbring, vielleicht auch so was wie ein Sexfreund oder so. Zumindest, wenn ich Sex mit ihm haben wollen würde.“ Er seufzte. „Aber er ist nicht Leon.“
 

Muse musterte ihn eine Weile schweigend. Dann atmete er einmal tief ein und wieder aus.
 

„Für dich gibt es nur Leon, was?“
 

„Ja.“ Es klang endgültig. Es war endgültig.
 

Er blieb stehen und nahm Adam in den Arm, drückte ihn fest an sich.
 

„Dann richte deinem Leon aus, dass ich ihm ziemlich tief in den Arsch treten werde, wenn er dir weh tut.“ Er löste sich von ihm und legte seine Hände um Adams Gesicht. „Er soll sich glücklich schätzen, jemanden zu haben, der ihn so liebt. Es gefällt mir zwar ganz und gar nicht, aber es ist deine Entscheidung. Und die werde ich unterstützen, so gut es geht.“ Frech lächelte er. „Nicht, dass ich nicht weiterhin versuchen werde, dir André schmackhaft zu machen, darauf kannst du Gift nehmen.“
 

Adam grinste ihn nur an. Er wusste, Muse würde ihn in allem unterstützen, was er machte, selbst wenn es ihm nicht gefiel. Er bot ihm eine Sicherheit, die er momentan bei niemand anderem hatte.
 

„Danke.“
 

Mehr brauchte er nicht sagen. Muse verstand den Rest ohne große Worte. Er streckte sich und blickte sich kurz um.
 

„Ah, da kommt mein Bus schon. Ich muss dann los, wir sehen uns morgen. Schlaf gut.“
 

„Jep, danke, du auch.“
 

Muse verabschiedete sich schnell und verschwand dann im Bus. Ein wenig dämmrig sah Adam ihm noch nach, bis er seine Hände schließlich tief in den Hosentaschen vergrub und den Heimweg antrat. Nach und nach wurde es immer heller. Der Schnee glitzerte bläulich im Licht der ersten Sonne, zauberte eine wunderschöne Landschaft mitten in die Stadt. Adam kniff die Augen geblendet zusammen. Durch die Dunkelheit, der er der ganzen Nacht ausgesetzt gewesen war, waren sie etwas empfindlicher als normalerweise. Doch das würde sich legen, genauso wie die Taubheit seiner Ohren. Oder die seiner Lippen.
 

Vorsichtig betastete er seine Unterlippe. André hatte immer wieder leicht reingebissen, so dass sie jetzt angeschwollen war. Es hatte ihm aber nichts ausgemacht. Es machte ihm auch jetzt nichts aus. Er freute sich darauf, André wieder zu sehen, mit ihm etwas trinken zu gehen und einfach nur einen netten Nachmittag zu machen. Sie beide hatten ähnliche Interessen und konnten sich gut unterhalten, verstanden einander, ohne großartig etwas erklären zu müssen. Das hatte er in dieser Nacht sehr deutlich gemerkt. André hatte seine Grenzen gekannt, ohne danach fragen zu müssen, und Adam wusste, dass er vor ihm nichts ernsthaftes zu befürchten hatte. Ja, sie verstanden sich wirklich sehr gut.
 

Aber André war nicht Leon.
 

Und für diesen Gedanken konnte Adam sich fast hassen. Wieso war er nur so auf diesen exzentrischen Künstler fixiert? Klar, er war bei dem Treffen im Park sehr nett gewesen, aber er blieb trotzdem ein arroganter und egoistischer Bastard. Und trotzdem. Das Kribbeln, dass er bei Leon spürte, war nicht das Gleiche wie bei André, war nicht dieses erotische, aufgeregte. Es vermittelte Geborgenheit, Sehnsucht nach Nähe, nach Berührung, aber auf komplett andere Weise. Er konnte es nicht in Worte fassen, nicht benennen oder erklären. Er wusste nur, wie es war.
 

Er liebte Leon.
 

Er würde es immer tun, egal was geschehen würde. Egal, wie schmerzhaft es noch sein würde.
 

Und es würde keinen anderen außer ihm, außer diesem blonden Künstler geben. Keinen anderen.
 

Adam seufzte und hob sein Gesicht der Sonne entgegen, blinzelte ein wenig.
 

Gerade jetzt, in diesem Moment, hatte er eine unheimliche Sehnsucht nach diesem arroganten Bastard.

„Hey, gut siehst du aus.“ André musterte ihn mit einen Grinsen von oben bis unten. „Scheint kalt draußen zu sein.“
 

Adam ließ sich auf dem Platz ihm gegenüber nieder und nickte. „Arschkalt. Aber wenigstens schneit es nicht.“ Er sah sich um. „Hast du schon bestellt?“
 

„Nope, wollte auf dich warten. Was willst du?“
 

„Heiß...“ Adam hielt inne. „Nein, lieber nen Cappuccino.“
 

„Okay, dann nehm ich... mhm.“
 

André studierte überlegend die Getränkekarte, während Adam sich unbehaglich umsah. Es war Mittwoch und sie hatten sich zu einem, ja, man konnte sagen, Date getroffen, aber was ihn stark irritierte war nicht nur, dass es das Café im Park war, in dem er letztes Mal zusammen mit Leon gewesen war, sondern dass sie sogar am selben Platz saßen, obwohl genug andere Tische frei gewesen wären. Aber gut, der Platz am Fenster war einfach der schönste, vielleicht deswegen. Er sollte lieber nicht zu viel da rein interpretieren, sonst würde er nur durchdrehen. Es hatte ja schon gereicht, dass er seit Sonntag die ganze Zeit an Leon und André gedacht hatte, und das mit nicht geringen Gewissensbissen. Einerseits, weil er André geküsst hatte, obwohl er nichts von ihm wollte, andererseits, weil er André geküsst hatte, obwohl er Leon liebte. Eigentlich hatte er sich beiden gegenüber unfair benommen. Wobei er sich fragte, ob es Leon überhaupt stören würde, wenn er jemand anderen küsste. Schließlich hatte es ihm auch nicht sonderlich viel ausgemacht, als er den Kuss mit Muse erwähnt hatte. Leicht genervt runzelte er die Stirn. Er drehte sich wirklich nur im Kreis mit diesem dämlichen Bastard. Sollte er im Moment nicht an was anderes denken?
 

„Alles okay?“
 

An genau den nämlich. Adam schreckte auf und sah zu André, der seine Aufmerksamkeit von der Getränkekarte gelöst und ihm gewidmet hatte.
 

„Ja, klar, wieso?“
 

„Du sahst grad sehr genervt aus. Wenn du dich nicht mit mir treffen wolltest, hättest du es doch nur sagen brauchen.“
 

Leicht erschrocken schüttelte Adam den Kopf. „Nein, nein, ich hab an was komplett anderes gedacht.“ Nun, ‚komplett’ war so zwar nicht ganz richtig, aber egal. „Hätt' ich nicht kommen wollen, hät ich es auch nicht gemacht, keine Sorge.“
 

„Hm.“ André musterte ihn kritisch. „Okay, wenn du es sagst.“
 

Er drehte sich zu einer Kellnerin, winkte sie zu sich und gab die Bestellung auf, dann wendete er sich wieder Adam zu, beugte sich vor und strich mit den Fingerspitzen über seine Hand. Adam zuckte erschrocken zusammen. Es kribbelte. Überall. Und er konnte nicht sagen, ob er es mochte.
 

„Kommst du den Samstag auch wieder?“
 

„Keine Ahnung.“ Er starrte seine Hand an. Am liebsten hätte er sie weggezogen, aber er wollte André nicht beleidigen. Und er wollte diese Berührung genießen, voll auskosten. Also, nein, er wollte seine Hand gar nicht wegziehen. „Letztens war eigentlich das erste Mal, dass ich so richtig in einer Disco war.“
 

“Na, du hast dich aber sehr schnell dort zurecht gefunden. Zumindest, wenn man deine Künste auf dem Parkett ansieht.“ Er grinste leicht. „Und wenn man bedenkt, wie du mit mir umgegangen bist. Hemmungen hattest du ja scheinbar keine.“
 

Adam errötete leicht. „Mhm, André, versteh das bitte nicht falsch, aber...“
 

„Ich weiß, ich weiß.“ André nahm seine Hand und küsste eine der Fingerspitzen. „Du hast jemanden, den du liebst, nicht wahr? Muse hat es mir erzählt. Find ich sehr schade, ehrlich. Vor allem, da es bis jetzt ja nur einseitig zu sein scheint. Willst du nicht lieber zu mir wechseln?“
 

Er ignorierte die Frage, ließ seine Finger aber dort, wo sie waren. „Muse scheint dir ja einiges erzählt zu haben.“
 

„Er hatte keine Wahl. Ich kann sehr penetrant sein, wenn ich was wissen will. Und du hast mich sehr, sehr neugierig gemacht.“
 

Mit einem nervösen Blick zupfte Adam an einer Strähne. „Sorry.“
 

„Nichts zu machen. Aber so lang du mit ihm nicht zusammen bist, ist Küssen ja noch drin, hm?“
 

Noch bevor Adam reagieren konnte, hatte André ihn zu sich gezogen und ihm seine Lippen auf dem Mund gedrückt. Ganz kurz, ehe er sich wieder von ihm löste, strich er mit der Zungenspitze über die Lippen.
 

„Na? Das stört dich doch nicht, oder?“ Er sah den leicht baffen Jungen schmunzelnd an. „Ich würd nur ungern drauf verzichten.“
 

„Ehm, ehm...“ Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte. Wollte er es? Störte es ihn? Eigentlich nicht. Aber eigentlich auch schon. Oh verdammt nochmal!
 

Zu seinem Glück kam die Kellnerin und brachte die Getränke. Er starrte seinen Cappuccino an. Was sollte er sagen?
 

„Weißt du... es ist nicht so, dass ich es nicht mag.“ Nervös strich er sich durch die Haare. „Aber, wie soll ich es sagen, also...“
 

„Du hast Gewissensbisse gegenüber deinem Lover?“
 

„Er ist nicht mein Lover. Aber ja, irgendwie schon.“
 

„Obwohl ihr gar nicht zusammen seid?“
 

Adam zuckte nur hilflos mit den Schultern.
 

„Hm, ich verstehe.“ André lehnte sich zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. „Na ja, ich kann’s sogar sehr gut verstehen. Ich würd mich wohl nicht anders fühlen, wenn ich in jemanden verliebt wäre. Blöde Situation, was?“ Er lächelte Adam aufmunternd zu. „Mach dir nichts draus. Aber glaub nicht, dass ich so einfach locker lassen werde. Du gefällst mir.“
 

Adam sah ihn einen Moment skeptisch an. Er war zwar froh, dass André wusste, was in ihm vorging und das er sich nicht allzu große Chancen ausrechnen sollte, aber seine Zuneigung irritierte ihn. Man konnte doch unmöglich so schnell an einer anderen Person interessiert sein!
 

„Du kennst mich doch kaum.“
 

„Egal. Ich kann dich kennen lernen. Und so, wie du dich bis jetzt verhalten hast, gefällt es mir sehr, sehr gut.“ Sein Grinsen wurde ein bisschen breiter.
 

Sein Gegenüber senkte langsam den Blick, seufzte dann nur und nickte. Es war ja nicht so, dass er nicht André auch kennen lernen wollte. Nur, ihre Erwartungen gingen da wohl ein bisschen auseinander.
 

„Erwarte dir nicht zu viel. Irgendwie... komm ich von Leon einfach nicht mehr los. Deine Chancen... also... Arg... Ach, egal...“
 

André nippte gerade an seinem Kaffee, doch als Adam Leons Namen erwähnte, hielt er inne. „Leon? Dein Schwarm heißt Leon?“
 

„Hm.“ Adam sah ihn überrascht an. „Ja, wieso?“
 

„Auch, wenn’s sehr unwahrscheinlich ist, ich weiß,“, er zögerte kurz, „aber nicht zufällig ein Leon Constal?“
 

„Ehm, doch, genau der.“
 

„What the fuck? Was macht der denn wieder in der Stadt???”
 

Adam zuckte bei diesem Ausbruch zusammen. André sah nicht sonderlich begeistert aus, um nicht zu sagen, sehr verstimmt. Ein unangenehmes Gefühl kroch Adams Rücken hoch. Leon schien nicht sonderlich beliebt zu sein.
 

„Du kennst ihn?“, fragte er leicht verunsichert.
 

„Natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er ist bekannt wie ein bunter Hund, oder, zumindest, war es, bevor er vor vier Jahren weggezogen ist. Hätte nicht gedacht, dass er hierher zurück kommt.“
 

Unwillkürlich spitze Adam die Ohren. Hier gab es jemanden, der Leon kannte. Und dieser Jemand hatte vielleicht keine Skrupel, mehr aus Leons Vergangenheit zu erzählen.
 

„Du magst ihn nicht?“
 

„Hm.“ André runzelte die Stirn. „So würd ich das nicht nennen. Bei ihm wird man förmlich schizophren. Einerseits ist man begeistert von seinem Charisma, seinem Äußeren und allem, und andererseits könnte man ihn für seine elende Arroganz und diesen grässlichen Egoismus, mit dem er alle und jeden behandelt, hassen.“ Er seufzte. „Man könnte, tut es aber nicht wirklich. Im Gegenteil, man verfällt ihm, verliebt sich über beide Ohren, all das Zeugs.“ Mit einem kritischen Blick musterte er Adam. „Anscheinend bist du ihm aber auch verfallen. Na, umso mehr hab ich zumindest einen Grund, dich von mir zu überzeugen. Er würde dir nur weh tun, glaub mir. Falls er das nicht schon gemacht hat.“
 

Der letzte Satz klang eher wie eine Frage, auf die Adam jedoch keine Antwort wusste. Hatte Leon ihm denn ernsthaft weh getan? Alle warnten ihn davor, sich in ihn zu verlieben oder mehr mit ihm zu tun zu haben, aber wurde er von Leon denn wirklich schlecht behandelt? Klar, er war arrogant und unheimlich selbstbewusst, schien sich alles wie selbstverständlich zu nehmen und überzeugt davon zu sein, auch alles zu kriegen, aber er hatte Adam nie ernsthaft Schmerzen zugefügt, egal ob psychisch oder physisch. Er hatte ihn geneckt, ja, ihn provoziert. Aber war es böse gemeint? Oder hatte Leon es einfach nur getan, weil er nichts von Adam Gefühlen wusste und deswegen daran nichts Schlimmes sah? Würde er sich vielleicht anders benehmen, wenn Adam seine Liebe gestand? Vielleicht dann Klartext reden? Er seufzte. War Leon wirklich so ein schlechter Mensch, wie alle sagten?
 

„Woher kennst du ihn?“ Adam wusste nicht, was er fragen sollte. Es schwirrte so viel in seinem Kopf, allein durch diese einzige Information, dass André Leon kannte. Er wollte zumindest irgendwo anfangen.
 

„Aus der Schule. Wir gingen eine Zeit lang gemeinsam zur Schule... auch wenn ich ein paar Stufen über ihm war, da war es schwer, ihn nicht zu kennen. Ich war natürlich wie alle andern von ihm fasziniert. Und, na ja, ich hab da auch schon im ‚Paradise Hill’ gearbeitet, er war ab und zu dort.“
 

„Hat...“ Adam biss sich auf die Unterlippe und fixierte seine Tasse. „Hattet ihr etwas miteinander?“
 

„Ja.“ Es klang nicht sonderlich überrascht über diese Frage. „Nicht oft. Wir haben vielleicht zwei, drei Mal die Nacht miteinander verbracht. Ihm wurde schnell langweilig, weswegen er dauernd wechselnde Partner hatte. Oder, besser gesagt, Bettgenossen.“
 

„Männer?“
 

„Nein, Frauen auch. Er hat alles genommen, was nicht bei drei auf den Bäumen war.“
 

Adam schluckte. Irgendwie bestätigte das seine Befürchtung, dass er wohl nur ein Zeitvertreib für Leon war. „Er hatte keinen einzigen festen Partner?“
 

André zögerte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Nichts wirklich festes. Nein.“
 

Der Junge sah auf. Das war nicht alles, oder?
 

„Wieso ist er weggezogen?“
 

„Willst du mich ausfragen?“ Der Tänzer zog die Augenbrauen zusammen. Es wirkte nicht wütend, sondern eher nervös, unsicher.
 

„Ich will nur mehr über ihn erfahren. Er erzählt ja nichts von sich.“
 

Mit einem Schulterzucken winkte André ab. „Das wird dann wohl auch seinen Grund haben. Ich habe keine Lust, ihn irgendwie zu verärgern.“
 

„Hast du Angst vor ihm?“, fragte Adam etwas überrascht.
 

„Nicht direkt. Aber er hat Geld, und Geld ist Macht. Und ich glaube nicht, dass er die Skrupel hätte, diese Macht einzusetzen.“
 

„Hört sich an, als ob er ein Mafiosi wär.“
 

„Nein, nur das verwöhnte Kind von sehr, sehr reichen Eltern. Er ist sozusagen damit aufgewachsen, die fertig zu machen, die er nicht mag.“ André lehnte sich zurück. „Er ist kein Arschloch. Aber... wie soll ich sagen? Du bist für ihn nichts wert. Bis auf ein paar Ausnahmen gab es keinen, der ihm was bedeutet hat.“
 

„Paar Ausnahmen?“
 

„Jep.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es gab ein paar, die er mochte. Waren nicht viele. Keine Ahnung, wer alles.“
 

Dieses Thema schien ihm unangenehm zu sein. Adam seufzte innerlich. Ihm kam es vor, als ob es einiges gäbe, was André zwar wusste, aber einfach nicht sagen wollte. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er musste es wohl darauf beruhen lassen. Im Moment hatte er sowieso schon genug erfahren. Und zu verarbeiten. Obwohl er noch viel, viel mehr wissen wollte.
 

Leon. Von Geburt an reich und verwöhnt. Charismatisch, von allen gemocht und verehrt. Sexuell hungrig, unbefriedigt, nicht sonderlich wählerisch. Was sollte er davon halten? Was sollte er denken, fühlen? Jeder riet ihm von ihm ab, absolut jeder. Und trotzdem, er konnte nicht. Er wollte nicht. Er wollte Leon haben, wollte, dass er ihn liebte, verdammt. Egal was alle andern sagten.
 

„Wie wär’s, wenn wir das Thema wechseln?“ So langsam bekam er Kopfschmerzen davon.
 

“Genug erfahren?“
 

„Hm. Vorerst wohl ja.“
 

André beugte sich zu ihm vor. „Und es bringt dich nicht von deiner Meinung, oder, besser gesagt, von deinen Gefühlen ab?“
 

Adam schüttelte den Kopf, ohne von seiner Tasse aufzuschauen. „Nein.“
 

„Dacht ich mir fast schon.“ Er seufzte. „Gut, lass uns das Thema wechseln. Hast du Lust, beim ‚Paradise Hill’ ab und zu als Barkeeper zu arbeiten?“
 

„Was?“ Adam sah überrascht auf. „Habt ihr etwa nicht genug?“
 

„Na ja, du könntest als Muse’ Ersatz fungieren. Er fällt wegen Philip manchmal aus, will ja schließlich so viel wie möglich Zeit mit ihm verbringen.“
 

„Philip?“
 

„Ja, Philip. Sein Lover.“ Der Tänzer hob erstaunt eine Augenbraue. „Ihr seid befreundet und du kennst nicht mal den Namen seines Lovers?“
 

„Nein. Er redet nicht viel über ihn. Eigentlich gar nichts, um genau zu sein.“
 

„Oh... Gut, ist auch ein bisschen problematisch. Aye, ich halt lieber die Klappe. Besser, er erzählt es dir selber.“
 

Adam sah ihn nur ausdruckslos an. So langsam kam er sich vor wie der Depp der Nation, der von nichts und niemanden ne Ahnung hatte. Darf ich vorstellen, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.
 

„Oi, mach nicht so ein Gesicht.“ André nahm eine seiner Hände und drückte einen Kuss auf die Handinnenfläche. „Er wird’s dir schon noch irgendwann erzählen, mach dir da keine Sorgen. Und jetzt, endgültiger Themenwechsel. Willst du dort arbeiten?“
 

Er machte einen auf Dackelblick. Adam musste lachen. Es tat irgendwie einfach nur unheimlich gut, mit diesem Kerl zusammen zu sein. Er besaß eine simple Art, ihn aufzumuntern und ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln.
 

„Keine Ahnung, ich denk drüber nach. Wär sicher interessant.“
 

„Jep, allerdings. Sag einfach Bescheid, sobald du dich entschieden hast. Muse hat auch schon ein Loblied auf dich beim Chef gesungen, der nimmt dich bestimmt. Außerdem wärst du ein guter Kundenfang.“
 

„Danke, das nehm ich mal als Kompliment.“
 

„So ist es auch gemeint.“ André grinste, rutschte mit seinem Stuhl zu Adam und gab ihm einen intensiven Kuss. „Du bist einfach nur lecker. Ich würd dich ja am liebsten gleich auf der Stelle vernaschen, aber ich darf ja nicht.“
 

„Nein, darfst du wirklich nicht.“ Adam lachte, löste sich aber nicht von ihm. „Meine Jungfräulichkeit gehört jemand anderem.“
 

„Ts... na, das werden wir noch sehen, vielleicht bin ich doch überzeugender als Leon.“
 

Sie kabbelten sich fröhlich weiter, ohne eins der vorherigen Themen auch nur im Entferntesten nochmal anzuschneiden. Es herrschte eine gelöste Stimmung und Adam bereute es fast, dass er eine Nacht mit André nicht in Erwägung ziehen wollte. Er würde sanft, liebevoll sein, einfühlsam, zärtlich. Und trotzdem würde er Adams Hunger nach Berührungen stillen, da war er sich sicher. Wenn nur diese dämlichen Gewissensbisse nicht wären. Und diese Spinne Leon, die schon so gekonnt ihr Netz um Adam gesponnen hatte. Er fühlte sich fast wie ein Schmetterling, der sich in diesem Netz verfangen hatte. Er wusste nur noch nicht, ob er sich daraus wieder befreien könnte. Oder ob er es schaffen würde, die Spinne letztenendes doch noch zu bezirzen.
 

Schließlich trennten sie sich, als die Sonne bereits langsam unterging. André verabschiedete sich mit einem langen Kuss, ohne auch nur irgendwie auf Adams mögliche Proteste zu achten. Adam seufzte, sah ihm noch einen Moment nach und schlug dann die Richtung zu Leons Haus ein. Die Pflanzen wollten noch umsorgt werden.
 

Müde öffnete er die Tür und betrat die Eingangshalle. Der Tag hatte ihn ausgepowert, obwohl es eigentlich schön in Andrés Gegenwart gewesen war. Nur, mal wieder wirbelten so viele Fragen in seinem Kopf herum, auf die er keine Antwort hatte und auf die er vermutlich auch nie eine Antwort bekommen würde, dass er schon mit Kopfschmerzen kämpfen mussten. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn er Leon direkt alles fragen würde. Und am schmerzhaftesten. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen.
 

Mit etwas unsicheren Bewegungen drückte Adam den Lichtschalter und starrte den Zettel fast schon böse an, der auf der niedrigen Kommode direkt neben dem Kleiderständer lag. Freundlicherweise hatte ihm Leon nämlich aufgeschrieben, wo welche Pflanze stand und wie man sich um sie zu kümmern hatte. Kaum zu glauben, dass Leon sich tatsächlich so sehr um diese Dinger sorgte. Und noch weniger zu glauben, dass Adam den Mist sogar machte. Hätte er vorher gewusst, worauf er sich da einließ, hätte er es niemals angenommen. Leons Haus war groß, sehr, sehr groß, und somit waren die Möglichkeiten, um irgendwo irgendwelche Pflanzen aufzustellen, auch vielfältig, sehr, sehr vielfältig.
 

Seufzend hängte er seine Jacke an den Kleiderhaken, zog seine Schuhe aus, nahm den Zettel an sich und tapste dann hoch in Leons Zimmer. Eigentlich hatte er sich die ganzen Tage dort so wenig und kurz wie möglich aufgehalten, und das rächte sich jetzt. Vorsichtig ging er zum Fensterbrett und sah die Pflanze, die dort vor sich hin röchelte, zornig an. Er hatte ja nie behauptet, einen grünen Daumen zu haben, aber es sollte doch eigentlich nicht so einfach sein, eine gesunde, wohlgeformte Pflanze innerhalb weniger Tage so zu zurichten, oder? Wieso hatte er es trotzdem geschafft?
 

„Na, komm schon. Ich war doch immer gut zu dir, Mensch.“ Er tippte die bräunlichen Blätter dieses Etwases – er wusste nicht mal, was das für ein Blümchen war – leicht verzweifelt an. Hoffentlich war das nicht grad Leons Lieblingspflanze. So wie er ihn kannte, würde das nur Ärger bedeuten.
 

Mit einem Knurren und einem zornigen Blick auf sein Kummerkind ließ er sich aufs Bett fallen. Irgendwie war es trotzdem amüsant, dass Leon so ein Faible für Pflanzen hatte. Man traute ihm das nicht so recht zu. Adam rollte sich auf der Seite zusammen. Verdammt, er musste die ganze Zeit an ihn denken. Das Bett roch sogar noch nach ihm. Verdammt. Er wollte ihn hier haben, wollte ihn in den Arm nehmen. Wollte ihn einfach nur anschauen, bei ihm sein, mit ihm reden, mit ihm streiten. Verdammt. Verdammt. Verdammt! Er war grad mal eine Woche weg. Eine einzige Woche. Das sollte doch wohl auszuhalten sein, oder? Verdammte Scheiße.
 

Er rollte sich vom Bett und sah sich mit einem Seufzer um. Besser, er kümmerte sich mal um die Pflanzen. Umso schneller konnte er hier weg, hier, wo in jeder Ecke, in jedem Raum Leon lauerte, sein Geist, sein Geruch, einfach nur er. Wo Adam fast wahnsinnig vor Sehnsucht wurde. Wie sollte man bitte nicht an eine Person denken, wenn man sich tagtäglich in ihrem Haus aufhielt?
 

Mit leicht hängenden Schultern trottete er ins Wohnzimmer. Das Gute an diesem Haus war, dass er die Musik so laut er wollte aufdrehen konnte, ohne jemanden zu stören. Und da es hier nicht gerade klein war und sich nur im Wohnzimmer eine Stereoanlage befand, musste er zwangsweise die Lautstärke fast auf Maximum stellen. Vielleicht litt diese Pflanze ja an Hörschäden und ging deswegen ein. Man konnte ja nie wissen. Tja, selbst Schuld, wenn man nicht in jedes Zimmer eine Musikanlage stellte.
 

Adam knabberte an seiner Unterlippe, während er nach und nach die CDs durchging, die Leon in seinem Regal hatte. Sie trafen nicht wirklich so seinen Geschmack, und die, die ihm gefielen, hatte er schon in den letzten Tagen bis zum Erbrechen angehört. Resigniert seufzte er und warf einen Blick zu den Kassetten, die in einer Kiste direkt unter dem Regal lagen. Eigentlich hätte er ja nicht geglaubt, dass Leon so altmodisch war und immer noch Kassetten benutze, aber anscheinend konnte er sich nicht von ihnen trennen.
 

„Vielleicht ist ja da was gescheites dabei.“, meinte er leise zu sich selber, ließ sich auf den Boden nieder und kramte eine nach der anderen durch. Die meisten Sachen waren aus den 70ern und 80ern, Bands, von denen er zwar schon mal was gehört hatte, die er aber nicht wirklich kannte. Teilweise gab es auch klassische Stücke oder moderne Versionen davon. Nichts wirklich interessantes.
 

Er nahm gelangweilt eine weitere in die Hand, stutzte dann aber. Er las den Titel nochmal.
 

‚From Suo to Leon, with Love’
 

Suo? Wer war Suo?
 

Weiter stand nichts drauf, keine Band- oder Titelbezeichnungen, nichts. Aber die Hülle wirkte abgegriffen, als ob man sie häufig benutzt oder mit sich rumgeschleppt hätte. Auf der Vorderseite hatte sie einen kleinen Sprung und mehrere leichte Kratzer, fast schon normale Verschleißerscheinungen.
 

Neugierig stecke Adam sie in eines der Kassettendecks der Stereoanlage und schaltete es an. Es erklang zuerst ein Rauschen, und dann, erst leise, dann immer lauter, Pianomusik. Scheinbar spielte jemand auf dem Piano. Nach der Qualität der Aufnahme zu urteilen war es eine Live-Aufnahme von einem Amateur. Spielte der Pianist etwa extra für Leon? Und hatte er es etwa extra für ihn aufgenommen? War das Suo?
 

Adam strich sich nachdenklich über die Augen. War das dieser ominöse „er“, über den Sachiko und Leon geredet hatten? Oder, besser gesagt, über den Sachiko nicht hatte reden dürfen?
 

Er legte sich auf den Bauch, in der Hand die Kassettenhülle, und lauschte den sanften Pianotönen. Es wirkte wie das Tröpfeln des Regens an einem Frühlingsmorgen. Das war das erste Bild, das ihm bei diesen Tönen einfiel. Langsam baute sich vor ihm der helle, orange Schein der Morgensonne auf, der sich auf den nassen Blättern eines Baumes widerspiegelte. Der Regen fiel fast lautlos, wie das leise Rauschen eines Baches, auf den Asphalt. Ein Auto brauste vorbei, fuhr durch eine kleine Pfütze und ließ die Wassertropfen aufspritzen. Ein Vogel stimmte sein morgendliches Lied an, putze sich kurz die Federn und sah sich dann nach seinem Frühstück um.
 

Die nächste Melodie entfachte einen Sturm. Eine weite Grasebene, auf der ein einziger, großer Baum stand, der schon seit Ewigkeiten dort wuchs. Er ragte in den dunklen, finsteren Himmel hinauf, über den immer wieder Blitze zuckten. Der darauffolgende Donner erschütterte die Erde, ließ die Tiere vor Angst fiepen und kreischen. Die Äste des Baumes wurden zur Seite und nach hinten gebogen, lose Blätter wirbelten in einem wilden Tanz durch die Luft, Rinde löste sich von seinem Stamm, doch er brach nicht, er beugte sich nicht dem Sturm. Er hielt stand, aufrecht und stark.
 

Adam fühlte sich an Leons Bilder erinnert. Wie diese in jedem Betrachter ein bestimmtes Gefühl auslösten, schien jede dieser Melodien ein bestimmtes Bild, eine bestimme Vorstellung aufzurufen, ohne das er überhaupt die Augen schließen musste. Er strich mit einer Fingerspitze über die Beschriftung.
 

‚From Suo to Leon’
 

Leise seufzte er.
 

‚With Love’
 

Er könnte André fragen. Vielleicht würde er ja wissen, wer Suo war. Er könnte auch Sachiko fragen. Aber er wollte nicht. Er wollte es von Leon erfahren. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass er das lieber bleiben lassen sollte, es sei denn, er wollte ihn wütend machen. Noch mehr Fragen, die keine Antwort bekamen. So langsam aber sicher ging ihm das mächtig auf die Nerven.
 

Mit einem energischen Sprung kam er wieder auf die Beine, drehte die Musik lauter, legte die Hülle neben die Anlage und ging zu Leons Zimmer zurück. Es war Zeit, dass er sich um die Pflanzen kümmerte, sonst würde er noch die ganze Nacht hier verbringen. Sein Blick, als er eintrat, fiel auf die Fotorahmen, die neben dem Bett auf der Kommode standen. Er hatte ihnen bis jetzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Aber jetzt...
 

Er schüttelte den Kopf. Leon vertraute ihm, sonst hätte er ihm nicht so einfach den Schlüssel zu seinem Haus überlassen. Er vertraute ihm, dass er nicht in irgendwelchen Privatsachen rumkramte oder etwas in der Art. Auch wenn es Adam schon öfter mal in den Fingern gejuckt hatte, die Schubladen ein bisschen unter die Lupe zu nehmen, so hatte er sich doch immer zurückgehalten. Er wollte auf keinen Fall Leons Vertrauen missbrauchen. Nur, Fotos konnte man ja eigentlich anschauen, vor allem, wenn sie so offen da standen. Sie waren ja nicht so privat wie Schubladen und Schränke. Er trat näher an einen der Nachttische und ließ seinen Blick über die verschiedenen Bilderrahmen schweifen. Es waren nur vier Stück, auf der anderen Seite des Bettes fünf. Er erkannte auf einem Maria und Jefferson, das Paar aus der Kneipe, in der Leon und er nach dem Kinobesuch gewesen waren. Das Bild wurde anscheinend auch dort aufgenommen, jedoch schien es schon eine Zeit lang her zu sein, da Leons Haare dort noch um einiges kürzer waren, und er wesentlich jünger schien. Auf einem anderen befanden sich drei ihm völlig fremde Personen, die er noch nie gesehen hatte. Ein drittes war das Portrait von einem jungen Mann.
 

Adam sah es sich etwas genauer an und stutze. Hatte Sachiko einen Bruder? Vielleicht sogar einen Zwillingsbruder? Jedenfalls hätte es dieser junge Mann vom Aussehen her locker sein können. Die gleichen, schwarzen Haare, die gleichen Augen und Gesichtszüge. Man musste nur die Haarlänge etwas ändern und er hätte eine zweite Sachiko sein können.
 

Er betrachtete auch die anderen Fotos, doch keines von ihnen gab ihm einen wirklichen Anhaltspunkt. Vielleicht hatte Leon nicht mal Fotos von diesem ominösen Suo? Wenn er nicht mal wollte, dass Sachiko von ihm sprach. Wenn es denn tatsächlich die selbe Person sein sollte.
 

„Aaaaaaaaaaarg.“
 

Adam ließ sich wieder rücklings aufs Bett fallen und starrte an die Decke. So viele Fragen, keine einzige Antwort. Verdammt nochmal, langsam verlor er ernsthaft die Lust dazu. Wieso ließ er es nicht einfach darauf beruhen? Wer auch immer dieser Kerl aus Leons Vergangenheit war, er war Vergangenheit, er hatte für das Hier und Jetzt keine Bedeutung mehr. Er war nicht mehr wichtig. Vergessen, begraben, fertig, aus.
 

Oder vielleicht doch nicht?
 

Spukte er immer noch in Leons Hinterkopf herum?
 

Natürlich, sonst würde er nicht so stark auf seine Erwähnung reagieren.
 

Wie wichtig war er ihm aber? Welche Bedeutung hatte er? Wieso wurde Leon wütend, wenn man ihn erwähnte? Wieso sprach er nicht über ihn? Wieso, weshalb, warum, wozu?
 

Gott verdammte Scheiße auch.
 

Adam drehte sich zur Seite, einen Arm unter dem Kopf angewinkelt, und starrte auf einen leeren Punkt auf dem Boden. Einfach nicht dran denken. Einfach nur nicht dran denken. Warten, bis Leon wieder da war. Und bis er ihn wieder in den Arm nahm.
 

Er hätte es nie für möglich gehalten wie sehr ein Herz vor Unsicherheit und Sehnsucht schmerzen konnte.

Die warme Vormittagssonne fiel durch das Fensterglas, durch die Kälte der Luft ein wenig gedämpft und nebelig. Sie zauberte ein hübsches Muster auf den Küchentisch, als sie sich an einem der Trinkgläser brach. Es war still in der Küche, nur das Hacken des Messers auf dem Brett verursachte einen Laut, jedoch nicht störend, sondern fast schon idyllisch. Muse konzentrierte sich vollkommen darauf, den Salat und die Paprika in kleine, feine Stücke zu hacken, schob die fertigen Teile mit ruhigen Bewegungen in die bereit stehenden Schüsseln und nahm sich sofort das nächste Gemüsestück. Seine Gesten waren fließend, fast, als ob er das schon jahrelang machen würde. Die Konturen seines Profils, seines Gesichts, wenn er den Kopf ein wenig wendete, wurden von den Sonnenstrahlen umrahmt, die einen hellen Glanz auf sein blondes Haar zauberten. Er hatte die glatten Strähnen zu einem Pferdeschwanz gebunden, nur ab und zu lösten sich einige aus dem Bund und fielen ihm in die Stirn. Immer wieder strich er sie sich mit dem Unterarm nach hinten, ohne seinen Rhythmus zu ändern, doch sie ließen sich nicht bändigen. Seine braunen Augen blickten konzentriert auf seine Hände, seine schmalen, langen Finger, um keinen Fehler zu machen und sich zu schneiden, während er kritisch auf seiner Unterlippe nagte. Es wirkte fast so, als ob er eine komplizierte Operation durchführen und nicht nur ein bisschen Gemüse schneiden würde. Jedoch waren seine breiten Schultern unter dem schwarzen, eleganten Hemd entspannt.
 

Adam hatte seine Arme auf dem Tisch verschränkt, den Kopf drauf gelegt und musterte Muse mit einem halb zufriedenen, halb belustigten Grinsen. Mit den Fingerspitzen spielte er an seinem neuen Anhänger herum, der an seinem Handy baumelte und zwei Katzen darstellte, die Schulter an Schulter saßen und ihre Schwänze miteinander verschlungen hatten. Es war schrecklich kitschig und mädchenhaft, aber es war so richtig typisch Muse, dass er ihm sowas zum Geburtstag schenken würde. Und unheimlich, unheimlich goldig.
 

„Sicher, dass ich dir nicht helfen soll?“ Er wusste schon nicht mehr, wie oft er diese Frage in den letzten zwei Stunden gestellt hatte. Und die Antwort blieb immer die Selbe.
 

„Adam.“ Muse zog seinen Namen genervt in die Länge. „Du hast heute Geburtstag, du wirst heute keinen Finger rühren, außer beim Kuchen anschneiden. Und wenn du mir noch mal deine Hilfe anbieten solltest, jag ich dich aus der Küche, das schwör ich dir!“
 

Adam lachte leise auf. „Du weißt schon, dass die Küche nicht dir gehört?“
 

Sein Freund zeigte sich sichtlich unbeeindruckt und sah nicht mal von seiner Tätigkeit auf. „Du weißt schon, dass deine Eltern mir die Herrschaft darüber überlassen haben, solang sie nicht da sind? Also, bitte, keine Widerrede.“
 

Das Geburtstagskind musste über beide Backen hinweg grinsen. Anscheinend hatte es Muse sich zur Aufgabe gemacht, ihm diesen Tag so angenehm wie möglich zu gestalten. Vielleicht um ihn über die Erkenntnis hinweg zu trösten, dass er heute von Leon wohl nicht mal eine Nachricht, geschweige denn Glückwünsche bekommen würde. Seine Stimmung verdüsterte sich kurz. Ihm war erst am Abend zuvor siedend heiß eingefallen, dass er Leon nie seinen Geburtstag verraten hatte, dieser es also unmöglich wissen konnte. Dummerweise hatte er deswegen noch nicht mal ein Recht darauf, ihn für seine Abwesenheit zu verurteilen. Zu blöd, dabei hatte er die letzten zwei Wochen die ganze Zeit gehofft, sein geschätzter Künstler würde ihm zu Liebe einige Tage früher aus New York zurück kommen. So ein Mist aber auch!
 

Nun ja, zu seiner Aufmunterung hatten seine Eltern dann aber nicht nur beschlossen, ihm den Tag schulfrei zu geben, sondern diesen Beschluss auch noch auf Muse übertragen. So kam es, dass sie sich jetzt, um zehn Uhr morgens, in der Küche befanden und Muse fleißig dabei war, das festliche Mittagessen vorzubereiten. Da Adams Eltern noch arbeiten mussten und erst kurz vor Mittag kommen würden, hatte er sich freiwillig dazu bereit erklärt den Koch zu mimen. Und er machte es sogar richtig gut, so, als ob er langjährige Erfahrung im Haushalt hatte. Adam hätte ihn danach gefragt, denn Muse erzählte nicht sonderlich viel von sich und seinem Zuhause. Doch ihn interessierte etwas anderes viel, viel mehr. Und er hatte nur auf den heutigen Tag gewartet, um zu fragen. Heute, wo ihm Muse anscheinend keine einzige Bitte abschlagen würde.
 

Mit einem tiefen Einatmen streckte er die Arme nach hinten und bog den Rücken durch. Er wusste nicht so recht, wie er es ansprechen sollte, also wählte er die Methode, die er am Besten beherrschte: Einfach mit der Tür ins Haus fallen.
 

„Sag mal,“, er zog die beiden Wörter ein bisschen in die Länge, etwas, was er immer machte, wenn er eine problematische Thematik anschnitt, „willst du mir nicht mal von Philip erzählen?“
 

Er wusste, dass es fies war, aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass es nicht viel half, bei Muse Geduld zu üben und zu warten. Wenn man etwas von ihm wollte, musste man direkt danach fragen und ihn drängen, ansonsten konnte man bis zum Ergrauen warten.
 

Muse zuckte heftig zusammen und rutsche fast mit dem Messer ab, drehte sich dann langsam zu ihm um und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
 

„Ich hätte mich fast geschnitten.“ Es klang wie das Wimmern eines kleinen, getretenen Hundes.
 

„Ein fehlender Finger würde deiner Schönheit schon keinen Abbruch tun.“
 

Muse drehte sich wieder seinem Gemüse zu. Seine Kiefer verspannten sich und er knirschte leise mit den Zähnen.
 

„Muss das heute sein? Außerdem, woher kennst du eigentlich seinen Namen?“
 

„Hm... André weiß viel und André redet gern. Aber er wollte mir nichts genaues sagen. Meinte, dass wär deine Sache. Und so langsam hab ich ehrlich gesagt keine Lust mehr, der einzig Unwissende zu sein. Vor allem, da ich dachte, wir wären Freunde und könnten miteinander reden.“ Er hielt kurz inne. Seine Strategie, bei Muse Schuldgefühle hervorzurufen, schien aufzugehen. „Ich nöl dich doch auch dauernd mit Leon zu, wieso erzählst du mir also nicht auch was aus deiner Beziehung?“
 

„Sie ist nicht interessant. Nicht erzählenswert.“
 

Auf dieser Aussage befand sich ein fetter Stempelabdruck mit „Lüge“ drauf, und einen dementsprechenden Blick warf Adam auch Muse zu. Obwohl dieser mit dem Rücken zu ihm stand, konnte er an den verspannten Schultern genau ablesen, dass er diesen Blick spürte. Es bereitete Adam fast schon Genugtuung, den inneren Konflikt seines Freundes zu beobachten. Seine Gewissensbisse hielten sich in Grenzen. Für was gab es Freunde, wenn man sich nicht mal sowas Wichtiges erzählen konnte?
 

„Muss das heute sein? Ich erzähl dir ein ander Mal von ihm.“
 

„Nein, heute. Ein ander Mal findest du sonst noch irgendwelche anderen Ausreden. Und ich weiß genau, dass du mir zumindest heute keine Bitte abschlagen wirst. Nicht wahr?“
 

Mit einem Seufzer und einen verbissenen Gesichtsausdruck drehte Muse sich zu ihm um, verschränkte die Arme, das Messer immer noch in einer Hand, und starrte Adam vorwurfsvoll an.
 

„Du bist unfair.“
 

„Nein, ich nutze es nur aus, dass ich dich zumindest ein bisschen kenne.“
 

„Und genau DAS ist unfair.“
 

Adam lächelte väterlich. „Ich kann damit leben.“ Er deutete mit dem Kinn auf das Messer. „Das Essen kann noch warten. Setz dich. Ich denke, ich werde viele Fragen haben. Und ich möchte, dass du sie in Ruhe beantwortest.“
 

Langsam legte Muse das Messer neben das Brett, strich sich mit dem Handrücken ein paar Strähnen aus dem Gesicht und wusch sich sorgfältig die Hände. Zögernd zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich rittlings drauf, verschränkte die Arme auf der Lehne und legte sein Kinn auf die Unterarme. Es wirkte, als ob er die Fragen und Antworten hinauszögern wollte, doch Adam hatte Zeit, sehr viel Zeit. Und auch sehr viel Geduld. Vorrausgesetzt, er würde Antworten bekommen.
 

„Und was willst du wissen?“, fragte Muse mit einem unbehaglichen Blick.
 

„Alles. Wie heißt er, was macht er, wie alt ist er, wie habt ihr euch kennen gelernt?“
 

Was genau ist euer Problem? Aber mit diese Frage wollte er lieber noch ein bisschen warten.
 

„Mhm.“ Muse atmete einmal tief durch. Sein Blick wanderte ein wenig ziellos umher, bis es sich dann auf Adams Handyanhänger heftete. „Er heißt Philip, aber das weißt du ja schon. Philip Fitzgerald. Er arbeitet als kleiner Angestellter in irgendeiner Firma. Irgendwas mit Computern, keine Ahnung, was genau.“ Er seufzte leise. „Er ist 38. Wir haben uns im ‚Paradise Hill’ kennen gelernt. Vor fast zwei Jahren. Ich hab da schon ab und zu ausgeholfen gehabt, und eines abends war er da.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und warf einen forschenden Blick zu Adam. „Wir haben die Nacht zusammen verbracht, uns danach noch ein paar Mal getroffen und irgendwann... na ja, man könnte sagen, waren wir zusammen. So irgendwie.“
 

„Er ist alt.“ Adam starrte auf den Tisch. Er wartete auf das letzte Stück, das noch fehlte.
 

„Ja, kann sein. Er könnte mein Vater sein, ich weiß. Trotzdem.“ Seine Stimme wurde warm, weich. „Er ist unheimlich lieb. Zuvorkommend, freundlich, höflich. Und total süß. Manchmal ein bisschen tollpatschig und unbeholfen, aber ein wundervoller Mensch. Wirklich. Du würdest ihn mögen.“ Er lächelte leicht. „Er ähnelt deinem Vater. Ein bisschen zerstreut und so, aber irgendwie... keine Ahnung.“
 

Aufmerksam musterte Adam Muse’ Gesicht. Es war kaum zu übersehen, wie sehr er ihn liebte und wie gern Muse eigentlich über ihn sprach. Der Altersunterschied, die unterschiedliche soziale Stellung schien ihm gar nichts auszumachen. Ihm war nur wichtig, mit der Person zusammen zu sein, die er liebte. Alles andere war zweitrangig. Adam konnte ihn nur zu gut verstehen, ging es ihm da doch nicht viel anders.
 

„Wie sieht er aus?“
 

„Hm, er ist ein bisschen kleiner als ich. Aber größer als du.“ Muse legte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Kurze, hellbraune Haare, immer ein wenig verstrubbelt. Er schafft es irgendwie nicht, dass sie mal gekämmt aussehen.“ Er lächelte. „Und er hat braune Augen, haselnussbraun. Trägt eine Brille. Hat eigentlich ein Allerweltsgesicht, total unauffällig. Und irgendwie dann doch wieder nicht.“ Mit einem verträumten Lächeln stütze er sein Kinn in seine Handflächen. „Er ist wirklich, wirklich... keine Ahnung, ein toller Mensch. Durch und durch.“
 

Nachdenklich zog Adam seine Beine an sich und musterte Muse. „Ich würd ihn gerne kennen lernen.“
 

Das Lächeln seines Freundes wurde traurig. Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich hätte es auch gerne, dass du ihn kennen lernst, aber es geht nicht. Ich krieg ihn ja schon kaum zu sehen. Da nutz ich es wirklich aus, wenn wir mal alleine sind.“
 

„Wieso? Arbeitet er so viel?“ Adam zog eine Augenbraue hoch. Das konnte es doch wohl nicht sein, oder?
 

„Nein, tut er nicht. Nur...“ Er strich sich durch die Haare. „Er hat noch keinem erzählt, dass er homosexuell ist. Weder seiner Familie noch seinen Freunden oder Bekannten. Und...“, ganz kurz hielt er inne und warf Adam fast schon einen verzweifelten Blick zu, „er ist verheiratet. Er hat sogar eine kleine Tochter. Ein ganz süßes Mädchen.“ Seine Augen wieder auf den Boden gerichtet, biss er sich auf die Unterlippe. „Er will sich nicht von seiner Frau trennen. Weil er Angst hat. Vor dem Gerede der Leute. Und wegen seiner Kleinen. Deswegen... na ja, er muss es vor ihr geheim halten.“ Er lachte auf. Es war kein glückliches Lachen. „Sollte es seine Frau irgendwann zufällig rausbekommen, will er sich von ihr trennen. Aber, eben, wenn’s zufällig ist. Und er lässt es wirklich nicht auf einen Zufall ankommen.“
 

Bei den letzten Sätzen hatte er sehr schnell gesprochen. So, als ob er die unangenehme Wahrheit dadurch überspringen, ihr davon rennen könnte. Seine Stimme bebte leicht und seine Augen wirkten starr.
 

Adam schwieg. Dagegen waren seine Probleme mit Leon ja lächerlich gering. Und er hatte nichts besseres zu tun, als Muse Tag für Tag mit seinem Schwachsinn zu zu nölen. Wie fühlte es sich an, wenn der Geliebte rechtlich gesehen jemand anderem gehörte? Wenn man mit ihm nicht offen durch die Straßen spazieren konnte, wenn man sich nicht mal treffen konnte, ohne Angst zu haben, erwischt zu werden? Welche Gedanken gingen einem durch den Kopf, wenn man doch mal Zeit miteinander verbringen konnte? Welche Sorgen, wenn man die Nacht alleine verbrachte? So eine Beziehung war zerbrechlich, sehr zerbrechlich. Von heute auf morgen konnte einer von beiden entscheiden, dass er keine Lust mehr auf das Versteckspiel hatte. Von heute auf morgen konnte Philip beschließen, dass ihm das Risiko zu groß war. Von heute auf morgen konnte aus dem Geliebten eine völlig fremde Person werden.
 

Vorsichtig stand er auf und trat zu Muse. Mit sanften Bewegungen legte er seine Arme um seinen Kopf, drückte ihn gegen seinen Bauch und strich ihm durch die Haare. Er merkte, wie Muse sich versteifte und Anstalten machte, sich von ihm zu entfernen, doch dann ließ er seinen Kopf gegen ihn fallen, so, als ob er sich in sein Schicksal ergeben hätte. Das Schicksal, Trost bei seinem Freund zu finden.
 

Adam richtete seinen Blick aus dem Fenster, wo der Wind ein paar vereinzelte Schneeflocken durch die Luft wirbelte. Sie glitzerten im Sonnenlicht wie kleine Diamanten. Oder lautlose Tränen. Immer wieder strich er mit seinen Händen über die Haare, streichelte seinen Nacken, seine Schultern. Egal was er jetzt sagen würde, es wären nur leere Worte. Also schwieg er, hielt Muse fest, zeigte ihm, dass er nicht alleine war. Dass es jemanden gab, der für ihn da war, der ihn in den Arm nahm, ihm Trost spendete. Mehr konnte er nicht tun außer ihm ein Freund zu sein. Und das wollte er definitiv sein, so gut es ging.
 

Schließlich, nach einer langen Zeit, löste Muse sich von ihm. Bedrückt starrte er zu Boden.
 

„Es tut mir leid.“ Er schluckte schwer. „Ich wollte... ich wollte nicht... Ist immerhin dein Geburtstag.“
 

Adam ging vor ihm in die Hocke, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, und strich mit seinem Ärmel die letzten Tränenspuren von den Wangen seines Freundes. „Tränen stehen dir nicht. Und rote Augen auch nicht.“ Er legte den Kopf leicht schief. „Mach dir keine Gedanken. Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast. Und ich bin froh, wenn ich dir irgendwie helfen, dich irgendwie trösten kann. Ist doch egal, welcher Tag heute ist. Du bist immer mein Freund, jeden Tag, und wenn du weinen willst, dann tu es.“ Er strich ihm die Haare zurück. „Jeden Tag, jede Stunde. Ich werde da sein, wenn was ist. Versprochen!“
 

Muse starrte ihn einige Momente lang an. Dann, langsam, lächelte er. Sanft, aber freudig und erleichtert. „Danke.“
 

Mehr sagte er nicht, und mehr war auch nicht nötig. Den Rest wussten sie auch so, ohne es sich erzählen zu müssen.
 

„Ich sollte mit dem Essen weitermachen.“ Muse sah etwas orientierungslos zu dem Brett und dem ungeschnittenen Gemüse. Mit einem Seufzer fuhr er sich noch einmal übers Gesicht, ging zur Spüle und wusch sich kurz über die Augen. Dann drehte er sich zu Adam, der ein bisschen hilflos noch vor dem Stuhl stand. Er grinste schief. „Du darfst mir helfen.“
 

Adam sah ihn ein wenig verwirrt an, erwiderte aber dann das Grinsen und trat neben ihn. „Na dann, Maestro, wie soll ich das Messer schwingen?“
 

Muse lachte auf. „Möglichst so, dass du weder dir noch mir weh tust.“
 

„Aye, aye, Chef.“
 

Sie arbeiteten eine Zeit lang in einvernehmlichen Schweigen nebeneinander, nur von Muse’ Anweisungen unterbrochen. Es war in keinster Weise unangenehm, eher das Gegenteil. Adam spürte eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden, die bis dahin nicht da gewesen war. Muse hatte sich ihm gegenüber geöffnet, hatte sich verletzlich gezeigt und war nun bereit, mehr von sich und seinen Gefühlen preiszugeben. Im Gegenzug konnte Adam ihm helfen, ihm Trost spenden und sein Vertrauen, seine Verletzlichkeit aufnehmen, umsorgen und umhüten. Das Vertrauen, das er davor Muse gegenüber gezeigt hatte, bekam er jetzt zurück. Sie waren auf dem selben Level angekommen. Dem Level der uneingeschränkten, vorbehaltslosen Freundschaft.
 

Nach und nach fingen sie an, wieder über belanglose Dinge zu sprechen. Auch wenn Adam neugierig war, mehr über diese Beziehung, über Muse’ Gefühle zu erfahren, wollte er jetzt dieses Thema vorerst nicht ansprechen. Er hatte noch Zeit, genug Zeit. Und Muse würde Eingewöhnungszeit brauchen, bis er so einfach über alles reden konnte.
 

Die Zeit verging schließlich sehr schnell. Das letzte Mal, als er einen Geburtstag mit jemanden außer seinen Eltern verbracht hatte, war schon Ewigkeiten her, so dass er die gemeinsame Zeit in vollen Zügen genoss. Sie alberten köstlich herum, wobei seine Eltern den Kindern in nichts nachstanden, und verbrachten einen wunderbaren, nahezu perfekte Tag. Es war schon spät am Abend, als Muse ging.
 

„Bis morgen.“ Er küsste Adam wie üblich auf die Stirn, doch diesmal dauerte es für einige Augenblicke länger an.
 

Aus einen Impuls heraus nahm Adam ihn in den Arm. „Schön, dass du da warst.“
 

„Mhm. Immer wieder gern.“ Er lächelte, drückte ihn nochmal an sich und löste sich dann von ihm. „Schlaf gut.“
 

„Danke, du auch.“
 

Adam winkte noch kurz und sah ihm dann nach, bis er um die Ecke gebogen war. Mit einem Seufzer schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Der Tag war wunderschön gewesen. Jeder einzelne Augenblick, jeder Moment. Er bereute es nicht, gefragt zu haben. Er bereute gar nichts. So, wie es war, war es okay.
 

„Schatz?“ Seine Mutter beugte sich aus der Küchentür. „Dein Handy hat gerade geklingelt. Ne SMS.“
 

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Es gab eigentlich keinen mehr, der ihm simsen würde. André wusste nicht mal, dass heute sein Geburtstag war, und Leon... nun, Leon eigentlich auch nicht.
 

Als er die Nummer sah, blieb ihm halb das Herz stehen. Sollte Leon nicht noch in New York sein?
 

„Komm bitte zur Eisbahn im Park. Dort stehen Schlittschuhe für dich bereit. Leon.“
 

Das musste ein Traum sein, ein gottverdammter Traum. Das war schlicht und ergreifend unmöglich.
 

„Mom, ich geh nochmal weg. Bin bald zurück.“
 

Noch bevor seine Mutter etwas antworten konnte, hatte er sich die Schuhe angezogen, eine Jacke übergeworfen und war aus dem Haus gerannt. Draußen war es eiskalt, aber wenigstens schneite es nicht. Die Bäume wirkten wie dürre, schwarze Gestalten am Straßenrand, blattlos und kahl, doch die nackten Äste waren von weißem Frost überzogen. Es wirkte fast unwirklich, als er durch den komplett verlassenen Park lief. Wie ein Geisterwald. Oder der Wald aus einem Märchen. Aus einem Traum.
 

Außer Atem kam er bei der Eisbahn an. Tatsächlich, vor dem Türchen, das auf die Bahn führte, standen schwarze Schlittschuhe. Langsam, lautlos trat er näher, ohne die Augen von der Eisbahn selber wenden zu können.
 

Leon.
 

Er war da. Er war wirklich da. Es war kein Traum.
 

Mit fließenden Bewegungen glitt er über das Eis. Seine Haare und sein schwarzer, langer Mantel flatterten um ihn herum, doch er ließ sich davon nicht stören. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, bewegte er sich, als ob der gesamte Platz nur ihm gehören würde. Und er gehörte ihm, jedes Bisschen.
 

Eilig wechselte Adam die Schuhe. Leon bewies ein gutes Auge, die Schlittschuhe passten wie angegossen. Nun ja, was erwartete man anderes von einem Künstler, der Stunden damit verbrachte, andere zu beobachten?
 

Adams Herz schlug wie wild, als er vorsichtig auf das Eis raustrat. Eigentlich war es absolut verboten, sich um die Zeit hier aufzuhalten, doch hinderte es nicht daran, dass regelmäßig Jugendliche bei Nacht herkamen. Die Umzäunungen waren auch zu leicht zu umgehen. Und diese Tatsache hatte sich anscheinend auch Leon zu nutze gemacht.
 

Mit zittrigen Händen hielt Adam sich an der Bande fest und warf einen kurzen Blick auf sein Handy. Halb zwölf. Verdammt spät. Verdammt kalt. Verdammt schön. Vorsichtig glitt er auf das Eis hinaus. Inzwischen hatte Leon ihn bemerkt und war in der Mitte der Eisfläche stehen geblieben, wartete mit einem Lächeln auf den Lippen, bis er zu ihm kam. Einzig der Mond und eine einzelne Laterne beleuchteten die Gegend, so dass alles in dämmriges Licht getaucht war. Man konnte nicht weit sehen, man konnte selbst aus der Nähe nur schlecht Details von irgendetwas ausmachen, doch Adam war es egal. Er sah Leon. Verdammt, er sah ihn, er war echt, er war da. Nach verteufelten zwei Wochen war er wieder da!
 

Er atmete mehrmals tief durch. Auch wenn ihm sein Herz bis zum Hals schlug, auch wenn sein Innerstes Purzelbäume schlug, musste er, sollte er ruhig bleiben. Es würde nur lächerlich wirken, wenn er vor lauter Übermut auf die Schnauze fallen würde. Selbst wenn er sich am liebsten in Leons Arme geworfen hätte, ihn festgehalten und niemals losgelassen hätte. Er benahm sich wie ein verliebter Trottel, das wusste er nur zu gut, doch es war ihm egal. Er war ein verliebter Trottel, verdammt, und es war auch gut so!
 

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er schließlich, auf wackeligen Beinen, vor Leon stand. Er versuchte ein zittriges Lächeln.
 

„Hi.“
 

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ich bin so froh, dass du da bist. Ich hab dich vermisst. Ich wollte bei dir sein. So viel, was er hätte sagen können, aber es war besser, wenn er es bleiben ließ. Besser, wenn er schwieg. Und wenn er einfach nur den Augenblick genoss.
 

„Du brauchst wirklich mehr Übung auf dem Eis.“
 

Leon lächelte. Ein bezauberndes Lächeln, ein verführerisches Lächeln. Ein Lächeln, wie es Engel und Dämonen gleichermaßen besaßen.
 

„Jep.“ Einmal tief durchatmen. Nicht in Ohnmacht fallen. Sich nicht wie ein verliebtes, kleines Mädchen benehmen. Das sollte doch möglich sein, oder? „Ich dachte, du kommst erst morgen oder übermorgen.“
 

„Mhm.“ Leon nahm ihn an den Händen und zog ihn etwas näher an sich heran, so dass Adam nicht Gefahr lief, auf dem glatten Eis hinzuknallen. „Ich wollte doch deinen Geburtstag nicht verpassen. War zwar knapp, aber immerhin, ich hab es noch rechtzeitig geschafft. Und meine Anwesenheit ist auch das erste Geschenk.“ Er drückte ihm einen leichten Kuss auf den Mund. „Alles Gute zum Geburtstag.“
 

Adam fielen halb die Augen aus dem Kopf. War der Kerl allwissend?
 

„Wo... danke... aber... woher weißt du das?“
 

„Hm, weißt du noch, als du krank warst und ich deine Mutter angerufen habe? Ich musste deinen Rucksack nach deinem Handy durchsuchen, und da ist mir auch dein Ausweis in die Hände gefallen. Außerdem war in dem Kalender in eurem Flur ziemlich fett der Tag markiert. Sowas kann man schlecht übersehen.“
 

Für einige Augenblicke starrte Adam einfach nur auf seine Hände. Auf Leons Hände, die ihn festhielten. Der Kerl war tatsächlich allwissend. Dann runzelte er die Stirn und sah auf, direkt in Leons Augen. Verdammt, er hatte diesen Anblick vermisst. Egal, was André erzählte, egal, was Muse von ihm hielt, er hatte diesen Mann vermisst.
 

„Erstes Geschenk?“
 

„Jep.“ Leon deutete mit dem Kinn nach unten auf Adams Schuhe. „Wie ich sehe, sie passen. Du musst das Schlittschuhlaufen eindeutig noch trainieren. Und da dacht ich mir, solltest du auch das notwendige Werkzeug dafür haben.“ Er lächelte. „Ich werde natürlich als dein Lehrer fungieren. Versteht sich von selbst, nicht wahr?“
 

Adam errötete leicht. Das würde bedeuten, er würde mehr Zeit mit ihm verbringen. Mehr Zeit außerhalb der Zeichenstunden. Und er wusste nicht, ob es gut war. Zum aus der Haut fahren.
 

„Danke.“ Seine Stimme war leise. Das größte Geschenk war immer noch Leons Anwesenheit. Und die Tatsache, dass er sich anscheinend ziemlich bemüht hatte, pünktlich zurück zu sein.
 

„Ich bin noch nicht fertig.“ Leon ließ Adams Hände los und zog ein kleines, schwarzes Schmuckkästchen heraus. „Hier.“
 

Überrascht nahm Adam es entgegen. Schmuck? Vorsichtig öffnete er das Kästchen. Im Inneren, auf schwarzem Samt, befand sich ein goldenes Ohrringpaar in Form von kleinen Kreuzen. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen darüber. Das war doch... das konnte doch nicht sein, oder?
 

„Erinnerst du dich daran?“ Leons Stimme klang leise. Nur ein Hauch.
 

Adam nickte. Es kam ihm fast vor wie eine Ewigkeit, dieser warme Spätsommerabend, als er Leon das erste Mal getroffen hatte. Damals, als er so frech, so unsicher diese Ohrringe als Bezahlung verlangt hatte. Und er, Leon, erinnerte sich an diesen Abend anscheinend genauso sehr wie er selber. Wie oft hatte er diesen Tag verflucht gehabt, sich selber fast schon dafür gehasst, dass er damals nach draußen gegangen war. Wie wäre es gewesen, wenn er Leon damals nicht getroffen hätte? Hätte er sich mit Muse angefreundet? Hätte er André kennen gelernt? Vermutlich nicht. Vermutlich würde er immer noch von einem Tag in den anderen dümpeln, ohne sich um die Belange anderer Leute zu kümmern. Ohne zu spüren, dass er für andere Leute etwas empfinden konnte.
 

Langsam sah er von den beiden Schmuckstücken auf, zog vorsichtig seine momentanen Stecker raus und ließ sie in seine Jackentasche gleiten. Dann, wortlos, hielt er Leon die Schatulle hin und beugte seinen Kopf leicht zur Seite. Mit sanften, zärtlichen Bewegungen fädelte Leon ihm die Ohrringe ein. Es war fast wie ein Streicheln, eine Liebkosung. Nein, es war eine Liebkosung, nicht nur fast. Adam erzitterte leicht unter seiner Berührung und schloss genießerisch die Augen. Heute, jetzt, war alles erlaubt. Er fühlte sich gut, zufrieden. Zwar kannte er Leons Gefühle nicht, wusste nicht, was er ihm bedeutete, aber er war in seinem Bewusstsein, er war in seinen Gedanken, in seiner Erinnerung. Mehr wollte er im Moment gar nicht verlangen. Für jetzt, für den Augenblick genügte es vollkommen.
 

„Ist dir nicht kalt?“
 

Adam sah an sich herunter. Seine Jacke war ziemlich dünn, denn er hatte die erstbeste genommen, die ihm in die Hände gefallen war, als er das Haus verlassen hatte. Schal, Mütze und Handschuhe fehlten komplett. Aber ihm war nicht kalt, im Gegenteil. Eine innere Wärme durchströmte ihn, von Kopf bis Fuß. Ein Kribbeln, dass seinen ganzen Körper erfasste. Trotzdem nickte er.
 

Langsam knöpfte Leon seinen Mantel auf, zog Adam an sich und umhüllte ihn damit. Adam lehnte seinen Kopf gegen seine Schulter, umschlang Leons Rücken, krallte seine Hände in seinen Pullover. Er spürte den warmen Körper, die Muskeln, den Atem in seinem Haar. Er roch Leons Aftershave, den Zigarettenrauch. Leons Duft. Leons Wärme.
 

Irgendwo hörte er eine Kirchturmuhr schlagen. Es war Mitternacht. Sein Geburtstag war zu Ende.
 

Und er lag in den Armen der Person, die er liebte.
 

Es war ein perfekter Tag.

Adam seufzte. Etwas, was er schon den ganzen Tag machte, wie es ihm schien, aber zumindest hatte er auch allen Grund dazu. Es war noch nicht ganz Mittag und er hatte gerade seine Eltern verabschiedet, die wegen einer Reportage für zwei Wochen weg mussten. Mit einem genervten Knurren drehte er sich auf die Seite, zog die Decke über den Kopf und versuchte sich eine bequeme Kuhle in seinem Bett zu gestalten. Er konnte noch seine Mutter zetern hören, dass sie doch auf keinen Fall jetzt, gerade jetzt weg fahren konnten, obwohl sowohl sie wie auch sein Vater es verdient hatten. Zwar hatte dieser zweiwöchige Aufenthalt auch was mit ihrer Arbeit zu tun, aber sie würden definitiv so etwas wie Urlaub bekommen, was sie auch durch ihre Arbeit als Journalisten bitter nötig hatten. Das einzige Problem, oder, besser gesagt, der Grund, wieso seine Eltern eigentlich nicht fahren wollten, war der, dass Adam just am gestrigen Tag von der Grippe eingeholt worden war. Kopfschmerzen, Übelkeit, ein trockener, schmerzhafter Husten und ätzende Halsschmerzen machten ihm mächtig zu schaffen, nicht zu vergessen das leichte Fieber, das ihn schwächlich wie ein kleines Kind machte. Erst als er ihnen hoch und heilig versprochen hatte, dass er auf sich aufpassen und Muse ein oder zwei aufmerksame Augen auf ihn werfen würde, waren sie unzufrieden, aber ein bisschen besänftigt abgezogen. Wie er seine Mutter jedoch kannte, würde sie täglich mindestens fünf Mal anrufen, um sich wegen seinem Befinden zu erkundigen.
 

Jedoch war das nicht mal das, was ihn am meisten zum Seufzen brachte. Eine Grippe hatte er immer wieder mal, und es war ja auch nicht so, dass er nicht alleine auf sich aufpassen konnte. Er warf einen missmutigen Blick auf sein Handy. Gerade hatte er eine SMS an Leon geschickt, in der er das Treffen für heute abgesagt hatte. Abgesagt! Ein Treffen mit Leon! Und das, obwohl er ihn das letzte Mal vor vier Tagen zu ihrer wöchentlichen Modellstunden gesehen hatte. Und davor nur an seinem Geburtstag. Und davor ganze zwei Wochen gar nicht!!! Verdammt, er hatte ein mächtiges Leon-Defizit nachzuholen, und dann musste er dieses Treffen absagen! Dafür hätte er sich am liebsten in den Hintern gebissen, aber in seinem Zustand konnte er unmöglich weggehen. Und schon gar nicht sich Leon zeigen. Er ähnelte im Moment mehr einem halbtoten Zombie denn einem lebendigen, frischen jungen Hüpfer. Seine Gesichtsfarbe pendelte zwischen leichenblass und ungesundem Grau, die Haare standen in alle Richtungen ab, riefen die Vorstellung eines ungepflegten Igels herauf und hatten keinerlei Leben in sich, und seine Kleidung bestand nur aus einem fetten, alten Pullover, den er sich von seinem Vater geliehen hatte, und einer lockeren Jogginghose. Alles in allem sah er also, milde ausgedrückt, nicht sonderlich präsentabel aus, und seine Energien, sich für ein Date mit Leon herauszuputzen, hielten sich im Minusbereich auf. Mal davon abgesehen, dass einige Stunden auf der Schlittschuhbahn seiner Gesundheit auch nicht gerade zuträglich waren.
 

Er seufzte wieder. Verdammt nochmal, er hasste es krank zu sein. Jetzt noch mehr als sonst. Und wenn er Pech hatte, würde diese Grippe den Rest der Woche anhalten, das heißt, er würde auch die Modellstunden absagen müssen. Er wusste beim besten Willen nicht, ob er ein weiteres Mal so eine lange Zeit ohne Leon aushalten würde.
 

Mit einem weiteren Knurren drehte er sich auf den Rücken und starrte die Decke an. Okay, okay, er war total süchtig nach dem Kerl. Oder total verliebt. Auf Wolke Sieben eben. Vor allem seit seinem Geburtstag hatte er die gesamte Woche in anderen Sphären geschwebt, was für Muse ein guter Grund für liebevolle Sticheleien gewesen war. Die er, um ehrlich zu sein, auch wahrlich verdient hatte. Irgendwie bekam er es einfach nicht gebacken, sich wie ein ernsthafter, achtzehnjähriger Junge zu benehmen, nein, er musste das kleine, verliebte Mädchen mimen. Zumindest war er in dieser Rolle wirklich gut. Gut genug zumindest, dass er seine Umgebung bestens unterhielt, Leon aber trotzdem von seinem Gefühlen nichts merkte. Jedenfalls hatte er nicht das Gefühl, dass Leon irgendwas davon mitbekam. Er behandelte ihn wie immer. Nun ja, gut, was ihn wiederum auch ein wenig störte. Nachdem sich Leon solche Mühe gegeben hatte, an seinem Geburtstag anwesend zu sein, ihm dieses schöne Geschenk gemacht und ihn so liebevoll behandelt hatte, wäre es natürlich nicht sonderlich abwegig gewesen, wenn er ihn bei ihrem nächsten Wiedersehen auch irgendwie auf diese Weise behandelt hätte. Aber, nein, nichts. Absolut nichts. Es war wie immer gewesen, er hatte sich in irgendeine nette Position geworfen und Leon hatte gezeichnet. Ohne großes Federlesen, ohne irgendwelche Andeutungen, nicht mal eine Anmache oder sonst was. Noch nicht mal der Versuch, ihn zu küssen.
 

Es war deprimierend.
 

So verflucht deprimierend.
 

Das einzig Positive, was er in letzter Zeit erfahren hatte, war, dass er anscheinend durchaus in Leons Gedanken und Erinnerungen haften blieb. Und das war das Einzige, wirklich Einzige. Aber trotz dieser niederschlagenden Tatsache änderte seine Welt die rosarote Farbtötung nicht. Es war zum Mäuse melken. Wie konnte man nur so jämmerlich einer Person verfallen sein? Das war so unfair!
 

Er seufzte noch ein drittes Mal, drehte sich auf die andere Seite und kuschelte sich noch tiefer in seine Decke. Es brachte nichts, wenn er sich darüber den Kopf zerbrach. Das tat weder seinem emotionalen Gemütszustand noch seinen Kopfschmerzen gut, also ließ er es lieber gleich bleiben. Statt dessen freute er sich einfach drauf, wenn er wieder gesund war und Leon wieder sehen konnte. Und das, ohne befürchten zu müssen, dass dieser bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen würde.
 

Langsam driftete Adam in einen dämmrigen Schlaf ab. Er wusste nicht, wie lange er so vor sich hin gedöst hatte, ohne wirklich tief geschlafen zu haben, als plötzlich die Türklingel mit einer nervenaufreibenden Intensität in sein traumtrunkenes Bewusstsein drang. Es dauerte einige Augenblicke, bis er registrierte, was eigentlich vor sich ging, und sich dann langsam in seinem Bett aufrichtete und verwirrt auf seine Uhr starrte. Es war kurz nach ein Uhr. Könnte Muse sein. Oder der Postbote. Mit einem unzufriedenen Knurren schwang er seine Beine aus dem Bett und tapste unsicher nach unten in den Flur. Der Spiegel, der dort bei dem Kleiderständer hing, zeigte ihm ein Bild des Jammers. Er war weiß wie eine Wand, hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine Haare wirkten noch zerzauster und wirrer als eine Stunde vorher. Kurz kam ihm der Gedanke, dass er die nie wieder würde durchkämmen können, schob ihn dann aber resolut weg. So ein Schwachsinn, es war nicht das erste Mal, dass er krank war und so eine solche Mähne hatte. Bis jetzt hatte er es noch immer geschafft, sich in den Normalzustand zurück zu begeben.
 

Sich leicht am Hinterkopf kratzend öffnete er die Tür. Und hätte sie vor Schreck fast wieder zu geschlagen. Gott hasste ihn, eindeutig!
 

„Was machst du denn hier?“
 

Es hätte eigentlich ein empörter Aufschrei sein sollen, verkümmerte jedoch eher zu einem heiseren Krächzen. Leon ließ sich jedoch davon nicht stören, musterte ihn kurz von oben bis unten und stahl sich dann an Adam vorbei ins Haus, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
 

„Na, nach was sieht es denn aus? Ich statte dir einen Krankenbesuch ab.“ Er musterte ihn noch mal eingehender. „Du siehst, gelinde gesagt, beschissen aus.“
 

„Und du bist charmant wie eh und je.“ Adam warf die Tür mit einem lauten Knall zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Im Moment konnte er sich beim besten Willen nicht über die Anwesenheit seines Traummannes freuen.
 

„Ich bin nur ehrlich.“
 

„Dann lüg mal, ab und zu. Sag mir, dass ich wie das blühende Leben aussehe. Heiß, anziehend, unwiderstehlich. Dass ich beschissen aussehe, weiß ich nämlich selber am Besten. Wir haben genug Spiegel hier im Haus.“
 

Leons Lächeln wurde noch etwas breiter. Er trat zu Adam, hob sein Kinn mit seinen Fingerspitzen ein wenig an und brachte sein Mund nah an Adams.
 

„Du siehst wirklich heiß aus. Einfach unwiderstehlich und anziehend auf jeden, der dich sieht.“, hauchte er fast lautlos. Dann drückte er ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Wusste gar nicht, dass du so verdammt eitel bist.“
 

Eitel? Hallo? War das nicht normal, dass man für seinen Schwarm so gut wie möglich aussehen wollte? Und dass man nicht sonderlich drauf scharf war, wenn der ihn in dem denkbar erbärmlichsten Zustand sah? Aber solche Probleme hatte Leon vermutlich nicht, weil der erstens vermutlich keinen Schwarm hatte und zweitens wohl selbst todkrank noch frisch und blühend aus der Wäsche gucken würde. Aber es konnte ja nicht jeder so ein Übermann sein wie er.
 

Mürrisch stapfte Adam in die Küche und setzte Wasser auf, während Leon seine Sachen im Flur ablegte.
 

„Willst du Tee?“, krächzte er ein wenig schlecht gelaunt. Er hatte ihm doch nicht einfach aus Jux und Dollerei abgesagt, verdammt nochmal.
 

„Mhm. Gute Idee.“
 

Leon trat hinter ihn, legte die Finger auf seine Schultern und drehte ihn mit sanftem Druck in Richtung Tür.
 

„Wa... was machst du?“
 

„Dich aus der Küche befördern. Du bist krank, du gehörst ins Bett. Ich werde den Tee machen. Und die heiße Schokolade für dich.“
 

„Du kennst dich in der Küche doch gar nicht aus!“, versuchte Adam zu protestieren, aber da hatte ihn Leon schon aus dem Raum gescheucht.
 

„So schwer dürfte das gar nicht sein. In jedem guten Haushalt ist eine Küche nach einem ähnlichen, ordentlichen System aufgebaut. Und ich wette, deine Eltern führen einen guten Haushalt.“
 

„Ja, aber...“ Adam stotterte leicht. „Du weißt doch gar nicht, wo mein Zimmer ist.“
 

„Dürfte nicht so schwer zu finden sein. Euer Haus ist nun wirklich nicht so gigantisch groß.“ Leon lächelte ihn zuckersüß an. „Also, beweg deinen süßen Knackarsch jetzt nach oben und hör auf, mir zu widersprechen. Ich bin älter und sturer als du, ich werde definitiv meinen Willen durchgesetzt bekommen.“
 

Adam machte kurz den Mund auf, um etwas zu erwidern, klappte ihn dann aber resigniert wieder zu. Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Er würde keinen Disput mit ihm gewinnen, weil er ihn einfach anlächeln und jegliche Argumente ignorieren würde. Gott verdammt nochmal, wieso? Wieso musste das Leben nur so ungerecht sein? Und wieso musste gerade Leon es sich zur Aufgabe machen, die Krankenschwester zu spielen? Hätte er nicht in seinem Haus bleiben und irgendwelche gut aussehenden Leute malen können? Musste er gerade heute seine soziale Ader entdecken und hier vorbei schneien? Menno!
 

Seine Stimmung irgendwo unter den Nullpunkt fallend, stapfte er lautstark die Treppen nach oben zu seinem Zimmer und ließ sich mit einem lauten Krachen auf das Bett sinken. Gleich darauf legte er mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf die Stirn. Er sollte sich wirklich nicht zu rapide bewegen, das tat seinem Kopf gar nicht gut.
 

Er starrte einige Momente an die Zimmerdecke, bevor er langsam seinen Blick in seinem Zimmer schweifen ließ. Leon würde das allererste Mal in seinem Zimmer sein. Er schluckte. Es war das typische Zimmer eines Achtzehnjährigen. Auf dem Boden lagen einige Klamotten und CDs verstreut rum, in eine Ecke hatte er seinen Schulrucksack gepfeffert, aus dem die Schulbücher rausgerutscht waren, und an der Wand hingen irgendwelche billigen Poster von irgendwelchen Bands, die er mochte. Absolut gewöhnlich. Kein Vergleich zu Leons edel eingerichteter Kleinvilla. Er hatte ja noch nicht mal die Möglichkeit gehabt, hier Ordnung zu schaffen, verdammt!
 

Leise vor sich hinfluchend stand er auf, warf seine Kleider in den Schrank, richtete seine Tasche auf, stopfte die Bücher ordentlich hinein und baute seine CDs zu einem säuberlichen Stapel auf. Mürrisch sah Adam sich in seinem Zimmer um. Irgendwie wirkte es immer noch komplett unaufgeräumt, was wohl an seinem unordentlichen Bett und dem Schreibtisch, auf dem sich diverser Kleinkram stapelte, lag. Wer hatte jemals behauptet, er wäre in der Lage, Ordnung zu halten?
 

Er war immer noch damit beschäftigt, seine Unordnung verzweifelt anzustarren, so als ob sie sich dadurch von selbst in Luft auflösen würde, als die Tür leise aufschwang und Leon mit einem Tablett, auf dem sich Tassen befanden, eintrat. Er hob leicht überrascht die Augenbraue.
 

„Solltest du nicht eigentlich im Bett liegen?“
 

Mit einem erschrockenen Krächzen wirbelte Adam herum und warf ihm einen mörderischen Blick zu.
 

„Würdest du dich bitte nicht so anschleichen? Da kriegt man ja einen Herzinfarkt.“
 

„Ich hab mich nicht angeschlichen, sondern bin recht normal gegangen. Ist doch nicht meine Schuld, wenn du nicht auf deine Umgebung achtest.“
 

Mit einem kritischen Blick schob er einige Dinge auf dem Schreibtisch zur Seite und stellte das Tablett ab. Dann reichte er Adam seine Tasse mit der heißen Schokolade, zog sich den Drehstuhl zum Bett und setze sich drauf, ein Bein über das andere geschlagen. Adam ließ sich seufzend im Schneidersitz auf dem Bett nieder und umklammerte mit beiden Händen seine Tasse.
 

„Mein Kopf tut weh.“, murmelte er fast lautlos vor sich hin, den Blick auf einen Punkt auf der Matratze gerichtet.
 

Eigentlich war er mächtig glücklich, dass Leon sich anscheinend Sorgen um ihn machte. Und die Abwechslung vom tristen Im-Bett-liegen tat ihm auch ganz gut. Trotzdem hatte ihn dieser unvorbereitete Besuch ziemlich von den Socken gehauen und jetzt musste er sich erst mal wieder fangen. Erst dann würde er vielleicht seine Anwesenheit genießen können.
 

Leon sah ihn einen Moment lang an, setzte sich dann neben ihn aufs Bett, ein Bein leicht an den Körper gewinkelt, und zog ihn an sich. Mit kühlen Fingern strich er ihm über die Schläfen. Irgendwie fühlte Adam sich sofort einen Tick besser. Was so eine einzige Berührung nicht alles bewirken konnte.
 

„Wo sind eigentlich deine Eltern?“ Leons Stimme war leise, ein wenig gedämpft, so als ob er auf Adams momentane Empfindlichkeit Rücksicht nehmen würde.
 

„Die sind heute weg. Müssen für zwei Wochen zu einer Reportagereise. Meine Mutter wollte ja eigentlich nicht, nachdem ich krank geworden bin, aber da ich ihr versprochen habe, dass Muse auf mich aufpasst, haben sie nachgegeben.“
 

„Muse?“
 

Adam zog die Augenbrauen zusammen. Stimmt, er hatte Leon noch nie was von seinem Freund erzählt. Und wo er ihn grad erwähnt hatte, der dürfte ja auch bald vorbeigeschneit kommen. Er hatte ihn ja nach der Schule besuchen wollen.
 

Langsam stieg in ihm ein unangenehmes Gefühl hoch. Die Zwei würden unweigerlich aufeinander treffen. Und Muse konnte Leon nicht leiden. Im Klartext, es könnte eine interessante Begegnung der dritten Art werden. Theoretisch hatte er ja eigentlich nichts dagegen, nur momentan fühlte er sich nicht in der Verfassung, mit interessanten Begegnungen der dritten Art zurecht zu kommen.
 

„Mein... bester Freund. Geht in meine Parallelklasse und so. Dachte, ich hätte dir von ihm erzählt.“ Er überlegte kurz. „Der, mit dem ich meinen dritten Kuss hatte. Ist auch schwul und arbeitet mit mir im ‚Paradise Hill’.“
 

Leon schwieg. Vorsichtig hob Adam seinen Blick und schaute direkt in Leons absolut fassungsloses Gesicht.
 

„Du arbeitest im ‚Paradise’?“ Leon blinzelte kurz. „Und deine Eltern lassen dich in der Obhut eines schwulen Grünschnabels? Sind die denn wahnsinnig? Wie soll denn ein kleines Bürschchen wie der auf dich aufpassen?“ Er schwieg einen Moment. „Was zum Teufel hast du im ‚Paradise’ verloren?“
 

Ui, das hörte sich gar nicht gut an. Leon war anscheinend, milde gesagt, nicht sonderlich begeistert. Mit einem unerfreuten Gesichtsausdruck ließ sich Adam nach unten gleiten und legte seinen Kopf auf Leons Oberschenkel, während er seine Tasse auf dem Boden abstellte.
 

„Muse ist vertrauenswürdig. Der kann gut auf mich aufpassen. Mal davon abgesehen bin ich kein kleines Kind mehr. Ich brauch kein Kindermädchen.“ Er schluckte kurz. Sein Hals tat immer noch weh. „Und ich arbeite im ‚Paradise Hill’, weil man mich gefragt hat. So kann ich mir ein bisschen was nebenbei verdienen. Wobei letzten Samstag auch das erste Mal war. Aber die Arbeit ist in Ordnung, die Leute sind nett und so, es gibt also keinen Grund, wieso du das so abzuwerten brauchst.“
 

Er wollte ihm nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er durchaus von Leons früheren Besuchen in der Disco wusste. Und dass er mit André befreundet war. Es reichte schon, dass dem Künstler seine Arbeit dort nicht gefiel, was ihn jedoch nicht daran hindern würde, weiterhin dort tätig zu sein. Hey, er konnte schließlich nicht sein gesamtes Leben nach Leon ausrichten!
 

Leon gab einen abfälligen Laut von sich. „Ich halt nichts davon, wenn du hier krank bist und nur dein Freund auf dich aufpasst, der wohl auch nicht rund um die Uhr da sein kann.“ Er hielt kurz inne. „Du ziehst die zwei Wochen zu mir. Dann kann ich ein Auge auf dich haben und du entlastest diesen Muse.“
 

Adam blieb für einen Moment der Atem stehen. Er sollte zu Leon ziehen? Für zwei Wochen? Hallo, verdammte scheiße auch, hatte der Kerl eigentlich auch vor, ihn zu fragen? Vielleicht, nur ganz vielleicht war es ihm ja nicht so recht wie Leon es sich ausmalte?
 

Wie von einer Feder losgelassen schnellte er auf und drehte sich zu ihm um.
 

“Sag mal, würdest du mal aufhören, so über mein Leben zu bestimmen? Vielleicht will ich gar nicht zu dir ziehen, schon mal daran gedacht?“
 

„Wär aber besser für dich.“
 

„Das wär gar nicht besser für mich, weil ich dich und deine arrogante Art rund um die Uhr ertragen müsste.“
 

„Na, na, ich bin auch nicht dauernd da. Und irgendwann schlaf ich auch, da hab ich keine Zeit, arrogant zu sein.“
 

Adam blieb die Luft weg und gingen die Argumente aus. Er konnte nur Leon völlig fassungslos anstarren, während dieser in aller Seelenruhe an seinem Tee nippte und ihn unschuldig anschaute. Gerade als er dazu ansetze, weitere empörte Kommentare von sich zu lassen, klingelte es erneut. Ruckartig drehte er seinen Kopf zur Tür. Muse! Seine Rettung! Hoffte er zumindest inständig.
 

Leon sah ihn fragend an.
 

„Wer ist denn das?“
 

„Muse. Ich hab doch gesagt, dass er nach mir schauen will.“
 

„Hm. Dann lern ich diesen tollen Freund ja auch gleich kennen.“
 

Er erhob sich bereits, um nach unten zu gehen und die Tür zu öffnen, doch da war Adam schon aufgesprungen und ins Erdgeschoss gerannt. Wenn sich Muse und Leon das erste Mal sahen, musste er unbedingt, unbedingt dabei sein, weswegen er es auch nicht zulassen konnte, dass Leon die Tür öffnete und somit Muse in seiner Abwesenheit traf.
 

Mit einer schnellen Bewegung riss er die Eingangstür auf und zerrte Muse förmlich ins Haus, der noch nicht mal Zeit hatte, „Hi!“ zu sagen.
 

„Leon ist hier,“, zischte Adam nur leise, „und er will, dass ich für die nächsten zwei Wochen zu ihm ziehe.“
 

Muse sah ihn etwas verdattert an und legte dann seine Hände auf Adams Schultern, damit der sich beruhigte und nicht wie ein wildes Huhn rumhibbelte.
 

„Jetzt beruhig dich erst mal. Bei deinem Gekrächze versteh ich ja kein Wort.“
 

„Ich krächze nicht.“, krächzte Adam leicht empört.
 

„Meinetwegen. Also, was ist?“
 

Adam atmete einmal tief ein. „Leon ist hier und er will, dass ich die zwei Wochen, die meine Eltern nicht da sind, zu ihm ziehe.“
 

„Aha.“ Muse zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Und wo ist das Problem?“
 

„Wo das Problem ist? WO DAS PROBLEM IST?“ Er sah seinen Freund entgeistert an. „Hallo, ich spreche hier von Leon. Wie zum Teufel soll ich bitte zwei Wochen mit ihm unter einem Dach aushalten ohne wahnsinnig zu werden?“
 

„Ehm.“ Muse verschränkte die Arme vor der Brust und starrte überlegend an die Decke. „Du bist doch in ihn verliebt, oder?“
 

„Ja.“ Adam sah ihn verwirrt an. „Das weißt du doch.“
 

„Das heißt, du wünscht dir nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein?“
 

„Ja, aber...“
 

„Und du würdest dann, vorrausgesetzt, ihr würdet auch mal zusammen kommen, doch auch mit ihm zusammen wohnen wollen, oder?“
 

Adam verzog nur schmollend den Mund. So langsam wusste er, worauf sein Freund hinaus wollte.
 

„Im Klartext, dir bietet sich nicht nur die Gelegenheit, verdammt viel Zeit mit ihm zu verbringen, sondern auch gleich mal zu testen, ob, rein theoretisch gesehen, ein längeres Zusammenleben von euch beiden möglich wäre. Seh es also positiv, ist doch eine einmalige Chance.“
 

„Kannst du mir nicht einfach Recht geben und genauso empört und schockiert sein wie ich?“
 

„Willst du, dass ich schleime, oder dass ich ehrlich bin?“
 

„Wie wär’s mit schleimen? Für heute hab ich schon genug ehrliche Antworten gehört.“
 

Muse gab ihm einen leichten Schnippser gegen die Stirn. „Na komm, für mich zu deinem Traumprinzen. Vielleicht schaff ich es dann ja auch, ihn zu mögen.“
 

Mit einen leisen Grummeln tapste Adam voran. Es war ja an sich wirklich keine schlechte Sache, zu Leon zu ziehen, vor allem, da er dann nicht dauernd vor Sehnsucht nach ihm vergehen würde, aber Muse hätte doch wenigstens kurzzeitig so tun können, als ob er mit ihm leiden würde. Er atmete tief ein. Nun ja, jetzt stand erst mal das erste Treffen bevor. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Bauchgegend aus. Das konnte doch nur in einer Katastrophe enden.
 

Leon hatte es sich inzwischen auf dem Bett bequem gemacht, sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und die Fußknöchel übereinander verkreuzt. In den Händen hielt er seine Teetasse und nippte immer wieder daran. Er blätterte gerade in einem der Schulbücher, als die beiden eintraten.
 

Adam schickte innerlich ein Stoßgebet an den Himmel.
 

“Also, das ist Muse. Muse, das ist Leon.“
 

Es war faszinierend. Die beiden musterten sich einige Augenblicke, und schlagartig stand der ganze Raum in Flammen. Man konnte die Blitze, die von einem zum anderen zuckten, förmlich sehen. Adam hätte laut aufgelacht, wenn es nicht so deprimierend gewesen wäre. Zwischen den beiden herrschte anscheinend Abneigung auf den ersten Blick.
 

„So, du bist also Leon. Hab schon viel von dir gehört.“ Muse setze sich auf den Drehstuhl, überschlug die Beine, verschränkte die Arme und starrte Leon an.
 

„Und du also Muse. Tja, bis vor einigen Minuten hab ich noch nie was von dir gehört, tut mir ja wirklich Leid.“ Leon setze sich etwas entspannter hin, zeigte eine Miene der absoluten Arroganz und lächelte Muse zuckersüß zu.
 

„Ich bin halt kein so interessantes Gesprächsthema.“
 

„Wenigstens besitzt du eine gesunde Selbsteinschätzung.“
 

„Nun, stimmt. Zumindest besser als deine ungesunde Überheblichkeit.“
 

„Das nennt sich Arroganz, mein Lieber, Arroganz. Das ist was komplett anders.“
 

„Aha, und was bitte?“
 

„Arroganz bedeutet nur, dass ich durchaus weiß, wie gut ich bin. Überheblichkeit wäre, wenn ich denken würde, ich wäre gut, ohne es zu sein.“
 

„Das ist ja zum Kotzen, diese Einstellung.“
 

„Ja, ich find es auch sehr schade, dass die Leute das immer wieder verwechseln. Damit kriegen die ein absolut falsches Bild von mir.“
 

„Und das richtige Bild ist das eines liebenswerten, unschuldigen Bürschchens?“
 

„Nein, das eines arroganten, selbstbewussten und äußert liebenswerten Mannes.“
 

„Sprichst du von dir? Hab nicht sonderlich das Gefühl, dass du liebenswert bist.“
 

„Du kennst mich nur noch nicht, Bübchen. Lern mich erst mal kennen und urteile dann.“
 

„Danke, ich verzichte. Ich verschwende meine Zeit lieber mit anderen, wichtigeren Dingen.“
 

Adam sah immer wieder von einem zum anderen und kam sich dabei wie bei einem Pingpongspiel vor. Beide hatten seine Anwesenheit anscheinend völlig vergessen. Er dachte für einige Augenblicke ernsthaft daran, einfach aus dem Raum zu gehen, sich ins Wohnzimmer zu setzen, den Fernseher anzuschmeißen und die beiden einfach mal machen zu lassen. Nur fürchtete er, dass es dann irgendwann Tote geben würde, wenn er nicht den Puffer mimte. Er seufzte. Der Tag konnte ja nur noch besser werden.
 

„Eh, Jungs?“ Unisono drehten die Zwei ihre Köpfte ruckartig zu ihm. „Ich bin auch noch da. Und wenn ich mich recht erinnere, seit ihr auch wegen mir gekommen und nicht um euch die Schädel einzuschlagen.“
 

„Wir schlagen uns nicht die Schädel ein.“ Leon lächelte ihm freundlich zu.
 

„Nein, wir diskutieren.“, fügte Muse unschuldig hinzu.
 

„Beziehungsweise, versuchen den anderen besser kennen zu lernen.“, ergänzte der Künstler.
 

Adam starrte sie mit einem höchst begeisterten Gesichtsausdruck an. „Wie auch immer, eure Diskussion oder Annäherungsversuche oder wie ihr es auch immer nennen wollt, bereiten mir Kopfschmerzen.“ Er setzte sich aufs Bett, jedoch in einem gewissen Abstand zu Leon. „Würdet ihr also bitte damit aufhören?“
 

„Soll ich dir eine Kopfschmerztablette holen?“ Muse lehnte sich etwas nach vorne, so als ob er gleich aufstehen würde.
 

„Ich denke, es genügt, wenn er seine Schokolade trinkt.“, erwiderte Leon, einen kritischen Blick zu Muse werfend. „Zu viele Medikamente schaden nur.“
 

„Eine einzige Tablette kann man ja wohl nicht zuviel nennen.“
 

„Und ob. Besser man versucht es zuerst auf natürliche Weise, dann kann man ihn immer noch mit künstlichem Zeug voll pumpen.“
 

Adam warf von einem zum anderen einen genervten Blick. Unweigerlich stieg in ihm das Bild von einer Glucke auf, die ihr Küken vor einem Gockel mit aufgestelltem Hahnenkamm schützen wollte, wobei in diesem Fall Muse die Glucke und Leon den Gockel darstellte. Er wartete nur darauf, bis ein lautes ‚Gong’ ertönte und Glucke wie auch Gockel aufeinander losgehen würden. Wobei, wenn er es recht überlegte, passte dieses Bild nicht so wirklich. Zwei Stiere oder Kängurus mit Boxhandschuhen trafen es schon eher.
 

„Jungs.“
 

Er zog das Wort in die Länge und sofort hatte er auch die Aufmerksamkeit beider Streithähne. Und, kaum zu glauben, sowohl bei Muse wie auch bei Leon erschien ein schuldbewusster Ausdruck auf ihren Gesichtern. Zumindest waren sie sich dessen bewusst, wie nervtötend ihre Auseinandersetzungen waren.
 

„Uhm, ich geh mal und hol mir was zu trinken.“ Muse warf Leon einen feindseligen Blick zu. „Willst du auch was, Adam?“
 

„Ne, passt schon. Hab ja noch meine heiße Schokolade.“
 

„Hm, okay. Bin gleich wieder da.“
 

Er verließ das Zimmer und sofort zog Leon Adam zu sich.
 

„Und DEN küsst du?“
 

Adam seufzte. „Würdest bitte nicht so negativ über ihn reden?“
 

„Er sieht nicht mal gut aus.“
 

“Doch, tut er. Er gefällt mir sehr gut.“
 

Leon ließ ihn los, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Du hast keinen Geschmack, eindeutig. Außerdem ist der Kerl doch absolut labil. Wie kannst du dich mit sowas anfreunden?“
 

„Was heißt hier bitte labil? Wie kommst du denn auf den Schwachsinn?“
 

„Man sieht’s ihm an. Ich wette, wenn sein Freund ihn verlässt, stürzt er sich von irgendeinem Haus vor Liebeskummer. Hat der überhaupt einen Freund?“
 

„Ja, hat er. Und Muse hat bestimmt keine Suizidgedanken. Im Gegenteil, er ist verdammt stark.“
 

Leon warf ihm einen mächtig skeptischen Blick zu, schwieg aber.
 

„Also.“ Adam drehte sich resolut zu ihm. „Würdest du bitte damit aufhören, schlecht über ihn zu reden?“
 

„Wieso? Über mich spricht er bestimmt auch nicht besser. Außerdem sag ich nur, was ich denke.“
 

„Behalt es für dich. In diesem Fall interessiert es mich nicht, was du denkst. Er ist mein bester Freund, und ich hab ihn sehr, sehr gerne. Er hat immer ein offenes Ohr für mich und hilft mir, wo immer es geht.“
 

„Solche Leute gibt es wie Sand am Meer. Du findest sicher jemand besseren.“
 

„Weißt du was? Du benimmst dich wie ein kleines Kind, dem man das falsche Geschenk gekauft hat.“
 

Leon sah ihn ziemlich verdattert an. „Wie bitte?“
 

„Du hast schon richtig verstanden. Du benimmst dich wie ein kleines Kind. Dabei dachte ich, du wärst ein erwachsener Mann. Zumindest hatte ich bis jetzt diesen Eindruck. Hab ich mich wirklich so getäuscht?“
 

Dem Künstler blieb keine Zeit, darauf zu antworten, da in diesem Moment Muse mit einem Glas Cola in der Hand zurück kam. Adam lächelte zuckersüß von einem zum anderen.
 

„So, Jungs. Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch beide aus diesem Haus schmeiße, seid bitte so freundlich und hört mit euren dämlichen Kabbeleien auf. Meinetwegen verabredet euch und macht dann da weiter, aber bitte nicht in meiner Anwesenheit, okay?“
 

Muse und Leon tauschten einen feindseligen Blick aus, nickten dann aber.
 

„So ist es brav.“ Adam setze sich etwas bequemer hin und drapierte seine Decke um seine Schultern. „So, und was machen wir drei jetzt? Da ihr ja alle so verflucht besorgt um mich wart, will ich euch ja ungern nach Hause schicken.“
 

Es kehrte betretenes Schweigen ein. Allen dreien war ziemlich klar, dass man kaum etwas vernünftiges sprechen oder machen konnte, wenn sich Leon und Muse im selben Raum aufhielten. Anscheinend verströmten beide seltsame Hormone, die den jeweils anderen allergisch reagieren ließ. Rosige Aussichten, wirklich.
 

„Gut, ich geh dann.“ Muse stand auf. „Ich wollte ja eigentlich nur nach dir schauen, aber da ja Leon da ist...“ Bei Leons Namen knurrte er ein wenig. „Und wenn du die nächsten Wochen dann zu ihm ziehst, bist du ja in guten Händen.“
 

„Ich hab nicht gesagt, dass ich zu ihm ziehe.“, fauchte Adam leise.
 

“Das wär aber besser.“
 

Überrascht sahen sich Muse und Leon an, nachdem sie diesen Satz fast zeitgleich gesagt hatten. Adam hätte fast laut losgeprustet, wenn sein Hals nicht so geschmerzt hätte. Es gab noch Hoffnung, zumindest in diesem einen Punkt waren sie sich einig. Halleluja!
 

„Ich geh dann mal. Brauchst mich nicht nach unten zu begleiten, bist ja eh schon fertig genug.“ Muse trat zu Adam und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Werde schnell wieder gesund. Und schreib mir, wenn wir uns dann mal wieder sehen können.“
 

Adam sah ihm wie ein getretener Hund nach, als er den Raum verließ. Verdammt, wie konnte er ihn einfach so Leon unterschieben? Das war nicht fair!
 

„Zumindest in diesem Punkt scheint er ganz vernünftig zu sein. Hör auf ihn.“ Leon warf Adam einen kritischen Blick zu. „Auch wenn ich es etwas seltsam finde, dass er dich zum Abschied auf die Stirn küsst. Will er sein Schwulsein unbedingt so raushängen lassen?“
 

„Mir gefällt es, also hör auf dich zu beschweren. Er küsst ja nicht dich.“
 

“Na, wär ja noch schöner.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf und sah Adam abwartend an. „Also los, pack deine Sachen. Sonst kommen wir hier nie weg.“
 

„Ich habe noch nicht zugestimmt, zu dir zu ziehen.“
 

„Noch nicht, aber letztenendes wirst du es tun. Wär es also nicht viel bequemer, wenn wir die ganze Prozedur ein bisschen abkürzen?“ Leon verzog seine Lippen zu einem süffisanten Lächeln. „Und vergiss bitte nicht, deinen Eltern Bescheid zu sagen. Sonst machen sie sich nur unnötig Sorgen.“
 

„Du bist wirklich...“
 

„Ein sturer, arroganter Bastard, der alles so macht, wie es ihm grad in den Kram passt? Jep, muss ich dir voll und ganz zustimmen.“ Er zog Adam auf die Beine. „Los, mach schon. Wir brauchen es ja nicht unnötig in die Länge ziehen, oder?“
 

Der Junge seufzte. Es brachte wirklich nichts, mit dem Kerl zu diskutieren. Und bevor er seinen schmerzenden Kopf noch mehr überanstrengte, gab er lieber nach. Wortlos tapste er zum Telefon, rief kurz seine Mutter an und sagte ihr, wo er sich die nächste Zeit aufhalten würde – was sie höchst erfreut aufnahm -, schlurfte dann wieder in sein Zimmer zurück und packte einige Klamotten in eine Sporttasche, die er immer in seinem Schrank aufbewahrte. Leon hatte es sich währenddessen auf dem Stuhl bequem gemacht, nippte an seinem Tee und schaute ihm zu. Schließlich stand er auf.
 

“Fertig?“
 

Adam nickte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er grad einen großen Fehler begann. Zwei Wochen in Leons direkter Anwesenheit, wie sollte er denn bitte das aushalten?
 

„Gut, dann lass uns gehen.“
 

Leon nahm ihm die Tasche aus der Hand und tänzelte fröhlich die Treppen runter, während Adam ihm etwas langsamer und missmutiger folgte. Er sah immer noch aus wie durchgekaut und wieder ausgespuckt, und in dem Zustand sollte er sich draußen zeigen lassen? Es gab angenehmere Dinge, die er jetzt machen wollte. Sich zum Beispiel in sein Bett schmeißen, die Decke über den Kopf ziehen und die nächsten Tage nicht mehr wieder dort rauskommen. Aber diverse Leute gaben ihm ja nicht die Möglichkeit dazu.
 

Immer noch verstimmt zog er sich an, packte sich in eine dicke Jacke und einen fetten Schal und verließ hinter Leon das Haus. Mit langsamen Bewegungen sperrte er die Tür ab und starrte sie dann einen langen Moment an. Er bereute diese Entscheidung jetzt schon. Er wusste nur noch nicht genau, warum.

Es war bereits Abend, als Adam aufwachte. Er fühlte sich komplett zerschlagen und in keinster Weise ausgeruht, doch er hatte wohl langsam aber sicher sein Schlafpensum ausgeschöpft. Müde warf er einen Blick auf sein Handy, das neben ihm auf einem Nachttischchen lag. Kurz vor Acht. Am nächsten Tag, wohlgemerkt. Nachdem er bei Leon angekommen war, hatte dieser ihm sein Zimmer gezeigt, ihm einen Tee gemacht und ihn dann ins Bett verfrachtet. Adam hatte seinen Tee noch nicht mal ganz ausgetrunken, da war er schon innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen und, ja, jetzt erst wieder aufgewacht. Zumindest schien er ein bisschen gesünder zu sein. Sein Hals schmerzte nicht mehr so sehr, und das Fieber war, nach der ersten Bestandaufnahme zu urteilen, komplett verschwunden.
 

Gemächlich drehte er sich auf die Seite und sah sich im Zimmer um. Wie ihm Leon erklärt hatte, gehörte es zu den Gästezimmern und war dementsprechend auch nicht so edel eingerichtet wie Leons Schlafzimmer. Hatte er zumindest behauptet. Die feinen, dunkelblauen Vorhänge, der hellgraue Teppich und die eleganten, cremefarbenen Möbel widersprachen dem jedoch. Genauso wie die Kristallfigurinen, die auf den Regalen standen, der im Gegensatz zur Wohnzimmerausgabe kleine Flachbildfernseher und die Minibar mit der gläsernen Front, die sich in einer Ecke befand und zum Knabbern einlud. Den Gästen würde es hier jedenfalls an nichts fehlen. Von wegen, nicht luxuriös. Es wirkte wie ein Fünf-Sterne-Hotelzimmer.
 

Fast in Zeitlupe drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. So langsam tat ihm sein ganzer Körper von dem langen Liegen weh. Ein bisschen Bewegung würde nicht schaden. Aber dafür musste er erst mal aufstehen. Und das benötigte wirklich seine gesamte Überwindung.
 

Einen Fuß nach dem anderen stellte er auf den warmen, weichen Teppich und richtete sich in Frankenstein-Manier auf. Er trug immer noch die Klamotten von gestern, zusätzlich noch eine Kompresse um den Hals, die scheinbar mit Alkohol getränkt war und von Leon stammen musste. Leicht angewidert schnüffelte er. Interessante Heilungsmaßnahmen, die der Herr da hatte. Ein wenig schwankend verließ er den Raum. Irgendwo hörte er Musik, und da es vermutlich der Ort war, wo sein heißgeliebter Gastgeber sich aufhielt, tapste er dort hin. Es war das Wohnzimmer.
 

Leon saß auf der Couch, hatte die Beine auf einen kleinen Hocker abgestützt und ein wenig angewinkelt, und auf seine Knie ein Buch gelegt, in dem er müßig las. Neben ihm stand eine kleine Schale mit Chips, von denen er immer wieder ein paar nahm. Seine feuchten Haare fielen ihm wie ein Wasserfall über eine Schulter, und das dünne Hemd, das er trug, war komplett aufgeknöpft.
 

Adam schluckte kurz, als er die nackte, braungebrannte Brust und den flachen Bauch sah. Seine Fantasie ging mit ihm durch, eindeutig. Und das schon kurz nach dem Aufstehen.
 

„Moin!“, meinte er lapidar und lehnte sich gegen den Türstock, immer noch ein bisschen schwächlich auf den Beinen.
 

Leon sah überrascht auf. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Wohl eher, guten Abend. Hast du es auch endlich mal aus den Federn geschafft? Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“ Mit einer graziösen Bewegung stand er auf, legte das Buch auf den Wohnzimmertisch und trat zu Adam, um ihm eine Hand auf die Stirn zu legen. „Nun, heiß bist du zumindest nicht mehr. Wie geht es deinem Hals?“
 

„Besser.“ Er deutete auf die Kompresse. „Was ist das für ein nettes Hausmittelchen?“
 

„Eine Wodkakompresse. Hilft gut bei Halsschmerzen und Husten. Hat Maria immer bei mir angewendet, wenn ich krank war, und es hilft auch ziemlich gut.“
 

Adam zog die Augenbrauen hoch. „Maria?“
 

„Die kennst du doch? Die Frau, die in dieser Kneipe arbeitet, in der wir nach dem Kino damals waren.“
 

„Ah, die. Ja, ja. Bin wohl noch nicht ganz wach.“ Er runzelte die Stirn. „Wieso hat sie sich um deine Krankheiten gekümmert?“
 

„Weil sie mein Kindermädchen war.“ Leon sah Adam skeptisch an. „Wie wär es, wenn du erst mal unter die Dusche steigst und ein bisschen wacher wirst? Du schläfst ja noch halb.“
 

Mit einem Nicken rieb sich Adam über die Augen. Er war doch noch nicht so fit, wie er eigentlich angenommen hatte. Und eine Dusche klang sehr verführerisch.
 

Vorsichtig nahm Leon ihm am Oberarm und führte ihn in das große Badezimmer, in dem Adam auch schon bei seinem allerersten Besuch gewesen war. Während Adam leicht neben sich stehend dort wie bestellt und nicht abgeholt wartete, wuselte Leon geschäftig um ihn herum, legte einige Handtücher raus, daneben einige warme Klamotten, Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und -paste, drehte die Heizung noch ein wenig höher und wendete sich dann Adam zu.
 

„Sperr nicht ab. Nicht, dass du umkippst und ich dann nicht mehr reinkomme. Hilfe wirst du ja nicht brauchen, oder?“
 

Adam schüttelte nur leicht schockiert den Kopf. Leon, der ihm beim Duschen half? Bloß nicht!
 

„Gut, ich bin dann unten in der Küche. Du bist bestimmt hungrig. Was willst du essen?“
 

„Nichts, was man großartig kauen muss.“ Er räusperte sich kurz, um seinen belegten Hals freizubekommen. „Suppe vielleicht?“
 

„Okay, dann kriegst du Suppe. Komm runter, wenn du fertig bist.“
 

Mit einem leicht erstaunten Blick sah Adam Leon nach, als er den Raum verließ. In der Rolle als Krankenschwester schien sein arroganter Künstler voll und ganz aufzugehen, was ihn mehr als nur ein bisschen wunderte. Irgendwie hatte er es nie für möglich gehalten, dass er so fürsorglich sein konnte. Aber, wie er bereits öfter hatte feststellen müssen, die Facetten von Leons Charakter und Vorlieben waren äußert farbenprächtig und vielschichtig. Adam zweifelte jedoch daran, ob er jede einzelne von ihnen kennen lernen wollte. Da gab es bestimmt einige, die ihm nicht gefielen, wie er auch schon gestern in der Auseinandersetzung mit Muse festgestellt hatte. Er atmete kurz aus und lehnte sich zurück, sich auf den Händen abstützend und den Kopf nach hinten gelegt. Aber auch das waren Züge von Leon, die er liebte. Einfach, weil es zu ihm dazu gehörte, weil es ein Teil seines Farbenspektrums war. Es gab gute wie auch schlechte Seiten. Wie auch bei ihm selber. Er wusste nur noch nicht, was überwog.
 

Vorsichtig trat er unter die Dusche, um auf den warmen Fließen nicht aus Versehen auszurutschen, und stellte das Wasser an. Warm umhüllte es ihn, spülte den ganzen Schweiß und Dreck von seinem Körper runter, der sich seit gestern angesammelt hatte, genauso wie die elende Müdigkeit und Erschöpfung, die noch in seinen Knochen übrig geblieben war. Er hätte ewig einfach dran stehen und sich berieseln lassen können. Jetzt ein kuscheliges Bett, eine heiße Schokolade und er wäre glücklich.
 

Mit einem selbstironischen Lächeln trat er schließlich wieder nach draußen, zog sich an, kuschelte sich noch in den dicken Pullover, der anscheinend Leons war und den er ihm extra hingelegt hatte, und tappte nach unten in die Küche. Eine heiße Schokolade und ein kuscheliges Bett würde er bestimmt noch kriegen, aber da er gerade erst aufgestanden war, sollte er vielleicht zumindest so tun, als ob er auch vor hatte, etwas länger auf den Beinen zu bleiben. Immerhin würde er jetzt vorerst hier wohnen, da konnte er doch unmöglich die ganze Zeit verpennen.
 

Er blieb kurz in der Küchentür stehen. Leon deckte gerade leise summend den Tisch, passend zur Musik, die im Hintergrund lief. Er wirkte fast wie eine Hausfrau, die auf ihren Ehemann wartete, der bald von der Arbeit kommen würde. Anscheinend hatte er eine stark ausgeprägte Ader der Fürsorglichkeit und Familiarität. Adam musste lächeln. Es steckten tatsächlich noch zahlreiche Facetten in seinem geliebten Künstler.
 

„Bin fertig.“ Den Pullover enger um sich ziehend trat er zum Tisch. „Soll ich dir helfen?“
 

Leon sah kurz auf und schüttelte den Kopf. „Nein, setz sich lieber. Nicht, dass du mir noch umkippst.“
 

„So schwächlich bin ich auch nicht.“, meinte Adam leicht empört, tat aber trotzdem wie ihm geheißen.
 

„Das sagen sie alle und kippen einige Augenblicke mir nichts, dir nichts um.“ Er nahm sich zwei Teller, trat zum Herd und füllte eine Suppe ein. „Hier. Damit du auch mal was in den Magen kriegst. Ist nur ordinäre Nudelsuppe.“
 

Adam starrte auf den Teller. „Irgendwie hab ich gar keinen Hunger.“
 

„Das ist nicht mein Problem. Du brauchst was im Magen, du hast seit gestern nichts gegessen. So wirst du sonst ja nie gesund.“
 

„Du bist schlimmer als meine Großmutter!“
 

Mit einem sanften Lächeln setzte sich Leon ihm gegenüber hin. „Das hab ich mir von Maria abgeschaut. Sie ist die reinste Glucke und erbarmungslos, wenn es ums Essen geht.“
 

„Hätt' ich ihr nicht wirklich zugetraut.“
 

„Hm, man sieht es ihr nicht an, aber sie hat eine sehr mütterliche Seite. Und jetzt iss, sonst wird alles kalt.“
 

Es herrschte einvernehmliches Schweigen, während im Hintergrund weiterhin die Musik lief. Irgendwie war es richtig idyllisch, wie sie zu zweit am Tisch saßen, ohne großartig reden zu müssen, sondern in aller Ruhe ihre Suppe löffelten. Es wirkte wie Familie.
 

Adam verschluckte sich fast bei diesem Gedanken. Seine Fantasie schien gerade mächtig mit ihm durchzugehen. Er schielte von unten herab zu Leon, der gar nicht auf ihn zu achten schien und ungestört weiteraß. Es war ein mächtig angenehmes Gefühl, hier zu sitzen, mit ihm, dem Mann, den er liebte, zu wissen, dass er sich Sorgen um ihn machte, von ihm gehegt und gepflegt zu werden und gleichzeitig eine angenehme friedliche Zeit mit ihm zu verbringen. Er ließ seine Gedanken ein wenig schweifen. Wie würde es wohl aussehen, wenn sie tatsächlich mal zusammen wohnen würden? Rein realistisch gesehen, würde er sein Leben mit diesem Mann verbringen wollen und können? Sie würden sich häufig streiten, da war er sich sicher. Sie würden sich vielleicht sogar anschreien, zumindest er Leon, da ja Leon selbst im wütenden Zustand nicht dazu neigte, laut zu werden. Vielleicht würden sie sich aus Wut Tage lang anschweigen, aber letztenendes, einer von beiden würde dann den ersten Schritt machen und sich beim anderen entschuldigen. Sie würden miteinander reden, sich wieder versöhnen, bis zum nächsten Streit. Seltsamerweise war er sich sicher, dass sogar Leon ab und an den ersten Schritt machen würde, denn wie kalt und arrogant er auch nach außen hin teilweise wirkte, so hatte er unheimlich liebevolle Seiten an sich, die zeigten, dass er nicht nur auf sich bedacht war und durchaus verletzlich sein konnte. Verletzlich und sensibel.
 

Adam lächelte in sich hinein, immer noch über seinen Suppenteller gebeugt, so dass Leon es nicht sehen konnte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er sehr gut daran getan, sich in diesen Mann zu verlieben. So viele Schmerzen und Zweifel er auch bei ihm hervorrief, so viele schöne Momente und wertvolle Erinnerungen hatte er ihm geschenkt. Egal, was noch passieren würde, er wollte diesen Mann haben, wollte ihn lieben und von ihm geliebt werden. Und selbst wenn es nicht leicht und am Ende vielleicht auch umsonst sein würde, er wollte es zumindest versucht haben.
 

„Was ist?“ Leon hob ein wenig den Kopf, eine Augenbraue leicht in die Höhe gezogen.
 

“Was soll sein?“, meinte Adam unschuldig und sehr erleichtert darüber, dass Leon noch keine Gedanken lesen konnte.
 

„Du schaust mich schon die ganze Zeit an. Hab ich was im Gesicht?“
 

„Mhm, nein. Ich hab mich nur gefragt, ob du nie krank wirst, wenn du schon mitten im Winter mit einem offenen Hemd rumläufst.“
 

Leon sah überrascht an sich hinunter. „Es ist warm im Haus. Stört es dich etwa?“
 

„Nein, es ist mir nur aufgefallen.“ Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte er sich zurück und schob den Teller von sich. „So, ich bin satt. Vielen Dank, hat gut geschmeckt.“
 

“Na, das freut mich aber.“
 

Der Künstler wirkte immer noch ein bisschen skeptisch. Anscheinend hatte ihn Adams Erklärung nicht wirklich zufriedengestellt, aber Adam würde sich eher in den Hintern beißen als ihm seine tatsächlichen Gedanken offen zu legen. Er wollte ihn zwar erobern, aber bestimmt nicht, indem er ihm seine Liebe quasi auf dem silbernen Tablett servierte.
 

„Hm... hast du Lust, einen Film anzuschauen?“ Leon stand auf und räumte den Tisch ab, während er Adam mit einem Blick bedeutete, ja sitzen zu bleiben. „Oder willst du wieder ins Bett?“
 

„Ich bin gerade erst aufgestanden. Wenn ich gleich wieder schlafen gehe, werde ich verlernen, wie es ist, wach zu sein.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Aber ja, gern. Was gibt’s zur Auswahl?“
 

„Geh hoch ins Wohnzimmer und such dir was aus. Ich mach noch schnell den Abwasch und komm gleich nach.“
 

Adam musste leicht grinsen. Er wäre ja zu gerne geblieben und hätte zugesehen, wie Leon sich als Hausfrau betätigte, aber der Film musste auch noch ausgesucht werden, weswegen er auch gleich nach oben ins Wohnzimmer tapste. Die DVDs waren fein säuberlich auf einem der Regale aufgereiht, und, wie er beim ersten Überfliegen feststellte, befanden sich dort Exemplare aus so ziemlich jedem Genre darunter. Leon schien ein ziemlicher Filmliebhaber zu sein, wenn man diese Sammlung betrachtete. Eine weitere Sache, die er bis jetzt nicht gewusst hatte.
 

Er wählte eine seichte Liebeskomödie aus, um seine noch kranken, grauen Zellen nicht allzu sehr zu strapazieren, schaltete den Fernseher an und schob die DVD ein. Kaum hatte er es sich auf der Couch bequem gemacht, kam auch schon Leon mit einem Tablett, auf dem sich ein Tee, eine heiße Schokolade und süßes Konfekt befand. Der perfekte Gastgeber, er dachte aber auch an alles.
 

„Du hast den noch nicht gesehen?“, fragte er, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte und sich neben Adam niederließ.
 

„Nope. Wir können aber auch was anderes schauen, wenn er dir schon über ist.“
 

„Nein, schon in Ordnung. Es gibt keinen Film in meiner Sammlung, den ich nicht schon zig mal gesehen habe, von dem her ist es egal.“
 

„Du bist ein Filmfreak.“, meinte Adam neckisch und nahm sich ein wenig von dem Konfekt. Es war eine Praline, gefüllt mit Marzipan. Bestimmt verdammt teuer, aber auch verdammt lecker.
 

„Ich gebe es zu.“ Leon lachte kurz auf und drückte auf „Film starten“. „Ich kann ja nicht nur mit Malen beschäftigt sein.“
 

Adam lächelte nur und schwieg. Die Füße an sich gezogen, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf den Film, doch immer wieder schweiften seine Gedanken zu der Person ab, die direkt neben ihm saß. So nah, dass sie sich fast berührten. So nah. Er brauchte sich nur ein bisschen zur Seite fallen lassen und sein Kopf würde auf Leons Schulter landen. Normalerweise, wenn er mit seinen Eltern im Wohnzimmer saß, krank war und einen Film anschaute, nutzte er sie immer liebend gern als Kissenersatz und lehnte sich an sie. Aber das konnte er bei Leon wohl kaum bringen. Oder?
 

Er starrte mehrere Minuten lang einfach auf den Fernsehbildschirm, ohne die Handlung richtig zu verfolgen. Die Beine hatte er nah an seinen Körper gezogen und die Finger über den Füßen verschränkt. Sein Herz schlug ihm fast bis zum Hals. Aber gut, es brachte nichts, wenn er vor Nervosität halb umkam, Taten zählten. Also nahm er kurzerhand ein Kissen, legte es Leon auf den Schoß, was dieser mit einem überraschten Laut quittierte, und ließ sich mit dem Kopf darauf nieder. Die Beine an sich gezogen, fixierte er das Geschehen des Filmes und wartete ab, wie Leon reagieren würde.
 

Zuerst kam nichts. Er spürte nur die Wärme von Leons Körper, den typischen Geruch, den er verströmte. Eine angenehme, herbe Mischung aus Zigarettenrauch und Aftershave.
 

Dann, nahezu schon ein wenig zögerlich, spürte er seine Hand auf seinem Scheitel. Vorsichtig strich er durch die Haare, zupfte einige Strähnen zurecht und kraulte seine Kopfhaut. Adam war nach Schnurren zumute. Er fühlte sich auch fast wie eine Katze, die es sich auf dem Schoß ihres Besitzers bequem gemacht hatte. Genießerisch schloss er die Augen und drückte sich noch ein wenig näher an Leon. Es war ihm egal, was dieser vielleicht denken konnte. Anscheinend störte es ihn nicht, und deswegen würde Adam es auch ausnutzen, so gut es ging.
 

Langsam driftete er ab, ohne es zu merken. Die Müdigkeit nahm wieder von ihm Besitz, lullte ihn ein, zusammen mit der Hintergrundkulisse des Fernsehers und den Streicheleinheiten, die er bekam. Schließlich schlief er vollends ein, umhüllt von der Wärme des Zimmers und den Zärtlichkeiten Leons.
 

Erst am nächsten Tag wachte er wieder auf, mit dem Kissen unter dem Kopf und einer warmen Kuscheldecke über seinem Körper. Er lag immer noch auf der weichen, bequemen Couch. Anscheinend hatte Leon ihn einfach da liegen gelassen, um ihn nicht zu wecken. Durch die Fenster fiel das Tageslicht herein, es musste also Mittag oder früher Nachmittag sein. Immer noch ein bisschen schläfrig richtete er sich auf und sah sich um. Irgendwas hatte ihn geweckt, und erst, als er sich darauf konzentrierte, registrierte er das Geräusch eines Staubsaugers, das vom Erdgeschoss kam. Überrascht stand er auf und tappte nach unten. Sag bloß, Leon räumte auf? Irgendwie konnte er sich das so gar nicht vorstellen.
 

Unten traf er jedoch nicht auf Leon, sondern auf Maria, die gerade die Eingangshalle saugte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, drehte sich dann irgendwann um, um zu einer anderen Ecke des Raumes zu gehen, und zuckte zu Tode erschrocken zusammen. Für einige Augenblicke starrte sie ihn an, als ob er ein Zombie aus einer Gruft wäre, schaltete dann das Gerät ab und wackelte drohend mit dem Zeigefinger.
 

„Du aber auch! Wie kannst du eine alte Frau wie mich nur so erschrecken? Mein Herz wäre beinah stehen geblieben!“ Mit einem Lächeln trat sie zu ihm und wuschelte ihm durch die Haare. „Na ja, wenigstens bist du endlich aufgewacht, jetzt kann ich mir auch das Wohnzimmer vornehmen. Leon meinte ja, du solltest ausschlafen, aber ich hätte nicht gedacht, dass das so lange dauern würde.“
 

„Was... was machen Sie hier?“ Adam blinzelte verwirrt. Hausputz? Ne, oder?
 

„Na, nach was sieht’s denn aus? Aufräumen natürlich. Weißt du das denn nicht? Leon und ich räumen jeden Mittwoch das Haus auf. Irgendwer muss ja die Bude sauber kriegen, die Heinzelmännchen machen das definitiv nicht.“
 

„Sie und... Leon?“ Leon? Aufräumen???
 

„Ja, ich und Leon. Wer denn sonst? Der würd noch nie ne Putzfrau anstellen, tses. Und ich hab ihn schließlich auch dazu erzogen, seinen Kram selber in Ordnung zu halten.“ Sie tätschelte seinen Kopf. „Übrigens, du brauchst mich nicht Siezen. Da komm ich mir nur elendig alt vor. Ach, und Leon ist im Atelier, räumt gerade dort auf. Falls du ihn suchst.“
 

„Ich geh.. mich erst mal waschen.“
 

Immer noch ein bisschen neben sich stehend tappte er zu dem Gästezimmer, das Leon ihm zugewiesen hatte, nahm sich ein paar frische Klamotten, schlurfte dann ins Bad zurück und brachte sich in einen vernünftigen, ansehnlichen Zustand. Inzwischen hatte sich seine Müdigkeit komplett verabschiedet, er fühlte sich wieder gesund und tatkräftig. Einzig sein Hals schmerzte noch ein wenig, aber das würde im Laufe des Tages vermutlich auch vergehen. Der entspannende Schlaf und die stetig vorhandene Wärme hatten jedenfalls Wirkung gezeigt.
 

Etwas enthusiastischer gestimmt begab er sich zum Atelier. Einen Leon, der aufräumte, sah man bestimmt nicht alle Tage und sollte man deswegen wohl auch ausnutzen, wenn man die Gelegenheit dazu bekam, so ein Phänomen zu beobachten. Zwar hatte Maria gesagt, sie hatten jeden Mittwoch ihren Hausputz, aber Adam war schließlich auch nicht jeden Mittwoch anwesend.
 

Vorsichtig öffnete er die Tür und trat hinein. Leon wrang gerade einen Lappen über einem Eimer aus, wischte über einen der Tische, schien einen hartnäckigen Fleck entdeckt zu haben und rubbelte mit konzentrierter Miene etwas fester drüber. Seine Haare hatte er zu einem Zopf geflochten und am Hinterkopf zusammen gerollt, und darum ein altes, geblümtes Tuch geschlungen. Einige der Strähnen hatten sich jedoch trotzdem gelöst und fielen ihm immer wieder ins Gesicht. Er trug alte, zerrissene, dunkelblaue Jeans, die mehrere kunterbunte Farbflecken aufwiesen und ein rotgrünes Baumfällerhemd, das wohl noch aus der Zeit seines Urgroßvaters stammt. Den Schmuck hatte er ausgezogen, wohl, damit er beim Arbeiten nicht störte.
 

Adam starrte ihn mehrere Augenblicke lang fassungslos an. Vor seinem inneren Auge tauchte der Leon auf, den er normalerweise kannte. Elegant gekleidet, mit geschmackvollerer, teurer und gepflegter Kleidung, die Haare immer ordentlich frisiert. Mit einem Mal musste er laut loslachen. Dieser Anblick war so köstlich ungewöhnlich, so verdammt ordinär und so verdammt, verdammt menschlich, dass er einfach nicht anders konnte.
 

„Wie ich höre, du bist auch mal aufgestanden?“ Leon sah von seiner Tätigkeit auf und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Und anscheinend hast du gleich mal eine Dosis Lachgas zu dir genommen. Dürfte ich wissen, was so lustig ist?“
 

Der Junge schnappte erst mal paar Mal nach Luft, bevor er zu einer Antwort ansetze.
 

„Tut mir leid, das sieht nur so verdammt ungewohnt aus. So... keine Ahnung, nicht Leon.“
 

„Was?“
 

„Das.“ Er deutete auf sein Outfit. „Du bist normalerweise immer so stilvoll und alles gekleidet, und jetzt trägst du solche, solche... eh....“
 

„Lumpen?“
 

„So wollt ich das nun auch wieder nicht ausdrücken.“ Er versuchte mühsam, sein Grinsen zu unterdrücken, was jedoch nicht so wirklich klappen wollte.
 

„Ich werde mein Haus ja wohl auch nicht in meinen besten Sachen aufräumen. Weißt du eigentlich, wie staubig einige Stellen sind?“
 

„Mich wundert’s ja überhaupt, dass du dein Haus selber aufräumst. Ich dachte, du stellst eine Putzfrau ein oder sowas.“
 

„Nun, ich mag es nicht, wenn jemand Fremdes sich einfach so hier aufhält, ohne das ich ein Auge drauf habe.“ Er widmete sich wieder seinem Fleck. „Deswegen mach ich es lieber selber. Und Maria hilft mir ja auch.“
 

„Na ja,“, Adam zog sich einen Stuhl heran und setze sich im Schneidersitz drauf, „ich war ja auch zwei Wochen lang hier, ohne dass du ein Auge auf mich haben konntest.“
 

Leon warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. „Du bist ja auch niemand Fremdes. Ich nehm mal an, du hast nicht in meinen Privatsachen gekramt?“
 

„Natürlich nicht!“, meinte Adam gespielt empört. Dass er die Kassette gefunden hatte, war ja purer Zufall gewesen und hatte nichts mit Leons Privatsachen zu tun.
 

„Siehst du.“ Er nahm einen anderen Lappen aus dem Eimer, wrang ihn aus und warf ihm Adam zu. „Nichts da, hier wird nicht gefaulenzt. Dir scheint es ja schon sehr viel besser zu gehen, also kannst du auch mithelfen. Mach mal die Tische dort drüben sauber.“
 

“Aye, aye, Chef.“
 

Er ließ sich ausnahmsweise mal mit Freuden herumkommandieren. Irgendwann nahmen sie zu dritt einen kurzen Imbiss ein und machten sich dann voller Tatendrang weiter an die Arbeit. Adam staunte nicht schlecht, als er merkte, wie viel Mühe darin steckte, das gesamte Haus auf Vordermann zu bringen, und noch mehr, als er daran dachte, dass Leon das Woche für Woche machte. Zu dritt brauchten sie schon bis zum späten Nachmittag, zu zweit wurden die zwei wohl erst immer gegen Abend fertig. Eine weitere Facette, die ihn an seinem Künstler zum Staunen brachte. Und wodurch er noch liebenswerter wurde. Ein Riss in seiner nahezu perfekten Fassade des unnahbaren, arroganten Künstlers. Adam musste innerlich lächeln. Diese Fassade bröckelte immer mehr, je länger er ihn kannte. Und heraus kam ein unperfekter, zärtlicher Mann zum Vorschein, der gleichermaßen gute wie auch schlechte Eigenschaften in sich vereinte und dadurch nur noch wertvoller, wichtiger für Adam wurde.
 

Schließlich, ziemlich erschöpft, wurden sie fertig. Sie aßen noch schnell gemeinsam zu Abend, jedoch musste Maria sich noch um ihre Kneipe kümmern und ließ die beiden bald allein, nicht jedoch, ohne sie mit einem herzhaften Schmatzer auf beide Backen zu verabschieden.
 

Adam streckte alle Viere von sich, während er auf dem Stuhl in der Küche saß und an seiner Schokolade nippte.
 

„Ihr seid doch wahnsinnig, dass jede Woche zu machen. Und du bist wahnsinnig, dir überhaupt so ein großes Haus anzuschaffen. Für was brauchst du das?“
 

„Ich hab’s mir in erster Linie wegen dem Atelier besorgt.“ Leon nippte an seinem Tee. „Und weil ich ab und zu Partys gebe, beziehungsweise.. naja, eigentlich gib Sachiko sie, und da viele Gästezimmer nun mal von Vorteil sind, wenn die Gäste mal übernachten wollen. Außerdem mag ich es, wenn es weitläufig ist.“
 

„Respekt, dass ihr das Woche für Woche macht.“ Er seufzte. „Ich könnte das nicht.“
 

„Oh, vergiss nicht, du wirst mir nächste Woche auch noch mal helfen dürfen. So einfach lass ich dich nicht davon kommen.“
 

„Ich dachte, ich bin hier, um zu genesen, und nicht um deinen Sklaven zu mimen?“
 

„Du bist schon genesen, wie ich sehe.“ Leons Lippen verzogen sich zu einem verschmitzen Grinsen. „Und wenn du meinen Sklaven mimen würdest, würde ich dich bestimmt nicht zum Hausputz benutzen.“
 

„Sondern?“ Adam zog fragend die Augenbrauen hoch.
 

Der Künstler musterte ihn einen Augenblick lang, lachte dann nur kurz auf und winkte ab. „Nicht so wichtig. Vergiss es.“ Mit einem Ächzen stand er auf. „Arg, ich werde alt. Na ja, ich geh mal langsam schlafen, ich muss morgen früh auf.“
 

„Was? Wieso denn das?“
 

„Ein paar Sachen machen. Einkaufen zum Beispiel.“ Er runzelte kurz die Stirn. „Du hast ja noch den Schlüssel, nicht wahr? Kannst also problemlos weggehen, dann muss ich auch nicht dauernd da sein. Aber vergiss nicht, dass morgen Donnerstag ist.“
 

„Wenn ich doch eh die nächsten zwei Wochen da bin, können wir die Modellstunden doch auch wann anders machen.“
 

„Liebling,“, Leon lächelte ihn süffisant an, „du bist nicht das einzige Modell, mit dem ich grad zusammen arbeite. Ich mag außerdem die Gewohnheit. Bleiben wir bei Donnerstag, ist am besten so. So, und ich geh jetzt ins Bett, sonst kriegen mich morgen keine zehn Pferde aus den Federn.“ Er trat zu Adam und drückte ihm kurz einen Kuss auf den Scheitel. „Schlaf gut.“
 

Noch bevor Adam reagieren konnte, hatte er bereits die Küche verlassen. Müde seufzte er und strich sich kurz durch die Haare. Er hatte die Anspielung, die Leon gemacht hatte, durchaus verstanden, nur, gerade jetzt, wusste er nicht, wie er darauf richtig reagieren sollte. Wohin hätte es wohl geführt, wenn er darauf eingegangen wäre? Den ganzen Tag über war er sich Leons Anwesenheit durchaus bewusst gewesen, wenn er ihm nahe kam, wenn er ihn zufällig streifte, wenn sich ihre Blicke trafen, wenn sie zufällig nach dem gleichen Gegenstand griffen. Er wusste nur noch nicht, wie weit er bereit war zu gehen.
 

Und was danach kommen würde.

„Was, immer noch nicht???“
 

Adam zuckte bei Andrés überraschtem Aufschrei leicht zusammen und verzog mürrisch die Miene. „Nein, immer noch nicht. Geh halt zu ihm hin und beschwer dich, ist doch nicht meine Schuld.“
 

„Hm, ich hab ja doch eher das Gefühl, dass es an dir liegt, nicht an ihm.“, meinte Muse mit einem wissenden Lächeln.
 

„Arg, könnten wir bitte dieses Thema lassen? Das deprimiert mich nur.“
 

Schmollend stütze er sein Kinn in seine Hand und starrte aus dem Fenster. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Es war jedoch nicht das sanfte Rieseln, das sonst vorherrschte, sondern ähnelte einem kleinen Schneesturm. Momentan tangierte es nicht sonderlich, da er zusammen mit André und Muse in einem schnuckeligen Café in der Innenstadt saß und warme Getränke vor sich stehen hatte, doch irgendwann würde er auch wieder nach Hause laufen müssen. Er biss sich innerlich auf die Zunge. Obwohl er erst seit vier Tagen bei Leon wohnte, hatte er es sich schon angewöhnt, von seinem zu Hause zu reden. War einfacher als dauernd „Leons Kleinvilla“ zu sagen.
 

Inzwischen war er auch größtenteils genesen, einzig sein Hals schmerzte noch ein bisschen, doch war es nicht der Rede wert. Leon war, erstaunlicherweise, eine exzellente Krankenschwester. Wobei er sich nicht sicher war, ob die Krankenschwester es in Ordnung fand, dass er so kurz nach der Genesung schon wieder draußen anzutreffen war, vor allem in Muse’ Gesellschaft. Von André wusste er ja noch nichts, und Adam wollte es noch möglichst weit hinauszögern, bis er es erfuhr. Einige Dinge brauchte Leon nun wirklich nicht zu wissen, zu ihrer beider Wohl.
 

Eigentlich hatte er sich auch nur so spontan mit den Beiden verabredet, um sich ein wenig abzulenken. Nach dem Leon am Abend zuvor diese kleine Anspielung in den Raum geworfen hatte und danach zu Bett gegangen war, hatte Adam sich die halbe Nacht damit um die Ohren geschlagen, was er denn nun eigentlich wollte. Und mit welchen Folgen er rechnen musste. Er konnte es absolut nicht einschätzen, kein bisschen, aber das Bedürfnis, Leon noch näher zu sein, noch intensiver zu spüren, wuchs stetig in ihm an.
 

Nicht nötig zu erwähnen, dass der putzende Leon Adams Herz noch ein bisschen höher in die Richtung hatte schlagen lassen. Genauso wie der Leon, der Tee und Essen kochte, oder der Leon, der mit nassen Haaren und offenem Hemd aus dem Bad kam. Oder der Leon, der auf der Couch im Wohnzimmer saß, ein Buch las und nebenbei Chips knabberte. Oder der Leon, der sich liebevoll um jede einzelne seiner vernachlässigten Pflanzen kümmerte. Oder der, der sich um ihn sorgte, wenn er einfach vor dem Fernseher einschlief. Oder der, der leise summend den Tisch deckte.
 

Es war eine Gott verdammte Qual, mit ihm in einem Haus zu sein, ihn andauernd zu sehen, und trotzdem dem Impuls nicht nachgeben zu dürfen, ihn zu Boden zu werfen und nie wieder loszulassen. Hatte er schon mal erwähnt, dass das Leben ungerecht war? Nun, es war absolut ungerecht. Und obwohl Adam hauptsächlich bis jetzt geschlafen hatte, während er sich in Leons Haus aufgehalten hatte, wurde ihm gerade durch die gestrige Putzaktion und die dadurch gemeinsam verbrachte Zeit immer mehr seine Sehnsucht bewusst. Trotzdem, eine gewisse Hemmung blieb, die er sich schlicht nicht erklären konnte. Vielleicht die Angst vor Leons Reaktion? Oder die Angst davor, von ihm nur noch benutzt zu werden?
 

Er hatte jedenfalls entschieden, dass alleine zu grübeln nicht viel bringen würde. Und so kam es, dass sie kurz nach Mittag in diesem Café saßen und sich über Gott und die Welt unterhielten. André hatte es sehr überrascht aufgenommen, dass Adam die nächsten zwei Wochen bei Leon verbringen würde, doch noch überraschter war er gewesen, als das Thema Sex aufgekommen war und Adam erzählt hatte, dass er und Leon noch kein einziges Mal zusammen im Bett gewesen waren. Gut, überrascht war nicht so ganz das richtige Wort. Genau genommen war Andrés Mund ziemlich weit nach unten geklappt und er hatte Adam fassungslos angestarrt.
 

„So, um das nochmal zu resümieren, du und Leon, ihr habt noch nicht miteinander geschlafen?“
 

“Nein, verdammt. Wie oft soll ich das noch sagen?“ Adam seufzte genervt. War das denn wirklich so schwer zu verstehen?
 

„Woho.“ André nahm einen Zug von seiner Zigarette. „Der Kerl lässt doch sonst nichts anbrennen.“
 

“Du hast ihn vier Jahre nicht gesehen. Vielleicht hat er sich in der Zwischenzeit verändert?“
 

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht.“ Nachdenklich streifte der Tänzer die Asche am Rand des Aschenbechers ab. „Solche Leute wie er verändern sich nicht. Vielleicht bist du ihm nicht erotisch genug?“ Er lachte kurz auf. „Wobei er dann Tomaten auf den Augen haben müsste.“
 

„Danke auch.“
 

Adam verzog schmollend seinen Mund. André hatte eigentlich Recht, er war Leon nicht erotisch genug. Das hatte der Künstler im Selber mal gesagt. Unerotisch. Für ihn als Mann. Damals, vor jetzt schon über zwei Monaten, war es ihm nur recht gewesen. Jetzt störte es. Und diese kurze Anspielung von gestern hatte er auch ziemlich schnell abgetan. Kaum zu glauben, erst machte er ihn immer mächtig an und zeigte deutlich den Willen, ihn zu vernaschen, und dann, wenn er mal die Gelegenheit für mehr bekam, ging er auf Rückzug? Den Kerl sollte mal einer verstehen, Adam zumindest hatte es schon aufgegeben.
 

„Aber das heißt ja auch,“, André starrte nachdenklich an die Decke, „dass du immer noch Jungfrau bist?“
 

„Ja?“ Adam zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
 

„Na, wie wär’s, wenn du dann deine ersten Erfahrungen mit mir machst?“, grinste er ihn fröhlich an.
 

„Nein.“
 

Dieses Wort kam gleichzeitig aus Muse’ wie auch Adams Mund. André schaute verwirrt Muse an.
 

“Ich kann ja verstehen, wenn Adam es verneint, aber wieso bist du dagegen?“
 

„Weil Adam nicht zu einer männlichen Schlampe mutieren soll, die es mit jedem treibt. Wenn, soll er zumindest sein erstes Mal mit dem Mann haben, den er liebt.“
 

„Erstens, bin ich nicht jeder, und zweitens, wird es, wie es aussieht, nie zu dem ersten Mal mit dem Mann, den er liebt, kommen. Leon scheint sich da ja arg bedeckt zu halten.“
 

„Kannst du das bitte mein Problem sein lassen?“, empörte sich Adam. „Es ist ja auch nicht so, dass ich das jetzt, sofort und auf der Stelle machen will. Überhaupt, niemand hat gesagt, dass ich das so dringend will.“
 

Beide, Muse und André, sahen ihn zweifelnd an.
 

“Dir steht aber auf der Stirn geschrieben ‚Leon, nimm mich’.“, meinte Muse skeptisch.
 

„Na, übertreib mal nicht. So dringend brauch ich es dann auch nicht.“ Adam zog die Augenbrauen zusammen. „Ich hab’s die letzten achtzehn Jahre ganz gut ohne ausgehalten, also werde ich auch noch ein Weilchen länger so auskommen. Ehrlich, ich weiß gar nicht, ob ich das will.“
 

„Und wieso nicht? Du liebst ihn doch?“, fragte André lapidar.
 

„Ja, schon. Aber... ich hab das Gefühl, dass würde alles nur unnötig komplizierter machen.“
 

Muse und André wechselten einen vielsagenden Blick

.

„Was willst du jetzt bitte noch komplizierter machen?“ Der Tänzer schnippte gegen seine Stirn. „Du bist in ihn verliebt, du weißt absolut nicht, wie er dir gegenüber empfindet, aber er ist teilweise wirklich romantisch und zuckersüß, so als ob er deine Gefühle erwidern würde. Trotzdem sagt er diesbezüglich nichts und versucht nicht mal, sich an dich ranzumachen. Es ist eine absolut beschissene Situation, zumindest für dich. Glaubst du wirklich, Sex zwischen euch würde es noch verschlimmern?“
 

Adam senkte seinen Blick und zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Antwort auf diese Frage.
 

„Vielleicht hab ich ja auch einfach nur Schiss vor dem ersten Mal?“, meinte er kleinlaut.
 

„Das hatten wir alle.“ Muse lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Wobei das wohl als, ehm, passiver Part wohl nochmal was anderes ist. Und das wirst du bestimmt sein.“
 

“Willst du mir sagen, du bist aktiv?“ Adam sah ihn leicht überrascht an.
 

„Ja, bin ich.“ Er errötete. „Philip ist, uhm, nun ja...“
 

“Dafür prädestiniert, unten zu liegen.“, ergänzte André Muses Gestotter.
 

„Ja, so könnte man es ausdrücken.“
 

„Oh.“ Etwas beschämt strich sich Adam durch die Haare. „Das heißt, keiner von euch beiden hat diesbezüglich Erfahrungen? Also... von wegen, der passive Part zu sein...“
 

Beide schüttelten unisono den Kopf und sahen ihn entschuldigend an.
 

„Du kannst nur auf Leons Fürsorge hoffen.“, meinte André, runzelte dann aber überlegend die Stirn. „Wobei er es gerne auch rauer mag. Zumindest damals, als wir unsere One-Night-Stands hatten.“
 

„Moment mal! Das heißt ja, dass Leon bei dir der passive Part war?“
 

„So sieht’s aus. Er ist halt, nun ja, wie ne Schallplatte, beidseitig bespielbar.“
 

„Könntest du das bitte nicht so... nicht so... seltsam ausdrücken?“
 

“Ist halt so, kann ich auch nichts machen. Wobei er bei dir eindeutig der Aktive sein wird.“
 

„Oh, toll. Mann, lassen wir das Thema, okay?“ Adam legte seine Hände an die Kopfseiten, stütze die Ellbogen auf dem Tisch ab und rutsche ein wenig nach vorne. „Das ist so... arg... lassen wir das einfach.“
 

„Ts, ts, ts...“ Gespielt rügend wackelte André mit dem Zeigefinger. „Du willst dich nur nicht mit deiner eigenen Lust auseinander setzen. Weißt du eigentlich, dass durch sowas Neurosen entstehen können, wenn du deinen Trieb unterdrückst? Das ist schlimm, wirklich schlimm.“
 

Muse und Adam sahen ihn ein wenig sprachlos an, doch während Muse dann zu Lachen anfing, begnügte sich Adam damit, ihm einen Mordsblick zu zu werfen.
 

„Könntest du bitte aufhören, so nen Stuss zu reden? Ich bin so schon deprimiert genug.“
 

„Also,“, Muse grinste immer noch, wendete sich dann aber mit halbwegs ernster Miene seinem Freund zu, „wie wär’s, wenn du versuchst, ihn zu verführen?“
 

„ICH? LEON? VERFÜHREN?“ Adam starrte ihn erst mal einige Sekunden fassungslos an, bevor er merkte, dass er seine Fassungslosigkeit in so einer Lautstärke von sich gegeben hatte, dass das gesamte Café darauf aufmerksam geworden war. Die erstaunten und fragenden Blicke der anderen Gäste ignorierend, aber mit hochroten Kopf, beugte er sich zu Muse. „Sag mal, wovon träumst du nachts? Wie stellst du dir das vor? Soll ich halb bekleidet aus dem Bad kommen, das Handtuch schwingen und dann heiser wispern: ‚Hey, Leon, mir ist schrecklich heiß, kühl mich doch bitte ab’, oder wie?“
 

„Na ja, vielleicht nicht ganz so, ehm... lächerlich.“ Muse kräuselte bei der Vorstellung skeptisch die Augenbrauen. „Eher, keine Ahnung, halb nackt aus dem Bad kommen ist schon mal keine schlechte Idee. Und dann berührtst du ihn zufällig, streifst seinen Oberarm oder seinen Rücken... aus Versehen natürlich. Er ist auch nur ein Mann, ewig wird er da nicht widerstehen können.“
 

„Nein, nein, nein!“ Er schüttelte resolut den Kopf. „Vergiss es. Ich werde ihn nicht verführen, ich werde es nicht mal probieren. Nope, nur über meine Leiche. Außerdem, hallo, ich wohn bei ihm, ich übernachte bei ihm, ich hab sogar auf seinem Schoß geschlafen, und er hat trotzdem nicht reagiert.“
 

“Vielleicht ist er ja impotent geworden.“ André lächelte. „Ich mein, hey, wenn du auf meinem Schoß einschlafen würdest, würdest du bestimmt nicht mehr jungfräulich aufwachen. Ich bin schließlich kein Kostverächter, und Leon normalerweise auch nicht.“
 

„Er ist bestimmt nicht impotent!“ Adam biss sich auf die Unterlippe. „Er hat mir eigentlich schon öfter gezeigt, dass er nicht uninteressiert an mir ist. Nur jetzt, plötzlich, scheint sein Interesse abgekühlt zu sein.“
 

„Tja...“ André kratzte sich überlegend am Hals. „Das ist natürlich ein Problem.“
 

Ein Problem, für das keiner eine Lösung wusste, wie es schien. Die Jungs schwiegen.
 

„Aber zumindest scheinst du es doch zu wollen.“, meinte Muse schließlich. „Oder?“
 

„Ach, keine Ahnung. Ja, schon. Eigentlich schon.“ Adam nahm einen Bierdeckel in die Hände und wendete ihn hin und her. „Ja, doch. Verdammt, das geht auch nicht anders. Wenn er da fast oben ohne vor dir steht, würdest du auch nicht nein sagen. Ja, verdammt, ich will.“
 

„Dann sprich Klartext.“ André lächelte, während er einen Zug von seiner Zigarette nahm. „Du hast nichts zu verlieren. Vielleicht ist er ja auch nur schüchtern geworden und hat Angst vor einer Abweisung?“
 

„Red keinen Stuss. Leon weiß nicht mal, wie man Schüchternheit oder Abweisung buchstabiert.“ Mit einem Seufzer warf er einen Blick auf sein Handy. „Nya, ich muss langsam los. Er erwartet mich um drei.“ Er grinste die beiden schief ein. „Danke, dass ihr euch meine, ehm, Sorgen angehört habt. Ich weiß, ich bin naiv und nervig, tut mir Leid.“
 

„Dafür sind Freunde da.“ André winkte ab. „Soll ich dich vielleicht hinfahren? Bei dem Wetter ist es nicht sonderlich gut, wenn du läufst, grad, wenn du gerade erst genesen bist.“
 

„Nein, schon okay. Ich laufe. Passt schon.“
 

„Gut, wir sehen uns dann ja morgen in der Schule.“
 

Muse zog ihn zu sich und drückte ihm den Abschiedskuss auf die Stirn. Adam lächelte, beugte sich dann über André und gab ihm ebenfalls einen Kuss, jedoch auf den Mund und etwas länger und intensiver als der von Muse. Irgendwie hatte es sich bei dem Tänzer und ihm diese Begrüßung und Verabschiedung eingebürgert, und auch wenn Adam sich dessen durchaus bewusst war, dass ein gewisser sexueller Touch mitschwang, störte es ihn trotzdem nicht. Das, was er von Leon nicht befriedigend genug bekam, musste er sich eben wo anders holen. Dabei ignorierte er jedoch geflissentlich die Tatsache, dass er selber sich mächtig anstrengte, Leon das Gefühl zu geben, dass er seine Küsse gar nicht wollte. Sollte er vielleicht mal ändern...
 

Mit einem letzten Winken verließ er das Café und trat in den mittelprächtigen Schneesturm hinaus. Sofort wurden die losen Enden seines Schals nach oben in die Luft gewirbelt und der Schnee landete nasskalt in seinem Gesicht. Angewidert verzog er es und überlegte sich für einen Augenblick, ob er Andrés Angebot, ihn zu fahren, nicht vielleicht doch annehmen sollte. Jedoch wollte er nicht Gefahr laufen, dass Leon rein zufällig aus dem Fenster schaute, wenn Andrés Auto in seiner Einfahrt parkte, und den Tänzer gemeinsam mit Adam sah. Er hatte so das mulmige Gefühl, dass das keine gesegnete Begegnung sein würde. Seufzend und mit zusammen gezogenen Schultern trabte er voran. Sein Blickfeld reichte nur einige Meter, und er musste die Augen fast komplett schließen, um irgendwas sehen zu können. Ach du lieblicher Winter, wie Adam das hasste. Er mochte Kälte so oder so nicht, und dann noch mitten in so einem netten Stürmchen durch die Straßen zu wandern gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Zumindest konnte er sich dann bei Leon auf eine heiße Schokolade oder eine Tasse Tee freuen.
 

Seine Gedanken schweiften zu dem Gespräch, dass er gerade geführt hatte. Er wusste wirklich nicht, wie er noch eine weitere Woche aushalten sollte, ohne wahnsinnig zu werden. Vor allem, wenn er bedachte, dass er die letzten Tage Leon vergleichsweise wenig gesehen hatte. Die nächste Zeit würde es mehr werden, definitiv mehr. Vielleicht sollte er es wirklich drauf ankommen lassen und mit ihm Klartext sprechen. Mehr als ein ‚Nein’ konnte er ja nicht kriegen. Wobei dieses Nein dann sehr schmerzvoll sein würde, vor allem, wenn man bedachte, wie Leon sonst auf ihn reagierte. Oder, besser gesagt, reizte.
 

Aber vielleicht war es tatsächlich nur das. Vielleicht war er für ihn nur ein neues Objekt gewesen, mit dem er ein bisschen spielen konnte, austesten, wie weit er es bringen würde, und nachdem Adam ihn abgewiesen hatte, hatte er die Lust verloren. Und jetzt war er nicht mehr als nur ein kleines Kätzchen oder ein Brüderchen oder sowas. Jemand, auf den man aufpassen konnte, den man umsorgen musste und den man mit einem Kuss tröstete. Aber niemand, der einen sexuellen Reiz ausübte.
 

Es war zum aus der Haut fahren. Da wollte er, aber das Objekt seiner Begierde nicht. Und der große Verführungskünstler war er auch nicht gerade. Adam seufzte gottergeben. Es sollte anscheinend nicht sein. Dann würde er sich eben die nächsten Tage zu Tode quälen, auch egal. Es gab schlimmeres. Ihm fiel im Moment nur nichts ein.
 

Es war die reinste Erleichterung, endlich in die Einfahrt von Leons Villa einzubiegen und den Schutz vor dem Sturm direkt vor Augen zu haben. Adam runzelte jedoch etwas überrascht die Stirn, als er vor der Tür einen fremden Wagen stehen sah. Ein Mercedes Roadster in Dunkelrot. Er war zwar größtenteils mit Schnee bedeckt, aber trotzdem sah man ihm an, dass er edel war, verdammt edel. Und verdammt teuer. Wer auch immer der Besuch war, er musste massig Geld haben. Eigentlich kein Wunder, da Leon selber auch keine arme Kirchenmaus war, aber mit einem mal fühlte sich Adam sehr ordinär und unbedeutend. Er hatte ja noch nicht mal einen Führerschein, von so einem Wagen würde er ewig träumen dürfen.

Mit fast schon hängenden Schultern ob dieser Unterlegenheit öffnete er die Tür und trat vorsichtig ein. Jetzt fiel ihm auch mal wieder erst die elegante, luxuriöse Ausstattung von Leons Domizil auf. Inzwischen war er schon so häufig hier gewesen, dass er sich fast daran gewöhnt hatte, doch auf einmal wirkte jede einzelne Fliese, jedes Möbelstück doppelt so wertvoll. Er fragte sich ernsthaft, was Leon machen würde, wenn Adam mal aus Versehen eine der Vasen kaputt machen würde. Würde er ihn auf Taschengröße zurecht stutzen? Oder würde er einfach lächeln und meinen, dass er genug Geld hatte, um eine andere zu kaufen? Vermutlich letzteres, was jedoch das ‚auf Taschengröße zurecht stutzen’ mit beinhaltete. Leon konnte sich kaufen, was er wollte. Er bekam alles, absolut alles, von Kleidern über Autos und Möbel bis zu Reisen und Villen. Selbst die Gefühle von Menschen konnte er sich vermutlich erkaufen. Kein Wunder, dass er so arrogant war und vieles für selbstverständlich nahm. Aber, wenn man diese Faktoren bedachte, war es doch verwunderlich, wie fürsorglich und zärtlich er sein konnte. War es, weil er Adams Gefühle nicht kaufen konnte? Nun, er hatte es nicht mal probiert. Waren ihm ehrliche Gefühle wichtiger als erkauftes? Anscheinend. Tatsächlich. War es.
 

Adam schüttelte den Kopf. Er machte sich mal wieder zu viele Gedanken. Zu viele Gedanken über Leon. Es sollte ihn besser interessieren, wer gerade zu Besuch war. Nicht, dass er sich irgendwie komplett daneben benahm und Leon in eine peinliche Situation manövrierte. Leise zog er seine Jacke, den Schal und die Mütze aus, hängte sie über den Garderobenständer, und stellte seine Schuhe neben die Kommode. Er stutzte. Wie ihm jetzt erst auffiel, lag über der Kommode ein dunkelroter Frauenledermantel und unten standen Overknee-Stiefel in der selben Farbe. Frauenbesuch. Klar. Und diese Frau schien eine sehr heiße Braut zu sein. Okay. Gut. Nannte sich dieses Gefühl, das sich grad von seinem Bauch nach oben in sein Hirn fraß, brennende Eifersucht? Ja, tat es.
 

Er biss sich auf die Unterlippe. Gut, er hatte kein Recht auf Leon, schließlich waren sie nicht zusammen. Und er selber küsste ja auch feuchtfröhlich mit André rum, wieso sollte es Leon nicht auch dürfen? Oder auch mit einer Frau schlafen? Immerhin hatte Adam es für sich selbst bestimmt, mit dem Tänzer nicht ins Bett zu wollen, aber das war ja nichts, was er auch auf Leon übertragen durfte. Er hatte absolut kein Recht darauf. Trotzdem wäre er am liebsten zu Leon gestapft und hätte ihm eine gehörige Standpauke gehalten. Wie konnte er, mitten am Tag, da, wo jederzeit Adam aufkreuzen konnte, eine Frau zu sich einladen und sonst was mit ihr treiben? War er denn des Wahnsinns? Wollte er ihn provozieren? Eifersüchtig machen? Nun, zumindest letzteres hatte er geschafft. Verdammt! Und das nur, weil er einen Mantel und Schuhe gesehen hatte. Was würde erst passieren, wenn er Leon tatsächlich mal mit einer Frau im Arm antreffen würde? Mord und Totschlag? So ein Schwachsinn aber auch!

Plötzlich hörte er ein heiseres Frauenlachen, das aus der Küche kam. Verdammt, so lachten wirklich nur Klassefrauen. Vermutlich genau der Typ, der Leon gefiel. Aber gut, er wollte ja nicht so sein und dieses Weib erst mal kennen lernen. Vielleicht sah sie gar nicht so toll aus, wie er es sich gerade vorstellte.
 

Er versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, doch bekam er den grimmigen Ausdruck nicht aus seinem Gesicht. Musste halt so gehen. Vorsichtig öffnete er die Küchentür und linste hinein. Und tatsächlich, das, was da auf einem der Stühle saß und an einer Tasse nippte, war eindeutig eine rassige Schönheit. Eine üppige Fülle an rotbraunen Locken fielen ihren wohlgeformten Rücken hinunter, ein schwarzes, enganliegendes Kleid betonte ihre sanften, verführerischen Rundungen und die endloslangen Beine wurden von dunklen, durchsichtigen Strümpfen bestens zur Geltung gebracht. Sie hatte hellgrüne Katzenaugen, die von langen, schwarzen Wimpern umrahmt wurden, und einen vollen, kirschroten Mund, der eine unausschlagbare Einladung zum Küssen darstellte. Lange, dunkelrote Nägel zierten ihre schlanken Finger, die mehrere Ringe trugen, und dezenter Schmuck vervollständigte ihre extravagante, aber geschmackvolle Aufmachung. Sie war der Typ Frau, der einen Raum betrat und die komplette Aufmerksamkeit der Versammelten auf sich zog. Die, der alle Männer zu Füßen lagen und für eine Nacht mit ihr die eigene Frau mit Freuden betrügen würden. Wieso sollte Leon eine Ausnahme darstellen?
 

Dieser stand gerade an den Küchentisch gelehnt und hatte seine Aufmerksamkeit ganz der faszinierenden Schönheit vor sich gewidmet. Trotzdem bemerkte er anscheinend Adams Eintreten, da er aufsah und ihm zu lächelte.
 

“Da bist du ja.“ Er trat zu ihm und strich ihm ein bisschen Schnee aus den Strähnen, die nicht von Adams Mütze bedeckt gewesen waren. „Bist du nicht mit dem Bus gefahren? Du wirst nur wieder krank.“
 

Adam schüttelte seine Hand ab und warf einen Blick zu der Frau. „Behandele mich nicht wie einen kleinen Jungen, du bist nicht mein Vater.“, knurrte er. „Entschuldige, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.“
 

„Das ist kein Besuch.“ Leon wendete sich der Schönheit zu, die mit einem betörenden Lächeln den beiden zugeschaut hatte. „Das ist Tanya, eins meiner Modelle.“
 

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Adam.“ Mit einer grazilen Bewegung stand sie auf und reichte ihm die Hand. Ihre Stimme verursachte wohlige Gänsehaut. „Einen wirklich schmucken Jungen hast du da bei dir wohnen, Leon. Dein Geschmack ist wie immer exquisit.“
 

Etwas zögerlich nahm Adam die dargebotene Hand, ließ sie dann aber schnell wieder los. Was hieß hier ‚exquisiter Geschmack’? War er ein Möbelstück oder was?
 

„Und woher kennen Sie meinen Namen?“ Adams Knurren verbesserte sich in keinster Weise, wurde nur noch ein bisschen tiefer und unzufriedener.
 

„Na, rate mal. Ich kann Gedanken lesen.“ Schelmisch zwinkerte sie ihm zu. „Nein, ernsthaft, Leon hat ihn mir verraten. Ich hab mich nämlich über die zweite Tasse gewundert, die heute in der Spüle stand, und da hat Leon mir ein bisschen was von dir erzählt.“
 

Stimmt, er hatte heute morgen die Tasse einfach stehen gelassen, als er das Haus verlassen hatte. Eine schlechte Angewohnheit, die Leon jedoch anscheinend nicht störte, wenn man nach seinem Lächeln urteilte. Aber das konnte natürlich auch an der Anwesenheit von Tanya liegen. Adam warf ihm einen kurzen Blick zu.
 

„Und was hat er Interessantes erzählt?“
 

„Oh, das du ein süßer, naiver Junge bist, der gerne mal ein bisschen aufbraust und den kleinen Kampftiger spielt, aber selten beißt und eigentlich sehr liebenswert ist.“
 

Adam durchbohrte Leon mit einem Todesblick, doch dieser ignorierte es geflissentlich.

„So, hat er das. Interessant.“
 

Er schwieg. Er wollte sich gar nicht mit dieser Frau unterhalten, die vermutlich eine Akrobatin im Bett war und es nur auf seinen Leon abgesehen hatte. Verständlich, wer tat das nicht. Aber im Moment wohnte ER in diesem Haus und im Moment hatte ER absolute Priorität, was irgendwelche Bettakrobatiken anging. Nun, genau jetzt im Moment vielleicht nicht, aber das würde sich bestimmt bald ändern.
 

„Nun ja, ich muss los. Und ihr zwei wollt bestimmt alleine sein.“ Tanya zwinkerte Adam noch ein Mal zu. „Wir sehen uns ja vielleicht noch einmal, Adam. Bye, bye.“
 

„Warte, ich bring dich zur Tür.“ Galant wie ein Gentleman hielt Leon ihr die Küchentür auf. „Und dein Auto muss wohl auch noch vom Schnee befreit werden.“
 

“Oh, würdest du das tun? Du bist ein Schatz, Leon!“
 

Sich anlächelnd verließen sie die Küche. Adam hörte noch, wie sich unterhielten und dann nach draußen gingen, doch er konnte den Inhalt ihrer Unterhaltung nicht verstehen. Es war auch egal. Brodelnd vor Wut stellte er sich ans Fenster und beobachtete, wie Leon mit einem Handbesen den Schnee von den Scheiben ihres tollen Mercedes’ fegte. Super Gentleman. Wirklich. Er trug nicht mal einen Mantel oder sowas. Sollte er krank werden, würde Adam sich jedenfalls nicht um ihn kümmern. Ne, konnte er vergessen. Diese Tanya würd das sicher liebend gern für ihn übernehmen. Am Besten noch im Krankenschwesternoutfit.

Verdammt!
 

Er war eifersüchtig, er war bis in die letzte Haarspitze eifersüchtig. Aber, was noch viel schlimmer war, er hatte nicht mal das Recht dazu. Keinerlei Anrecht auf Leon, nichts, nada, niente. Er würde ihn nicht zur Rechenschaft ziehen dürfen. Und das machte ihn noch um einiges fuchsiger. Leon konnte rummachen, mit wem er wollte, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. Verdammt, wieso war das Leben so ungerecht? Niedergeschlagen lehnte er seine Stirn gegen die Fensterscheibe. Er wollte Leon haben. Er wollte ihn für sich, nur für sich. Aber er konnte mit so einem Mordsweib niemals konkurrieren. Niemals.
 

Einige Augenblicke später kam Leon wieder rein, sich den Schnee von den Schultern klopfend.
 

„Meine Güte, ist das ein Wetter.“ Er strich sich kurz durch die Haare. „Wieso bist du nicht mit dem Bus gefahren? So waren meine Bemühungen der letzten Tage für die Katz’.“
 

Gemächlich drehte sich Adam um, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, und sah Leon ausdruckslos an. Ihm war zum Heulen zu Mute, aber das wollte er nicht zeigen.
 

„Schon gut. Mir tut nur noch der Hals ein bisschen weh, ist nicht der Rede wert.“
 

Leon zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Ich mach dir trotzdem mal einen Tee. Sicher ist sicher.“
 

„Mhm.“ Er legte den Kopf ein wenig schief. „Sag mal, welches Motiv malst du mit ihr?“
 

„Hm? Nichts besonderes. Erotik. Akt. In einem netten Ambiente, nichts weiter.“
 

„Akt?“ Adam schluckte. Das wurde ja immer besser.
 

„Ja, Akt.“ Leon warf ihm kurz einen fragenden Blick zu, während er Wasser aufstellte und in eine Tasse den Teebeutel und drei Löffel Zucker gab. „Wieso so erstaunt?“
 

„Uhm. Nichts weiter.“ Er atmete einmal tief durch. „Kann ich es mal sehen? Das Bild? Oder, was du bis jetzt auch immer hast. Die Skizzen?“
 

„Klar. Die Staffelei ist oben noch aufgebaut, kannst es dir mal anschauen. Ich komm gleich nach, sobald der Tee fertig ist.“
 

„Mhm, okay.“
 

Akt. Dieses eine Wort brannte sich in Adams Vorstellung wie ein flammendes Eisen ein, während er nach oben ging. Akt. Diese Frau räkelte sich komplett nackt vor Leons Augen, vor Leons Künstleraugen, vor Leons Männeraugen. Er sah sie an, sah jedes bisschen von ihr genau an, musterte ihre wallenden Haare, den kirschroten Mund, den flachen Bauch, die runden, wohlgeformten Brüste, die straffen Schenkel und, vor allem, den Ort zwischen ihren Schenkeln. Wurde er erregt? Betrachtete er sie nur als Kunstobjekt? Wohl kaum. Nicht bei so einer Frau. Natürlich, Leon war ein Profi. Aber trotzdem, konnte man es komplett ausblenden, wenn so eine Schönheit vor einem lag, und sich nur auf die Arbeit konzentrieren? Adam konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.
 

Oben war es beheizt und angenehm warm, wie immer. Einer der Diwane war weiter in die Mitte des Raumes gerückt. Darauf befanden sich mehrere Kissen und feine, dünne Decken, die sehr zerwühlt wirkten. In geringer Distanz dazu hatte Leon seine Staffelei und einen Stuhl aufgestellt. Adam trat zur Staffelei, auf der sich noch die Leinwand befand. Momentan befand sich darauf nur eine Bleistiftskizze ohne Farbe, doch das reichte schon aus.
 

Tanya lag mit dem Kopf nach unten auf dem Diwan, ein Bein leicht angewinkelt, während das andere ausgestreckt war. Die langen Haare fielen in einem dichten Schleier zu Boden, und eine ihrer Hände hatte sie in die Decken um sie herum gekrallt, während die andere locker auf ihrem Bauch lag. Die Augenlider hatte sie leicht gesenkt, so dass die Wimpern einen dunkeln Schatten auf ihre Augen warfen, und die Lippen waren lasziv geöffnet. Das Kissen- und Deckenwirrwarr um sie herum gab dem ganzen Bild noch einen weiteren, sexuell anreizenden Touch.
 

Leon war ein absolutes Genie. Das gesamte Bild wirkte, als ob Tanya tatsächlich vor ihm liegen würde. Als ob die Stimmung in dem Bild nach draußen treten, den Betrachter umklammern und nie wieder loslassen würde. Wunderbar. Perfekt. Nur, welche Stimmung herrschte wohl, während er zeichnete? Was fühlte Tanya, wenn sie von diesen Augen betrachtet wurde? Was Leon, während er diese Stimmung einfing?
 

Er starrte die Leinwand immer noch an, als Leon mit dem Tee kam.
 

„Und, gefällt es dir?“, fragte er und drückte Adam die Tasse in die Hand.
 

„Mhm. Wie jedes deiner Bilder.“
 

„Ah. Du starrst sie so an. Gefällt SIE dir?“ In seiner Stimme klang ein Lachen mit.
 

„Schon vergessen, ich bin schwul.“ Adam drehte sich leicht zu ihm und sah ihn von unten herab an. „Gefällt sie dir?“
 

„Hm, natürlich. Sie ist eine sehr erotische Frau und hat Charakter.“
 

„Ward ihr miteinander im Bett?“ Er hatte den Drang danach, den Blick zu senken, aber er zwang sich, Leon anzuschauen. Leon und seine Reaktion.
 

Dieser sah ihn nur leicht amüsiert an. „Nein, wie kommst du da drauf?“
 

„Weil sie.. weil das...“ Mit einer hilflosen Bewegung umfasste er den ganzen Raum. „Sie gefällt dir. Und ich kann mir vorstellen, dass die Stimmung... also, wenn du zeichnest, dass es wirklich knistert. Und, ich mein... sie ist ja sicher auch nicht abgeneigt.“
 

Leon begann, die Staffelei abzubauen. „Ich hab kein Bedürfnis, mit ihr ins Bett zu steigen. Sie ist sehr sexy, ja, aber mehr nicht. Außerdem,“, er warf Adam ein Lächeln zu, „ist sie verheiratet.“
 

„Was?“ Adam sah ihn komplett aus der Fassung gebracht an. „Sie ist verheiratet? Das ist nicht dein Ernst, oder? Und ihr Mann lässt es zu, dass du sie zeichnest?“

„Ja. Er vertraut ihr und weiß, dass er keinen Grund zur Eifersucht hat. Sie sind schon seit längerem zusammen, Misstrauen gibt’s bei denen nicht. Außerdem sind die Bilder, die ich von ihr male, auch für ihn. Ein Geschenk sozusagen.“
 

Vertrauen. Adam hatte in dieser Sache kein Vertrauen zu Leon, aber sie waren ja auch nicht zusammen. Oder verheiratet.
 

„Aber, trotzdem. Ich mein, da liegt eine nackte Frau vor dir und du wirst nicht erregt?“
 

„Ich bin Profi, Adam.“ Er räumte die Sachen in einen Schrank, ging zum Diwan und brachte die Decken dort ein wenig in Ordnung. „Ich sehe das Modell nur als das, was es ist: ein Objekt, das ich zeichne. Nicht mehr und nicht weniger.“
 

„Mhm.“ Der Junge trat hinter den Diwan und strich über die Lehne. Wie war es wohl, so von Leon gezeichnet zu werden? Seine Augen über den nackten Körper gleiten zu spüren? Wie war es, nackt vor ihm zu liegen und ihm alles, wirklich alles preiszugeben? „Willst du mich zeichnen?“
 

Leon zog eine Augenbraue hoch. „Was hab ich denn bis jetzt die ganze Zeit getan?“
 

„Nicht so.“ Adam atmete einmal tief durch und sah ihm dann fest in die Augen. „Du hast keinen Akt von mir gezeichnet.“
 

Der Künstler musterte ihn scharf. „Du willst, dass ich einen Akt von dir... du...“ Er war eindeutig verwirrt. Und auf diese Frage unvorbereitet. „Du warst doch sonst immer so dagegen?“
 

„Ich will’s ausprobieren. Wie das ist.“ Sein Herz schlug ihm wie wild bis zum Hals. „So schwer kann das doch nicht sein. Und langsam wird’s langweilig, immer nur angezogen oder halbangezogen. Ich will auch eine Herausforderung haben.“
 

Es waren fadenscheinige Ausreden, aber für Leon musste das genügen. Er wollte keine Herausforderung, er wollte Leon. Er wollte seine Augen auf sich spüren, wollte wissen, wie es war, ihm alles darzubieten, ohne Wenn und Aber.
 

„Gut.“ Leon sog die Luft ein und atmete langsam aus. „Dann zieh dich aus.“
 

Er nahm einen Block und einen Bleistift heraus und setze sich auf den Stuhl, die Augen auf Adam gerichtet.
 

Dieser drehte ihm den Rücken zu und starrte erst einmal einige Augenblicke auf den Diwan. Er wusste nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Und er wollte es auch nicht. Nicht mehr.
 

Langsam zog er seinen Pullover aus und warf ihn achtlos auf den Boden, ließ das T-Shirt, das er darunter trug, kurz darauf folgen. Befreite sich von den Socken, ohne auch nur einen Blick zu Leon zu werfen. Doch er spürte sie, die aufmerksamen Blicke, die jede seiner Bewegungen verfolgten. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Rücken aus und das Kribbeln in seinem Bauch wurde mit einem Mal stärker, noch viel stärker. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Knopf seiner Hose und ließ sie nach unten gleiten. Er bebte am ganzen Körper. Unkontrollierbar. Zögernd zog er seine Pantys nach unten und warf ihn auf den restlichen Kleiderhaufen. Nervös drehte er sich um.
 

„Und jetzt?“
 

Er unterdrückte das Verlangen, sich mit den Händen zu bedecken. Verdammt, Leon hatte ihn doch schon mal nackt gesehen, wieso machte er dann so ein Theater draus? Und er war sicher nicht der erste nackte Junge vor Leons Augen. Mal davon abgesehen, nach dem Sport duschte er sich auch immer mit den anderen, ohne diese Scham. Wieso jetzt? Wieso zitterte er am ganzen Körper? Wieso würde er sich am liebsten in eine der Decken wickeln und nie wieder da raus kommen? Aber er bereute es nicht. Er bereute es immer noch nicht. Denn gleichzeitig tat es unheimlich gut, wie Leons Augen über seinen Körper glitten. Über die helle Haut, die Schlüsselbeine entlang, über seine Brust nach unten, weiter nach unten. Adam schluckte.
 

„Setz dich. Oder leg dich hin. Wie du willst. Mach es dir bequem.“
 

Leons Stimme war ruhig, wie immer. Adam hätte sich gewünscht, zumindest den Anflug von Erregung zu hören. Ein bisschen Heiserkeit, ein bisschen rauer. Aber er war ein Profi. Er sah ein Modell nur als das, was es war. Ein Objekt, das er zeichnete.
 

Vorsichtig setze Adam sich hin, zog ein Bein an sich und ließ das andere nach unten baumeln. Seinen einen Arm ließ er locker an sich runter hängen, den anderen legte er mit dem Handgelenk auf sein angewinkeltes Knie, doch irgendwie war er nicht zufrieden damit. Er konnte Leon sehen. Er konnte sehen, wie er ihn beobachtete.
 

„Du kannst die Augen schließen.“, meinte Leon, immer noch in einem neutralen Ton.
 

Adam nickte, lehnte seinen Kopf zurück und tat wie ihm geheißen. Besser, viel besser. Jetzt war er in der Lage, an irgendwas anderes zu denken. Nicht dauernd Leons Blick im Kopf zu haben. Nicht dauernd dieses wahnsinnige Gefühl im Bauch spüren.
 

Pustekuchen.
 

Er spürte sie. Diese rauchgrauen Augen, wie sie über seinen Körper fuhren. Wie sie ihn streichelten. Von den Haaren nach unten, über seinen bloßgelegten Hals, über die Brust, die Bauchmuskeln entlang. Sie blieben kurz an seinem Bauchnabel hängen, zögernd, zaudernd, bevor sie noch weiter nach unten glitten, über sein Schambein, sein Glied, die festen Schenkel entlang zu dem Knie und schließlich zu den Zehenspitzen. Immer wieder. Sein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Langsam breitete sich in seinem ganzen Körper Hitze aus. Es war zum Verrückt werden. Es war purer Wahnsinn. Es war nicht zum aushalten. Aber er musste weiterhin sitzen bleiben, weiterhin diese Blicke, die ihn in Flammen setzten, ertragen. Weiterhin sein Herz wie wild schlagen lassen, als ob es ihm gleich aus der Brust springen würde. So tun, als ob nichts wär. Als ob rein gar nichts wär.
 

Adam wusste nicht, wie lange er so da gesessen hatte, als er hörte, wie der Block zu Boden fiel. Oder, besser ausgedrückt, knallte.
 

„Ich brauch eine Pause.“
 

Noch bevor er reagieren konnte, war Leon bereits aufgestanden und hatte den Raum verlassen. Überrascht blickte er ihm nach, sprang dann auf und raffte sich eine der dünnen Decken um die Hüfte. Er wollte ihm folgen, überlegte es sich dann aber kurz anders und nahm den Block hoch. Und hielt die Luft an.
 

Nichts.
 

Er wusste zwar nicht genau, wie lange er dort gesessen hatte, aber bestimmt mehr als eine halbe Stunde. Und was hatte Leon zu Stande gebracht?
 

Nichts.
 

Keinen einzigen Strich. Keine Radierung, nicht mal der Versuch, irgendwas zu Zeichnen. Er hatte ihn einfach nur angeschaut. Die ganze, gottverdammte Zeit, in der er tausend Tode vor Aufregung gestorben war, hatte Leon nur auf seinem Stuhl gesessen und ihn angeschaut. Langsam stieg brodelnde Wut in ihm auf. Was dachte sich der Mistkerl eigentlich dabei? Was, zum Teufel noch mal, dachte er sich dabei?
 

Zornig stapfte er nach unten, so dass man seine Schritte vermutlich im ganzen Haus hören konnte. Leon war in der Küche, wie nicht anders zu erwarten. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf und kam mit einer Mördermiene auf ihn zu.
 

„Was, verdammt nochmal, soll das?“ Er war stark bemüht, seine Stimme zu beherrschen, doch es wollte nicht so ganz klappen. Der Zorn war eindeutig herauszuhören.
 

Leon stand mit dem Rücken zu ihm. Er nippte gerade an einem Glas mit Wasser, stellte es dann langsam ab und drehte sich mit einem tiefen Einatmen zu Adam. Sein Blick war nicht zu deuten.
 

„Was?“
 

“Was? WAS? Das fragst du noch? Du hast nicht einen Strich, nicht einen einzigen, beschissenen Strich gezeichnet. Weißt du, was das für mich für eine Überwindung ist, mich auszuziehen und dir so zu präsentieren? Weißt du, wie verdammt quälend das ist? Und du bemühst dich nicht mal. Schaust mich nur an. Die ganze Zeit. Verdammt, was sollte das?“
 

Er sah ihn nur ausdruckslos an. „Ich bin auch nur ein Mann.“
 

„Ein... was?“ Adam starrte ihn fassungslos an. „Was soll das bitte heißen, verdammt?“
 

„Dass ich von deinem Anblick nicht unberührt geblieben bin, was denn sonst?“ Leons Stimme nahm einen verärgerten Ton an.
 

„Du bist ein Profi.“
 

„Anscheinend ja nicht Profi genug.“
 

„Du hast dich nicht mal von Tanya ablenken lassen.“ Inzwischen stieg in Adam so etwas wie Verzweiflung hoch. Verzweiflung und Unglaube. Absoluter Unglaube.
 

„Du bist nicht Tanya.“
 

„Nein, ich bin ein kleiner, naiver Junge, verdammt. Du willst mir doch nicht... du meinst doch nicht... Ich mein, verdammt, du lässt dich von mir erregen, aber von Tanya nicht?“
 

Leon rieb sich über die Stirn, einen erschöpften Ausdruck im Gesicht. „Können wir das bitte lassen?“
 

„Nein.“ Adam sah ihn an. Nahm seine Hand von seiner Stirn und sah ihm in die Augen. In diese wundervollen, rauchgrauen Augen. Diese Augen, die so viele verschiedene Facetten aufwiesen. Diese Augen, die ihn begehrten. „Du willst mit mir schlafen?“ Sein Herz wollte aus seiner Brust brechen, schlug so wild, dass es sein Innerstes komplett aufwühlte. Aber jetzt, genau jetzt bot sich die Chance, die er so sehr gewollt hatte. „Dann tu es doch.“
 

Sein letzter Satz war nur ein Flüstern. Für einige Augenblicke sahen sie sich nur an.
 

„Weißt du eigentlich, was du da sagst?“
 

„Ja.“ Nein, eigentlich nicht. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker, immer stärker. Nein, er wusste nicht, was er da sagte, was er da tat.
 

Zu spät.
 

Leons Blick verdunkelte sich. Das Grau einer Gewitterwolke. Das Grau einer stürmischen See. Er zog Adam zu sich, nahm sein Gesicht vorsichtig zwischen seine Hände und küsste ihn. Adam schloss die Augen. Zu spät. Kein Zurück. Seine Finger krallten sich in Leons Hemd. Er spürte das vorsichtige Vorantasten von Leons Zunge, öffnete bereitwillig den Mund, um sie zu empfangen. Es schmeckte süß, wundervoll süß. Seine Zunge umrundete die Spitze von Leons, glitt an ihr entlang, in seine Mundhöhle. Er hatte mit André Erfahrung gesammelt, genug Erfahrung. Zumindest in diesem Bereich. Leon spielte mit ihm. Entzog sich immer wieder seiner suchenden, forschenden Zunge, stupste sie an, leckte über ihre Oberfläche. Adam erschauderte. Zog Leon noch fester an sich. Der Künstler löste seine Hände von Adams Gesicht, strich mit ihnen über seine nackten Schultern zu seinen Schulterblättern, glitt mit den Fingerspitzen sein Rückgrat entlang zu dem dünnen Stoff, der um seine Hüften geschlungen war. Mit langsamen Bewegungen streichelte er die Haut direkt am Stoff, löste sich von Adams Mund und blieb mit dem Gesicht einige Zentimeter von ihm entfernt. Ein dünner Speichelfaden verband noch kurz ihre Zungenspitzen, bevor er abriss. Leon beugte sich über seinen Hals, küsste genießerisch die weiche Haut, biss dann vorsichtig hinein und saugte daran. Zärtlich strich er mit der Zunge über die Stelle, während Adam ihn noch fester an sich zog. Er war nicht in der Lage, irgendwas zu machen. Er wollte es genießen, nur genießen. Wollte jeden einzelnen Moment, jede Berührung in sein Innerstes sperren, um sie nicht zu verlieren. Auf keinen Fall zu verlieren.
 

Behutsam wanderten Leons Hände zu Adams Seiten, strichen mit den Fingerkuppen über die empfindlichen Stellen, verursachten weitere Schauder. Er beugte Adam ein wenig nach hinten, senkte seinen Kopf und nahm eine seiner Brustwarzen in den Mund. Vorsichtig saugte er daran, ließ sie wieder los und strich mit den Zähnen drüber. Adam entwich ein leises Stöhnen. Erschrocken riss er die Augen auf und biss auf einen Knöchel. Verdammt. Verdammt, er verlor die Kontrolle über sich. Verdammt.
 

Leon wechselte zur anderen Brustwarze, während er langsam das Tuch um Adams Hüften nach unten streifte. Seine Finger wanderten zu seinen Pobacken, glitten die Innenseiten der Schenkel entlang und wieder nach oben. Er ging in die Knie. Mit seiner Zunge zog er eine feuchte Spur über Adams Bauchdecke, der inzwischen seine Finger in Leons Haaren verkrallt hatte. Die Hitze breitete sich in seinem ganzen Körper aus, brachte ihm zum Erzittern. Raubte ihm sein vernünftiges Denkvermögen.
 

Leons Mund war inzwischen bei seinem oberen Schambereich angelangt. Vorsichtig saugte er an der empfindlichen Stelle, leckte genüsslich über den Lendenbereich, ohne sonderlich auf Adams Stöhnen zu achten. Ging langsam weiter nah unten.
 

Es gab kein Zurück. Nein. Er war sich nicht sicher. Verdammt. Er wollte es. Trotzdem. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm auf. Scheiße.
 

Kein Zurück?
 

„Nein, warte!“
 

Nicht hier, nicht jetzt. Nicht so.
 

Leon hielt inne. Er lehnte kurz seine Stirn gegen Adams Unterbauch und sah dann auf, sah ihn Adams wunderbar hellblaue, kristalline und jetzt, in diesem Moment, hilflosen Augen. Seine Finger in Leons Haaren zitterten. Sein gesamter Körper bebte.
 

„Nein?“
 

Leons Stimme war tonlos.
 

„Nein.“
 

Adams Stimme bebte.
 

„Nicht hier. Nicht... nicht jetzt. Ich... will... ich kann... ich weiß nicht.“
 

Mehr als unzusammenhängendes Gestammel brachte er nicht heraus.
 

Leon seufzte kurz, richtete sich dann wieder auf und nahm Adam zärtlich in den Arm.
 

„Schon gut. Schhhh. Schon gut.“ Er strich ihm sanft durch die Haare. „Zwing dich nicht. Wenn du nicht willst, ist es okay.“
 

“Ich will doch.“ Adam vergrub sein Gesicht in Leons Hemd. „Ich will. Aber... ich... keine Ahnung... ich hab Angst.“
 

Angst vor was? Er wusste es nicht. Er hörte nur sein Herz wie verrückt schlagen, hörte das Klopfen von Leons ruhigem Herzen. Er wollte ihn, er wollte ihn so sehr. Verdammt, was war los?
 

„Angst.“ Leon sagte es ruhig. Ohne Ärger, ohne Enttäuschung. „Ich verstehe.“
 

Er konnte gar nicht verstehen. Adam verstand es ja selber nicht. Und trotzdem, es tat gut. Es tat gut, dass er ihn deswegen nicht verurteilte. Oder ihn wegstieß.
 

„Dann lassen wir es.“ Der Künstler drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Du brauchst dich nicht zu zwingen.“
 

„Nein, nein.“ Verzweifelt hielt er ihn am Hemd fest, bevor er sich komplett von ihm lösen konnte. „Nein. Ich will es. Ich zwing mich nicht. Ich... ich brauch nur... es war so spontan... ich hab’s mir nicht überlegt... es war zu plötzlich... ich... keine Ahnung...“
 

„Schon gut. Beruhig dich. Ich mach dir ja keinen Vorwurf daraus.“ Er lehnte seine Stirn gegen Adams. „Wie wär es, ich werde jetzt gehen und noch ein paar Sachen erledigen. Du bleibst hier, kannst dir alles in Ruhe überlegen, und heute Abend, wenn du es willst, wenn du es wirklich willst, kommst du einfach in mein Zimmer, okay? Und wenn du es nicht willst, ist es auch kein Problem. Ja?“ Sanft strich er ihm über die Schläfen. „Okay?“
 

Adam nickte nur. Er kam sich so dumm vor, so schrecklich dumm. Da hatte er im Gespräch mit Muse und André gemeint, er würde es wollen, und es würde ihn tierisch aufregen, dass Leon nichts machte, und jetzt, wo er die Chance hatte, ging er auf Rückzug. So dumm, so absolut dumm. Wovor hatte er Angst? Wovor in drei Teufels Namen hatte er solche Angst?

Leon küsste ihn noch einmal. Sanft. Unendlich zärtlich.
 

„Bedenke aber bitte eins,“, er strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, „solltest du heute Abend kommen, werde ich nicht mehr abbrechen können. Okay?“
 

Adam nickte wieder nur. Für einen kurzen Augenblick drückte Leon ihn nochmal an sich, musterte ihn einige Sekunden und verließ dann den Raum. Ein wenig später hörte er die Eingangstür ins Schloss fallen. Wie von unsichtbaren Fäden losgelassen ging er in die Knie, die Decke um seine nackten Schultern ziehend. Verdammt. Verdammte Scheiße. Wieso? Wieso hatte er nur den Rückzug angetreten? Wieso? Er verstand es nicht. Wovor hatte er Angst? Vor den Schmerzen? Vor der Lust? Vor dem danach?
 

Er zog die Knie an seinen Körper, umschlang sie fest mit seinen Armen und starrte einen Punkt auf dem Boden an. So jämmerlich. So schrecklich jämmerlich. Erst provozierte er es, forderte es heraus, und kniff dann den Schwanz ein. Jämmerlich. Wieso war Leon nicht ausgerastet? Er hätte es verstanden. Er hätte es in keinster Weise übelgenommen. An seiner Stelle... Ja, an seiner Stelle wäre er durchgeknallt, hätte ihn beschimpft und angeschrieen. Alles. Nur nicht zärtlich in den Arm genommen und getröstet.
 

Vor was hatte er also Angst?
 

Irgendwie plötzlich erschöpft stand er auf, schlurfte nach oben ins Atelier und zog seine Klamotten wieder an. Er wagte es gar nicht, sich umzuschauen. Es wirkte so leer. Ohne Leon wirkte es groß und leer. Kein erotischer Funken, der überspringen konnte. Nichts.
 

Er ging ins Wohnzimmer, legte sich auf die Couch und schloss die Augen. Leons Geruch lag in der Luft. Seine Präsenz. Wie an jeder Stelle in diesem Haus. Aber ohne ihn, ohne seine tatsächliche Anwesenheit, wirkte es immer noch leer. Leblos. Kaum zu glauben, wie viel Leben er mit sich brachte. Wie viel Leben in ihm steckte.
 

Mit einem Unterarm über die Augen gelegt, beruhigte er sich langsam. Nach und nach war er wieder in der Lage, ruhig und vernünftig zu denken. Die Erregung und die Unsicherheit auszusperren.
 

Wo war das Problem?
 

Die Schmerzen.
 

Es war normal. Es würde beim ersten Mal immer Schmerzen geben, da kam er nicht drum rum. Irgendwann würde er sich daran gewöhnen, irgendwann würde es nichts mehr ausmachen. Und Leon war zärtlich. Vorsichtig. Er würde auf ihn achten, würde ihm nicht weh tun wollen. Niemals.
 

Die Angst zu Versagen.
 

Leon erwartete von ihm keinen Akrobaten oder ein plötzliches Naturtalent. Er wusste, dass es Adams erstes Mal sein würde. Das er weder Übung noch Erfahrung hatte. Leon würde ihn leiten, würde ihm zeigen, was gut war, was schlecht war, was er vermeiden oder beachten solle. Würde es nicht klappen, würde er es einfach nochmal versuchen. Oder ihn einfach in den Arm nehmen, wie gerade eben auch. Er würde ihm nichts vorwerfen, bestimmt nicht.
 

Die Folgen.
 

Ja, davor hatte er Angst. Wahnsinnige Angst. Er liebte Leon, aber was war er für ihn? Was würde Leon danach von ihm denken, von ihm halten? Wär er noch interessant für ihn? Oder würde er ihn einfach fallen lassen? Würde er ihn benutzen? Mit ihm spielen? Ihn zu einem Werkzeug seiner Begierde machen? Oder würde er ihn lieben, seinen Körper lieben? Ihn umarmen, wertschätzen, zärtlich umfassen?
 

Er wusste es nicht. Er konnte sich die Antworten beim besten Willen nicht vorstellen, in keinster Weise. Er hatte einfach nur Angst davor, schreckliche Angst. Doch er wusste auch, dass es nichts brachte, vor dieser Angst davon zu laufen. Die Antworten würden nicht von selbst kommen, er würde etwas dafür tun müssen. Er würde es drauf ankommen lassen müssen.
 

Es war bereits dunkel und später Abend, als Leon zurück kam. Adam hatte sich keinen Millimeter von seinem Platz bewegt, aber jetzt lauschte er aufmerksam den Geräuschen von unten. Wie er den Mantel und die Schuhe auszog. Seine Schritte auf den Treppenstufen, wie er langsam nach oben kam. Auf dem obersten Absatz für mehrere Sekunden stehen blieb. Sich dann zu seinem Zimmer drehte und dort hin ging. Noch einmal im Türrahmen stehen blieb, bevor er komplett in seinem Schlafzimmer verschwand. Wie die Tür leise ins Schloss fiel. Leise. Endgültig.
 

Adam atmete tief durch. Sein Herz raste, doch er versuchte es zu ignorieren. Musste es ignorieren, um seinen Mut nicht wieder zu verlieren, seinen Entschluss nicht wieder über den Haufen zu werfen. Es brachte nichts, feige zu sein. Sollte es schmerzen, würde es eben schmerzen. Aber dann hatte er Gewissheit. Eine weitere Erkenntnis. Und würde sich nicht dauernd mit dieser elendigen Unsicherheit herumschlagen.
 

Langsam stand er auf und tapste aus dem Zimmer. Er schaltete seine Gedanken ab, versuchte nur, auf sein Gefühl zu hören. Der Weg zu Leons Tür schien ewig lang und gleichzeitig viel, viel zu kurz. Für einige Augenblicke blieb er davor stehen. Einige endlose Augenblicke. Kurz strich er sich über den Fleck, den Leon ihm an seinem Hals zugefügt hatte. Dann atmete er tief durch.
 

Und klopfte.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Oh, verdammt! Beweg dich nicht, Leon, wag es nicht mal zu Atmen, verdammt!“
 

„Was denn, soll ich etwa sterben oder was?“
 

„Halt bloß die Klappe! Meinetwegen, Hauptsache, du störst mich nicht.“
 

„Mit deinem Geschrei machst du das nur noch schlimmer. Da bewirkt mein ruhiges Geplätscher auch ni...“
 

„Aaaaaaaaaaaaah, verdammt, verdammt, verdammt, das lag soooo gut. Nur weil du mich abgelenkt hast!“
 

„Hey, schieb mir nicht die Schuld in die Schuhe, wenn du zu zittrig bist.“
 

„Du hast mich abgelenkt! Das hast du absichtlich gemacht!“
 

„Das nennt sich Strategie. Ah, ich bin dran. Und ich nehme... das.“
 

„Das ist nicht fair. Nur weil ich meinen Zug versaut habe, hast du es jetzt so leicht.“
 

„Na, wenigstens gibst du jetzt zu, dass du selber Schuld warst. Du bist halt viel zu zappelig.“
 

„Ich bin nicht zappelig! Du lenkst mich nur ab! Du bist Schuld!“
 

Leon lachte und wich dem versuchten Schlag von Adam aus. „Du bist halt zu schlecht.“
 

„Ts. Mit Muse war ich besser. Okay, er hat mich da zwar auch geschlagen, aber ich war besser.“
 

Adam funkelte Leon halb wütend an und starrte dann wieder auf den Haufen von Mikadostäbchen vor sich. Sie saßen im Wohnzimmer, Leon auf der Couch, während Adam es sich auf dem weichen Teppich bequem gemacht hatte, und spielten Mikado. Auf einem kleinen Tischchen nebenan standen eine Flasche mit Wasser, zwei Gläser so wie eine heiße Schokolade und Leons obligatorischer Früchtetee, diesmal Kirsch-Erdbeere. Draußen war es bereits dunkel, also hatten sie gedämmtes Licht angemacht, um wenigstens ein bisschen was zu sehen. Sie beide trugen im Moment nur Bademäntel, Leon einen marineblauen mit hellblauen Mustern, und Adam einen komplett weißen. Und obwohl keiner von ihnen die Nacht geschlafen hatte, waren sie immer noch putzmunter. Somit war nach dem Abendessen die Frage aufgekommen, was sie noch machen wollten, und sie hatten sich für Mikado entschieden. Wieder eine weitere Sache, die Adam an Leon kennen gelernt hatte. Dieser egozentrische und höchst erwachsen wirkende Künstler hatte eine breite Sammlung an Spielen, von Karten- über Brett- bis hin zu Gesellschafts- und Konsolenspielen, die er scheinbar auch regelmäßig mit Sachiko und anderen Spielbegeisterten herauskramte. Und diesmal war eben Adam das Opfer gewesen.
 

Dieser musste lächeln, als er den Tag noch einmal Review passieren ließ, während er Leon zuschaute, wie er sich auf das nächste Stäbchen, das er aus dem Haufen rausklauben wollte, konzentrierte. Seine hochgesteckten, immer noch feuchten Haare fielen ihm dabei teilweise über die Schuler und hinterließen einige Wassertropfen auf der Glasoberfläche des Tisches.
 

Nach einem äußert schmackhaften Frühstück hatte Leon Adam zur Schule gefahren, was Adam letztenendes sogar ganz recht gewesen war, da er sich direkt an Muse’ Hals geschmissen und ihm alles brühwarm erzählt hatte. Dieser hatte ihn nur äußerst überrascht angeschaut und ihn dann wegen des fehlenden Kondoms zusammen geschissen, jedoch war es bei Adam in einem Ohr rein gegangen und beim anderen wieder rausgekommen, ohne bleibende Wirkung in seinem Gehirn zu verursachen. Er hatte den gesamten Vormittag förmlich in irgendeiner Traumwelt geschwebt, was ihm nicht nur die ein der andere Rüge der Lehrer eingebracht hatte, sondern auch freundschaftliche Neckereien von Muse. Schließlich hatte ihn Leon auch abgeholt, der die Zeit nicht zum Schlafen, sondern zum Einkaufen und Kochen verwendet hatte, wie Adam feststellen musste, als sie wieder zurück in der Villa waren. Und, was er nie gedacht hatte, Leon war ein begnadeter Koch, ein äußerst begnadeter Koch. Er hatte ihm ein Drei-Gänge-Menü serviert, und das auf höchstem Niveau. Wenn er es genau bedachte, war Leon eigentlich die perfekte Hausfrau. Er kochte erstklassig, räumte regelmäßig und höchst penibel auf, wusch und bügelte sogar seine Wäsche selber und scheute sich nicht, sich Samstagvormittag in das Einkaufsgetümmel der Supermärkte zu stürzen. Wäre er eine Frau, hätten ihn die Männer wohl schon reihenweise geheiratet. Dummerweise fehlten ihm dabei jedoch gewisse weibliche Eigenschaften und Attribute. Dafür hatte er gewisse andere zu Genüge.
 

Was er Adam auch kurz nach dem Mittagessen erneut bewiesen hatte.
 

Sie hatten noch einmal miteinander geschlafen. Mitten am Tag im Wohnzimmer. Bei dem Gedanken daran musste Adam ein hungriges Grinsen unterdrücken. Tatsächlich hätte er es sich nie träumen lassen, wie scharf er auf diese Berührungen hätte werden können, aber es gefiel ihm. Es gefiel ihm verdammt gut, Leon zu spüren, in seinen Armen zu liegen, von ihm umarmt zu werden, ihn zu küssen. Er liebte seinen Geruch, diese Mischung aus Aftershave und Zigarettenrauch, das Gefühl seiner warmen, glatten Haut, den Geschmack seiner Lippen und seiner Zunge. Seine zärtlichen, manchmal etwas rauen Berührungen, die sowohl sinnlich wie auch beruhigend sein konnten. Das Gewicht seines Körpers auf ihm. Den Glanz in seinen Augen, wenn er ihn hungrig erregt anschaute. Seine leise, etwas heisere Stimme, wenn er sprach, wenn er keuchte oder stöhnte. Adam liebte es. Alles.
 

Und er bereute es nicht im Geringsten, diesen Schritt gewagt, seine Angst überwunden zu haben. Er hatte weitere Seiten von Leon kennen gelernt. Und er hatte Seiten von sich selber gesehen, die er nie für möglich gehalten hatte. Wundervolle Seiten, zauberhafte Seiten. Mal davon abgesehen schien ihm die Beziehung zu Leon jetzt tiefer und besser, gelöster, auf gewisse Art vertrauensvoller. Kein Wunder, sie hatten etwas sehr Intimes miteinander geteilt. Vielleicht nicht bei allen Personen, die miteinander schliefen, war es so, aber bei ihnen änderte es eine ganze Menge.
 

Adam seufzte leise und musterte Leon, der sich immer noch auf sein Mikadostäbchen konzentrierte, die Stirn leicht gerunzelt hatte und an seiner Unterlippe nagte. Von Zeit zu Zeit kam ihm der Gedanke, ob er die gleichen Gefühle bei einer anderen Person haben würde. André zum Beispiel. Ob sie sich wohl überhaupt ähneln würde. Ob er die gleiche Lust, den gleichen Hunger verspüren würde. Jedoch waren diese Gedanken zu verführerisch. Er schuldete Leon nichts, natürlich, sie waren schließlich nicht zusammen. Trotzdem wusste er instinktiv, Leon würde es nicht gefallen, wenn Adam mit jemand anderem ins Bett ginge. Nicht aus Liebe, eher aus Besitzgier. Und er wollte um keinen Preis dieses Gefühl, dieses Etwas, was zwischen ihnen herrschte, er jedoch nicht konkret benennen konnte, aufs Spiel setzen. Es war zu kostbar, zu wertvoll. Mal davon abgesehen, dass er im Moment nicht ernsthaft jemand anderen an seinen Körper lassen wollte als Leon. Leon und seine Finger, Leon und seinen Mund, Leon und seine Hände. Alles, Hauptsache, es gehörte zu Leon.
 

Genüsslich dachte Adam an den Nachmittag zurück, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Es war ja schon die reinste Seelenfreude, ein Bad in einem Whirlpool zu nehmen, aber ein Bad in einem Whirlpool zu nehmen und dabei in Leons Armen zu liegen, kam dem Paradies schon sehr, sehr nahe. Und der erotische Touch blieb dabei in keinster Weise aus. Er seufzte innerlich. Zwei Mal Sex und er war schon zu einem Nymphomanen mutiert. Nun ja, nach achtzehn Jahren kompletter Abstinenz war es vielleicht nicht mal verwunderlich. Und wenn ein Mann wie Leon der Grund für die Beendung der Abstinenz war, war es dann wohl wirklich keine Überraschung, wenn man plötzlich eine neue Sucht entwickelte.
 

Danach hatten sie jedenfalls nur etwas Kleines zu Abend gegessen und sich dann ins Wohnzimmer begeben, immer noch in ihren Bademänteln. Aber da in Leons Kleinvilla so ziemlich jeder Raum rund um die Uhr beheizt zu sein schien, war es selbst bei dem stürmischen Wetter nicht störend, nur so leicht bekleidet zu sein. Und zumindest kam Adam auf diese Weise immer wieder dazu, den Anblick von Leons Schenkeln zu genießen.
 

„Mist.“ Leon sah fast schon vorwurfsvoll das Stäbchen an, das gegen ein anderes gestoßen war. „Du bist dran.“
 

„Ha, der große Leon scheint auch nicht perfekt zu sein.“ Adam grinste ihn an und begutachtete dann kritisch den Haufen, der ihn vor ein schier unlösbares Problem stellte. Es war kein einziges Stäbchen vorhanden, das er bekommen konnte, ohne nicht zig andere zu verwackeln.
 

„Hab ich auch nie behauptet. Nur, dass ich sehr, sehr nahe dran bin.“
 

„Ich liebe deine Arroganz, wirklich.“
 

„Was denn, nur meine Arroganz? Jetzt bin ich ernsthaft verletzt.“
 

Die Lippen leicht empört gekräuselt sah Adam auf und beugte sich vor, um Leon einen spielerischen Schlag aufs Knie zu geben, rutschte jedoch mit der einen Hand, mit der er sich auf dem Tisch abgestützt hatte, an der glatten Glasoberfläche aus und knallte ziemlich ungalant auf den weichen Teppich, wobei er den Tisch zum Wackeln und damit auch den Mikadohaufen zum Einsturz brachte.
 

„Au, au, au... alles deine Schuld, Leon. Arg, hör auch zu Lachen!“
 

„Das sah aber so putzig aus.“ Leon lehnte sich laut lachend nach hinten, den Kopf zurück gelehnt, und hielt sich halb eine Hand vor den Mund.
 

„Putzig? PUTZIG? Du nennst mich putzig? Ich zeig dir gleich, wie putzig ich sein kann!“
 

Ohne weiter auf das Chaos auf dem Tisch zu achten, stürzte er sich auf Leon, so dass dieser durch den Schwung mit dem Rücken auf die Couch fiel, und ließ seine Hände unter seinen Bademantel gleiten. Er hatte während ihrem gemeinsamen Bad noch etwas herausgefunden: Leon war kitzelig. Verdammt kitzelig. Also nutze er diese Erkenntnis und kitzelte ihn an seinen empfindlichen Seiten entlang, was bei diesem sofort einen weiteren Lachanfall wie auch atemloses Keuchen hervorrief.
 

„Ah... Adam... hör auf, verdammt!“
 

Bevor Adam ihn komplett außer Gefecht setzen konnte, zog er den Jungen an sich heran und küsste ihn. Behutsam, aber trotzdem ein bisschen rau, ließ er seine Zunge über seine Lippen gleiten, saugte leicht an der Unterlippe und biss vorsichtig hinein. Seine Taktik zeigte, wie er es auch nicht anders erwartet hatte, sofort Wirkung. Adam hielt inne und erwiderte den Kuss. Schloss genießerisch die Augen, entspannte sich, nahm seine Hände jedoch nicht von Leons Seiten.
 

Nach einigen Augenblicken löste Leon sich mit einem Lächeln von Adam.
 

„Du bist wirklich ein kleiner Kampftiger.“
 

Adam legte sich etwas bequemer auf seinem Gastgeber hin und sah ihn von unten her an. „Und du unfair. Das ist ne ganze linke Masche, weißt du das? Richtig fiese Taktik.“
 

„Anders bringt man dich ja kaum zur Räson. Selber Schuld, wenn du so wild bist.“
 

„Ts, das nennst du wild? Du bist wohl nur Schmusekätzchen gewöhnt, was?“
 

„Allerdings. Kampftiger wie du sind mir noch nicht untergekommen. Wobei, du kannst ja durchaus auch zur Schmusekatze mutieren.“
 

„Miau!“
 

Leon lachte leise, und Adam spürte seinen Brustkorb an seinem Gesicht vibrieren. Er musste lächeln. So, wie jetzt, könnte er ewig liegen bleiben. Er spürte Leons Hand in seinem Haar, wie er sanft durch die schwarzen Strähnen strich, zum Nacken runter und ihn leicht kraulte. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass er seine Augen geschlossen hatte und sanft, entspannt, lächelte. Adam kuschelte sich noch etwas enger an ihn, strich mit den Fingerspitzen einer Hand zärtlich seine Seiten entlang nach oben zu seiner Brust. Er spürte, wie sie sich durch Leons ruhigen Atem hob und senkte, hörte seinen Herzschlag, fühlte die Wärme. Mal wieder war er nahe dran zu Schnurren. Er schien tatsächlich mehr von einer Katze zu haben als er bisher gedacht hatte. Jedoch musste er zugeben, dass es weitaus Schlimmeres denn Katzengene gab.
 

Leicht geistesabwesend umkreiste er mit einer Fingerkuppe Leons Brustwarze, strich ab und zu sanft drüber, ohne großartig auf Leons Reaktion, die ein kehliges Schnurren darstellte, zu achten.
 

“Mhm... ich könnt ewig so liegen bleiben.“
 

„Lieber nicht.“ Leon nahm seine Hand, verschränkte seine Finger mit den eigenen und drückte einen Kuss auf die Gelenke. „Irgendwann wirst du mir doch zu schwer werden.“
 

„Du bist aber so bequem.“ Adam verzog gespielt schmollend den Mund und drückte einen Kuss auf Leons Brustbein. „Oh...“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Erinnere mich bitte morgen dran, dass ich noch zur Arbeit muss. Würd mich nicht wundern, wenn ich es vergesse.“
 

„Arbeit?“
 

„Ja. Ich arbeite doch im ‚Paradise Hill’, hab’s dir doch erzählt. Jeden Samstag in der Nacht.“
 

„Mhm.“ Leon lehnte seinen Kopf zurück. Seine nicht vorhandene Begeisterung war ihm deutlich anzusehen. „Musst du da arbeiten? Ich bin nicht sonderlich angetan davon.“
 

„Wieso?“ Adam rückte sich etwas zurecht und sah auf. „Hab gehört, du warst früher auch ab und zu dort.“
 

„Ja, war ich. Und kann deswegen auch aus Erfahrung sprechen. Die meisten Gäste sind zwar ziemlich in Ordnung, aber es gibt immer mal wieder welche, die sich nicht zurück halten können. Und die lassen dann nicht nur ihre Finger nicht bei sich, sondern auch ihren Schwanz.“
 

„Naja, es ist ja nicht so, dass ich alleine da bin. Die anderen passen schon auf mich auf.“
 

„Ach, bringen sie dich etwa auch nach Hause?“
 

„Ehm...“ Adam biss sich auf die Unterlippe. „Leon, ich bin kein kleiner Junge, ich kann auf mich aufpassen. Und, nein, sie bringen mich nicht nach Hause. Ich geh alleine.“
 

„Dacht ich mir fast schon.“ Er seufzte und fuhr ihm durch die Haare. „Und das gefällt mir nicht. Mitten in der Nacht, du alleine... das ist ein gefundenes Fressen.“
 

„Du bist ja die reinste Glucke. Du machst dir zu viele Sorgen.“
 

“Ich bin nur realistisch. Und ich weiß, was dort für Typen rumlaufen.“ Mit nachdenklichem Blick strich er sich einige Strähnen zurück. „Gut. Du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich abhole, oder?“
 

„Eh, was?“ Leicht irritiert sah er ihn an. „Du weißt schon, dass meine Schicht bis um fünf Uhr geht? Das ist mitten in der Nacht.“
 

„Macht nichts. Dann kann ich aber zumindest beruhigt sein, dass es dir gut geht.“
 

Er machte sich Sorgen. Adam konnte ihn einige Augenblicke lang nur sprachlos anschauen. Er machte sich ernsthaft Sorgen, so sehr, dass er sogar bereit war, ihn mitten in der Nacht von der Arbeit abzuholen. War das denn zu fassen? Sein Herz schien vor Freude überzuquellen. Das war ein Traum, ein Traum!
 

“Ist das dein Ernst?“ Er schluckte. „Macht dir das auch wirklich nichts aus?“
 

„Sonst hätte ich es ja nicht angeboten, oder?“
 

„Aaaaah.“ Mit einem fetten Grinsen stütze sich Adam auf und drückte Leon, der leicht überrascht zusammen zuckte, einen Kuss auf die Lippen. „Danke, vielen, vielen Dank. Ich glaub, da kriegst du auch noch nen Knutscher von meinen Eltern, die haben sich da nämlich auch ziemliche Sorgen gemacht.“
 

„Arg, du bist schwer.“ Leon schob ihn ein wenig auf sich zurecht und umschlang mit seinen Armen Adams schmale Hüften. „Freut mich, dass sie glücklich sein werden, auch wenn ich von deinem Vater wohl eher weniger einen Knutscher erfahren darf. Und bei deiner Mutter hab ich beim besten Willen nichts dagegen.“ Er runzelte leicht die Stirn. „Wie bist du eigentlich zu diesem dämlichen Job gekommen?“
 

„Muse hat mich gefragt. Er arbeitet dort jetzt schon seit zwei Jahren oder so, und hat mich mal eingeladen, dort vorbei zu schauen. Das war, als du in New York warst. Naja, und da er wegen seinem Lover nicht immer Zeit hat, hat er mich gefragt, ob ich nicht auch dort arbeiten will. Samstags ist es halt regulär, damit ich mich auch eingewöhne und so, und ansonsten eben immer, wenn Muse ausfällt.“
 

„Muse also, mhm.“
 

„Du magst ihn nicht.“ Es klang vorwurfsvoll.
 

„Tatsächlich? Ist dir das auch aufgefallen?“ Leon seufzte und setzte sich ein wenig auf. „Ich weiß, er ist dein Freund, du magst ihn und was weiß ich nicht was, aber... er gefällt mir nicht. Er ist zu labil, um dir gut zu tun.“
 

„Hatten wir das nicht schon mal? Ich hab dir doch gesagt, dass er stärker ist, als er vielleicht aussieht. Immerhin hat er sich auch mit dir angelegt.“
 

„Das hat nichts zu bedeuten. Es gibt viele Leute, die sich ohne mit der Wimper zu zucken mit mir anlegen. Trotzdem springen sie dann aus irgendwelchen anderen Gründen von der Brücke.“ Er strich sich überlegend durch die Haare. „Er ist der Typ Mensch, der sich vollkommen für die Leute, die er liebt, aufopfert. Und wenn sie ihn verlassen, ohne sie nicht mehr leben kann.“
 

„Du übertreibst.“
 

„Nein, das glaub ich nicht. Es würd mich ehrlich nicht wundern, wenn er sich von einem Hochhaus stürzt, falls sein Lover ihn mal verlässt.“
 

„Leon, die sind jetzt seit zwei Jahren zusammen.“ Adam setzte sich auf und sah seinen Maler kritisch an. „Zwei Jahre! Oh, und, was du ja nicht weißt, sein Lover ist eigentlich verheiratet und hat ein Kind. Das heißt, Muse hat es inzwischen zwei Jahre lang ausgehalten, dass er nur eine Affäre ist, die man geheim halten muss. Glaubst du ernsthaft, es gäbe irgendwas, was ihn dann noch in den Selbstmord treiben würde?“
 

„Ich mein ja nur. So wirkt er auf mich.“ Leon rieb sich kurz über die Augen. „Was wäre, wenn sein Lover ihn verlässt, weil seine Frau etwas herausfindet? Oder weil einfach bei seinem Freund die Liebe abkühlt? Sowas passiert, tagtäglich. Glaubst du wirklich, dass Muse damit zurecht kommt? Er mag ja stark auf dich wirken, aber ich bezweifle es.“
 

„Ich bin da. Und andere Leute sind auch da. Die Leute aus dem ‚Paradise’. Seine Familie. Wir würden ihn helfen und auffangen.“ Adam musterte Leon einen langen Augenblick, sah in seine rauchgrauen, im Moment sehr sanften Augen. „Es trennen sich täglich irgendwelche Paare, aber nicht jeder begeht Selbstmord. Wieso glaubst du also, dass das passieren könnte?“ Er hielt kurz inne. „Kennst du so jemanden?“
 

„Einige.“ Leon seufzte. „Einige viele. Ich kenn verdammt viele Leute, und viele, die psychisch labil sind. Leute wie Muse, die eigentlich bis in ihr tiefstes Innerstes zerbrechlich sind, obwohl sie nicht so wirken. Die eigentlich ein Wrack sind, Zeitbomben, die jederzeit explodieren können. Wie ein Pulverfass, es braucht nur den richtigen Zündstoff.“
 

„Du irrst dich.“ Adam biss sich auf die Unterlippe. „Du irrst dich gewaltig. Muse ist nicht so. Und... na ja, sollte das dir eigentlich nicht egal sein? Du magst ihn doch nicht.“
 

„Ja, er ist mir egal.“ Mit einem schiefen Lächeln strich er Adam einige Strähnen aus der Stirn. „Aber du nicht. Ich weiß inzwischen, wie sehr du ihn magst. Und wenn du ihn verlieren würdest, würdest du es aushalten? Würdest du es verkraften können?“
 

Sein Herz schlug ein bisschen schneller. „Du wärst doch da, um mich aufzufangen, oder?“
 

Die Frage war ernst gemeint. Vielleicht war er dumm und naiv, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass Leon für ihn da sein würde. Egal was passierte, er würde ihn in den Arm nehmen, ihm tröstende Worte zusprechen, ihn sanft streicheln. Vielleicht war es lächerlich und kindisch, aber er war davon überzeugt.
 

Doch Leon schüttelte nur leicht den Kopf.
 

„Ich fürchte nicht. Ich fürchte, in einigen Dingen kann ich dir nicht helfen.“
 

Überrascht sah ihn Adam an, fast wie ein getretener Hund. „Wieso nicht?“
 

„Weil ich nicht perfekt bin. Und einige Schwächen habe. Weil ich häufig jemanden verletzte, ohne es zu wollen, oder ihn dann im Stich lasse, wenn er es am meisten braucht. Ich bin keine Stütze, auf die du dich verlassen kannst. Deswegen gefällt es mir nicht, dass du durch Muse vielleicht irgendwann mal so eine Stütze brauchen wirst.“
 

„Du machst dir zu viele Sorgen.“
 

Adam lächelte sanft, nahm vorsichtig Leons Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Auch wenn ihr Gesprächsthema eher einen deprimierenden Inhalt hatte, wollte sein Herz schier überquellen vor Freude. Leon machte sich Sorgen um ihn, kümmerte sich um ihn. Er wollte ihn schützen, wollte für ihn da sein, selbst wenn er es eigentlich nicht konnte. Da war was. Er hatte Recht gehabt. Da war was zwischen ihnen, was er noch nicht benennen konnte. Was aber unheimlich wertvoll, unheimlich zart und noch unheimlich zerbrechlich war. Aber es war da. Und er wollte es schützen, es stärken, so gut er konnte.
 

„Ich vertraue dir. Wenn ich dich brauche, wirst du sicher da sein. Bis jetzt hast du mich auch immer irgendwie aufgebaut, wenn ich nicht so ganz auf der Höhe war.“ Er musste grinsen. „Du wirkst zwar nach außen hin verdammt arrogant und egozentrisch, aber inzwischen weiß ich es etwas besser. Du hast deine zärtlichen, sanften Seiten, auch wenn du sie nicht immer zeigst. Und auch wenn du sie unter deinem Egoismus begraben willst, sie sind da.“ Er tippte ihm leicht gegen das Brustbein. „Ich hab sie gesehen.“
 

Leon sah ihn an. Für einen Moment sah er ihn einfach nur, ohne ein Wort zu sagen. Dann öffnete er den Mund, hielt aber inne und drehte den Kopf zur Seite, sich leicht auf einen Finger beißend. Seine Lippen verzogen sich zu einem selbstironischen Lächeln.
 

„Was ist?“ Adam legte den Kopf leicht schief. „Geschockt?“
 

„Nun, sowas hat auch noch keiner zu mir gesagt. Ja, ich bin leicht überrascht.“
 

„Ts, umso besser. Wär ja langweilig, wenn dich nichts mehr überraschen könnte. Tu ich mit Freuden, glaub mir. Dein überraschtes oder fassungsloses Gesicht ist wirklich goldwert.“
 

„Na dann, her damit, mit dem Gold.“ Er lächelte ihn schmunzelnd an.
 

„Hab ich nicht, bin eine arme Maus.“ Adam beugte sich vor und leckte kurz über Leons Hals. „Ich kann aber mit etwas anderem bezahlen, Monsieur.“
 

„Oh, gut zu wissen. Aber nicht heute Nacht. Dafür sind wir wohl beide zu müde. Außerdem sollte sich dein Hintern auch mal ausruhen dürfen.“
 

„Das stimmt allerdings.“ Er streckte sich kurz, gähnte und sah zu dem Mikadohaufen auf dem Tisch. „Schlaf hört sich verdammt verführerisch an. Aber das Zeug muss auch noch aufgeräumt werden.“
 

„Lass liegen. Das können wir auch morgen machen. Aber“, Leon warf ihm einen auffordernden Blick zu, „würdest du dich vielleicht von mir runter begeben? Leicht bist du nicht gerade, und auf der Couch schlafen will ich auch nicht.“
 

„Och, sie ist ganz bequem. Ich spreche aus Erfahrung.“
 

„Sehr schön. Ich will die Erfahrung trotzdem nicht machen.“
 

„Schon gut, schon gut, bin ja schon weg.“
 

Mit einem Lachen stand Adam auf und wartete, bis auch Leon sich in die Vertikale begeben hatte. Er schluckte kurz. Jetzt stellte sich nur die Frage, wo er die Nacht verbringen würde. Sex wollten sie beide ja nicht, also wäre es eigentlich nur normal, wenn Adam in sein eigenes Gästezimmer gehen würde, wie die Nächte davor auch. Aber irgendwie schien es nur natürlich, wenn er mit zu Leon kam. Nur war es ihm verdammt peinlich, danach zu fragen. Es wirkte aufdringlich. So, als ob er unbedingt in Leons Nähe sein wollte. Nun, es entsprach zwar den Tatsachen, aber das brauchte er ja Leon nicht unbedingt auf die Nase zu binden. Aber wenn Leon jetzt erwartete, dass er mit zu ihm ins Bett kam, er selber aber einfach in sein eigenes Zimmer gehen würde, würde er ihn wohl verletzten. Verdammt. Wieso konnte man nicht einfach fragen? So ein Mist aber auch.
 

„Willst du bei mir schlafen?“
 

Leons Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Hatte man ihm seine Gedankengänge etwa auf dem Gesicht ablesen können? Adam musterte kurz den Künstler und schüttelte dann innerlich den Kopf. Nein, Leon hatte sich vermutlich einfach das Gleiche gedacht und sich nichts draus gemacht, auch nachzufragen. Manchmal schien er keine Skrupel zu haben. Gab es eigentlich irgendetwas, was ihm peinlich war? Anscheinend ja nicht.
 

„Mhm.“ Eine leichte Röte zog sich über Adams Wangen. ‚Mhm’ war keine sonderlich tolle Antwort, aber ein begeistertes ‚JA!’ war auch nicht grad das Wahre.
 

„Ich interpretier das einfach mal als Zustimmung.“ Mit einem skeptischen Lächeln sah Leon Adam kurz an und rückte sich dann seinen Bademantel zurecht. „Gehen wir, ansonsten schlaf ich hier noch im Stehen ein.“
 

Er löschte das Licht und ging Adam voraus in sein Schlafzimmer. Ohne ein weiteres Wort schüttelte er Decke und Kissen auf, zog seinen Bademantel aus und legte sich hin, während Adam ihm dabei zuschaute und selber keinen Finger rührte. Dann warf er einen auffordernden Blick zu seinem Kampftigerchen.
 

„Also, du musst nicht ins Bett kommen, wenn du nicht willst. Du kannst auch gern die Nacht über dort stehen bleiben, aber ich weiß nicht, ob das so bequem ist.“
 

Adam zuckte zusammen, aus seinen Gedanken gerissen, und starrte Leon an. Dann, mit einem glücklichen Grinsen, das Leon in der Dunkelheit zum Glück nicht sehen konnte, ließ er den Bademantel nach unten gleiten und schlüpfte zu seinem Geliebten unter die Decke. Fast sofort schloss Leon seine Arme um ihn und zog ihn näher zu sich. Adam drückte seine Wange gegen Leons Brust und unterdrückte einen freudigen Laut. Die Wärme von Leons Haut, sein angenehmer, herber Geruch, seine starken Arme. Die reinste Wohltat. Ein Traum, der wahr geworden war.
 

„Gute Nacht, Adam.“
 

„Gute Nacht.“
 

Es dauerte nicht lange, da hörte Adam Leons regelmäßigen, ruhigen Atem. Er jedoch blieb noch eine Weile wach, genoss das Gefühl, in den Armen des Mannes zu liegen, den er liebte. Den er von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick immer mehr liebte. Langsam aber sicher kamen ihm seine Fehler nichtig vor, nicht der Rede wert. So, wie er es ihm vorhin gesagt hatte. Er mochte nach außen hin arrogant und egozentrisch wirken, doch damit übertünchte er nur seine zärtlichen, fürsorglichen und verletzlichen Seiten. Und egal, was jetzt noch passieren würde, was er noch erfahren würde oder wie Leon ihn vielleicht auch verletzten, fallen lassen würde, diese Meinung, dieses Gefühl würde sich nie ändern. Für ihn würde er immer der Mann bleiben, bei dem er sein wollte, mit dem er die Zeit, vielleicht sogar den Rest seines Lebens verbringen wollte. Er musste lächeln. Jetzt musste er diesen Mann nur noch davon überzeugen, dass er, Adam, für ihn das Selbe bedeutete.
 

Schließlich kuschelte er sich noch etwas näher an ihn, lauschte für einige Augenblicke noch auf den regelmäßigen Atem, bevor er einschlief. Bevor er die erste Nacht in den Armen des Mannes schlief, den er liebte.

Die Uhr tickte leise, nervtötend vor sich hin, unterbrach die Stille, unterstrich sie noch viel mehr. Der Schnee vor dem Fenster bedeckte sanft den Boden und schmolz fast sofort wieder dahin. Durch die Tür dröhnte der Beat der lauten Musik, das Geschrei der Menschenmenge, die aus vollen Kehlen mitsang oder versuchte, eine Unterhaltung zustande zu bringen, doch hier war man davon nahezu komplett abgeschirmt.
 

André strich sich durch die Haare und starrte auf die Kaffeetasse vor sich. Die Nacht hatte gerade erst angefangen, es war kurz nach zwölf. Eigentlich müsste er jetzt auf einem der Podeste stehen und sich an einer der Stangen räkeln, die Menge durch seine Tanzeinlage noch mehr anheizen, doch durch die lange Zugehörigkeit zu diesem Club hatte er den Status der Narrenfreiheit und konnte sich seine Pausen willkürlicher als andere setzen. Und natürlich hatte er sie sich zu dem Zeitpunkt gewählt, zu dem Muse und Adam, sein geliebter Adam, auch Pause hatten.
 

Hätte er es doch nur sein lassen.
 

„Ich frag mich ernsthaft, wieso du so geschockt bist.“ Muse beugte sich nach vorne und stützte seinen Kopf auf seinen Handflächen ab. Fast gelangweilt rührte er in seinem Kaffee. „Du hast dich doch Donnerstag erst noch gewundert, wieso sie noch nicht miteinander geschlafen haben. Und jetzt haut’s dich um?“
 

André schwieg für einen Moment und zuckte dann mit den Schultern. Er wollte eigentlich nicht darüber reden, aber Muse abzuweisen, der sich ernsthaft sorgte und helfen wollte, wäre nicht gerade die feine englische Art gewesen. Trotzdem, am Liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen und ein paar Runden geschmollt, ohne mit diesem Thema konfrontiert zu werden.
 

„Nachdem ich gehört hatte, dass sie noch nicht hatten... na ja, da hab ich wohl gedacht, ich hätte doch noch Chancen.“
 

„Vorrausgesetzt, du schaffst es, schneller bei Adam zu landen als Leon? Kaum zu glauben, dass du so blauäugig bist.“
 

Blauäugig? Ja, das war er vielleicht tatsächlich gewesen. Irgendwie hatte er sich wohl der Illusion hingegeben, Leons Charisma würde bei Adam nicht wirken. Er hatte sich geirrt, so sehr geirrt. Aber ein letzter Funken Hoffnung war geblieben. Obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Beharrlich, die ganze Zeit, und trotzdem von einem zum anderen Moment verpufft. Wenn schon nicht Leons Charisma, seinen Fähigkeiten im Bett konnte man nicht widerstehen. Wie er selber bereits am eigenen Leib erfahren hatte.
 

Trotzdem warf er Muse einen leicht verletzten Blick zu. „Ich bin nicht blauäugig, verdammt. Ich sehe nur nicht ein, die Hoffnung aufzugeben, bevor etwas feststeht.“
 

„Und jetzt bist du bereit aufzugeben? Nur weil sie miteinander geschlafen haben?“ Muse schüttelte leicht verwundert den Kopf. „Ich versteh dich nicht. Du bist bis über beide Ohren in Adam verknallt, hast aber bis jetzt noch nichts in die Richtung gemacht. Außer die Küsse, aber die sind nur Begrüßung und Verabschiedung und zählen nicht. Weder eindeutige Avancen kamen von deiner Seite, noch hast du versucht, ihn Leon vergessen zu lassen. Klar, dass du so nicht weit bei ihm kommst.“
 

„Willst du denn, dass ich was mach?“ André sah ihn kritisch an. „Ich mein, klar, ich kann schwerere Geschütze auffahren...“
 

„Solange du fair bleibst.“ Er zuckte mit den Achseln und nippte an seinem Kaffee. „Du weißt nur, ob du etwas hättest bewirken können, wenn du es ausprobierst. Und du bist mir als Partner für Adam alle mal lieber als Leon. Aber, eben, solang du fair bleibst. Irgendwelche Intrigen oder so was will ich nicht sehen.“
 

„Als ob ich das machen würde.“ Der Tänzer lachte kurz auf. „Aber du klingst grad wie eine Glucke, die ihr Kind ermahnt. Oder der große Aufpasser.“
 

„Na, irgendwer muss ja auf euch aufpassen. Ihr wisst doch alle selber nicht, was ihr wollt.“
 

André lächelte nur leicht und wendete seinen Blick nach draußen, zum Schnee, der still und leise zu Boden fiel. Nachdem Adam freudestrahlend von seinem ersten Mal erzählt hatte, hatte André ihn postwendend Zigaretten holen geschickt. Eine andere Möglichkeit, den Kleinen einige Minuten lang nicht zu sehen, war ihm nicht eingefallen. Und wäre Adam hier geblieben, hätte er bestimmt gemerkt, wie sehr sein Tete-a-tete mit Leon ihm, André, zusetzte. Er würde bald zurück kommen. Zu bald.
 

„Meinst du wirklich, ich sollte was machen?“, fragte André leise, fast schon verunsichert.
 

Er bekam keine Antwort, doch die hatte er auch nicht wirklich erwartet.
 

Muse hatte Recht. André lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Solang er nicht ernsthaft irgendetwas tat, um Adam zu erobern, würde dieser mehr und mehr Leon verfallen. Wie ein Schmetterling, der sich immer mehr im Netz der Spinne verfing. Einer Spinne mit Namen Leon. Auch wenn es ihn weder glücklich noch zufrieden machen würde, wäre ihm jeder andere lieber denn Leon. Er erinnerte sich noch zu gut an die Zeit, bevor der Künstler für vier Jahre aus der Stadt verschwunden war. Ein Charmeur war er gewesen, ein Spieler, der nicht sonderlich lange bei ein- und demselben Spielzeug blieb. Hatte er erst mal das Objekt seiner Begierde erobert, ließ er es genauso schnell fallen, wie er es verführt hatte. Sowas wie Beständigkeit oder Treue gab es für ihn nicht. Und diese Lässigkeit, Sorglosigkeit, mit der er mit den Gefühlen anderer Menschen umging, hatte schon so manches Leben zerstört, in tausend kleine Splitter zerschlagen. Seine Bettgenossen hatten dieser Seifenblase, die Leon kurzzeitig erschaffen hatte, geglaubt, hatten seine süßen Worte für bare Münze gehalten, ihre ganzen Hoffnungen hinein gelegt. Wie viele waren verzweifelt aus diesem Traum erwacht, als er seine Zuwendung jemand anderem schenkte? Wie viele waren ihm so sehr verfallen, dass sie den Boden unter den Füßen komplett verloren?
 

Der Tänzer biss sich auf die Unterlippe. Adam verdiente dieses Schicksal nicht. So unschuldig, so naiv er war, würde er sich mit ganzem Herzen diesem Mann hingeben. Und als zerbrochene Persönlichkeit zurück bleiben, sobald Leon sein Interesse auf jemand anderen richtete. Obwohl noch kein Wort von Liebe über Leons Lippen gekommen war, obwohl sie nur miteinander geschlafen hatten, glänzten seine Augen trunken vor Glück. Als ob er das ganz große Los gezogen hätte. Und nicht nur eine versteckte Niete.
 

Andrés Blick bekam einen entschlossenen Ausdruck. Egal wie, er würde dafür sorgen, dass Adam diese Niete entlarvte, dieses Los, dass er bekommen hatte, fallen ließ. Er würde diese Unschuld, diese Naivität bewahren, bevor Leon sie komplett zerstören konnte. Egal wie, er würde dafür Sorgen, dass Adam Leon vergaß.
 

Es schneite immer noch. Die weißen, kleinen Flocken bedeckten seine Schultern, wirkten wie feiner Puderzucker auf seiner dunklen Jacke. Adam warf einen kurzen Blick nach oben in den Himmel und zog den Schal noch ein wenig enger um sich. Die Kälte kroch immer tiefer unter seine Haut, ließ seine Muskeln verkrampfen und sich zusammenziehen. Seine Arbeitsklamotten wärmten nicht sonderlich und er hatte sich auch nicht die dickste Jacke mitgenommen. Langsam hatte er das Gefühl, dass er langsam aber sicher zu einem Eisklotz wurde, nach und nach, von unten nach oben. Und das er nie wieder auftauen würde. Wobei... Er musste unwillkürlich lächeln. Jep, in Leons Bett, an seinen warmen Rücken gekuschelt, von weichen Decken umgeben, da würde er bestimmt wieder auftauen. Im Hintergrund würde vielleicht leise Musik laufen. Bestimmt Dido, die hörte Leon schließlich so gern. Haut an Haut würden sie einschlafen und dann irgendwann von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden, gemächlich und sanft. Sie hatten alle Zeit der Welt.
 

Seine Träumereien sorgten dafür, dass sich in seinem Bauch langsam ein Schwarm von Schmetterlingen aus ausbreitete, ein angenehmes Kribbeln, ein warmes Ziehen. Allein der Gedanke, wie sie heute morgen aufgestanden waren, versetzte ihn in eine Art Rausch, durch den seine Augen funkelten, tausend Sternen gleich, und sein Gesicht fröhlich leuchtete. Tatsächlich hatte er, trotz des Stresses auf Arbeit, kein einziges Mal aufgehört zu Lächeln, im Gegenteil. Jeder Gast wurde von ihm angestrahlt, als ob er ein ganzes Atomkraftwerk kurz vor der Explosion vor sich hatte. Er wünschte sich nichts mehr, als so schnell wie möglich wieder zu seinem Künstler zu kommen. Die Tatsache, dass er ihn bald abholen würde, ließ sein Herz noch einen Tick schneller schlagen. So schmeckte wohl absolutes Glück.
 

Plötzlich zuckte er zusammen, aus seinen Gedanken gerissen, als Fingerspitzen sich auf seine Wange legten.
 

„Ist das süß. Deine Wangen sind vor Kälte ja ganz rot.“
 

Er konnte den kleinen Stich der Enttäuschung nicht verhindern, als er die Stimme erkannte. Natürlich hatte er für einen kurzen Moment gedacht, es wäre Leon. Und natürlich hatte er sich geirrt. Trotzdem freute er sich, den Tänzer zu sehen.
 

„Was machst du denn hier draußen?“ Er warf einen Blick zu André, als dieser in eine schwarze Lederjacke gehüllt, neben ihn trat. Sein nackter Oberkörper blitze kurz hervor. „Ist dir nicht kalt?“
 

„Es geht. Ich bin noch von drinnen aufgewärmt. Außerdem muss ich dich doch noch verabschieden. Du hast mir nicht Tschüss gesagt.“
 

„Du warst beschäftigt, hast getanzt. Ich kann ja wohl schlecht aufs Podest steigen.“ Adam lachte kurz auf.
 

„Wär’ doch mal was.“ André konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen. „Und dann würden wir eine heiße Tanzeinlage liefern. Die Gäste wären sicher begeistert.“
 

„Ja, bestimmt. Begeistert davon, dass ich mich wie ein jämmerlicher Hampelmann bewegen würde. Ich kann ja nicht mal mehr gescheit stehen, geschweige denn tanzen. Meine Einlage würde also nicht sonderlich berauschend werden.“
 

Der Tänzer lachte nur kurz auf und lehnte sich dann neben Adam an die Wand. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie mit einem schlichten schwarzen Feuerzeug an und zog genießerisch mit leicht geschlossenen Augen daran. Den Rauch blies er in die kalte Luft hinaus. Adam sah dem grauen Dunst nach und ließ seinen Blick dann zu der Zigarette wandern. Marlboro. Er hatte es sich schon vorhin gedacht, als er die Zigaretten holen gegangen war. Leon rauchte Davidoff. Dieser kleine Unterschied kam ihm vor wie zwei verschiedene Welten. André und Leon. Es waren zwei verschiedene Welten. Er mochte sie beide.
 

„Muse hat mir erzählt, Leon würde dich abholen?“
 

Adam löste sein Augenmerk von Andrés Zigarette und wendete es auf die kleinen Menschengrüppchen zu, die sich auf der Straße vor dem ‚Paradise Hill’ sammelten. Viele von diesen Männern, die hier standen, sich unterhielten, flirteten, hatten nur Beziehungen für eine Nacht. Oft genug kannten sie noch nicht mal den Namen von demjenigen, mit dem sie ins Bett gingen. Oder es lief auf eine reine Sexbeziehung hinaus. Bei ihm war es was anderes. Auch wenn es keine Liebe von Leons Seite gab, jedenfalls nicht die, die sich Adam wünschte, so war es doch mehr als nur reiner Sex. Wieso auch immer, er hatte das zumindest im Gefühl. Er bedeutete Leon etwas. Er bedeutete Leon vielleicht mehr als die ganzen Partner, die er zuvor im Bett gehabt hatte. Und er konnte einfach nicht daran glauben, dass das nur ein Luftschloss war, das er sich selber aufbaute. Es war mehr als nur ein Wunsch. Ein bisschen mehr.
 

„Jep.“
 

Wie sehr konnte man sich denn tatsächlich in einem Menschen täuschen, selbst wenn dieser Mensch Leon Constal hieß? Wie gut konnte jemand schauspielern? Das intuitive Gefühl eines anderen täuschen? Er hatte sich schon so häufig diese Fragen gestellt, und immer noch keine Antwort erhalten. Er musste vertrauen. Seiner Intuition, sich selber und, vor allem, Leon. Vertrauen, dass ihm seine Sinne keinen Streich spielten.
 

„Na dann...“ André stieß sich von der Wand ab und drehte sich halb zu Adam. „Ich sollte wohl auch wieder rein. Du meldest dich unter der Woche irgendwann?“
 

„Jap, mach ich.“
 

Der Tänzer nahm seine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, atmete noch einmal aus und beugte sich runter, um Adam den obligatorischen Abschiedskuss zu geben. Adam, wie üblich, streckte sich ein wenig. Er spürte Andrés warme Lippen auf seinen eigenen. Wie üblich. Doch diesmal war irgendetwas anders. Der Kuss dauerte einen Moment, den Bruchteil einer Sekunde länger als normal. Die Lippen waren einen Millimeter weiter geöffnet. Der Geschmack einen Tick intensiver. Das Gefühl eine Nuance tiefer. Irgendetwas war anders. An diesem Kuss, an der Haltung des Tänzers, an André selber. Es blieb ein bitterer Nachgeschmack.
 

Und dann erst bemerkte er ihn. Diesen Blick. Diesen eiskalten, stahlharten Blick.
 

Erschrocken fuhr er zurück und drehte seinen Kopf zur Seite. Betete noch innerlich, für einen kurzen Moment, dass er sich getäuscht hatte. Betete vergeblich.
 

Wie durch einen dünnen Schleier sah er Leon dort stehen, einige Meter von ihm entfernt. Der Schnee bedeckte seine blonden Haare, die er sich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Sein Hals wurde von einem dünnen, weißen Schal bedeckt, und er trug einen knöchellangen, enganliegenden cremefarbenen Mantel und weiße Handschuhe.
 

Er wirkte wie ein Wesen des Lichts, wie eine Gestalt aus der Geisterwelt. Absolut unwirklich und fehl am Platz zwischen all den anderen Leuten. Wie ein reiner, vollkommener Engel.
 

Ein Engel mit dem Blick eines Teufels. Das warme, weiche Rauchgrau war verschwunden. Harter Stahl blitzte ihm entgegen, kalter Stahl. Kein Gefühl, keine Regung. Nur Härte. Und Wut. Eiskalte Wut.
 

Die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen. Für einen ewigen Augenblick bohrte sich Leons Blick in Adams eigene, kristalline Augen. Klagte ihn an. Schmetterte ihm seinen ganzen Zorn entgegen. Und, kurz, ließ ihn seine Verletzlichkeit spüren.
 

„Lange nicht mehr gesehen.“
 

Erst Andrés Stimme riss Adam von Leons Anblick los, löste den Zauber, den Bann, der ihn gefangen genommen hatte. Durchbrach kurz die Angst, die ihn hatte erstarren lassen.
 

„Hätte länger sein können.“
 

Leon schaute André gar nicht an, während er tonlos antwortete, sondern fixierte weiterhin Adam, mit diesen kalten, wütenden Augen. Er hatte die Kiefer aufeinandergepresst. Seine gesamte Mimik schien wie eingefroren zu sein. Dann, völlig abrupt, drehte er sich auf dem Absatz um und schritt davon, mit seinem ganzen Körper Verachtung ausdrückend.
 

Adam zuckte erschrocken zusammen. Konnte Leon wirklich wegen einem Kuss so wütend werden? Konnte er es so sehr missverstanden haben?
 

“Wie theatralisch.“ André nahm einen Zug von seiner Zigarette. „Renn ihm nicht nach. Du gehörst ihm schließlich nicht.“
 

Adam schüttelte nur den Kopf, ohne überhaupt Andrés Worte zu registrieren, und rannte los. Leon war gerade bei seinem Wagen angekommen, da packte er ihn am Handgelenk und drehte ihn zu sich herum.
 

„Was soll das?“ Seine Stimme bebte. Er wusste nicht warum, aber sie bebte.
 

„Was soll was?“, erwiderte Leon nur kalt und schüttelte Adams Hand weg.
 

„Das. Dein Blick. Dein Ausdruck. Deine Wut. Wieso bist du wütend?“
 

„Wieso?“ Er gab einen abfälligen Laut von sich. „Ich stehe mitten in der Nacht auf, komme her, um dich abzuholen, und sehe, wie du fröhlich mit einem anderen Kerl rumknutschst. Und da soll ich nicht wütend werden?“
 

„Nein.“ Adam biss kurz die Zähne zusammen. „Du, ich... wir sind nicht zusammen, korrekt?“ Wieso stellte der Kerl jetzt plötzlich Besitzansprüche? „Das heißt, du kannst rummachen, mit wem du willst, ich kann rummachen, mit wem ich will.“ Wieso? „Keine Rechte, keine Pflichten, korrekt?“
 

„Ach, interessant.“ Adam hatte nicht gewusst, dass eine Stimme so kalt klingen konnte. Jetzt wusste er es. „Ich hab dich anscheinend ziemlich falsch eingeschätzt. Hätte nicht gedacht, dass du so ein Flittchen bist. Aber gut zu wis...“
 

„Flittchen? FLITTCHEN?“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Unbändige Wut vertrieb die Angst, die sich vorher in ihm festgesetzt hatte, und breitete sich langsam in seinem ganzen Körper aus. „Wen nennst du hier bitte ein Flittchen? Soweit ich den Erzählungen der anderen glauben kann – und ich denke, das kann ich –, bist du es doch, der dauernd, aber wirklich dauernd wechselnde Partner hat. Keine festen Beziehungen, keine Kontinuität, gar nichts. Du fickst, mit wem du willst, du küsst, wen du willst. Ich werde wohl kaum der Erste sein, den du mitten auf der Straße ansprichst und zu dir nach Hause einlädst? Den du zum Modell stehen haben willst? Den du so sanft, so verflucht...“ Er stockte kurz. „Den du so verführst? Verführt hast? Nicht der erste und nicht der letzte, nicht wahr? Oder willst du mir ernsthaft sagen, dass du nicht mit anderen ins Bett gehst? Während du mich kennst, während du mich angemacht hast? Oder? Sag nicht, ich sei der einzige!“
 

Er wartete kurz, atemlos, doch von Leon kam keine Antwort. Der Künstler sah ihn nur wortlos an. Mit starrem, ausdruckslosen Blick.
 

„Siehst du. Wirf mir bitte nichts vor, was du doch selber machst. Wir sind nicht zusammen, verdammt. Ich kann also rummachen, mit wem ich will.“
 

„Geht es dir nur darum?“
 

Adam stutzte. „Was?“
 

„Geht es dir nur darum, ob wir zusammen sind oder nicht?“ Leon wiederholte die Frage fast tonlos.
 

„Na, es... also... natürlich... also... das ist doch wichtig...“, stammelte er etwas hilflos. Was sollte das? Was sollte diese Frage?
 

„Dann sind wir halt zusammen. Wenn dich das davon abhält, mit anderen Kerlen rumzuknutschen, sind wir halt zusammen.“
 

Noch bevor er es selber registrieren oder aufhalten konnte, landete seine Faust mit einem lauten, dumpfen Geräusch in Leons Gesicht.
 

„Willst du mich verarschen, du abgefuckter Bastard?“ Er bemühte sich nicht mehr, seine Stimme zu dämmen. Im Gegenteil, er schrie jetzt. Irgendwas war in ihm endgültig explodiert, irgendwas komplett gerissen. „Das ist doch nichts, was man aus einer Laune heraus entscheidet. Oder so leicht nimmt. Man ist nicht mit jemandem zusammen, um ihn zu besitzen oder einen Grund zu haben, auf Treue zu pochen. Oder sonst irgend so ein Scheiß. Man ist mit jemandem zusammen, weil man ihn liebt. Aber doch nicht... ach, verdammt, das ist dir doch eh fremd, nicht wahr? Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist. Du hast doch noch nie jemanden geliebt, nicht wahr? Dir geht es nur um Sex. Sex und Besitz, mehr brauchst du gar nicht. Du bist ein Arschloch. Ein egoistisches, egozentrisches, besitzergreifendes Arschloch. Hast du eigentlich jemals, jemals in deinem ganzen, Gott verdammten Leben daran gedacht, wie sich andere fühlen, wenn du sie benutzt? Hast du jemals an jemand anderen gedacht als an dich selbst? Nein, nicht wahr? Alle anderen sind nur dein Spielzeug. Und wenn eins dieser Spielzeuge kaputt geht, holst du dir ein neues. Gibt’s ja genug von. Es muss nur dir gut gehen, nur du musst dich gut fühlen. Es geht nur um dich, dich, dich, nicht wahr?“ Er hielt inne, holte einmal tief Luft. „Ich will nicht dein verdammtes Spielzeug sein, Leon. Und ich werde es nicht sein. Du kannst benutzen, wen du willst. Mich nicht.“
 

Mit einem Ruck drehte er sich um, stapfte an dem ziemlich verdutzten André vorbei, während er diesen gleichzeitig am Ärmel packte und hinter sich her zog, und stürmte förmlich in das ‚Paradise Hill’ zurück. Die Kälte, die ihm vorhin zu schaffen gemacht hatte, war verschwunden. Im Gegenteil, ihm war heiß, verdammt heiß. Sein Herz raste, pochte gegen seine Brust, als ob es gleich herausbrechen wollte. Seine Wangen glühten und die Hand, die so zielsicher Leons Gesicht getroffen hatte und die immer noch zur Faust geballt war, schmerzte. Schmerzte mehr, als sie es durch den Schlag eigentlich tun dürfte.
 

Er stoppte erst, als er im Gemeinschaftsraum der Mitarbeiter angekommen war. Ohne es wirklich zu merken, ließ er André los und setzte sich auf einen Stuhl. Und vergrub sein Gesicht mit einem verzweifelten Aufschrei in seinen Händen.
 

Zerstört. Alles, was er sich so mühselig aufgebaut hatte, diese Beziehung zu Leon, dieses feine, dünne Band zwischen ihnen, hatte er mit diesem jämmerlichen, jähzornigen Ausbruch zerstört. Wie ein Kartenhaus fiel alles vor seinem inneren Auge in sich zusammen. Wie sollte er jetzt noch mit ihm reden? Wie sollte er zu ihm kommen, sich mit ihm verabreden, sich an ihn kuscheln? Ihn küssen?
 

Und gleichzeitig war diese unbändige Wut in seinem Bauch, diese Wut, die einfach nur nach draußen wollte, sich Gehör verschaffen wollte. Er litt wie ein kleines Kind, litt, weil er nicht wusste, was Leon für ihn empfand, was er für ihn war. Er wollte mit ihm zusammen sein, wollte von ihm geliebt werden. Wollte morgens neben ihm aufwachen und wissen, dass er zu ihm gehörte, dass sie zusammen gehörten. Jedes einzelne Wort von sich drehte und wendete er, um sich eventuelle Möglichkeiten darauf nicht zu verbauen. Jede einzelne Bewegung überlegte er sich abertausende Male, um Leon nicht abzustoßen. Und dann das.
 

Dann sind wir halt zusammen.
 

So als ob er entschied, ob er die schwarzen oder die weißen Socken anziehen wollte. Dann sind wir halt zusammen. Ohne jegliches Gefühl, mit einem Herz aus Stein. Kein Kribbeln im Bauch, keine freudige Erleichterung, keine aufgeregten, feuchten Hände. Eine Entscheidung, die nicht weiter wichtig war. Eine Entscheidung, deren einziger Sinn darin bestand, sein Spielzeug, sein Hündchen noch länger an sich zu binden, noch länger für sich allein zu behalten. Und dann, wenn man es nicht mehr brauchte, wenn man es schon komplett abgenutzt hatte, ließ man es gehen, warf man es weg. Trennte man sich einfach wieder von ihm. So einfach war das. So jämmerlich einfach.
 

„Adam?“
 

Er zuckte nicht mal zusammen, obwohl er Andrés Anwesenheit fast vergessen hatte. „Ich hab alles kaputt gemacht, nicht wahr?“ Wie ein kleiner, getretener Hund sah Adam zu André hoch. „Ich hab alles kaputt gemacht. Aber ich hatte doch Recht, oder? Ich hatte doch Recht?“
 

„Natürlich.“ André ging in die Knie und strich ihm einige Haare aus der Stirn. „Natürlich. Trotzdem war es etwas... heftig. Ich hätte nicht gedacht, dass du so reagieren würdest.“
 

„War wohl einfach zuviel.“ Aus einem Impuls heraus vergrub er sein Gesicht in Andrés Halsbeuge. „Ich will ihn. Ich will ihn so sehr. Und jetzt ist er weg. Ich werde ihm nie wieder in die Augen schauen können.“
 

„Weil du dich schämst oder“, André hielt kurz inne, „weil du so wütend bist?“
 

„Beides.“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab ihm sogar eine runtergeschlagen. Verdammt, ich war so wütend. Ich BIN so wütend. Und trotzdem... ich bin so jämmerlich.“
 

„Nein, bist du... bist du nicht.“
 

Adam löste sich langsam von dem Tänzer, lehnte seinen Kopf nach hinten und rieb sich über die Schläfen. Seine Gedanken und Gefühle schlugen wilde Purzelbäume, drehten sich im Kreis, ohne auch nur das Geringste zu bringen. Wieso konnte er sich nicht einfach in einem Mauseloch verkriechen, sich dort verbarrikadieren und die nächsten paar Jahrzehnte nicht mehr rauskommen? Das wäre doch das einfachste.
 

Wobei ihm ein warmes Bett mit einer weichen Decke vorerst reichen würde. Ein Bett...
 

„Verdammt!“
 

Erschrocken zuckte André zusammen, als Adam abrupt aufstand, und sah ihn fragend an.
 

„Was ist denn los?“
 

„Wo soll ich denn schlafen?“ Der Junge wendete seinen verzweifelten Blick seinem Freund zu. Verzweifelt, dass er in diesem Moment an so etwas lächerlich Unwichtiges dachte.. „Ich kann unmöglich zu Leon, aber mein Hausschlüssel liegt bei ihm. Ich müsste erst zu ihm. Das kann ich doch nicht machen.“
 

„Ehm, nein, wirklich nicht.“ André runzelte die Stirn. „Du kannst heute bei mir schlafen. Meine Schicht dauert zwar noch ein bisschen, aber das kannst du bestimmt noch abwarten, oder? Heute schläfst du bei mir, und morgen... na ja, kannst du vielleicht zu Leon und zumindest deine Sachen holen. In Ordnung?“
 

Langsam nickte Adam. „Du bist meine Rettung.“ Kraftlos ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und schaute André entschuldigend an. „Du musst doch wieder raus, nicht wahr? Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe.“
 

„Kein Problem.“ Mit einem sanften Lächeln drückte er ihm einen Kuss auf die Stirn. „Mach dir mal keine Sorgen, es wird schon alles gut. Soll ich dir noch was zu trinken bringen? Du siehst fertig aus.“
 

„Danke, nein, schon okay. Ich brauch nur etwas... Ruhe... Sorry.“
 

“Schon okay.“ André lächelte sanft. „Ich bin dann draußen. Schlaf nicht ein in der Zeit.“
 

„Mach ich nicht.“
 

Adam sah ihm noch kurz nach, bevor er dann alleine zurück blieb. Von draußen hörte er noch dumpf die laute Musik, doch hier drinnen herrschte Stille, absolute Stille. Einzig unterbrochen vom nervtötenden Ticken der Uhr und dem steten Tropfen des Wasserhahns. Mit einem Seufzer stand er auf, ließ sich ein Glas mit Leitungswasser voll laufen und drehte dann den Hahn so fest wie möglich zu. Das Tropfen hörte auf. Das Ticken blieb. Aber die Uhr konnte er schlecht abstellen.
 

Unruhig trat er ans Fenster. Der Schnee fiel immer noch, genauso wie davor, wie vor einigen Augenblicken. Vorhin war er noch schön, sanft gewesen. Aber jetzt sah er nur noch den Dreck, den er hinterließ, sobald er taute. Verdammt. Vor seinen Augen tauchte Leons Gesicht auf. Sein Blick, als er Adams Vorwürfe zu hören bekommen hatte. Waren sie eigentlich berechtigt? Konnte er wirklich sagen, dass Leon ein egoistisches Arschloch war? Hätte er sich denn in ihn verliebt, wenn dem denn so gewesen wäre? Er musste an ihr erstes Mal denken. Daran, wie sanft, wie zärtlich und verständnisvoll Leon gewesen war. Und er verstand es nicht. Ja, er war arrogant, ja, er bezog alles auf sich. Aber das, was die Leute ihm erzählten, deckte sich nicht mit dem, wie er ihn kannte. Von seinem zärtlichen Lächeln hatte ihm noch keiner erzählt. Von seiner Fürsorge, seiner Art, wie er ihn hegte und pflegte, der Wärme in seinen Augen. Das hatte noch keiner erwähnt.
 

Und dann tauchte wieder der Leon von heute auf. Der Leon, der ihn besitzen wollte, egal wie. Der, der verletzt war, wenn jemand mit seinem Spielzeug spielte. Der Leon, dessen Gesicht vor Zorn zu einer ausdruckslosen Maske wurde. Weit entfernt, schier unerreichbar.
 

So hatte er es nicht gewollt. So hatte er es absolut nicht gewollt.
 

Und trotzdem, die Wut blieb. So Leid ihm sein Ausbruch auch tat, die Wut blieb. Er würde nicht zum Spielzeug verkommen. Er wollte nicht nur zu einem Püppchen werden, zu einem unter vielen, den man nicht wirklich registrierte, vergaß, noch bevor er ganz weg war.
 

Adam lehnte seine Stirn gegen die Scheibe und schloss die Augen. Er hatte sich geschworen, Leons Liebe zu erringen, und diesen Schwur wollte er nicht brechen, würde er nicht brechen. Entweder ganz oder gar nicht.
 

In diesem Spiel würde er keine Kompromisse eingehen.

Mit einem unwilligen Knurren zog Adam die Decke noch fester über seinen Kopf. Die Sonne, die feuchtfröhlich durch die riesigen Fenster schien, kitzelte frech an seiner Nase und versuchte ihn zum Aufstehen zu zwingen. Tatsächlich, wie ihm erst jetzt auffiel, war sie gar nicht so hell wie er gedacht hatte, doch seine Müdigkeit und seine empfindlichen Augen gaukelten ihm vor, dass es schlimmer sei als es dann tatsächlich war. Träge kramte er nach seinem Handy, das auf dem kleinen Tischchen nebenan lag, und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Später Nachmittag. Fast Abend. Super toll. Das erklärte zwar die Schwäche der Sonne, machte ihn aber nicht sonderlich glücklicher. Er hatte fast den ganzen Tag verschlafen. Oder, besser gesagt, damit zugebracht, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, denn von Schlafen konnte nicht wirklich die Rede sein. Im Gegenteil, er war zwar ab und zu eingedöst, wurde aber immer Recht schnell von seltsamen Träumen, an die er sich zum Glück nicht mehr erinnern konnte, geweckt. Und die Gedanken, die er in seinem Kopf hin- und hergewendet hatte, trugen ebenfalls einen großen Teil zu seiner Gerädertheit bei. Schien so, als ob es ein beschissener Tag werden würde. Oder der beschissene Rest eines Tages.
 

Ein genervtes Stöhnen entwich seinen Lippen, während er sich vorsichtig aus dem Bett tastete. Plötzlich zuckte er zusammen, als er das abrupte Ende des Bettes registrierte, und noch bevor er irgendwas dagegen tun konnte, war er schon schmerzhaft auf den Boden geknallt.
 

„Wie ich höre, bist du aufgewacht.“
 

Seine schmerzenden Stellen reibend richtete er sich auf und sah aus halb verschlafenen Augen in Andrés Richtung, der an seinem Computer saß und sich mit dem Drehstuhl zu Adam gewendet hatte.
 

„Hab vergessen, dass ich bei dir bin. Und das ich auf der Couch geschlafen habe.“ Völlig ausgelaugt strich er sich durch die Haare. „Wieso hast du mich nicht geweckt? Ich wollte nicht den ganzen Tag im Bett zubringen.“
 

„Ich wecke keine Gäste.“ André lächelte ihn an und sprang von seinem Stuhl auf. „Hast du gut geschlafen? Willst du was essen?“
 

„Nein, hab ich nicht, und nein, im Moment nicht. Später vielleicht. 'Ne Dusche wäre mir lieber. Ich stink zum Himmel.“
 

„Ich leg dir ein paar Kleider raus. Die werden zwar zu groß sein, aber besser als nackt rumzulaufen, nicht wahr?“
 

„Ja, allerdings.“
 

Adam rieb sich über die Augen. Er war immer noch nicht ganz wach, hoffte aber, dass es nach einer Erfrischung besser werden würde. Während André ein paar Klamotten aus seinem Schrank kramte, schaute Adam sich um, etwas, zu dem er bei ihrer Ankunft früh morgens nicht wirklich Lust gehabt hatte. Andrés bescheidenes Zuhause war ein weitläufiges, geräumiges Loft. Es standen nicht viele Möbel darin, denn er hielt den Platz in der Mitte für Tanzübungen frei, doch dadurch und durch die großen Fenster wirkte es noch größer und luftiger.
 

An der rechten Seite, wenn man zur Tür hereinkam, befand sich die Küchenzeile mit einer Theke davor, sowie in der rechten Ecke vor den Fenstern der Computertisch. Direkt daneben stand die weiße, schon etwas abgewetzte Couch ein wenig in den Raum geschoben, so dass man genug Abstand zum Fernseher hatte, der etwas weiter links aufgestellt war. In der linken Ecke kam der altwirkende, schwarzfarbene Kleiderschrank und davor lud das Doppelwasserbett zum drauf Schlafen ein. Und daran schloss sich, durch eine dünne Wand getrennt, das Bad an. Die breite Schiebetür bestand aus Milchglas, und im Inneren konnte man sich wunderbar in einem Eckwhirlpool entspannen. Direkt links neben der Tür führte noch eine Treppe zu einer kleinen Galerie hoch, die André jedoch scheinbar nicht nutzte.
 

Tatsächlich und realistisch gesehen konnte dieses Loft in keinster Weise mit Leons Kleinvilla mithalten, weder von der Einrichtung noch von der Größe her. Doch irgendwie hatte es eine gemütliche Atmosphäre, die Adam ein wenig an sein eigenes Zuhause erinnerte. Bei Leons Möbeln und gesamter Einrichtung hatte er immer Angst gehabt, er könnte irgendetwas aus Versehen kaputt machen, doch durch das Alter und die sichtbare Abnutzung der Gegenstände hier hatte er keine Hemmungen, sich einfach irgendwohin zu fläzen oder vielleicht sogar mal ein Getränk zu verschütten. Der Boden ließ sich leicht säubern, die Couch schien sowieso schon einiges mitgemacht zu haben, und die Stühle an der Theke würden sich leicht ersetzen lassen. Das Wertvollste im ganzen Raum, neben dem Bad, war wohl Andrés Stereoanlage und seine beträchtliche CD-Sammlung, die sich neben der Tür befanden und sein ganzer Schatz zu sein schienen.
 

Irgendwie menschlich. Verdammt menschlich. André war, mal von dem Loft an sich abgesehen, so herrlich normal, dass es die reinste Wohltat war. Keine superteuren Klamotten, keine exquisiten Nippesfiguren, keine edlen Markenmöbel. Einfach normal, wie jeder andere gottverdammte normale Mensch auch.
 

„Ah, hier. Das könnte vielleicht so halbwegs passen.“
 

Adam zuckte leicht bei Andrés Stimme zusammen, tappte dann zu ihm und nahm ihm die Klamotten aus der Hand.
 

„Handtücher?“
 

„Liegen im Bad bereit. Ich dachte mir schon, dass du wohl unter die Dusche willst. Bedien dich einfach.“
 

„Okay. Danke.“
 

Er machte nicht mal die Tür richtig zu, als er das Bad betrat. Es juckte ihn im Moment wirklich herzlich wenig, ob André ihn womöglich nackt sehen würde. Sollte er doch, würde es vielleicht zumindest einer zu schätzen wissen.
 

Mit einem Grummeln tief in seiner Brust streifte er seine Klamotten ab und stieg unter die Dusche. Er zuckte erschrocken zusammen, als zuerst kaltes Wasser heraus kam, doch es wärmte sich schnell auf, so dass er schon bald einfach nur dran stand, den Kopf nach hinten gelegt, und das warme Perlen über seinen Körper genoss. Seine Laune stieg trotzdem nicht sonderlich. Die Ereignisse der Nacht konnte er nicht so einfach wegspülen wie den Schweiß und die Müdigkeit. Sie hatten sich in seinem Kopf festgesetzt, in seinen Gedanken, und würden so lange nicht weggehen, bis er eine Lösung, einen Ausweg gefunden hatte. Doch eine Lösung schien ihm im Moment weit entfernt, weiter entfernt, als ihm lieb war. Falls sie denn überhaupt existierte.
 

Die Gedanken, die ihn schon um den Schlaf gebracht hatten, kamen wieder auf, wieder und wieder. Wie sollte das gehen, wie sollte er sich wieder mit Leon versöhnen? Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht von sich aus eine Aussprache suchen oder sich gar entschuldigen würde. Niemals, das verbot ihm sein elender, egozentrischer Stolz. Doch er selber, Adam, hatte ihn auch, diesen Stolz. Er würde bestimmt nicht angekrochen kommen und um seines Gottes Gnade bitten. Er wollte ihn nicht wie ein hirnloser, treudoofer Hund nachlaufen. Aber er wollte auch diese Beziehung, die sie aufgebaut hatten, dieses dünne Band, das langsam entstanden war, nicht komplett zerstören, nicht einreißen. Verdammt, er liebte diesen Kerl, so sehr es auch weh tat. Er wollte ihn nicht einfach gehen lassen.
 

Mit einen Seufzer legte Adam seine Hand gegen die Wand und lehnte seine Stirn dagegen. Er spürte immer noch ein leichtes Pochen, obwohl er gar nicht so stark zugeschlagen hatte. So sehr hätte sie eigentlich gar nicht weh tun dürften. Tat sie aber trotzdem. Verdammter Mist.
 

Sein Leben war so schön ruhig gewesen, bevor er Leon getroffen hatte. So verdammt schön ruhig und ereignislos. Zum wievielten Mal verfluchte er jetzt eigentlich diese Spätsommernacht, die ihn nach draußen getrieben hatte? Er wusste es nicht, aber jetzt konnte er auf jeden Fall noch ein paar Mal mehr hinzufügen.
 

Langsam seifte er sich ein, den Duft des herben Männerduschgels auf sich einwirken lassend. Andrés Geruch. Hm. Auch nicht schlecht. Er mochte diesen Duft. Er mochte das Herbe, das Männliche darin. Und André war männlich, da konnte man sagen was man wollte. Auf gewisse Weise männlicher als Leon. Wieso bevorzugte er dann diesen bescheuerten Künstler? Wieso ihn?
 

„Aaaaarg!“
 

Es brachte nichts. Er machte sich durch dieses Gedankengewälze nur selber verrückt. Total kirre. Wahnsinn. Purer Wahnsinn. Er drehte sich im Kreis, immer wieder und wieder und wieder. Und er fand einfach keinen Ausweg.
 

Nachdem er sich kurz abspülte, stieg er aus der Dusche und hüllte sich in eins der großen, bereitliegenden Handtücher. Die Sachen, die André ihm gegeben hatte, waren eine alte, leicht abgewetzte Jeans und ein übergroßer dunkelblauer Rollkragenpullover plus Socken. Auf Unterwäsche würde er wohl verzichten müssen, bis er seine eigenen Klamotten von Leon geholt hatte. Er seufzte, zog sich an und trat dann aus dem Bad.
 

Die Sonne war inzwischen komplett untergegangen und von draußen leuchteten nur einige Straßenlaternen hinein. André hatte sich auf die Couch gefläzt und zappte wahllos im Fernsehprogramm herum, drehte sich jedoch gleich zu ihm, als er ihn kommen hörte.
 

„Jetzt Hunger?“
 

„Mhm. Was hast du anzubieten?“
 

„Ehm...“
 

André stand auf, ging zum Kühlschrank und sah hinein. Dann starrte er den Inhalt erst mal einige Augenblicke lang an.
 

“Nicht viel. Brot mit Salami vielleicht?“
 

Adam musste auflachen. Irgendwie war klar, dass der Kühlschrank des Tänzers nicht sonderlich gefüllt war. Er trat zu ihm und schaute ihm neugierig über die Schulter.
 

„Ja, ich denke, ich werde mich damit begnügen.“
 

Die Alternativen waren noch Käse, irgendein Aufstrich und ein Joghurt. Wirklich, von was ernährte sich der Kerl? Luft und Liebe?
 

„Ich mach dir gleich was. Heiße Schokolade hab ich auch anzubieten. Willst du? Zwar nicht die Qualität, wie du es in 'nem Café kriegst...“
 

„Wusstest du, dass ich komm, oder wie? Klar, immer doch.“
 

Adam grinste und setzte sich an die Theke, während André geschäftig rumwurschtelte. Im Hintergrund lief der Fernseher, dessen unbedarftes Geplapper irgendwie eine angenehme Atmosphäre erzeugte. Hier konnte man sich eindeutig wohlfühlen.
 

„Bist du etwas wacher? Du sahst vorhin ziemlich verschlafen aus.“
 

„Jep, war ich auch. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, aber jetzt geht’s schon. So ne Dusche kann echte Wunder bewirken.“ Während er sprach, krempelte er die Hosenbeine seiner Jeans hoch. André war halt doch ein bisschen größer als er. „Und ich wette, heute Nacht werde ich wie ein Toter schlafen. Hoffe ich zumindest.“
 

„Denk ich mir.“ André hielt kurz inne. „Ach ja, dein Handy hat vorhin geklingelt. Ne SMS, wenn ich mich nicht irre.“
 

Adam hob überrascht seine Augenbrauen. Muse konnte das nicht sein. Er hatte nicht wirklich mitbekommen, was in der Nacht vorgefallen war, da er an der Theke voll ausgelastet gewesen war, und hatte dann nur gemeint, er würde erst morgen vorbeischauen. Und Leon... nein, niemals Leon. Bestimmt nicht.
 

Er rutsche vom Barhocker, tapste zu seinem Handy und klickte neugierig die Nachricht an. Nein, nicht Leon.
 

„Hey, hast du Zeit? Ich würde gerne mit dir reden. So gegen 18 Uhr in der Regenbogenkatze? LG Sachiko. PS: Ja, es geht um Leon.“
 

Was sollte man dazu sagen? Er stellte sich gerade vor, wie Leon wohl mitten in der Nacht bei Sachiko angerufen und ihr mit jämmerlicher Fiepstimme sein Leid geklagt hatte. Dass sein süßes kleines Schoßhündchen ihn angebrüllt und ihm eine runtergeschlagen hatte. Eine lächerliche Vorstellung. Eine Vorstellung, die bestimmt nicht zutraf. Die Adam aber trotzdem ein fast schadenfrohes Lächeln auf die Lippen zauberte.
 

„Nur Sachiko.“, meinte er an André gewandt, während er eine Antwort tippte. „Sie will mit mir wegen Leon reden.“
 

„Wer ist Sachiko?“ Der Tänzer stellte die Tasse mit der heißen Schokolade und das Brot auf die Theke und sah ihn etwas verdutzt an. „Kenn ich nicht.“
 

„Wie, kennst du nicht? Das ist Leons Busenfreundin. Seit klein auf, wie ich verstanden habe.“ Adam zog leicht erstaunt eine Augenbraue hoch. „Sie scheinen jedenfalls ziemlich unzertrennlich sein.“
 

„Kenn ich trotzdem nicht. Es gab zwar durchaus... Leute, die immer um Leon herum waren und als seine Dauerbegleitung angesehen werden konnten, aber das waren keine Frauen. Auch keine Sachiko.“
 

„Hm.“ Adam zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es dir nur nicht aufgefallen. War ja auch anscheinend auf der Schule von denen, nicht unbedingt im ‚Paradise’.“
 

Andrés Blick blieb skeptisch. „Ich war aber mit ihm auf der gleichen Schule. Und mir wäre eine Sachiko bestimmt aufgefallen.“
 

„Die Welt ist klein, kann das sein? Wieso warst du mit ihm auf einer Schule? Ist doch ne Kunstschule.“ Er nahm einen Schluck von seiner Schokolade. Heiß. Aber gut. Angenehm wohltuend.
 

„Für Kunst jeder Art, ja. Also nicht nur Malerei, sondern auch Sänger, Schauspieler, Bildhauer, Fotografen, Grafikdesigner, Modells und, eben, auch Tänzer. Ich hab dort Tanz studiert, sozusagen.“
 

„Oh. Okay.“ Adam biss sich leicht auf die Unterlippe. Ihm fiel erst jetzt auf, wie wenig er eigentlich über André wusste. Wie wenig er im Allgemeinen über die Leute in seiner Umgebung wusste. „Und was machst du jetzt? Eigentlich? Ich mein, du tanzt nicht nur im ‚Paradise’, oder?“
 

„Nein, ich bin Tanzlehrer. An der International Art School.“ André grinste. Es wirkte irgendwie bubenhaft. „Ich bleib meinen Wurzeln eben treu.“ Er zuckte mit den Schultern. „Naja, egal. Triffst du dich mit ihr?“
 

Er nickte. „Vielleicht kann sie mir helfen. Sie scheint Leon besser zu kennen als jeder andere. Ich will es nicht bei dieser Situation belassen und sie kann mir vielleicht raushelfen. Hoffe ich zumindest.“
 

André senkte zustimmend den Kopf. „Wann gehst du?“
 

„Sobald ich gegessen hab. Sie will sich um Sechs mit mir treffen. Ich darf die Klamotten doch auch draußen anbehalten, oder?“
 

„Neeeein, da musst du sie wieder ausziehen. Ich wollt schon immer mal 'nen tief gefrorenen Adam sehen.“
 

Adam streckte ihm nur kurz die Zunge raus, ignorierte komplett das freche Grinsen und widmete sich seinem Abendessen. Sie verbrachten die Zeit noch mit seichtem Geplänkel, dann räumte Adam sein Zeug ab, zog seine Jacke an und atmete einmal tief durch.
 

“Ich mag nicht. Ich hab so das Gefühl, dass sie mir irgendwelche schlechten Nachrichten erzählen wird.“
 

„Sei nicht so pessimistisch. Vielleicht kann sie dir tatsächlich helfen.“ André schlang einen dicken Wollschal um Adams Hals und Schultern und zog ihn mit den Schalenden zu sich heran. Sanft drückte er ihm einen Kuss auf die Lippen und blieb dort einige Sekunden, bevor von ihm abließ. „Aber schau, dass du nicht zu spät kommst oder dass sie dich herfährt. Du bist immer noch nicht ganz gesund.“
 

„Ja, Mama.“, erwiderte Adam unter halb gesenkten Lidern mit einer Kleinmädchenstimme. Dann grinste er, hauchte André noch mal einen Kuss auf die Lippen und tapste dann aus der Tür. „Danke. Bis später.“
 

Er bemerkte Andrés Blick nicht. Im Moment zählte für ihn nur, dass er möglichst schnell zu Sachiko kam. Und dass er möglichst viele hilfreiche Tipps von ihr erhielt. Oder was auch immer sie ihm erzählen wollte.
 

Es war bitterkalt. Atemwölkchen bildeten sich vor seinem Mund und der Frost überzog langsam die kahlen Äste. Tief in den Schal eingemümmelt, schritt Adam schnell voran, ohne großartig auf die Leute oder die Umgebung um ihn herum zu achten. Im Moment gab es Wichtigeres, weitaus Wichtigeres. Mal davon abgesehen, dass er sich Schöneres vorstellen konnte als in dieser Kälte draußen herumzustapfen. So schaffte er es fast in Rekordzeit, bei der ‚Regenbogenkatze’ anzukommen. Es war noch genauso wie bei seinem ersten Besuch, versteckt durch mehrere Büsche und Bäume, aber da sie diesmal etwas kahler waren als damals im Herbst, hatte er geringe Probleme, den Eingang zu finden. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte in das schummrige Dämmerlicht rein.
 

Sachiko war bereits da. Er sah sie sofort. Sie saß an einem der Tische, nippte an einer Tasse und rauchte währenddessen. Ihre Haare hatte sie mit einer Lotusblütenspange nach oben gesteckt und dezenter Goldschmuck funkelte im gedämmten Licht des Cafés. Mit der cremefarbenen Bluse und dem dünnen Seidenschal um ihren Hals sah sie aus wie eine richtige Lady. Adam kam sich mit den alten Jeans und den geliehenen Sachen von André ein bisschen schäbig vor. Wieso musste er sich auch in die Gesellschaft von High-Society-Leuten begeben?
 

Leise betrat er das Café, nickte dem Mann hinter der Theke, der ihn das letzte Mal so herzlich begrüßt hatte, zu und glitt dann auf den Stuhl gegenüber Sachiko.
 

„Hi!“
 

Sie lächelte ihn sanft an. Anscheinend hatte sie seine Anwesenheit schon am Eingang gemerkt, denn sie wirkte kein bisschen überrascht. „Hi. Du siehst müde aus. Schlecht geschlafen?“
 

„Kann man wohl sagen.“ Er atmete einmal tief durch. „Was hat... Leon erzählt?“ Wieso sollte er seichten Smalltalk führen, wenn sie doch beide wussten, wieso sie sich getroffen hatten? „Ich mein, wie geht’s ihm? Welche Stimmung... also... ach... du weißt schon...“
 

„Er hat jedenfalls einen hübschen Fleck auf seiner linken Gesichtshälfte. Du hast gut zugeschlagen, dass muss man dir lassen.“
 

Sie lachte leise auf, doch Adam sank das Herz ein Stückchen weit nach unten. Das war nicht wirklich seine Absicht gewesen. Und auch nicht wirklich erfreulich.
 

„Er ist wütend?“
 

„Das ist nicht so der richtige Ausdruck.“ Sie strich sich überlegend über das Kinn. „Geschockt... nein, hm... es ist schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus beleidigt, geschockt, stink sauer, verletzt, amüsiert... na ja, wie gesagt, schwer zu beschreiben. Zumindest hat er nichts getrunken, so schlecht kann es ihm also gar nicht gehen.“
 

„Oh. Gut.“ Mist. Es hätte ihm ruhig ein wenig schlechter gehen können. „Fein...“
 

„Dafür hat er einige seiner schönsten Gläser zerdeppert. Ich liebe seine Wutausbrüche, sind wirklich göttlich.“ Ihr Lächeln wurde noch eine Spur sarkastischer. „Danach heißt es immer, neue Sachen einkaufen gehen. Nächste Woche ist also wohl shoppen angesagt.“
 

Irgendwie konnte Adam darin nichts Gutes sehen. Das alles hörte sich sehr unversöhnlich an. Sehr, sehr unversöhnlich.
 

„Er hasst mich, kann das sein?“
 

Sachiko musterte ihn einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. „Leon macht sich nicht die Mühe, jemanden zu hassen. Er kann bestimmte Leute vielleicht nicht ausstehen, weil sie ihm auf den Wecker gehen oder etwas in der Art, aber hassen tut er niemanden.“ Sie strich sich einige Strähnen zurück. „Und dich schon gar nicht. Ich will mich nicht aus dem Fenster herauslehnen und sagen, du würdest ihm viel bedeuten, aber egal bist du ihm nicht. Sonst wäre er jetzt nicht in diesem absolut ungewöhnlichen Zustand. Ja, ehrlich, ich hab ihn so noch nie erlebt.“ Für einen kurzen Moment hielt sie inne. „Du willst dich wieder mit ihm versöhnen, oder?“
 

„Sowas in der Art, ja.“ Adam wusste nicht, ob er Sachikos Worte positiv auffassen sollte. War es gut, dass Leon noch nie in diesem Zustand gewesen war? Oder doch eher schlecht? „Ich... liebe ihn, aber ich will mich nicht zu seinem Spielzeug degradieren lassen. Ich bin immer noch ein eigenständiges Wesen, das Gefühle und Wünsche hat. Und das verletzt werden kann. Auf eine Art, die nicht so schnell heilt. Ich bin nichts, was man einfach so besitzen kann.“
 

„Mhm.“ Sachiko nippte an ihrem Kaffee. „Wieso sagst du ihm das nicht?“
 

„Wa... was?“
 

Sie wurden kurz von einer Kellnerin unterbrochen, die Adams Bestellung aufnahm. Dann wendete er sich wieder der jungen Frau vor sich zu.
 

„Was soll ich ihm sagen?“
 

„Dass du ihn liebst. Zum Beispiel.“
 

„Bist du wahnsinnig?“ Adam sah sie ungläubig und absolut fassungslos an. War das ihr Ernst? Ne, oder? „Ich kann doch nicht... ich kann ihm das doch nicht so einfach sagen. Ich mein... ich... mein...“
 

„Du würdest dich damit nur noch verletzlicher machen?“ Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf ein wenig schief. „Das stimmt. Wenn man seine Gefühle preisgibt, macht man sich immer ein Stückchen verletzlicher. Aber wenn du etwas haben willst, musst du auch einen Preis dafür zahlen. Wenn du Leon haben willst, musst du vielleicht diesen Preis zahlen. Und wenn der Preis der Stolz ist, den du überwinden musst... Tja, ist er dir das wert?“
 

„Und wieso kann er nicht einen Preis zahlen, weil er mich haben will?“ Er rieb sich über die Stirn. „Wieso kann er seinen Stolz nicht überwinden?“
 

„Vielleicht, weil er dich noch nicht so haben will, wie du ihn.“
 

„Weil er mich also nicht liebt? Danke auch, das wollte ich hören.“ Rosige Aussichten. Er hatte sich ein bisschen was besseres erhofft.
 

Sie atmete einmal tief durch und legte ihre Fingerspitzen sanft auf seine Hand. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was er für dich empfindet. Anfangs dachte ich, um ehrlich zu sein, dass er nur mit dir spielen will. Aber so langsam zweifle ich daran. Ich weiß nicht, ob er dich liebt. Um genau zu sein, bezweifle ich das sogar sehr. Aber du bedeutest ihm sehr viel. Er war noch nie, noch nie so wütend, nur weil sein Betthäschen mit jemand anderem rumgeknutscht hat. Oder weil sein Betthäschen ihm die Meinung gegeigt hat. Noch nie. Deswegen... ich glaub, da ist mehr dahinter. Ich weiß nur noch nicht was.“
 

„Und wieso kann es nicht Liebe sein?“ Seine Stimme klang wie ein Betteln, wie ein Flehen. Er wusste nicht, an was er sich sonst klammern konnte, wenn nicht an die Worte von der Person, die Leon wohl am Besten kannte und am Nächsten war.
 

Vorsichtig nahm sie ihre Hand wieder runter und verschränkte ihre Finger ineinander. „Ich glaub, er ist noch nicht bereit dafür. Jedenfalls nicht dafür, dich zu lieben. Es ist kompliziert. Und ich will und werde es jetzt auch nicht erklären.“ Ihr Blick, ihre dunklen Augen verfinsterten sich noch um eine Nuance mehr. „Wenn du ihn wirklich erobern willst, wirst du sehr viel Geduld mitbringen müssen. Geduld, Zeit und Belastbarkeit.“
 

Adam verkniff es sich, nach diesem ominösen Suo zu fragen. Auch wenn sich sein Verdacht, Leons Verkorkstheit hatte etwas mit ihm zu tun, immer mehr verstärkte, so hielt Sachikos verschlossener Blick ihn doch davon ab, dieses Thema anzuschneiden. Ein anderes Mal, zu einem besseren Zeitpunkt vielleicht.
 

„Niemand hat behauptet, er wäre einfach zu handhaben, nicht wahr?“ Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. „Niemand hat behauptet, es würde leicht werden.“
 

„Nein, das hat wirklich niemand behauptet. Und das werde ich dir immer wieder bestätigen können. Er ist nicht einfach zu handhaben. Er ist egoistisch, egozentrisch, arrogant, selbstverliebt, eigen. Aber“, sie erwiderte sein Lächeln, „genauso kann er wundervoll zärtlich, sanft und fürsorglich sein. Das dürftest du ja schon selber mitbekommen haben, nicht wahr?“
 

Er nickte, schüttelte dann aber gleich darauf den Kopf. „Ich werde aber nicht den ersten Schritt machen, Sachiko. Ich werde nicht zu ihm angekrochen kommen und ihn darum bitten, mich wieder aufzunehmen.“
 

„Das erwartet auch keiner von dir. Das will ich auch gar nicht, wirklich.“ Sie lehnte sich zurück und nahm wieder einen Schluck von ihrem Kaffee. „Ich will nur, dass, wenn er zu dir kommt und mit dir reden will, du ihm auch zuhörst, egal was er zu sagen hat. Dass du ihn nicht abweist, egal wie sehr dir vielleicht danach ist.“ Ein fast schon fieses Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. „Glaub mir, ich will gar nicht, dass du es ihm so leicht machst. Er hat es verdient zu erfahren, dass er nicht alles kriegen kann. Und das er sich ab und zu selbst in Bewegung setzten sollte, wenn er etwas haben will.“
 

„Du bist ja fast schon richtig gemein und schadenfroh.“ Adam pfiff leise durch die Lippen, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
 

„Natürlich. Ab und zu muss das einfach auch sein.“, meinte sie nur lapidar, ohne mit der Wimper zu zucken.
 

Müde legte er den Kopf nach hinten und strich sich mit beiden Händen durch die Haare. „Das heißt, ich soll lieber nichts großartiges machen außer ehrlich sein? Ihn zappeln lassen und auf seinen nächsten Schritt warten?“
 

„Mhm, so in etwa.“
 

„Gut. Okay.“ Er schloss kurz die Augen. „Ich werde ihn vermissen. Ich werde ihn jeden Tag, den ich ihn nicht sehe, so verdammt vermissen. Verdammt.“
 

„Ich weiß. Aber wenn du ihm die Arbeit abnimmst, wird er wieder nichts draus lernen. Glaub mir, warte ab. So ist es am besten.“ Sie seufzte leise. „Leon zu lieben bedeutet geduldig in einer Ecke zu sitzen und zu warten, bis er zu dir kommt. Wie eine Spinne, die darauf wartet, dass sich der Schmetterling im Netz verfängt. Du spinnst dein Netz, setzt dich dann in eine Ecke und wartest.“
 

„Ich hab noch nichts davon gemerkt, dass ich irgendwas spinne. Höchstens hier oben.“, erwiderte er lakonisch und tippte sich an die Schläfe.
 

„Du machst es eher unbewusst.“ Sie grinste. „Sowohl das eine wie auch das andere. Wir sind doch alle ein bisschen bluna.“
 

Adam sah sie für einen Moment verdattert an und brach dann in haltloses Gekicher aus. So einen ordinären, jugendlichen Satz aus ihrem Mund zu hören, war ungewöhnlich, verdammt ungewöhnlich. Und zeigte, dass sie doch normaler war als er dachte. Ihre Anwesenheit tat einfach nur gut.
 

„Danke.“ Er sah sie von unten her an. „Danke für deine Hilfe.“
 

„Gern geschehen. Ich tu das nicht nur für dich oder Leon, sondern auch für mich. Schließlich bin ich die Leidtragende, wenn Leon mal nicht so gut gelaunt ist.“
 

„Joah, glaub ich dir aufs Wort.“
 

„Lass uns das Thema wechseln. Wir haben dem großen Künstler schon genug Tribut geleistet, wir müssen nicht noch mehr über ihn reden.“
 

Adam nickte, und obwohl er mit den Gedanken immer wieder zu Leon zurück kehrte, genoss er die zwanglose Unterhaltung mit Sachiko. Bisher hatte er sie schließlich immer nur im Zusammenhang mit Leon kennen gelernt, und die Tatsache, dass sie auch als eigenständige Person durchaus sein Interesse gewann, freute ihn. Sie war offen und ehrlich, sehr erwachsen in ihrem Benehmen, aber anscheinend trotzdem für jeden Spaß zu haben. Jemand, mit dem man rumhängen und chillen konnte. Und, im Gegensatz zu den meisten weiblichen Wesen in seinem Alter, war sie definitiv nicht die typische Schickimicki-Zicke. Eine Wohltat sondergleichen.
 

Es war schon spät, als sie schließlich aufbrachen. Sachiko chauffierte Adam zu André, ohne auch nur das geringste Wort darüber zu verlieren, dass er sich bei der Person aufhielt, die Leon so wütend gemacht hatte. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich, und kurz darauf sah Adam nur noch die Rücklichter ihres Wagens. Er seufzte, rückte den Schal zurecht und betrat dann das Haus, in dem sich Andrés Loft befand. Während er langsam mit dem Aufzug nach oben fuhr, lehnte er sich gegen die Wand und schloss die Augen.
 

Abwarten und Tee trinken. Abwarten, was Leon machen würde. Er hasste es zu warten. Auch wenn er definitiv bei Leon vorbei musste, um seine Sachen zu holen, schien es nach Sachiko eher so, dass Leon da wohl nichts machen würde. Wie lange sollte Adam also warten? Tage? Wochen? Länger? Er vermisste ihn jetzt schon. Mit leerem Blick strich er sich über seine pochende Hand. Er vermisste ihn jetzt schon so verdammt, verdammt schmerzlich, dass er wohl noch wahnsinnig werden würde. Wahnsinniger als er es sowieso schon war.
 

Mit einem ‚Pling’ hielt der Aufzug. Er trat vor die Tür und wollte gerade klingeln, da wurde sie auch schon mit einem Ruck aufgerissen. Erschrocken zuckte Adam zusammen.
 

„Eh... da bin ich wieder.“, stammelte er etwas unsicher. Hatte André die ganze Zeit gewartet?
 

„Ist wohl später geworden, was?“ André lächelte.
 

„Ja. Wir haben uns verquatscht.“ Er schlüpfte am Tänzer vorbei und zog seine Jacke und Schuhe aus. „Aber zumindest, na ja... geht’s mir jetzt doch ein bisschen besser. Und ich bin müde, totmüde.“
 

„Na, immerhin. Hunger hast du wohl auch keinen?“ Der Tänzer nahm ihm die Jacke ab und hängte sie über den Kleiderständer.
 

„Nein, nicht wirklich. Willst du mich mästen oder was?“
 

Er streckte ihm kurz die Zunge raus. „Ich mach mir nur über dein körperliches Wohlbefinden Sorgen. Irgendjemand muss das ja tun, wenn schon nicht du selber.“
 

Adam sah ihn für einen Moment ausdruckslos an. Dann verzog sich sein Mund zu einem verschmitzten Grinsen, ohne das er ein weiteres Wort sagte. Es tat gut zu wissen, dass man Leute um einen herum hatte, die sich so um ihn kümmerten. Für ihn war es ungewohnt, denn bisher hatte er nur seine Eltern gehabt. Andere Menschen brauchte er nicht, hatte er gedacht. Und sich ziemlich geirrt, wie er jetzt merkte. Er brauchte sie, diese kleinen Wohltaten von Freunden, von Menschen, die nicht seine Familie darstellten, sondern einfach nur aus Sympathie und Zuneigung gut zu ihm waren. Und er konnte sich glücklich schätzen, dass er solche Leute tatsächlich getroffen und für sich gewonnen hatte. Wirklich, wirklich glücklich.
 

„Was?“ André sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Dein Grinsen ist mir suspekt.“
 

„Nichts. Nichts weiter.“ Adam streckte sich. „Ich will im Moment eigentlich nur noch ins Bett. Hast du was dagegen?“
 

„Nein. Absolut nicht. Aber“, er zog das Wort ein bisschen, „wie wär’s, wenn du bei mir im Bett schläfst? Die Couch ist nicht wirklich gemütlich, und ich will nicht, dass du dich wieder erkältest.“
 

„Wah, ne Nacht auf nem Wasserbett? Na, da sag ich bestimmt nicht nein.“ Sein Grinsen wurde noch etwas breiter und ohne lange zu fackeln tappte er zum Bett und schmiss sich genüsslich drauf. „Ich glaub, so was muss ich mir auch mal zulegen. Wobei, ist da der Sex nicht etwas sehr... eh, seltsam?“
 

„Probier’s doch aus.“
 

„Ha, klar. Soll ich Leon anbetteln, ich will es mal auf einem Wasserbett probieren oder was?“
 

André öffnete kurz den Mund, als ob er etwas sagen wollte, klappte ihn aber gleich darauf wieder zu. „Geld genug hat er ja.“, meinte er dann schlicht. „Er könnte sich so was bestimmt zulegen.“
 

„Ne, ne, ein andermal vielleicht.“
 

Der Tänzer nickte, holte Adams Bettzeug von der Couch und breitete es auf dem Bett aus, während Adam eine lockere Jogginghose, die André für ihn bereitgelegt hatte, anzog. In einer Jeans zu schlafen war nicht wirklich das Bequemste, wie er fand.
 

Er bemerkte die Blicke Andrés, die auf seinem nackten Körper ruhten. Wie sie langsam über seine helle Haut glitten, seinen Rücken nach unten. Sanft seine Pobacken und die Schenkel streichelten. Das tat gut, das tat so verdammt gut. Er war begehrenswert, definitiv. Und das nicht nur für notgeile, exzentrische Künstler, sondern auch für den normalen, männerliebenden Teil der Bevölkerung. Zufrieden zog er die Jogginghose hoch und kroch unter die Decke, sich tief in die Kissen einkuschelnd. Es war angenehm warm, und es wurde noch einen Tick angenehmer, als er Andrés Körper an seinem Rücken spürte und den starken Arm, der sich wie selbstverständlich um seine Schultern legte. Sein Atem strich ihm sanft über seinen Nacken.
 

„Gute Nacht, Adam.“
 

„Gute Nacht.“
 

Die Wärme und das angenehme Gefühl der Geborgenheit breiteten sich langsam in seinen Gliedern aus. Das Licht der Straßenlaternen warf seltsame, skurrile Schatten an die Wände, doch obwohl er das erste Mal in diesem Raum war, das erste Mal diese Schatten sah, fühlte er sich nicht fremd, im Gegenteil. Es war okay. Weil André hier war, eine Person, die er mochte, bei der er sich wohl fühlte und fallen lassen konnte, war es okay. Er schmiegte sich noch etwas enger an ihn und schloss die Augen.
 

Es würde alles gut werden, bestimmt. Es würde am Ende alles gut werden. Auf die ein oder andere Weise.

Der Himmel war grau. Adam schloss die Augen und lehnte sich für einige Momente gegen die Tür. Nassgrau. Vielleicht würde es sogar regnen. Kalter, nasser Schneeregen. Der Schnee auf der Straße würde dann zu grauem Matsch werden. Noch grauer und dreckiger als der Himmel es jetzt war. Die Leute würden sich in ihren Häusern verbarrikadieren und nicht mehr rauskommen, bis die Sonne wieder zum Vorschein kam. Oder zumindest der schöne, weiße Schnee. Obwohl er eher das Gefühl hatte, dass es nicht mehr weiß, nicht mehr sanft schneien würde. Nicht mehr so wie der erste Schnee dieses Jahres gewesen war. Unschuldig und rein. Das gehörte, so schien es ihm, einer anderen Zeit an. Einer Zeit, als er sich noch über den weißen Schnee freuen konnte.
 

Gemächlich drehte er den Kopf, fixierte aus halb geöffneten Augen die Türklingel, die er eigentlich schon längst hätte drücken sollen. Er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Wie er es schaffen sollte, Leon zu begegnen. Gestern, nach dem Gespräch mit Sachiko, war er noch voller Zuversicht und Optimismus gewesen. Doch dieses Hochgefühl hatte nicht lange angehalten. Die Kälte, die Einsamkeit, die Unsicherheit hatte ihn plötzlich befallen. In den letzten Wochen hatte er sich so sehr in dieses neue Gefühl, dass er nicht kannte, hineingesteigert, in seine unerschöpfliche Liebe zu Leon, dass er gar nicht bemerkte, wie er sich gleichzeitig auch wahnsinnig abhängig davon gemacht hatte. Ohne Leon litt er die reinsten Höllenqualen, vermisste ihn wie verrückt. Seine einhüllende Wärme, seine ruhige Stimme, sein warmes Lächeln, sein unverwechselbarer Geruch. Selbst seine arrogante Art, seine neckenden Worte oder die Wut, die ab und zu in seinen Augen aufblitzte, fehlte Adam.
 

Und mitten in der Nacht war das alles über ihn hereingebrochen, hatte ihn förmlich aus dem Schlaf gerissen. Die Tatsache, dass er ihn eine gewisse, unbestimmte Zeit nicht mehr sehen würde. Oder, wenn es komplett schief lief, er ihn nie wieder sehen würde. Nur noch von Ferne, ein Bekannter, eine kurzfristige Leidenschaft, die man schnell vergaß. Die nicht weiter wichtig war. Er wollte das nicht. Er wollte das auf keinen Fall. Der Gedanke, Leon durch seinen Ausbruch vielleicht verloren zu haben, hatte ihn schier aufgefressen. So allein, so einsam hatte er sich gefühlt. Mitten in der Nacht, in einem fremden Raum, der nur von Straßenlaternen erhellt wurde. Nur André neben sich.
 

Er schluckte und öffnete wieder komplett die Augen. Nicht dran denken, hieß die Devise. Jetzt musste er sich erst einmal Leon stellen. Ihm kam es schon jetzt wie ein Spießrutenlauf vor. Mit ihm reden, ihn sehen, sein Haus besuchen, dort, wo Leon in jeder Ecke, in jeder Nische zu spüren war. Sein Refugium. Die Höhle des Löwen. Adam lachte kurz trocken auf. Wie passend.
 

Mit einem Ruck drehte er sich zur Tür und musterte sie. Er durfte nur nicht aufgeben. Er durfte nur nicht seine eigenen Prinzipien vergessen und sich hinreißen, verführen lassen. Nein, er musste ehrlich sein. Zu Leon. Und zu sich selber.
 

Langsam hob er die Hand und legte die Fingerspitzen auf die Klingel. Zögerte noch einmal kurz, bevor er dann den Druck verstärkte. Er hörte den hellen Glockenton durch die Eingangshalle schallen. Soweit er wusste, hörte man die Klingel nur im Atelier nicht. Dort, wo Leon auf keinen Fall gestört werden wollte. In seinem kleinen, privaten Heiligtum. In seinem Ein und Alles.
 

Es regte sich nichts. Keine Schritte, keine Türen, die geöffnet wurden. Konnte es tatsächlich sein, dass Leon gar nicht da war? Nein. Irgendwie glaubte er das nicht. War er in seinem Atelier? Schon wahrscheinlicher. Vielleicht versuchte er sich an einem neuen Meisterwerk oder hatte sogar eins seiner Modells bei sich. Er seufzte. Die Kälte kroch ihm unter die Jacke, tief in sein Innerstes. Er hatte keine Lust zu frieren. Bevor er jedoch noch mal klingeln konnte, wurde die Tür geöffnet. Nicht aufgerissen, als ob jemand ungeduldig auf ihn gewartet hätte. Nein, nur geöffnet, als ob man alle Zeit der Welt hätte. Als ob es nicht weiter wichtig wäre. Er hatte nicht mal Schritte gehört.
 

Sie sahen sich einen Moment, einen sehr, sehr langen Moment nur an. So als ob sie sich das erste Mal sahen und nicht wussten, wo sie das Gesicht des Anderen einordnen sollten. So als wären sie sich fremd und doch wieder nicht.
 

Adam nahm sich die Zeit, ihn zu mustern. Seine rauchgrauen Augen ruhten genauso auf ihm, nicht neugierig, eher abwartend. Nicht wütend oder verletzt, nicht mal amüsiert. Kein einziges der Gefühle, die Sachiko erwähnt hatte, waren darin zu sehen. Ruhe, nur innere Ruhe. Wie ein Bergsee, in dessen Wasser sich der graue regnerische Himmel spiegelte. Seine Haare hatte er locker zusammen gebunden. Einige wenige glitzernde Strähnen fielen in sein Gesicht, umspielten seine markanten Züge. Der blau-violette Fleck, der sich über seinen Wangenknochen erstreckte, tat seiner Schönheit, seiner Ausstrahlung keinen Abbruch. Es war fast das Gegenteil der Fall, er machte alles noch interessanter, in seinem Kontrast zum sonst makellosen Gesicht alles nur reizvoller.
 

Adams Blick wanderte weiter nach unten, seine Kinnpartie entlang zu seinem Hals. Er trug ein schwarzes, schlichtes Seidenhemd, dessen oberste Knöpfe offen waren und die Konturen seines Schlüsselbeins freigaben. Die gebräunte Haut blitze unbewusst verführerisch hervor. Irgendetwas, tief in Adam drin, zog sich zusammen. Er hatte sie berührt, diese Haut. Er hatte sie gestreichelt und geküsst, ihre Wärme gespürt. Er hatte seine Male dort hinterlassen. Ob sie wohl noch da waren? Die Male seiner Küsse? Die Male seiner Liebe?
 

Er schluckte. Das es schwer werden würde, Leon gegenüber zu stehen, war klar. Doch das es so schwer sein würde, hatte er nicht erwartet. Seine Hände zitterten und er vergrub sie noch tiefer in seinen Jackentaschen.
 

„Ich...“ Er räusperte sich kurz. „Ich will nur meine Sachen holen.“
 

Seine Stimme klang schwach, nicht wie er selber. Am liebsten hätte er sich ihm in die Arme geworfen, hätte sein Gesicht in seine Halsbeuge geschmiegt und seinen Duft tief in sich aufgesogen. Wer hatte nur solche Dinge wie Stolz und Selbsttreue erfunden? Sie schmerzten doch nur, taten weh.
 

Leon glitt zur Seite und gab ihm den Weg in die Eingangshalle frei.
 

„Du kennst den Weg.“, meinte er nur emotionslos. So als ob er einen unliebsamen Gast vor sich hatte, den er möglichst schnell loswerden wollte.
 

Adam nickte, schlüpfte hinein und legte seine Sachen ab, während Leon sich schon abgewendet hatte und zur Küche ging. Der Junge sah ihm einen Moment nach, sah seinen Rücken, der sich ihm so kalt zugewendet hatte. Wie konnte er noch glauben, dass Leon von sich aus zu ihm kommen, ihn aufsuchen würde? Lächerlich. Naiv und lächerlich.
 

Bedächtig stieg er die Treppen empor, sah sich um, sog jedes Detail in sich auf. Ja, man spürte den egozentrischen Künstler in jeder Ecke. Wie die Möbel aufgestellt waren, welche Bilder an den Wänden hingen oder welche Nippes die niedrigen Kommoden zierten. Der weiche Teppich unter seinen Füßen erzählte von Leons Vorliebe für Bequemlichkeit, die feinen Vorhänge vor den Fenstern von seinem erlesenen Geschmack. Das gesamte Haus war von seinem Duft, von seiner Präsenz erfüllt. So nah. So verdammt nah, und trotzdem so weit entfernt als ob er auf einem anderen Stern wäre.
 

In dem Gästezimmer, das kurzzeitig Adams Schlafraum gewesen war, fand er seine Sachen. Selbst die Klamotten, die er am Samstag in der Früh so achtlos in Leons Zimmer gelassen hatte, waren jetzt fein säuberlich auf dem Bett zusammengelegt. Seine Tasche, seine Schulbücher, die er sicherheitshalber mitgenommen hatte, seine ganzen Habseligkeiten. Er musste nur noch alles packen und konnte gehen. Konnte dieses Haus, das er so lieb gewonnen hatte, verlassen. Er wusste, tief in seinem Inneren, dass er mit diesen Gefühlen übertrieb, dass es schließlich kein Abschied für immer sein musste, dass dieses Haus immer noch gerade mal einen kleinen Fußmarsch von ihm entfernt war. Aber er konnte dieses Gefühl der Einsamkeit und Endgültigkeit einfach nicht abschütteln. Ein kleiner Streit. Eigentlich würde doch eine simple Entschuldigung, eine Aussprache alle Probleme beiseite wischen. Eigentlich. Wenn nur dieser dumme, sture Stolz nicht wäre. Sein und Leons Stolz. Er wusste nicht, welcher das größere Problem darstellte.
 

Es dauerte nicht lang, alles fertig zu machen. Mit einem tiefen Seufzen schmiss er sich die Tasche über die Schulter und tappte wieder nach unten. Aus der Küche hörte er geschäftiges Geklirre. Nun, er konnte sich ja noch verabschieden.
 

Seine Sachen auf dem Boden abstellend, ging er leise zur Küchentür, schob sie lautlos auf und blieb im Türrahmen stehen. Die Küche war von dämmrigen, grauen Licht des schwindenden Tages erfüllt. Es hüllte alles in schummrigen Nebel, der irgendwie unwirklich erschien. Leise, klassische Musik ertönte, die Adam nicht zuordnen konnte.
 

Leon bemerkte ihn nicht. Er war damit beschäftigt, einige Trinkgläser verschiedenster Formen, aber von feinster Aufmachung und Qualität, mit einem Tuch abzuwischen und in den Küchenschrank einzuräumen. Adam konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Anscheinend hatte Leon Sachiko gleich heute schon zum Shoppen geschleppt. Seine Gläser mussten ihm ja wirklich wichtig sein, immerhin würde er sie bei seinem nächsten Wutausbruch bestimmt wieder brauchen.
 

Adams Grinsen wich wieder einer ernsten Miene. Er würde vermutlich nicht mehr der Grund für seine Ausbrüche sein.
 

„Ich bin fertig.“
 

„Ah, okay.“ Leon drehte sich nicht mal zu ihm, sondern rieb ungerührt an einem hartnäckigen Fleck.
 

„Ist das alles?“
 

Der Künstler warf ihm einen kurzen Blick zu. „Was soll denn noch sein?“
 

„Willst du mir nichts sagen?“ Adam stockte kurz. „Hast du mir denn wirklich gar nichts zu sagen? Irgendwas zumindest?“
 

„Wieso sollte ich?“ Er drehte sich nicht einmal zu ihm, putze weiter an seinen Gläsern. „Du hast dich ausgekotzt, deine Wut über mich freigelassen. Und? Mit dem, was du gesagt hattest, hattest du ja auch Recht. Was soll ich also noch großartig sagen?“
 

„Und das ist dir alles egal?“ Er sah ihn ungläubig an. Konnte das tatsächlich sein?
 

Leon zuckte nur mit den Schultern. „Was willst du eigentlich, Adam?“ Er bequemte sich doch noch, sich zu ihm zu drehen und ihn anzuschauen. Erst jetzt merkte Adam, wie müde er eigentlich wirkte. Nicht niedergeschlagen, nur müde und erschöpft. „Du solltest mich doch kennen, wissen, wie ich mit anderen umgehe. Also, was willst du?“
 

„Ich will nicht, dass du mich als Spielzeug ansiehst. Oder als Besitz.“ Sein Mund fühlte sich mit einem Mal wie ausgetrocknet an, und sein Innerstes zog sich auf unangenehme Weise zusammen. Er spürte, wie ihm langsam heiß wurde. „Ich will nicht, dass du mit mir nur deswegen zusammen bist, damit ich nur dir gehöre, damit du Ansprüche auf mich hast.“
 

Leon schnaubte kurz auf. Verächtlich? Ungläubig? „Und weswegen sonst?“
 

„Vielleicht, weil du mich liebst? Der einfachste, ordinärste Grund?“ Er sprach etwas schneller. Ehrlich sein, hatte Sachiko gesagt. Gut, dann würde er ehrlich sein. Adam atmete einmal tief durch und fing Leons Augen mit seinem Blick ein. „Ich liebe dich, Leon, aber ich will nicht von dir benutzt werden.“
 

Zuerst kam gar nichts. Keine Reaktion, so als ob Leon nichts gehört hätte. Dann, langsam, weiteten sich seine Augen. Ein verwirrter, ungläubiger Ausdruck trat in sie, überzog wie ein Schatten das hübsche Rauchgrau. Er schüttelte den Kopf, als ob das grad gehörte nur ein Wahn, eine irre Idee gewesen wäre.
 

„Das ist lächerlich, Adam. Verheddere dich nicht in irgendwelche Wunschgespinste.“ Vorsichtig stellte er das Glas, das er gerade in der Hand gehalten hatte, ab. „Schon allein deswegen, weil ich sie nicht erwidere. Gar nicht erwidern könnte.“ Mit einigen wenigen Schritten war er zu ihm gekommen und drehte ihn um. „Du solltest gehen. Du hast alles, nicht wahr?“
 

Adam konnte nur nicken. Am Liebsten hätte er laut losgelacht. Was hatte er sich eigentlich eingebildet? Dass Leon voller Freude zu ihm springen und sagen würde „Ich dich auch“? Er hatte gewusst, dass Leon es nicht erwiderte. Er hatte es doch gewusst. Wieso tat es dann trotzdem so verdammt, verdammt weh? Wieso fühlte es sich dann trotzdem so an, als ob sein Herz gerade in tausend kleine Teile zersprungen wäre? Wieso, verdammt noch mal, wieso?
 

„Was ist mit dem Modell stehen?“ Leons ungerührte Frage kam, als sie schon direkt bei der Tür waren. „Kommst du trotzdem noch? Ich wollte dein Bild eigentlich für eine Ausstellung benutzen.“
 

Leichter Unglaube machte sich in Adam breit. Wie konnte er einfach nur so drüber hinweg gehen? Er hatte ihm gerade seine Liebe gestanden und ihn interessierte nur das Bild? Das war doch so was von scheißegal. So absolut egal. Und so typisch Leon.
 

Aber ihm fehlte die Kraft, noch irgendwie wütend zu reagieren.
 

„Vorerst nicht.“ Langsam zog er seine Sachen an und hob die Tasche hoch. „Vielleicht in zwei, drei Wochen. Oder später. Keine Ahnung, ich meld mich dann.“
 

“Hm. Ich verstehe.“
 

Nichts verstehst du, du gefühlloser Hornochse. Gar nichts. Gibt es für dich denn nichts wichtigeres als deine Kunst? Als dich selber?
 

Adam konnte ihm nicht ins Gesicht schauen. Wollte es einfach nicht. Nicht jetzt.
 

„Also dann. Viel Spaß noch.“
 

Leon antwortete nicht. Auch egal. Langsam öffnete er die Tür ein Stück weit. Draußen hatte es zu schneien angefangen. Schneeregen, wie er es prophezeit hatte. Es konnte ja nur noch besser werden.
 

Plötzlich knallte Leon seine Hände gegen die Tür, so dass sie wieder ins Schloss zurück fiel. Adam zuckte erschrocken zusammen. Spürte Leons Atem an seinem Hinterkopf. Zögernd drehte er sich um, mit dem Rücken zur Tür. Leon war nah, viel zu nah.
 

Einen Augenblick später spürte er seine Lippen auf den eigenen. Ein warmes Gefühl überflutete ihn. Er hatte es vermisst, so sehr vermisst. Diese Süße, die ihn fast um den Verstand brachte. Weiche Lippen, ein warmer Körper nah an seinem. Seine Beine fingen an zu zittern. Konnte er das wirklich so einfach hinter sich lassen? Wollte er das wegen seinem Stolz wirklich aufgeben?
 

Leons Zunge glitt gemächlich in Adams Mund, umspielte zärtlich seine Zähne, drang etwas tiefer und streichelte seinen Gaumen. Umgarnte Adams Zunge, langsam, bedächtig. Sie hatten alle Zeit der Welt.
 

Mühsam unterdrückte er den Drang, seine Tasche fallen zu lassen und die Arme um Leons Nacken zu schlingen, ihn noch enger zu sich zu ziehen.. Stattdessen umklammerte er ihren Griff fester, ließ sich gegen die Tür fallen, gab sich dem Kuss hin. Genießen. Einfach nur genießen. Und sich hingeben.
 

Er spürte, wie sein Widerstand langsam bröckelte, sein Stolz sich zu verabschieden suchte. Er hatte es so sehr vermisst. So sehr. Verdammt!
 

Mit einem Keuchen drückte Adam Leon von sich, löste ihre Münder von einander.
 

„Das war jetzt wohl der Abschiedskuss, was?“ In seiner atemlosen Stimme schwang ein Hauch von Lachen mit. Selbstironisches Lachen. „Ich brauch dein Mitleid nicht.“ Ohne aufzuschauen, kramte er seinen Schlüsselbund aus seiner Tasche, löste Leons Hausschlüssel davon und legte ihn ihm in die Hand. „Den brauch ich auch nicht mehr.“
 

Mit einem Ruck drehte er sich zur Tür und riss sie auf. Für einen Moment blieb er stehen.
 

„Wenn du so scharf auf mich bist,“, er zitterte, „wenn du wirklich so scharf auf mich bist, dann such nach einem Weg, mich wieder zu erlangen. Auch wenn ich nicht weiß, wie das gehen sollte. Oder ob es dir überhaupt die Mühe wert ist. Aber eins verspreche ich dir: Ich werde nicht angekrochen kommen und deine Fußspitzen lecken. Ich werde nicht dein Spielzeug sein.“
 

Ohne auf eine Antwort zu warten trat er nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Ein Windstoß fegte einen Regenschauer in sein Gesicht, das er angewidert verzog. Die Kälte kroch unter seine Jacke, bis tief in sein Innerstes. Drinnen war es warm gewesen, angenehm warm. Sein Blick wanderte nach oben, zum grauen Himmel. Wieso hatte er ihn jetzt küssen müssen? Er hatte ihm mit aller Brutalität wieder vor Augen geführt, was er von sich wegstieß. Und ihm seine Liebe wieder und wieder bewusst gemacht. Diese Liebe, die ihn überschäumte, einfing und nicht mehr losließ. Diese gottverdammte Liebe. Sie hatte ihn gewärmt.
 

Trotzdem, er fühlte sich hier draußen wohler. Hier konnte er atmen. Hier konnte er frei und er selber sein, ohne nach Leons Pfeife tanzen zu müssen.
 

Keine Kompromisse, nicht wahr? Er musste sich selber verteidigen, durfte seine Ideale und Prinzipien nicht verraten, durfte nicht zu einem schwächlichen Spielball Leons werden. Keine Kompromisse. Jetzt war Leon am Zug.
 

Er fühlte sich gut.
 

Doch trotzdem benässten Tränen seine Wangen.
 

Und erst jetzt fiel ihm auf, dass die Musik Suos Pianospiel gewesen war.

Adam wendete den Kopf vom Fernseher weg und schloss die Augen. Die Handlung des Films interessierte ihn nicht wirklich, und die Hälfte bekam er sowieso nicht mit. Die Stimmen und die Hintergrundmusik waren nur eine nervige Geräuschkulisse, die es schlicht nicht schaffte, sein Interesse zu wecken. Er machte es sich noch etwas bequemer in seiner liegenden Position, den Kopf auf Muse’ Oberschenkel gebettet, und ließ seine Gedanken wandern, mal wieder und wie in den letzten Tagen recht häufig. Einen Moment später spürte er Muse’ Hand in seinem Haar, wie er sanft durch die schwarzen Strähnen strich. Eigentlich hatten sie sich zu einem Filmeabend verabredet, mit Popcorn, Cola und guter Laune, nur blieb irgendwie die gute Laune aus. Muse selber wirkte müde und erschöpft, so als ob er einen langen Tag gehabt hätte, und Adam war genauso wenig die pure Lebensfreude. Seine Gedanken wanderten immer wieder von einem Punkt zum nächsten, ohne Ruhe und ohne Ergebnis. Er drehte sich förmlich im Kreis, lief Schlangenlinien und kam doch nicht zum Ende. Und weder der Film noch die Anwesenheit seines Freundes lenkte ihn in irgendeiner Weise ab. Genervt schloss er die Augen. Dachte, schon wieder, an den letzten Sonntag zurück. Den Sonntag, oder besser gesagt, die Sonntagnacht, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte.
 

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Ein Auto fuhr vorbei. Seine Scheinwerfer warfen kurz dunkle Schatten an die Wand, tauchten den Raum in helles, gleißendes Licht, bevor sie dann verschwanden und die Beleuchtung den Straßenlaternen überließen. Stille trat ein, nur der tropfende Wasserhahn durchbrach sie, stetig und nervig, sich in Adams Gehirnwindungen fressend.
 

Er lag einige Augenblicke ruhig da, lauschte dem Tropfen und versuchte gleichzeitig zwanghaft, wieder einzuschlafen. Er konnte noch nicht mal sagen, was ihn geweckt hatte. Vielleicht eine Bewegung von André, da dieser sich von ihm gelöst und ihm den Rücken zugedreht hatte. Vielleicht auch ein vorbeifahrendes Auto. Oder ein Traum. Er konnte es beim besten Willen nicht sagen, Fakt war jedoch, dass das wieder Einschlafen ein Problem darstellte, egal wie sehr er sich bemühte. Resigniert stand er leise auf, um André nicht zu wecken, und tappte zum Wasserhahn. Das Parkett unter seinen nackten Sohlen fühlte sich kalt an, und der Raum selber war auch nicht sonderlich wärmer. Gänsehaut breitete sich auf seinen nackten Armen aus und er zitterte leicht. Kein Wunder, dieses alte Gebäude war nicht wirklich gut isoliert, Kälte drang sehr viel einfacher ein. Das Bett und seine Wärme wirkte mit einem Schlag noch verführerischer als davor. Dort kam die Kälte nicht so einfach hin.
 

Er seufzte und drehte vorsichtig den Wasserhahn zu. Müde starrte er einige Augenblicke den letzten Tropfen an, der ins Waschbecken fiel. Seine Hochstimmung, die er nach dem Treffen mit Sachiko gehabt hatte, war komplett verflogen. Und die Zweifel kamen wieder. Zweifel daran, ob er nicht viel zu selbstsicher gewesen war. Zweifel daran, ob er nicht Leon tatsächlich verloren hatte. Wer würde bitte zu demjenigen zurückkehren, der einen einen arroganten, selbstverliebten Bastard genannt und ihm ins Gesicht geschlagen hatte? Vor allem jemand, der so stolz war wie Leon. Der alles besaß und alles bekam, was er wollte. Und der leicht Ersatz für einen widerspenstigen, kleinen Jungen finden würde. Egal wie optimistisch Sachiko in dem Fall war, im Moment konnte er nicht so recht daran glauben. Verdammt. Wie süchtig konnte man eigentlich nach einem einzigen Menschen sein?
 

Die Arme um den Oberkörper geschlungen, setzte er sich auf einen der Barhocker und legte das Kinn auf den Tisch. An Schlaf war wirklich nicht zu denken, dazu drehten seine Gedanken viel zu seltsame Pirouetten in seinem Kopf. Und dazu vermisste er viel zu sehr die Wärme von Leons Armen. Er hätte noch eine weitere Woche bei ihm bleiben können. Er hätte noch eine weitere Woche in seinem Bett schlafen, mit ihm Sex haben und sich an ihn kuscheln können. Er spürte förmlich die Arme, die sich um ihn legten und heranzogen. Der warme Atem in seinem Nacken, die weichen Lippen auf seinem Mund, seinem Hals, seiner Schläfe. Die Brust, an die er sich kuscheln konnte, und die dunkle, rauchige Stimme, die ihm süße Worte, neckende Worte einflüsterte. Und die Augen, diese wunderschönen, sanften, spöttischen Augen. Augen, die die Kälte des Winters widerspiegeln konnten.
 

Er vermisste ihn. Er wollte zu ihm. Seine Stimme hören, seinen Körper spüren. Verdammt. Diese Möglichkeit hatte er sich gekonnt verbaut. Verdammte Scheiße!
 

Mühsam schluckte Adam den Kloß in seinem Hals runter und starrte die Kühlschranktür an, nur um nicht seine Beherrschung zu verlieren. Er wollte nicht wie ein kleines Mädchen in Tränen ausbrechen oder komplett an seinen eigenen Gedanken verzweifeln. Es brachte ja doch nichts, er musste abwarten. Auf etwas warten, von dem er nicht mal sicher sagen konnte, dass es tatsächlich eintreffen würde. Ein Warten, das ihm den Schlaf raubte.
 

Plötzlich spürte er, wie sich zwei Arme um ihn schlossen.
 

„Du denkst zuviel nach.“
 

Andrés warmer Atem kitzelte leicht an seinem Ohr. Adam schloss die Augen und lehnte sich zurück, gegen die starke Brust, die ihm ein Gefühl von Schutz gab. Es tat so gut. Er mochte diese Berührung. Er mochte dieses Gefühl von Sicherheit.
 

Langsam drehte er sich auf seinem Stuhl um und legte seine Stirn an Andrés Schlüsselbein.
 

„Ich kann nicht schlafen.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern.
 

„Hab ich gemerkt.“ André drückte ihn noch etwas fester an sich und vergrub seine Finger in Adams Haaren. „Du denkst zuviel.“
 

„Mhm.“
 

Adam öffnete halb die Augen und starrte blind auf einen Punkt auf Andrés Brust. Er fühlte sich einsam. Einsam und allein. Hungrig nach Liebe und Zärtlichkeiten. Die Kälte fraß ihn förmlich auf. Vorsichtig hob er den Kopf. Sah André unter halb geschlossenen Augen an, feucht von Tränen, die nicht fließen wollten. Er wusste, dass er wie ein allein gelassenes Hündchen aussah. Und er wusste, welche Wirkung das auf André ausübte.
 

Der Tänzer beugte sich gemächlich runter und drückte ihm seine Lippen auf den Mund. Sanft küsste er ihn, während er mit der Hand in seinem Haar ihn noch etwas näher an sich drückte. Es hätte ein Kuss des Trostes sein können. War es aber nicht. Adam legte vorsichtig seine Hände um Andrés Hüfte und zog ihn zu sich. Ganz ruhig, ohne Hast. Ohne einen Herzschlag, der schneller zu werden drohte, oder das obligatorische Kribbeln im Bauch, das ihn meist in den Wahnsinn trieb.
 

Er spürte Andrés Zunge in seiner Mundhöhle und erwiderte das Spiel, dass sein Freund aufnahm. Der Kuss war anders als die anderen. Auch anders als die Allerersten, die sie miteinander geteilt hatten. Leidenschaftlicher, fordernder. Ähnlich wie der Kuss, der Leon so wütend gemacht hatte. Nicht der Kuss zweier Freunde, sondern der zweier Liebhaber.
 

Andrés Körper an seinem eigenen war warm, anschmiegsam. Behutsam strich er mit gespreizten Fingern seinen straffen Bauch hinab, die Muskeln entlang nach unten zum Hosenbund. Leons Bauch war nicht ganz so straff, nicht so durchtrainiert. Schlank, aber nicht so muskulös. Er ließ seine Fingerspitzen unter den Rand der Hose gleiten, strich an der Hüfte entlang nach hinten und fuhr sanft den Rücken wieder hoch, legte seine Hände auf die Schulterblätter und schmiegte sich noch näher an André. So nah, dass es nicht weiter ging, dass er seinen wilden, unruhigen Herzschlag spürte. Wieso blieb sein eigenes Herz so ruhig? Wieso wurde er nicht nervös, erregt? Wiese reagierte er nicht? Das war auch ein Mann, noch dazu ein verdammt gutaussehender und sympathischer. Am Körper war nichts auszusetzen, am Charakter war nichts auszusetzen. Wieso zum Teufel noch mal reagierte er nicht?
 

Seine Hände verkrallten sich leicht in Andrés Fleisch, hinterließen flüchtige Kratzspuren. Mehr. Vielleicht brauchte er einfach nur mehr. Mehr Körper, mehr Berührung. Mehr Sex.
 

Plötzlich packte André ihn bei den Schultern und riss ihn von sich los. Schwer keuchend blieb er einige Augenblicke so stehen, verharrte in dieser Position, in der er Adam auf Abstand hielt, bevor er seinen Blick suchte. Adams Lippen waren von dem Kuss leicht geschwollen, sein Blick hatte einen glasigen Glanz, bevor er sich auf Andrés Augen richtete.
 

„Willst du nicht?“ Adams Stimme klang tonlos, nicht wirklich interessiert, aber auch nicht erleichtert. So als ob es ihm egal wäre.
 

„Nicht so.“ André ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. „Ich bin nur ungern der Ersatz für Leon.“ Adam hob an, etwas zu sagen, doch der Tänzer schüttelte nur den Kopf. „Du brauchst mir nichts vormachen. Ich bin nur der Ersatz für Leon. Du hast im Moment doch kein echtes Interesse an mir, nicht wahr? Mein Kuss hatte keinerlei Wirkung auf dich und du warst abwesend.“ Er lächelte. Ein selbstironisches, mitleidiges und ein wenig verletztes Lächeln. „Ich weiß, dass du momentan sehr empfindlich bist, aber werde nicht zum Arschloch, das andere Menschen als Ersatz benutzt. Willst du wirklich Andere damit verletzten?“
 

Adam ließ seine Hände kraftlos auf seine Oberschenkel fallen und schweifte mit seinem Blick einmal durch den Raum, bevor er mit leicht gerunzelter Stirn André wieder anblickte. „Ich verletzte dich?“
 

André schluckte. „Ja.“
 

„Wieso?“
 

„Weil du mich nur als Ersatz benutzt.“
 

„Aber es ist doch nur Sex. Von dir und von mir.“, flüsterte er, verwirrt. Die Worte schmeckten falsch und verlogen. Hatte man Sex mit einem Mann, wenn man einen anderen liebte?
 

„Nein, ist es nicht.“ Der Tänzer schwieg für einen Moment. „Du... liebst Leon, nicht mich. Deswegen solltest du mit ihm schlafen, nicht mit mir.“
 

„Das kann dir doch egal sein.“ Es war fast ein verzweifelter Aufschrei. Er fuhr sich durch die Haare und biss sich leicht auf die Unterlippe. „Das kann dir doch völlig egal sein. Bin doch ich, der dann mit meinem Gewissen zurecht kommen müsste.“
 

„Ich bin dein Freund. Ich möchte nicht, dass du leidest. Außerdem,“, er atmete kurz ein, „dir würde es auch nicht gefallen, wenn Leon dich nur als Ersatz benutzt. Du wärst auch verletzt.“
 

„Ja, weil ich ihn liebe. Und weil ich Gefühle von ihm haben will, nicht nur das Körperliche.“
 

„Eben.“
 

„Eben?“
 

Adam sah ihn für einen Augenblick verständnislos an. Eben? Was genau meinte er damit? Er betrachtete ihn, sein ruhiges Gesicht, das fast schon melancholische Lächeln, den traurigen Ausdruck in den Augen. Eben...
 

Erschrocken fuhr er zurück, als ihm die Bedeutung dieses lapidar hingeworfenen Wortes bewusst wurde. Nein, bitte, bitte nicht das!
 

„Sag nicht, dass... wieso... ich mein...“ Hilflos sah er ihn an.
 

„Du weißt doch selber am Besten, wie schlecht sich Gefühle steuern lassen.“ André zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht immun dagegen.“
 

„Dann... aber... wieso... wieso hast du nicht...“ Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. „Ich bin so blöd!“
 

„Was hätte es gebracht, wenn ich dir früher was gesagt hätte? Du hättest deine Liebe zu Leon nicht aufgegeben.“
 

„Ja, aber dann hätte ich auch nicht dauernd von ihm geredet.“ Adam warf ihm einen fast schon wütenden Blick zu. „Dann hätte ich nicht von ihm geschwärmt und dich nicht mit meinem Sorgen und Problemen belastet. Dann hätte ich dir... nicht weh getan.“
 

„Es ist in Ordnung“. André lachte leise auf, legte seinen Unterarm an Adams Nacken und zog ihn zu sich heran. „Ich brauch kein Mitleid oder so was.“ Sanft drückte er ihm einen Kuss auf die Stirn. „Denk nicht, dass ich so leicht aufgebe. Ich weiß zumindest, dass du mich magst und das du auch körperlich nicht gerade abgeneigt bist. Beste Vorraussetzungen, nicht wahr?“
 

„Beste Vorraussetzungen?“ Adam wand sich. Gerade jetzt bereitete ihm Andrés Berührung unangenehme Schauer.
 

„Jep. Ich habe durchaus vor, Leon auszustechen und dich für mich zu gewinnen. Mit allen Mitteln.“
 

„Wieso hast du dann nicht mit mir geschlafen?“
 

André löste sich von ihm, sah ihn einen Moment lang lächelnd an und wurschtelte ihm dann durch die Haare. „Weil es nichts gebracht hätte. Wie gesagt, ich will kein Ersatz sein. Ich will mit dir schlafen, wenn du selber bewusst auch mit mir schlafen willst. Und nicht einfach nur mit jemandem, der dir Leons Körper und Wärme ersetzt. Darauf bin ich beim besten Willen nicht aus. Ich will nicht deinen Körper, ich will dein Herz.“
 

Adam sah ihn sprachlos an. Er hätte losheulen können. Wieso musste alles so verdammt schief laufen? Der Mann, den er liebte, sah in ihm nur ein Spielzeug, einen Besitz, und sein lieber, wertvoller Freund, der für ihn nicht mal ein bisschen mehr als nur ein Freund war, liebte ihn und sagte ihm Worte, die er gerne von jemand anderem gehört hätte. Und dabei verletzte er ihn, wenn auch unabsichtlich, benahm sich wie ein ignorantes Arschloch und benutzte ihn für sein eigenes Wohlbefinden, für die Befriedigung seiner Wünsche und Sehnsüchte. Verdammt. Dabei hatte er gedacht, sein einziges Problem wäre Leon. Er hatte sich getäuscht, fürchterlich getäuscht. Wie ging man mit einem Freund um, dessen Gefühle man nicht erwiderte und den man trotzdem nicht verletzten wollte?
 

„Ein bisschen viel Input, hm?“ André lächelte ihn verständnisvoll an. „Wir sollten schlafen gehen. Wobei... ich glaub, ich nehme lieber die Couch. Ist besser so.“
 

Ohne auf eine Antwort Adams zu warten, ging er zu seinem Wasserbett zurück, packte sich Kissen und Decke und breitete sie auf der Couch aus, auf der letzte Nacht Adam geschlafen hatte. Der Junge konnte ihm nur zusehen, ohne sich zu rühren. Der betrachtete seinen Rücken, seine Haltung, die so selbstsicher wirkte. Er war es nicht. Er war nicht selbstsicher, sondern genauso hilflos und unsicher wie Adam selbst, aber er versuchte es mit seiner lockeren Art zu übertünchen. Und bis jetzt hatte er es geschafft, sehr gut sogar. Adam hatte nichts, rein gar nichts gemerkt. Er war so in sein eigenes Leid, seine eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass er von den Gefühlen und Sorgen der Leute um sich herum gar nichts mitbekommen hatte. Wie blöd konnte man eigentlich sein?
 

„Du wirst nicht sonderlich gemütlich schlafen können, wenn du da sitzen bleibst.“
 

Andrés sarkastische Stimme schreckte ihn aus seinen Gedankengängen. Automatisch nickte er, rutschte vom Hocker und tappte zum Bett. Die Decke aufnehmend, blickte er noch mal zu André.
 

„Gute Nacht.“ André lächelte ihn an, fast wie ein kleiner Junge. Das Lächeln verschwand jedoch in den Schatten der Nacht.
 

Er konnte André nichts erwidern, nicht mal ebenfalls eine gute Nacht wünschen. Schweigend kroch er unter die Decke und schlang sie fest um sich. Die Kälte war inzwischen bis tief unter die Haut gedrungen. Hätte er doch nur Andrés Kuss nicht erwidert. Hätte er sich doch bloß seiner Fürsorge nicht hingegeben. Hätte er doch nur nicht versucht, ihn für sein eigenes Wohl zu benutzen.
 

Jämmerlich. Er fühlte sich so jämmerlich. Mit dieser kurzzeitigen Schwäche, mit diesem Verrat an seinen eigenen Werten hatte er einen Fehler begannen. Hatte er nicht Leon vorgeworfen, dass dieser nur die Leute um ihn herum benutze? Hatte er es nicht gerade selbst fast gemacht? Und dabei hatte er seinen Freund, hatte André sogar noch mehr verletzt, als er es in einem klaren, vernünftigen Zustand erwartet hätte.
 

Adam schloss die Augen und drehte sich auf den Rücken. Öffnete sie wieder und starrte die kahle Decke an. Er war in ihn verliebt. André war tatsächlich in ihn, einen kleinen, unreifen und naiven Jungen wie ihn verliebt. Hätte er sich ihm nicht so hingegeben, dann hätte er es auch nie erfahren. Dann würde er normal mit ihm umgehen können, wie sonst auch. Ihm die zärtlichen Abschiedsküsse geben, sich mit ihm über Gott und die Welt, über Leon unterhalten und auch das ein oder andere Mal mit ihm kuscheln. Aber jetzt ging das nicht mehr. Jetzt würde er, ohne es zu wollen, jede von Andrés Gesten, jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen, versuchen, irgendwelche Bedeutungen dahinter zu lesen. Er würde in seiner Nähe angespannt sein. Auf der Hut und übervorsichtig gleichzeitig, um sich selber und ihm nicht unnötige Schmerzen zu bereiten. Verdammt. Und obwohl er wusste, dass genau das das falsche Verhalten war, dass es nur ihre Freundschaft belasten würde, würde er nichts, rein gar nichts daran ändern können.
 

Mit einem leisen, genervten Seufzer fuhr er sich durch die Haare. Die Zeit, als er einsam gewesen war, als er keine Freunde, keine Verpflichtungen und damit auch keine Sorgen gehabt hatte, war so schön gewesen. Nur für sich leben, nicht auf andere achten, nicht verletzt werden und nicht verletzten. Er war gut damit zurecht gekommen. Wieso konnte er nicht einfach wieder dahin zurück kehren? Alles und jeden vergessen. Leon, Muse, André, Sachiko, die Kollegen und Gäste vom ‘Paradise Hill’, mit denen er sich so gut verstand. Sie alle einfach vergessen, sich wieder in seiner eigenen kleinen Welt einigeln und stupide vor sich hinleben. Es wäre so schön einfach. Und so verdammt traurig.
 

Müde drehte Adam sich zur Seite und zog die Decke noch etwas höher. Gut, er hatte einen Fehler gemacht. Er würde sich irgendwas überlegen müssen, wie er mit Andrés Gefühlen umging, ohne ihn allzu sehr zu verletzten. Aber noch nicht jetzt und noch nicht heute. Erst einmal musste er sich Leon stellen. Danach... ja, danach konnte er weiter schauen. Danach kam André.
 

Ohne dass er mitbekam, wie die Zeit verging, oder dass er auch nur das kleinste bisschen Schlaf bekam, graute der Morgen. Und noch während André schlief, duschte er, zog sich an und verließ das Loft. Er wollte ihm nicht begegnen und in einer beklemmenden Stimmung Smalltalk führen, so als ob nichts passiert wäre. Vorerst war es besser, ihn nicht zu sehen.
 

Und so hielt er sich den Tag über im Park auf, wartete auf einer Bank, die Menschen beobachtend und auf den Abend wartend. Und irgendwann schließlich machte er sich auf den Weg zu Leon.
 

---
 

„Der Film ist vorbei.“ Muse’ ruhige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Willst du nicht lieber schlafen gehen?“
 

„Ich kann nicht schlafen.“ Die Augen langsam öffnend, drehte Adam sich zur Seite und bettete sich noch etwas bequemer auf Muse’ Oberschenkel. „Ich denke zuviel.“
 

Muse lachte leise auf. „Das ist ja mal ganz was Neues.“ Er grinste und zupfte an einigen von Adams Haarsträhnen. „Willst du mich als Kissen benutzen? Ich find meinen Oberschenkel nicht so sonderlich bequem.“
 

„Kannst du doch gar nicht beurteilen, du bist doch noch nie drauf gelegen.“
 

„Auch wieder wahr.“ Er schaltete den Fernseher aus und lehnte den Kopf nach hinten, die Augen geschlossen, während er immer noch Adams Kopf kraulte. „Du bist wie eine Katze.“
 

„Miau.“
 

Sie schwiegen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Gedanken, die rotierten, die nicht zu einem Ergebnis kamen und sich nur schmerzhaft ins Gedächtnis fraßen. Gedanken, die absolut sinnlos und absolut hartnäckig waren. Und die einen in den Wahnsinn treiben konnten, ohne auch nur zum geringsten Ergebnis zu führen. Deprimierend. Sinnlos und deprimierend.
 

Die Stille war nicht zu ertragen. Obwohl er und Muse häufig nur wortlos beieinander saßen, war diese Stille nicht zu ertragen. Rastlos sprang Adam mit einem genervten Laut auf, wodurch Muse erschrocken zusammen zuckte.
 

„Ich will 'ne Schokolade. Soll ich dir auch was holen?“
 

Muse sah ihn einen Moment regungslos an, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein, danke, meine Cola reicht mir.“
 

Adam nickte nur und tappte in die Küche. Egal, wie sehr er Leons Villa vermisste, es tat irgendwie gut, wieder in den eigenen vier Wänden zu sein. Hier lief zumindest alles relativ in den Bahnen, in denen es auch laufen sollte. Keine Gerüche, keine Atmosphären, die er nicht kannte. Hier spürte er seine Eltern. Und die Geborgenheit, die sie ihm schenkten. Er musste lächeln. Ja, egal, was aus seinem Leben werden würde, wohin es ihn irgendwann mal verschlagen würde, das Haus seiner Eltern würde für ihn immer eine Heimat und Ruhestätte bleiben. Ein Ort, wo er sich zurückziehen und entspannen konnte, dem Rest der Welt den Rücken zudrehend. Und für eine Weile alles vergessend.
 

Ohne Hast bereitete er sich seine heiße Schokolade zu, nippte kurz am dampfenden Getränk und tappte dann zum Wohnzimmer zurück. Im Türrahmen blieb er für einen Moment stehen und musterte Muse, der seitlich zu ihm saß, den Kopf auf eine Hand gestützt, ein Bein angezogen und die Augen geschlossen. Er wirkte nachdenklich, irgendwo weit weg, und verdammt, verdammt müde. Adam runzelte die Stirn. Sie sahen sich fast täglich, vielleicht war es ihm deswegen bis jetzt nicht aufgefallen. Oder vielleicht war er auch einfach zu ignorant und auf sich selbst bezogen gewesen, aber wann waren diese dunklen Augenringe entstanden? Und wann genau war in seinen Blick dieser seltsam abwesende Ausdruck getreten? Tatsächlich wirkte er irgendwie kraftlos, ohne Leben. Was zum Teufel war los?
 

„Alles okay?“
 

Es war eine blöde Einleitung, aber Adam wusste nichts besseres zu sagen. Und er war nicht der Typ, der, wenn ihm tatsächlich mal etwas auffiel, einfach drüber hinweg ging. Er wollte den Grund für diese Kraftlosigkeit wissen. Vielleicht war es nichts und Muse hatte nur schlecht geschlafen. Vielleicht war er aber einfach auch sensibler geworden und achtete mehr auf seine Umgebung. Andrés Geständnis hatte ihm doch sehr gut gezeigt, wie wenig er doch tatsächlich mitbekam.
 

„Hm?“ Muse öffnete langsam die Augen und wendete den Kopf ein Stückchen zu seinem Freund. „Was meinst du?“
 

„Du wirkst müde.“ Adam setzte sich auf die Couch, Muse fixierend, und nippte an seinem Getränk. „Irgendwas stimmt nicht, nicht wahr?“
 

„Ich hab nur wenig Schlaf bekommen in letzter Zeit.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nichts weiter.“
 

„Und wieso nicht?“
 

Es war eine Ausrede. Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das sah man ihm an der Nasenspitze an.
 

Muse warf ihm einen fast schon genervten Blick zu. „Nicht wichtig. Ich will nicht drüber reden.“
 

„Ich kann mich nicht erinnern, dich danach gefragt zu haben, was du willst.“ Adam stellte seine Tasse auf dem Wohnzimmertisch ab, verschränkte die Arme und blickte Muse fest an. Zumindest hatte er schon mal nicht geleugnet, dass tatsächlich etwas los war. „Es ist nicht sonderlich fair, wenn ich dir über meine Probleme die Ohren zunöle, du mir aber nicht sagst, was dich bedrückt. Ich will dir schließlich auch helfen. Und wir sind immerhin Freunde, nicht wahr?“
 

Muse schloss kurz die Augen. „Du kannst mir dabei nicht helfen.“
 

„Aber ich kann dir zuhören. Und komplett blind bin ich nicht. Ich sehe, dass irgendwas nicht stimmt.“
 

Er schwieg und wendete seinen Blick zu einem Punkt irgendwo an der Wand. Sein Gesicht wirkte leer, leblos. Adam musste den Impuls wiederstehen, die Luft anzuhalten oder ihn zu rütteln und ihn zum Reden zu bringen. Er wartete lieber.
 

Es dauerte einige Zeit, in der die Stille unangenehm in der Luft hing. Nur ab und zu hörte man draußen ein Auto vorbei fahren, ansonsten war es totenstill.
 

„Philips Frau ist wieder schwanger.“
 

Der Satz wirkte wie ein Stein, der gegen eine Glasscheibe geworfen wurde. Alles zerfiel in tausend kleine Splitter. Irreparabel.
 

Diesmal sog Adam tatsächlich die Luft ein und hielt sie für einen Moment an.
 

„Was?“
 

„Sie ist wieder schwanger. Er wird zum zweiten Mal Vater.“
 

Die Wiederholung seiner Worte war fast genauso tonlos wie das erste Mal. Kein Gefühl dahinter. Keine Hoffnung.
 

„Er...“ Er versuchte irgendwie, seine Gedanken zu sammeln, eine Ordnung hineinzubringen. „Er schläft mit ihr?“
 

„Sie sind verheiratet.“ Muse zuckte nur emotionslos mit den Schultern. „Da ist es doch normal, dass sie miteinander schlafen. Niemand hat behauptet, dass es ihm gefallen muss.“ Jetzt sah er Adam an und lächelte leicht. „Sie wollte schon seit längerem ein zweites Kind. Und Philip mag Kinder auch. Mit mir könnte er ja eh keine haben.“
 

„Das ist doch...“
 

Adam schüttelte hilflos den Kopf. Das war doch kein Grund. Verdammt, der Kerl war doch, eigentlich, mit Muse zusammen, auch wenn es objektiv gesehen nur eine Affäre war. Er liebte ihn doch, wieso hatte er dann Sex mit jemand anderem? Auch wenn es seine Frau war, war ihm denn nicht bewusst, wie sehr er Muse damit weh tat? Wie sehr er unter dieser gesamten Situation litt? Und jetzt kam auch noch ein zweites Kind. Die Möglichkeit, dass Muse und Philip gemeinsam glücklich werden konnten, rückte in weite, noch weitere Ferne als davor. Philip schien nicht der Typ Mann zu sein, der zu Gunsten seines Lovers seine Frau und seine Kinder alleine ließ. Und Muse wusste das, besser als jeder andere. Trotzdem liebte er ihn. Egal wie sehr es weh tat, er liebte ihn und kam einfach nicht von ihm los. Obwohl es so viel besser für ihn wäre. Verdammt.
 

Ohne ein weiteres Wort rückte Adam noch näher zu seinem Freund, umarmte ihn sanft und drückte ihn an sich. Er konnte nicht viel tun, er konnte nicht mehr helfen als das er zuhörte und seine Nähe spendete. Alles andere, jedes zärtliche Wort, jeder gutgemeinte Ratschlag und jede „Es wird alles gut“-Bekundung war unnütz und falsch. Fehl am Platz. Überflüssig. Sie brauchten keine Worte.
 

Muse blieb einige Momente regungslos sitzen, bevor er langsam seine Finger in Adams Pullover verkrallte, seinen Kopf gegen ihn lehnte und erschöpft die Augen schloss. Einige Augenblicke der Ruhe, einige Sekunden des Friedens. Egal wie trügerisch es war, ab und zu benötigte sie wohl jeder. Egal wie stark man nach außen hin wirkte, innerlich blieb man verletzlich und klein. Nur eine gläserne Seele, ein Konstrukt aus zerbrechlichem Porzellan.
 

Ohne seinen Freund loszulassen, blickte Adam aus dem Fenster, vor dem wieder ein Sturm aus Schnee und Regen wütete. Die Scheibe war nass, wurde immer wieder mit Tropfen und Schneeflocken überzogen, doch kein einziger Laut drang nach Innen, zu ihnen, in diesen Raum. Er hörte nur den Atem von Muse, und seinen eigenen. Mehr nicht. Wie in einen Kokon gehüllt, von der Außenwelt abgeschirmt.
 

Er wünschte sich aus ganzem Herzen, dass diese Abschirmung sie noch etwas länger schützte. Auch wenn es nur ein trügerischer, dünner Schutz war.

Sachiko klopfte sich genervt den Schnee von den Schultern, atmete, das Gesicht unwillig verzogen, aus und drückte die Klingel. Sie hasste den Winter. Er war kalt, er war feucht und er war dunkel. Die kahlen Bäume und die früh einbrechende Dunkelheit drückten die Stimmung, während die Kälte dafür sorgte, dass man sich am liebsten gar nicht nach draußen begab. Der einzige positive Aspekt an ihm war, dass er zum Kuscheln mit ihrem Schatz einlud, aber das war auch wirklich alles. Sie war ein Sonnenkind, eindeutig. Ihretwegen hätte der Winter ruhig schon im vorherigen Jahrhundert abgeschafft werden können, aber dummerweise hörte Petrus so selten auf die Wünsche der Menschen. Unzuverlässiges Pack, diese Himmelsbewohner.
 

Der Glockenton erschallte durch das ganze Haus, doch nichts rührte sich. Sie seufzte, während sie ein zweites Mal klingelte und gleichzeitig den Schlüsselbund aus der Tasche zog. Normalerweise wartete sie darauf, dass Leon ihr die Tür öffnete, schließlich war es immer noch sein Haus, aber da sich der werte Herr anscheinend in seinem Atelier befand und somit die Klingel nicht hörte, musste sie sich selbst Zugang verschaffen. Er hatte ihr immerhin seinen Schlüssel gegeben, als er eingezogen war, also sollte sie ihn wohl auch nutzen. Für irgendwas musste es ja gut sein.
 

Mit einem Klick öffnete sich das Schloss. Leise trat sie ein, zog ihre Schuhe und ihren Mantel aus und machte die Tür lautlos hinter sich zu. Kurz sah sie sich um, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, holte sich dann weiche Hausschuhe aus dem Schuhschrank und machte sich, leise eine Melodie vor sich hinsummend, einen Kaffee in der Küche, bevor sie behutsam die Treppen nach oben stieg. Irgendwann hatte sie es sich angewöhnt, möglichst still und unbemerkt zu gehen, und jetzt machte sie es schon automatisch, ohne dass es ihr auffiel. Sie wusste nicht mal, wann genau sie diese Gewohnheit angenommen hatte. Vermutlich, als Suo mit dem Piano spielen anfing. Er hatte seine Übungen immer abrupt beendet, wenn er merkte, dass jemand zuhörte, also hatte sie sich stets angeschlichen und dann unbemerkt an der Tür gelauscht. Es war so verdammt lang her, dass sie es schon komplett vergessen hatte. Wie so vieles von Suo. Trotzdem blieb er auf seine eigene Art und Weise immer präsent, wie ein Schemen am Rande des Blickfeldes. Immer da, doch nicht wirklich sichtbar. Er und seine Musik.
 

Auf der obersten Treppenstufe blieb sie für einen Moment stehen und schloss die Augen. Obwohl Leon schon seit über drei Monaten hier wohnte, hatte sie sich immer noch nicht an dieses Haus gewöhnt. Oder, besser gesagt, nicht daran, dass sie gar nicht mit ihm zusammen hier wohnte. Seit sie denken konnte, waren sie immer zusammen gewesen, und die letzten vier Jahre sogar sehr intensiv. Und jetzt plötzlich hatten sie beide ihr eigenes Reich, ihr eigenes Leben. Ein ungewohnter Gedanke. Ein ungewohntes Gefühl. Aber zumindest, auch wenn es nicht ihr Haus war, hieß es sie doch jedes Mal aufs neue herzlichst Willkommen. Sie hatte hier ihren Platz, ihr zweites Zuhause. Und niemand würde diesen Platz einnehmen. Ein beruhigendes Gefühl. Bei so vielen Veränderungen in ihrem Leben war es gut zu wissen, dass zumindest diese eine Sache immer gleich bleiben würde.
 

Mit einem zufriedenen Lächeln schritt sie zum Atelier hoch und betrat es lautlos. Noch bevor sie richtig im Raum stand, erkannte sie schon die Musik, die von dort erklang. Suos Piano. Die Kassette, die er Leon an ihrem Abschlusstag geschenkt hatte. Wie sehr hatte sie es geliebt, wenn er spielte. Seine Klänge hatten sie immer in eine andere Welt entführt, an Orte, die sie nie zuvor gekannt hatte. An wunderbare, bezaubernde Orte, die jeden Zuhörer zum Bleiben einluden. Und trotzdem hatte er immer nur für Leon gespielt, jedes Mal. Einzig und allein für Leon.
 

Er hatte die Kassette auch schon am Sonntag gehört gehabt. Obwohl er sie davor so gut wie nie angerührt hatte. Wieso nur jetzt? Es gab viele Antworten auf diese Frage, doch sie wusste, dass es nichts brachte, wenn sie spekulierte. Und Leon würde, könnte es vermutlich gar nicht beantworten.
 

In den Türrahmen blieb Sachiko für einen Moment stehen, die Augenbrauen leicht zusammen gezogen. Leon hatte sie nicht bemerkt, so dass sie sich ein wenig Zeit für ihre Betrachtung seiner Person nehmen konnte. Etwas, was sie sehr gerne tat.
 

Er saß auf dem Boden, eine alte, leicht zerrissene Jeans und einen kuscheligen Pullover tragend, die hellen Haare, die im grauen Licht weißlich glitzerten, mit einer Klammer nach hinten gesteckt. Einen Fuß hatte er angewinkelt und darauf seinen Ellbogen gelegt, während er aufmerksam irgendwelche Blätter hin- und hersortierte. Seine langen Wimpern warfen leichte Schatten auf seine dunklen Wangen. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum und nahm hin und wieder einen Schluck aus der Tasse, die neben ihm stand, ohne die Aufmerksamkeit von den um ihn herum ausgebreiteten Papieren abzuwenden.
 

„Was ist das?“
 

Er schaute nicht auf, er zuckte noch nicht einmal überrascht zusammen, als er Sachikos Stimme vernahm.
 

„Skizzen.“ Seine Stimme klang unbeteiligt, leicht abwesend. Wie immer, wenn er in seine Arbeit vertieft war.
 

Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, ging in die Knie und hob eines der Blätter hoch. Skizzen. Von Adam.
 

„Wieso schaust du sie durch?“
 

„Ich will ein Bild mit ihm für die Ausstellung benutzen.“ Er hob eins der Motive hoch und betrachtete es mit gerunzelter Stirn, bevor er es dann kopfschüttelnd weglegte. „Aber da er die nächste Zeit wohl nicht mehr zum Modell stehen kommen wird, muss ich schauen, ob ich die bisherigen Skizzen verwenden kann.“
 

Sachiko sah sich mit gekräuselten Lippen um. Die Anzahl an Skizzenblättern war unüberschaubar. Soweit sie wusste, hatte Leon noch nie so viele Skizzen von ein und derselben Person gemacht. Aber soweit sie wusste, hatte er auch noch nie geschlagene drei Monate gebraucht, um ein Motiv auf Leinwand zu bannen.
 

„Wie findest du das?“
 

Leon sah jetzt zum ersten Mal auf und hielt ihr eins der Blätter hin. Sie machte sich nicht die Mühe es zu nehmen oder auch nur anzuschauen.
 

„Wann war er hier?“
 

Ihr Gegenüber seufzte, so als ob er wusste, was jetzt kommen würde, kramte ein paar der Skizzen zusammen, stand mit einem Ruck auf und ging zu einem Tisch, um sie dort nochmals auszubreiten.
 

„Am Montag. Hat seine Sachen geholt.“
 

„Und das war alles?“ Sie hob die Augenbrauen.
 

„Er hat mir gesagt, dass er mich liebt.“ Leon zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal. Als würde es ihn nichts angehen. Als würde es nicht um ihn gehen.
 

Schweigen trat ein. Sachiko setze sich auf einen Diwan, zog ihre Füße nach oben und legte die Arme um die Knie, während sie Leons Rücken beobachtete, seine gemächlichen Bewegungen, wie er die Skizzenblätter auf zwei Stapel aufteilte. Selbst bei dieser simplen Tätigkeit, wie er die Blätter vorsichtig mit den Fingerspitzen anfasste, sie nachdenklich musterte und dann auf eine Seite legte, wie er den Kopf neigte, die Lippen leicht geöffnet, die Augenlider gesenkt, selbst hier strahlte er etwas besonderes, faszinierendes aus. Die Nachmittagssonne hüllte ihn in gräuliches Licht, ließ seine Haare silbern glänzen und hob seine Gestalt vom Fenster silhouettenartig ab. Leon war ein Kunstwerk an sich. Kein Wunder, dass ihm so viele Menschen verfielen. Ein Wunder, dass Adam sich noch gegen ihn wehren konnte und für ihn einen mehr als gleichwertigen Partner darstellte.
 

„Du hast ihm nicht geglaubt.“
 

Es war keine Frage, nur eine simple Feststellung. Leons kurzer Blick zu ihr bestätigte es auch sofort.
 

„Du hast ihm nicht geglaubt und ihn abgewiesen.“ Sie seufzte. „Leon, du bist so ein jämmerliches, bemitleidenswertes Kind, dass es schon fast weh tut.“
 

„Danke, ich hab dich auch lieb.“ Mit einem tiefen Grollen in seiner Stimme drehte er sich zu ihr um. „Was soll das? Willst du mir mal wieder eine Standpauke halten? Gibt es denn kein anderes Thema mehr außer Adam?“
 

„Natürlich gibt es die.“ Unbeeindruckt nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee. „Wir könnten zum Beispiel über Weihnachten und Silvester reden. Was du da vor hast. Du wolltest Silvester doch eine Party geben, nicht wahr? So eine richtig schön große. Und, uhm... du wolltest Adam einladen. Aber wir wollen ja nicht über ihn reden.“ Sie fixierte Leon. „Aber wolltest du sein Bild nicht für die Ausstellung benutzen? Wie willst du das machen, ohne Modell? Du bist doch mit keiner einzigen dieser Skizzen zufrieden. Du willst mehr haben. Mehr von diesen Skizzen und mehr von Adam. Das kriegst du aber nicht, wenn du ihn einfach so gehen lässt.“
 

„Du überinterpretierst.“
 

Er drehte sich wieder zum Tisch, doch Sachiko ließ ihn nicht so schnell vom Haken. Sie stellte ihre Tasse auf ein kleines Tischchen, trat zu ihm, legte ihre Arme um seine Hüfte und lehnte ihre Stirn gegen seinen Rücken.
 

„Versuch nicht, mir irgendetwas vorzumachen, Leon, Schätzchen. Ich kenn dich schon seit deiner Geburt, wir sind zusammen aufgewachsen, du kannst mir nichts vormachen. Ob du willst oder nicht.“
 

„Ich liebe ihn nicht.“
 

Sie drückte ihm einen Kuss zwischen die Schulterblätter. „Ich weiß das. Du willst ihn aber an deiner Seite haben. Du willst, dass er dir gehört.“ Mit einem Lächeln rieb sie ihre Wange an seinem Rücken. Ihre Stimme klang wie das zufriedene Schnurren einer Katze. „Du wurdest noch nie so wütend, wenn einer deiner Lover jemand anderen geküsst hat. Nicht mal bei Suo.“
 

„Suo ist auch was anderes.“ Er hatte die Hände auf den Tisch gestützt und leicht zusammen geballt, und starrte stur aus dem Fenster. „Etwas komplett anderes.“
 

Sachiko musste ein erfreutes Grinsen unterdrücken. Bis jetzt war er immer ausgerastet, wenn sie auch nur versucht hatte, Suos Namen zu erwähnen. Diesmal jedoch, bis auf ein leichtes Zittern, war keine weitere Reaktion wahrzunehmen. Er machte Fortschritte. Nach vier Jahren machte er endlich Fortschritte, und dazu hatte es nur einen kleinen, unschuldigen Jungen gebraucht, der mit dem Kopf durch die Wand seinen Weg ging und nicht davor scheute, einen Prachtkerl wie Leon eine zu scheuern. Sie schluckte mühsam ein Kichern hinunter. Nein, Leon liebte Adam nicht. Noch nicht, aber er war auf dem besten Weg dahin.
 

„Außerdem,“, Leon drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn, „wie soll ich ihm bitte glauben, dass er mich liebt, wenn er trotz allem feucht fröhlich einen anderen küsst? Hm? Bei einigen Leuten mag das tatsächlich möglich sein, bei Adam ist es unglaubwürdig. Er hat doch keine Ahnung, was Liebe ist.“
 

„Und du hast sie?“ Diesmal konnte Sachiko ein spöttisches Lachen nicht vermeiden. „Ich glaub, er ist dir da sogar einige Schritte voraus. Vielleicht ist er mit der Ausführung noch ein bisschen unsicher, aber das Gefühl kennt er jedenfalls besser als du. Seine Liebe ist weitreichender. Und sie fordert nicht so viel.“
 

„Sie fordert mich.“, meinte Leon nur simpel und zog lakonisch eine Augenbraue hoch. „Das ist schon genug.“
 

Sachiko schluckte. Da hatte er recht. Leon zu fordern war viel. Und nahezu utopisch. Man bekam ihn nicht, nie ganz, nie sicher. Das wollte Adam aber. Verständlicherweise. Irgendwie würde es da wohl noch ein paar Prinzipienprobleme geben. Sie musterte Leon kurz. Wobei... vielleicht auch nicht.
 

„Abwarten.“ Tief einatmend verschränkte sie die Arme. „Ich hab das Gefühl, dass es vielleicht doch nicht so viel sein wird. Nur,“, sie zog die Augenbrauen zusammen, „wenn du so weiter machst, wirst du ihn verlieren. Vielleicht sogar an André.“
 

Leon verzog seine Lippen zu einem süffisanten Grinsen. „An André? Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Er würde Adam nie halten können, niemals.“ Mit einem belustigten Lächeln ging er zur Tür und sah Sachiko mit leicht schiefgelegtem Kopf an. „Komm, ich will was essen. Wechseln wir das Thema, wir können auch über irgendwas anderes reden.“
 

Seine Freundin sah ihn einige Augenblicke sprachlos an und schüttelte dann den Kopf, so als ob sie irgendwelche Gedanken loswerden wollte. „Ist dir Adam so egal? Ist es dir egal, was er macht? Ob du ihn wiedersiehst?“
 

„Das hab ich nicht gesagt. Es ist mir keineswegs egal.“
 

„Was dann? Wieso tust du nichts?“
 

Leon lachte leise auf. „Ich tue was. Auf meine Art und Weise. Was erwartest du, dass ich mit einem Rosenstrauß Arien vor seinem Balkon singe und ihm meinen Herzschmerz zu Füßen lege? Vergiss es. Ich wäre nicht, wer ich bin, wenn ich das machen würde. Egal was ist, ich bleib mir bestimmt treu.“ Er lächelte sanft. „Weißt du, er hat sich doch angeblich in mich verliebt. Also soll er auch mit mir und meiner Art, die Dinge zu erledigen, zurecht kommen. Ich mach keine Ausnahmen, auch nicht für ihn. Und verändern werde ich mich sowieso nicht.“ Grinsend drehte er sich auf dem Absatz um und stiefelte die Treppen runter. „Bleib nicht dort wie angewurzelt stehen. Ich hab Hunger.“
 

Sachiko hörte seine letzte Aufforderung nur mit einem halben Ohr. Sie hatte etwas anderes erwartet. Keinen selbstbewussten, sich seiner Sache sicheren Leon. Lernte er denn nie? Wollte er es immer mit seiner arroganten Art lösen? Nein. Moment. Sie kniff leicht die Augen zusammen. Normalerweise versuchte er nie etwas zu lösen. Egal ob ihn jemand hasste, verachtete, liebte oder verehrte, er versuchte nie, jemanden zu halten oder zurück zu bekommen. Außer jetzt. Außer dieses eine Mal.
 

Und das tat er auf eine Art, wie es bei ihm eben üblich war. Arrogant, selbstbewusst, seiner Sache sicher.
 

„Oh Gott.“ Langsam folgte sie ihm, unsicher und völlig ratlos. Sie hatte das alles ein bisschen anders kalkuliert. Sie hatte, wie viel zu oft in letzter Zeit, Leon komplett falsch eingeschätzt. „Oh Gott, was wird das nur werden?“
 

Sie wusste keine Antwort darauf.
 

„Hier.“
 

„Mhm, danke schön.“
 

Adam nahm von Sachiko den dampfenden Becher heißer Schokolade entgegen und schloss fröstelnd die Finger darum. Sein Blick schweifte wieder zur Eislaufbahn, auf der sich die Leute tummelten. Er war froh, im Moment nicht dort zu sein. Zu voll und zu gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, auf seinen Allerwertesten zu knallen und sich damit vor allen zu blamieren, war zu hoch. Noch hatte er ja keine Möglichkeit für Übungsstunden mit Leon gefunden.
 

„Ah, ist das schön. Ein Kaffee, ein bisschen frische Luft und ich brauch nicht mehr. Nur wärmer könnte es sein.“ Sachiko nippte an ihrem Kaffee, schielte dann zu ihrem Begleiter und kicherte leise. „Du trinkst keinen Kaffee, hm? Wie ein kleines Kind, nur süße Schokolade.“
 

Er streckte ihr nur kurz die Zunge raus. „Ne, danke, mit dem bitteren Zeug kann ich wirklich nicht viel anfangen. Ich verzichte.“
 

„Wirklich, wie ein kleines Kind.“
 

Sachiko lachte auf und kassierte sofort einen Puffer in die Seite von Adam.
 

„Na, dir nimmt man deine 24 Jahre aber auch nicht immer ab.“
 

„Das ist Absicht. Damit ich jünger wirke. Du weißt doch, Frauen und das Alter sind eine problematische Thematik.“
 

„Wunderbar, dann hast du ja bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich fünfzehn Jahre jünger schätze als dein reales Alter, oder?“
 

„Hey, übertreib mal nicht.“
 

Sie lachten auf. Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte Adam sich nach hinten und starrte den langsam dunkler werdenden Himmel an. Im Moment war er relativ wolkenlos, so dass sich ein leuchtendes Purpur zu einem dunklen Blau hin verfärbte. Ganz schwach sah man bereits Sterne zwischen den kahlen Ästen der Bäume aufblinken. Es war so bitterkalt, dass sich die Kälte bis unter die Haut fraß, aber zumindest wurden die Bäume von weißem Reif überzogen. Ein wunderschöner Anblick.
 

„Es tut richtig gut, mal entspannt zu sitzen und an nichts zu denken.“
 

Ein Gefühl von Schnurren überkam ihn. Spontan hatte er heute Sachiko angerufen und sich mit ihr verabredet. Sie waren shoppen gewesen, hatten über dies und das geredet und einfach nur einen schönen Tag miteinander verbracht. Und jetzt saßen sie auf einer Bank bei der Eislaufbahn im Park, tranken ihre warmen Getränke in den chilligen Take-away-Bechern, die Sachiko bei einem der Stände geholt hatte, und genossen die Aussicht.
 

Er sah seinen Atemwölkchen nach. Wenigstens hatte er für ein paar Stunden seine kreisenden Gedanken vergessen.
 

„Mhm.“ Sachiko warf ihm einen seitlichen Blick zu. „Deine Gedanken kreisen nur um Leon, was?“
 

„Ja. Nein, nicht nur. Aber hauptsächlich, ja.“ Er seufzte und grinste innerlich. Sachiko hatte eine gute Intuition. „Irgendwie ist das erbärmlich. Er macht sich höchstwahrscheinlich nicht halb so viele Gedanken.“
 

„Uhm, da wäre ich mir nicht so sicher.“, meinte sie nur schulterzuckend. „Inzwischen weiß nicht mal ich mehr, was er denkt. Und das will schon was heißen.“
 

„Und dabei kennt ihr euch so lange. Irgendwie seltsam.“ Adam lächelte und atmete einmal tief durch. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, um ein paar seiner wirren Gedanken zu entwirren. Zumindest die, die harmlos wirkten. „Sag mal, kann ich dir eine Frage stellen?“
 

„Hm? Nur zu, keine Hemmungen.“
 

„Hast du irgendwie... einen Bruder? Einer, der Leon wichtig ist?“
 

Sachiko war gerade dabei, den Kaffee an ihre Lippen zu führen, und stockte mitten in der Bewegung. Langsam, so als ob sich in ihrem Inneren irgendetwas dagegen sträubte, drehte sie den Kopf zu ihm. Einige Augenblicke sah sieh ihn nur sprachlos an. Er biss sich leicht auf die Unterlippe. War das eine falsche Frage gewesen? War das ein Gedanke, der nicht so harmlos war wie er schien?
 

„Wie... kommst du darauf?“
 

„Naja... ich hab ein Bild von einem jungen Mann in Leons Zimmer gesehen. Und er sah dir sehr ähnlich. Deswegen dacht ich halt...“ Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Das war für mich das Naheliegenste, auch wenn keiner von euch jemals einen Bruder erwähnt hat.“
 

„Oh, ach so...das...“ Sie lachte verunsichert auf, starrte dann verwirrt in ihren Kaffeebecher und schüttelte den Kopf. „Ich... also... na ja...“ Mit einem entschuldigenden Blick sah sie ihn an. „Das bin ich. Nein, das war ich.“
 

„Das.... eh, was?“ Adam blinzelte ein paar Mal. „Was?“
 

„Das war ich.“ Sachiko lächelte fast schon schüchtern. „Irgendwie dachte ich, Leon hätte dir vielleicht davon erzählt. Naja, da ja anscheinend nicht... auf meiner Geburtsurkunde und bis vor ungefähr drei Jahren hieß ich noch Kasami und war männlich.“
 

Diesmal war es an Adam, sie sprachlos anzustarren. Fast automatisch wanderte sein Blick einige Zentimeter weiter nach unten, wo sich kleine, aber kaum zu übersehbare Hügel ins Auge des Betrachters schoben. Er hätte sein Augenmerk auch weiter nach unten gerichtet, wusste jedoch, dass ihm das wohl keinen Aufschluss über ihre Worte geben würde.
 

„Das... ist jetzt ein Witz, oder?“ Er versuchte ein Lächeln, dass jedoch nicht so ganz gelingen wollte und skeptisch blieb. „Du... bist doch kein Kerl.“
 

„Nein, bin ich auch nicht. Nicht mehr. Aber, wie gesagt, ich war es bis vor einigen Jahren. Ich bin transsexuell. Oder war, wie man’s nimmt.“ Sie nippte an ihrem Kaffee. „Und dann hab ich mich operieren lassen.“
 

„Ah... puh...“
 

„Ein Schock?“
 

Adam antwortete nicht. In dem Versuch, seine Gedanken zu ordnen, fixierte er die Äste der Bäume über ihm. Der weiße Reif sah wirklich wunderschön aus. Ein bisschen unwirklich, wie aus einer Märchenwelt, aber nichtsdestotrotz schön. Surreal schön. Er blinzelte wieder.
 

„Schock... nein, nicht wirklich.“
 

Er wusste nicht, was es war. Schockierend nicht unbedingt. Eher unerwartet, vielleicht, ungewöhnlich, seltsam. Ihm wurde wieder mal bewusst, wie viele verschiedene Menschen es doch auf der Welt gab, mit verschiedenen Vorlieben, Neigungen und Persönlichkeiten, wie viele dieser Dinge er noch nicht kannte, sich noch nicht mal damit auseinandergesetzt hatte. Einige Sachen hörte man häufig mal, sah sie im Fernsehen, bildete sich eine Meinung dazu, doch wenn man dann damit konfrontiert wurde, ging diese ach so tolle Meinung den Bach runter. Von einem Moment auf den anderen war im Kopf erst mal nichts. Rein gar nichts. Tabula rasa.
 

Adam atmete erst mal tief durch und sah dann wieder Sachiko an.
 

„Okay, das war jetzt unerwartet. Das... sieht man dir nicht an.“
 

„Danke, ich nehme das als Kompliment.“ Sie blickte ihn sanft an. „Ich weiß, es ist erst mal seltsam, so was zu hören. Ich dachte wirklich, Leon hätte es vielleicht erwähnt.“
 

„Nein, hat er nicht.“ Na, zumindest war jetzt diese Frage geklärt. Aber zig andere tauchten mit einem Mal auf. „Wie... uhm...“
 

„Ja, du darfst fragen. Wie gesagt, nur keine Hemmungen.“
 

„Wie... wann hast du es erkannt? Ich mein...“ Er atmete, wegen seiner Unfähigkeit, seine Gedanken verständlich auszudrücken, genervt aus. „Ich kann mir das nicht so recht vorstellen.“
 

„Hm.“ Sachiko zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit einem Arm und ließ den anderen über die Knie baumeln. Nachdenklich beobachtete sie die Schlittschuhläufer. „Stell dir vor, du wachst eines Tages auf und hast den Körper eines Mädchens. So war es bei mir. Nur, dass es nicht eines Tages war, sondern sich entwickelte. Ich merkte einfach, dass ich mich nicht als Junge fühlte. Es war falsch, fühlte sich einfach falsch an.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Im Laufe der Zeit und mit mehr Informationen verstand ich dann, dass ich wohl transsexuell war. Und das es Möglichkeiten gab, mich aus diesem falschen Körper zu befreien. Schließlich hab ich sie genutzt, kurz nachdem ich die Schule beendet hatte.“
 

Adam schloss die Augen. Ihm fiel es schwer, sich das vorzustellen. Natürlich, wenn er plötzlich den Körper eines Mädchens hätte, wäre er sehr, sehr geschockt und unerfreut. Aber wie war es, wenn man damit bereits geboren wurde? Gewöhnte man sich nicht daran? Entwickelte man dann nicht das Bewusstsein des physiologischen Körpers?
 

„Schwer zu verstehen, was?“
 

„Ja, irgendwie schon.“ Er nickte. „Aber, es ist wohl so, wie ein Heterosexueller nie ganz verstehen wird, wie es möglich ist, das eigene Geschlecht zu lieben, nicht wahr? Man kann es versuchen zu verstehen, vielleicht nachvollziehen, aber so ganz wird man nie dahinter blicken, nicht wahr?“
 

„Hm, ja, vermutlich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist wohl ein guter Vergleich.“
 

„Naja... ich werde mich wohl erst mal dran gewöhnen müssen.“ Nachdenklich strich er sich einige Strähnen aus dem Gesicht. „Aber, du bleibst Sachiko, nicht wahr? Ich mein, so wie ich dich kennen gelernt habe. Du bleibst die, die du bist.“
 

Sie sah ihn einige Momente lang ausdruckslos an, bevor ihre Augen langsam zu leuchten begangen und sie ihm stürmisch um den Hals fiel, so dass der Kaffee ein wenig überschwappte. Adam gab einen erschrockenen Laut von sich und hielt Sachiko instinktiv fest.
 

„Waaahhh...!“
 

„Du bist so toll, Adam, du bist so gigantisch toll.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund und strahlte ihn wie ein kleines Kind an. „Es ist selten, dass jemand das so einfach akzeptiert. Danke, vielen, vielen Dank dafür.“
 

„Scho... schon gut.“ Er tätschelte etwas verunsichert ihren Rücken. „Schon okay. Ist doch klar.“
 

Sie löste sich mit einem erfreuten Grinsen und schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Meine Eltern haben es nicht verstanden. Und weigern sich seitdem auch, mich zu sehen. Und, nun ja, viele Bekannte halten auch Abstand. Einige sind neugierig, andere akzeptieren es einfach, aber viele, viel zu viele können nicht wirklich damit umgehen. Teilweise versuchen sie es zwar, aber nichtsdestotrotz... na ja, man fühlt, dass man nicht normal ist.“
 

„Deine Eltern...?“
 

„Ja. Sie wollen nichts mehr von mir wissen.“ Sie löste sich von ihm und überschlug die Beine, etwas beruhigt ihre Atemwölkchen beobachtend. „Als ich entschied, dass ich mich operieren lassen wollte, na ja... es folgte eine ziemlich harte Zeit. Es gab nicht viele Menschen, denen ich mich anvertrauen konnte. Und die mich nicht wegstießen. Meine Eltern kamen damit nicht zurecht. Sie wollten keine Tochter. Für sie war es damals... zuviel. Und ich bin noch nicht bereit, wieder mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es war schon seltsam und schwierig genug, hierher, in meine Heimatstadt, zurückzukehren.“
 

„Was... wie hat Leon reagiert?“
 

„Er hat mir geholfen.“ Ihr Lächeln wurde nostalgisch. „Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um meine Wünsche zu erfüllen. Tatsächlich hielt er von Anfang an zu mir, war an meiner Seite, baute mich auf, wenn es mir dreckig ging. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Er mag arrogant und egozentrisch sein, aber für die, die er liebt, würde er sein Leben geben.“
 

„Ward ihr im Ausland? Ich hab nur gehört, dass Leon die letzten vier Jahre nicht hier war.“ Adam legte nachdenklich den Kopf schief. „Er war bei dir?“
 

„Jep. In den U.S.A.. Ich hätte es zwar auch hier machen können, aber ich wollte nicht dem Tuscheln hier begegnen und die Gerüchte nähren.“ Sie seufzte. „Leon wäre auch noch länger dort geblieben, aber ich wollte zurück. Meine Behandlung war erfolgreich verlaufen, ich hatte mich als Modedesignerin etabliert und meine Freundin wollte auch hierher zurück. Also kamen wir zurück in die Heimat. Es war seltsam, getrennt von Leon zu leben. Ich bin es immer noch nicht gewöhnt. Aber ich hab ja Claire, dann geht’s. Reine Gewöhnungssache. Und bei ihm bin ich ja auch immer willkommen.“
 

„Mo... Moment!“ Der Junge stockte. „Du hast eine Freundin? Also... du bist noch dazu lesbisch? Oder so... und sie hat keine Probleme damit?“
 

„Sie hatte. Anfangs.“ Sachiko schmunzelte. „Es ist eine eigentlich recht amüsante Geschichte.“
 

„Erzähl!“
 

Sie lachte leise auf. „Naja, sie ging nämlich mit mir und Leon auf die gleiche Schule, nur eine Klasse unter uns, und hatte sich schon damals in mich verliebt, sich aber nie getraut, irgendwas zu sagen. Nach unserem Abschluss verschwanden Leon und ich dann nach New York. Zufälligerweise fing sie dann dort zu studieren an und wir trafen uns wieder, kurz nach meiner Operation. Ich hab sie da erst so richtig kennen gelernt und mich verliebt. Und sie... sie war ziemlich von den Socken, als sie erfuhr, wer ich eigentlich war. Und ziemlich unsicher. Ihre Gefühle hatten sich aber nicht geändert.“ Seufzend nahm sie einem weiteren Schluck von ihrem Kaffee. „Wir sind wie zwei Katzen umeinander geschlichen, und würden das noch heute tun, hätte Leon uns beiden nicht einen festen Tritt in den Hintern gegeben. Tja, und jetzt sind wir, sehr glücklich, zusammen.“
 

„Das...,“, Adam stockte. „würde ich nicht unbedingt amüsant nennen. Eher nervenaufreibend.“
 

„War es auch. Aber da sich alles zum Guten gewendet hat, sehe ich es eher mit einem Schmunzeln. Die Liebe nimmt immer wieder recht seltsame Wege, um an ihrem Ziel anzukommen. Aber letztlich lässt sie sich anscheinend von nichts aufhalten, nicht mal von einem geänderten Geschlecht.“
 

„Ja... anscheinend.“ Er blickte immer noch recht verdattert aus der Wäsche, lachte dann aber auf. „Es freut mich sehr, dass du so glücklich sein kannst. Zumindest in der Hinsicht. Es wäre schön, wenn du dich auch mit deinen Eltern versöhnen würdest.“
 

„Abwarten. Ich bin noch nicht bereit, mich mit ihnen zu konfrontieren. Und sie wohl auch nicht. Irgendwann mal vielleicht.“
 

„Mhm. Ich drück mal Däumchen.“
 

In einvernehmlichem Schweigen beobachteten sie die Schlittschuhläufer auf dem Eis. Es war inzwischen fast komplett dunkel, und die Gegend wurde nur noch von einigen Laternen erleuchtet. Trotzdem herrschte, wie für einen Samstag üblich, noch reges Treiben. In der Luft sirrten die verschiedensten Gespräche, leises Geflüster und aufgeregte Zurufe, während Kinder fröhlich albernd herumliefen, frisch verliebte Pärchen das Eis zum Schmelzen brachten und die etwas ältere Generation die Jungspunde belustigt musterten. Über allem lag die fröhliche Popmusik, die aus den Boxen dröhnte und zum Mitsingen einlud. Irgendwie beschaulich. Trotz des Trubels wirkte alles ruhig und beschaulich.
 

Nach einiger Zeit streckte sich Adam. Er hatte an nichts gedacht, seinen Kopf einfach leer gemacht.
 

„Ich glaub, ich sollte noch ein, zwei Stunden schlafen. Muss noch zur Arbeit.“
 

„Oh, das hätte ich fast vergessen. Komm, ich fahr dich heim.“
 

„Liebend gern.“
 

Adam grinste und tappte Sachiko hinterher. Irgendwie war er gut gelaunt. Nicht nur hatte ihn das Gespräch abgelenkt, es freute ihn auch wahnsinnig, dass Sachiko ihm anscheinend genug vertraute, um diese doch sehr persönliche Sache zu erzählen. Sie schien sehr ausgeglichen und glücklich zu sein, wieso sollte er sich da also Gedanken machen? Sie war, wer sie war. Das war die Hauptsache. Und jetzt würde er sich auch in die Arbeit stürzen können. Oder, besser gesagt, die erste Begegnung mit André nach letztem Sonntag.
 

Es dauerte nicht lange, bis Sachiko ihn vor seiner Haustür absetzte. Mit einem fast schon schüchternen Lächeln drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
 

„Überarbeite dich nicht. Und lass die Jungs dort nicht zu frech werden.“
 

„Keine Sorge, mach ich nicht. Und danke fürs nach Hause bringen.“ Er grinste, winkte ihr noch mal kurz zu und verschwand dann in seinem Haus.
 

Sachiko lehnte sich mit einem glücklichen Lächeln zurück und startete das Auto. Sie mochte Adam wirklich gerne, umso mehr freute es sie, dass er keine Probleme mit ihrer früheren oder jetzigen Identität hatte. Tatsächlich war er in vielen Dingen noch wie ein kleines Kind. Neugierig und bereit, Neues aufzunehmen, ohne Vorurteile, ohne Skepsis. Einfach hinnehmen, wie es war, ohne es in Frage zu stellen. Eigentlich war er viel zu unschuldig für diese Welt. Eigentlich...
 

Ihr Handy klingelte kurz. An einer roten Ampel kramte sie es aus ihrer Tasche und las die SMS, die Leon ihr geschickt hatte. Sie las sie noch mal und dann noch einmal. Hielt für einen Moment den Atem an. Und übersah fast, dass die Ampel wieder auf Grün gesprungen war.
 

Während sie langsam anfuhr, ließ sie in einem tiefen Seufzer den Atem wieder aus ihren Lungen raus.
 

Was zum Teufel hatte der Kerl jetzt schon wieder vor?

„Ignorieren.“
 

„Ja, ja, ich versuch’s.“
 

Adam verdrehte genervt die Augen und warf noch mal einen Blick zu dem Kerl, der am Tresen stand und ihn mit einem schleimigen Grinsen ansah. Ihm den Rücken zuwendend, nahm er einige der dreckigen Gläser, die auf der Tresenoberfläche standen, und verschwand in der Küche. Ihm machte die Arbeit hier wahnsinnigen Spaß, aber einige der Kunden schienen die Barkeeper als Freiwild anzusehen. Zwar waren einige Flirtversuche durchaus schmeichelhaft, doch so was wie „Ist dein Arsch für heute Nacht noch frei?“ war nicht gerade das, was Adam unter einem Kompliment oder einer anreizenden Anmache verstand. Er seufzte. Seine Kollegen konnten damit umgehen und mit einem frechen Spruch diese Kunden abservieren, ihm fehlte jedoch die Routine. Also verzog er sich lieber nach hinten zu dem Geschirr und wartete möglichst, bis die Luft wieder rein war.
 

In der Küche stellte er erst mal die Gläser neben das Spülbecken und öffnete das Fenster. Die meisten Raucher qualmten zwischen der Arbeit hier eine, weswegen der Rauch hier immer recht dicht die Luft verpestete. Und er als einziger Nichtraucher neben Muse durfte regelmäßig lüften, um halbwegs vernünftig atmen zu können. Seltsam, bei Leon war Zigarettenrauch ein Bestandteil seines Geruchs, den Adam liebte. Bei anderen war es nicht mehr als penetranter, nervtötender Gestank.
 

„Arg, verdammt.“
 

Mit einem entnervten Laut pfefferte er den Waschlappen, den er gerade erst für die Gläser in die Hand genommen hatte, ins Waschbecken, ging zum Fenster und lehnte sich auf das Fensterbrett. Draußen fielen ab und zu ein paar Flocken zu Boden, sanft und leise, aber nicht weiter störend. Der Geruch von den Mülltonnen, die in der Gasse aufgestellt waren, zu der das Fenster führte, drang zu ihm, doch er vermischte sich mit dem Zigarettenrauch und war nicht weiter auffallend.
 

Er knurrte innerlich, ohne dem sich bietenden Anblick weiter Beachtung zu schenken. So langsam gaste es ihn mächtig an, dass seine Gedanken andauernd um Leon zirkulierten. Egal wie er sich ablenkte, irgendetwas führte ihn immer wieder zu seinem Künstler zurück. Entweder, er würde bald durchdrehen, oder er musste irgendetwas dagegen unternehmen. Er wusste nur noch nicht was.
 

Die Musik von dem Discoraum drang durch die dünne Tür. Er legte sein Kinn auf seine verschränkten Arme, schloss die Augen und ließ den Beat auf sich einwirken. Es half ihm zwar nicht, auf Dauer seine Gedanken in geregelte Bahnen zu lenken, aber irgendwie tat es ihm trotzdem gut. Laute Musik konnte das Denken sehr konsequent blockieren. Genauso wie die Sehnsucht in ihm.
 

Nach einiger Zeit machte er sich schließlich wieder an die Arbeit, und trabte dann wieder nach vorne. Zu seiner Erleichterung war der schleimige Kerl von vorhin verschwunden, so dass er sich mit neuem Elan und einem bezauberndem Lächeln den Kunden widmete.
 

„Die Gläser sind sauber?“
 

Muse grinste, da er genau wusste, dass Adam nicht wegen den Gläsern nach hinten gegangen war. Adam lächelte ihn an und nickte. Es freute ihn, dass Muse, obwohl er ziemlich müde und erschöpft aussah, doch zumindest noch ein Grinsen zustande brachte. Es munterte ihn selber auch immer wieder auf. Er konnte wirklich nicht sagen, was er ohne den stillen Jungen an seiner Seite machen würde. Vermutlich langsam aber sicher an sich selber verzweifeln.
 

Während er einige der Discobesucher bediente, wanderte sein Blick kurz zu André, der auf seiner Plattform seinem Job nachging, nämlich die Menge durch seine heißen Tanzeinlagen anzuheizen. Glücklicherweise war er ihm noch nicht direkt über den Weg gelaufen. Zu mehr als einer kurzen Begrüßung, bei der ihr üblicher Kuss gänzlich gefehlt hatte, war es nicht gekommen, was ihm große Erleichterung bereitete. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er mit André und seinen Gefühlen umgehen sollte. Das letzte, was er wollte, war ihn zu verletzten oder die Freundschaft mit ihm aufzugeben, doch das würde sich wohl als schwierig gestalten. Wie ging man mit einer Person um, die einen liebte, die man selber aber nur sehr gern mochte und die den eigenen Schwarm nicht leiden konnte?
 

Die Zeit tröpfelte langsam vor sich hin, wie zäher Honig. Adam zählte schon gar nicht mehr, wie oft er bereits auf die Uhr gesehen hatte, doch heute wollte und wollte die Nacht einfach nicht vergehen. Er wusste auch, warum. Innerlich wartete er nur darauf, dass André Pause machen und sich zu ihm gesellen würde. Sein ganzer Körper stand derart unter Spannung, dass er sich einfach nur noch wünschte, nach Hause zu gehen, sich in sein Bett zu schmeißen und die nächsten paar Tage niemanden zu sehen und niemanden zu sprechen. Schon gar nicht André. Aber inzwischen wusste er nur zu genau, dass es nicht so einfach war. Menschliche Beziehungen waren nie einfach. Wieso hatte er sich nur darauf eingelassen? Er hätte sich so viele Probleme ersparen können.
 

Resolut schob er diese Gedanken, die wie Frühlingsblumen immer wieder fröhlich in seinem Kopf aufploppten, beiseite. Und nur einige Augenblicke später sah er auch schon, wie das Objekt seiner Gedanken mit direktem Kurs auf den Tresen zuhielt.
 

„Einen Wodka-O bitte.“
 

Mit einem Lächeln setzte sich André auf einen der Barhocker, stützte sein Kinn auf seiner Hand ab und schaute Adam auffordernd an. Dieser füllte ohne mit der Wimper zu zucken ein Glas mit Cola auf und stellte es vor den Tänzer.
 

„Im Dienst dürfen wir keinen Alkohol trinken.“
 

„Seit wann sind wir denn so penibel?“
 

„Schon immer, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ Adam sah sich mit einem flauen Gefühl im Magen um. Egal, wie cool er tat, er wollte dieses Gespräch vermeiden, aber im Moment schien keiner der Besucher was trinken zu wollen.
 

„Mir kam es immer ein bisschen anders vor.“ André nahm einen kleinen Schluck von seiner Cola und fixierte Adam dann ernst. „Geh mir nicht aus dem Weg, Adam. Und meide mich nicht. Das gefällt mir nicht.“
 

„Ich meide dich doch gar nicht. Ich rede grad mit dir, oder etwa nicht?“
 

„Als ich dich heute begrüßt habe, hast du wie ein Kaninchen auf der Flucht ausgesehen. So als ob ich dich gleich fressen würde.“
 

Er zuckte mit den Schultern und strich sich unsicher einige Strähne aus der Stirn. „Du übertreibst.“
 

„Tu ich nicht.“ André biss sich leicht auf die Unterlippe, beugte sich vor und meinte so leise, dass Adam es gerade so noch hören konnte: „Ich liebe dich. Aber ich will nicht, dass dir das Angst macht. Es ist doch für uns beide angenehmer, wenn wir uns normal verhalten, oder?“
 

Adam sah ihn einige Sekunden lang in die hellgrünen Augen. Ihm fiel erst jetzt auf, dass sie Ähnlichkeit mit den Augen einer Katze hatten, aber nicht so hinterlistig, wie bei einigen dieser Tiere, sondern warm und fürsorglich. André war tatsächlich warm und fürsorglich, auch wenn er auf den ersten Blick wie ein Lebemann, der sich um nichts kümmerte, wirkte. Langsam nickte Adam.
 

„Ich will dich nicht verletzten.“ Er schloss kurz die Augen. Bei der lauten Musik musste er nicht mal allzu leise reden, um nicht von anderen gehört zu werden. „Weil ich weiß, dass ich deine Gefühle nicht erwidern werde.“
 

André lächelte sanft, obwohl sein Blick eine Spur verletzter war. „Noch nicht. Vielleicht wird sich das ja noch ändern. Ich werde mich zumindest bemühen.“
 

Seinen Blick auf das Glas vor sich gerichtet, zuckte Adam nur mit den Schultern. Er war sich sicher, dass sich nichts ändern würde, aber er würde André nicht davon abbringen können. Und egal wie schmeichelhaft es eigentlich war, dass sich der Tänzer in ihn verliebt hatte, ihm passte es so ganz und gar nicht. Aber jetzt ließ es sich auch nicht mehr ändern.
 

Er atmete einmal tief ein und versuchte sich an einem Grinsen. „Okay, tu, was du nicht lassen kannst. Du weißt ja, wie ich dazu stehe. Und dass ich Leon liebe und niemand anderen will.“
 

„Ja, ich weiß.“ Mit einem zufriedenen Schmunzeln drückte André einen kurzen Kuss auf Adams Lippen. „Aber alles kann sich ändern.“
 

„Abwarten.“
 

Vielleicht würden sie doch noch halbwegs normal miteinander umgehen können. Adam unterdrückte einen halb erleichterten Seufzer. Dieses kurze Gespräch hatte eigentlich noch nichts geklärt, aber es nahm ein bisschen von seiner Alarmbereitschaft in Andrés Nähe. Sie wussten beide, woran sie waren, deswegen brauchten sie sich nicht verstellen oder aus falscher Vorsicht Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Wie es sich weiterhin entwickeln würde... Nun, abwarten und Tee trinken, hieß wohl die Devise. Oder heiße Schokolade, je nach persönlicher Vorliebe.
 

Mit einem etwas unsicheren Lächeln in Andrés Richtung wendete er sich kurz ab, um zu schauen, ob irgendwo Kunden für ihn waren, als er bemerkte, wie seine Kollegen leise miteinander tuschelten und dabei alle ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt gerichtet hatten. Ihre Mienen spiegelten sowohl Entzücken wie auch teilweise Unglauben wieder. Adam runzelte die Stirn und ließ seinen Blick zum selben Punkt schweifen. Und sein Atem stockte für einige Augenblicke. Irgendjemand da oben schien es nicht gut mit ihm zu meinen.
 

Das Objekt ihrer Aufmerksamkeit kam gerade die Treppe von der Galerie nach unten auf die Tanzfläche. Seine Bewegungen waren langsam und elegant. Seine wohlgeformten Schenkel wurden von schwarzen, enganliegenden Hosen betont. Um seine Hüfte waren drei Gürtel geschlungen, die von einer silberenen Schnalle gehalten wurden. Schwarze, kniehohe Stiefel, die mit etlichen silbernen Schnallen und dünnen, schwarzen Schnüren verziert waren, betonten seine festen Waden. Ein ärmelloses, schwarzes Oberteil bedeckte den Oberkörper. Ein hellgrauen Fellkragen umspielte seinen Hals, und das Shirt wurde vorne mit einem Reißverschluss geschlossen. Dieser jedoch war bis unter die Brust geöffnet, so dass man einen aufregenden Blick auf die dunkle Haut und die Schlüsselbeine hatte. Je nach Bewegung rutschte der Stoff teilweise derart nach oben, dass ein Teil des flachen Bauches und der Hüftknochen aufblitzen. Das gesamte Outfit wurde mit einem schwarzen Schnallenhalsband und fingerlosen, schwarzen Handschuhe, die ebenfalls von Schnürchen und Schnallen geziert wurden, vervollständigt. Die blonden, langen Haare waren zu einem französischen Zopf geflochten, wobei jedoch einige Strähnen frech ins Gesicht fielen, und an den Ohren glitzerten silberne Ohrringe in verschiedenen Formen.
 

Adam hielt schockiert den Atem an und konnte nur auf ihn starren, ohne sich zu rühren. Sein Herz fing sofort an, in Rekordgeschwindigkeit zu schlagen, und die Schmetterlinge führten einen Veitstanz in seinem Bauch auf. Er wusste, dass er blass geworden war, und genau diese Reaktion war Andrés Aufmerksamkeit nicht entgangen. Mit einer hochgezogenen Augenbraue drehte er sich in die Richtung von Adams Blick und erstarrte.
 

„Was zum Teufel macht Leon hier?“
 

Treffender hätte er wohl kaum Adams Gedanken wiedergeben können, der sich die gleiche Frage stellte. Was zum Teufel machte Leon hier? Er hatte das Paradise Hill doch derart verteufelt und Adam selbst von dem Besuch abgeraten, und jetzt tauchte er plötzlich hier auf? Was wollte er hier? Sich vergnügen, tanzen? Wohl kaum. Männer aufreißen? Ganz bestimmt nicht, allein schon, weil er Sachiko im Schlepptau hatte. Was wollte er dann hier, verdammt noch mal?
 

Muse tippte ihn leicht an und riss ihn so aus seiner Starrheit. Überrascht und mit völlig hilflosem Gesichtsausdruck sah er ihn an.
 

„Willst du nicht lieber nach hinten gehen?“ Er deutete mit dem Kinn auf Leon. „Oder willst du ihm wirklich begegnen?“
 

Adam schluckte und versuchte, den Schmetterlingsauflauf in seinem Magen zu ignorieren. Natürlich konnte er nicht vor ihm dauernd abhauen, allein schon, weil er ihn ja für sich erobern wollte, aber das jetzt war mehr als unvorbereitet. Er hasste es, ins kalte Wasser springen zu müssen.
 

„Ich werde doch nicht den Schwanz einziehen.“ Nervös knabberte an der Unterlippe. „Und vielleicht übersieht er mich ja. Immerhin haben wir ja mehrere Theken.“
 

Wie aufs Stichwort wendete Leon gerade in diesem Moment seinen Blick genau in Adams Richtung. Es dauerte nur einige Augenblicke und Erkennen machte sich auf seinem Gesicht breit. Er beugte sich kurz zu Sachiko und flüsterte ihr etwas zu, bevor er sich durch die Männermenge, die ihm ihre nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, zu Adam begab.
 

„Vielleicht auch nicht.“, meinte Muse nur lakonisch und hob die Augenbrauen. „Wer ist die Frau?“
 

„Sachiko.“ Adam trat näher an die Theke.
 

„Oh, okay.“
 

Nur einige Momente später hatte Leon ihn auch erreicht. Mit einem süffisanten Lächeln lehnte er seine Ellbogen gegen den Tresen und beugte sich leicht zu ihm vor.
 

„Ich war schon ewig nicht mehr hier. Was kannst du mir empfehlen, Adam?“
 

Instinktiv hielt Adam sich an der Tresenkante fest, so stark, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Seine Beine fühlten sich mit einem Mal wie Pudding an und die Schmetterlinge in seinem Bauch schlugen inzwischen Purzelbäume. Seine Kehle war völlig ausgedörrt, und hätte er irgendetwas gesagt, dann hätte er wohl nur ein trockenes Krächzen rausgebracht. Er verfluchte sich innerlich. Ja, klar, er hatte ihn seit fast einer Woche nicht mehr gesehen, und wie er seinen Namen aussprach, hatte einen ganz besonderen Klang. Die rauchige Stimme, die Augen, die ihn neckisch betrachteten. Klar, er hatte es unheimlich vermisst, war fast umgekommen vor Sehnsucht. Aber, in drei Teufels Namen, musste er so extrem reagieren?
 

Er räusperte sich kurz. „Ehm, wie wär’s mit Sex on the Beach?“ Musste das der einzige Cocktailname sein, der ihm auf Anhieb einfiel? Verdammt! „Oder... eh, Bloody Mary? Wodka-O? Oder Cola? Red Bull? Wir haben einige gute Sachen.” Das Lächeln, das professionell und geschäftsmäßig wirken sollte, glich mehr einer hilflosen Grimasse. Er atmete einmal tief durch, bevor er langsam, jedes Wort einzeln betonend meinte: „Was machst du hier?“
 

„Mich amüsieren, sieht man das nicht? Oder ist das verboten?“
 

„Du warst die letzten gottverdammten vier Jahre nicht mehr hier und hättest mir fast den Kopf abgerissen, als ich erzählt habe, dass ich hier arbeite. Aber jetzt plötzlich willst du dich hier amüsieren?“
 

„Ich kann ja auch auf mich aufpassen, im Gegensatz zu dir. Und ich bin kein Grünschnabel von achtzehn mickrigen Jahren.“
 

Die Schmetterlinge in seinem Inneren kurz zur Seite schiebend, funkelte Adam den blonden Männerfang böse an. Irgendwie wurde er das dumpfe Gefühl nicht los, dass Leon nur gekommen war, um ihn zu ärgern. Sachiko, die neben ihrem Freund stand und nervös an ihrer Unterlippe kaute, bestätigte diese Vermutung mit ihrem entschuldigenden Blick. Leon hätte unter normalen Umständen nie auch nur einen Fuß in diese Diskothek gesetzt, aber jetzt war er nicht nur drin, sondern hatte sich auch noch extra sexy aufgestylt. Wollte er Adam eifersüchtig machen oder was?
 

„Gut, fein.“ In Adam brodelte es. Eigentlich hätte er erwartet, Leon würde sich um eine Versöhnung bemühen, aber das hier war das komplette Gegenteil. Es wirkte mehr so, als ob er ihn noch mehr anstacheln und wütender machen wollen würde. „Also, was willst du trinken? Du bist nicht der einzige hier, ich muss mich auch noch um andere Kunden kümmern.“
 

„Wie um ihn zum Beispiel?“ Leon deutete mit dem Kinn zu André, der die ganze Zeit ruhig auf seinem Platz gesessen und das Gespräch misstrauisch beäugt hatte.
 

„Er ist kein Kunde, er ist ein Mitarbeiter und Freund.“ Das letzte Wort betonte Adam besonders. Was zum Teufel sollte das jetzt?
 

„Ah, Freund. Richtig.“ Er wendete sich zum Tänzer und legte den Kopf leicht schief. „Solltest du nicht auf der Plattform stehen und die Menge aufgeilen?“

„Nicht nötig.“ André ließ kurz seinen Blick schweifen, um auf die um sie herumstehenden Männer aufmerksam zu machen, bevor er wieder mit feindseligem Blick Leon fixierte. „Ich glaub, diese Aufgabe hast du mit deinem Auftauchen übernommen. Die würden auf mich eh nicht mehr achten.“ Er machte eine ausholende Handbewegung, so als ob er auf eine angerichtete Tafel deuten würde. „Willst du dich nicht bedienen, so wie du es früher immer getan hast?“
 

Adam zuckte zusammen. Natürlich, früher war Leon öfter mal hier gewesen. Und früher schien er sich hier den ein oder anderen Sexpartner gesucht zu haben. Wollte er das heute auch machen? Er ließ seinen Blick zu Leon schweifen, nicht ohne zu bemerken, wie die Luft noch einen Tick dicker geworden war. Leon lächelte jedoch nur süffisant. Dieser Ausdruck schien auf beängstigende Weise auf seinem Gesicht gefroren sein.
 

„Ich glaube nicht, dass einer von denen hier meinem momentanen Geschmack entspricht.“
 

„Ach, ja, stimmt ja. Du stehst auf schwarzhaarige, kleine Jungs, nicht wahr?“ Andrés Lippen verzogen sich zu einem fast sadistischen Grinsen. „Aber du scheinst es dir jedes Mal mit ihnen zu verscherzen. Irgendwas machst du eindeutig falsch.“
 

Leon verengte leicht die Augen und ein gefährliches Funkeln erschien in ihnen. Er wirkte zwar ruhig, doch die zusammengebissenen Kiefer sprachen eine andere Sprache. Adam wurde das Gefühl nicht los, das Leon nur deswegen nicht auf André losging, weil dieser einerseits zu weit von ihm weg saß, andererseits, weil Sachiko ihre Hand beruhigend und zurückhaltend auf seinen Oberarm gelegt hatte.
 

„Pass auf, was du sagst, André.“ Sachiko schob sich vorsichtshalber vor Leon. „Provozier keinen Streit. Das haben wir alle hier nicht nötig.“
 

André sah sie etwas verwirrt mit zusammen gezogenen Augenbrauen an. „Kennen wir uns?“
 

Sie lächelte leicht. „Vielleicht.“ Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihrem Begleiter um. „Komm, gehen wir tanzen, bevor du noch aus der Haut fährst.“
 

„Ich würde aber immer noch gerne etwas trinken.“ Leons Stimme klang wie ein Knurren und er fixierte den Tänzer mit einem zornigen Blick.
 

Mit einem angestrengtem Einatmen kramte Sachiko einen Schein aus ihrer Tasche und drückte ihn Adam in die Hand.
 

„Apfelschorle. Ohne Alkohol. Mach schnell, bevor er André noch ernsthaft an die Gurgel springt.“
 

Adam nickte leicht verwirrt. Irgendwas hatte er verpasst. Er verstand nicht ganz, wieso Leon plötzlich so wütend reagierte. In Andrés Äußerung lag seiner Meinung nach nichts provokantes oder verletzendes. Jedenfalls nicht provokanter und verletzender als jede andere Äußerung, die er hätte von sich geben können. Aber so langsam hatte er sowieso das Gefühl, dass es ein sinnloses Unterfangen war, Leon zu verstehen. Man konnte sich wohl nur auf ihn einlassen und darauf hoffen, dass er sich irgendwann erklärte. Und wenn das dann nicht der Fall war, musste man es einfach schlucken. Fertig. Aber trotz besseren Wissens hoffte er auf eine Erklärung. Eine Erklärung, wieso Leon heute hier aufgetaucht war.
 

Unruhig füllte er die Apfelschorle in ein Glas und stellte es vor Leon auf den Tresen. Ganz kurz berührten sich ihre Fingerspitzen, als Leon das Glas nahm. Adam konnte nicht sagen, ob das Absicht von ihm gewesen war, aber er musste seinen ersten Impuls unterdrücken, die Hand zurückzureißen, als ob er eine heiße Herdplatte angefasst hätte. Ein Kribbeln lief durch seinen Körper und heizte die Schmetterlinge nochmals an. Verdammt, er wollte wütend auf Leon sein, weil er hier plötzlich aufgetaucht war, wollte seinen Zorn an ihm auslassen, aber es bereitete ihm größte Mühe, sich ihm nicht in die Arme zu schmeißen. Deswegen war das Funkeln, dass er ihm schenkte, eine Mischung aus blanker Wut und innerer Zerrissenheit. Er konnte nur hoffen, dass Leon seinen Blick falsch interpretierte. Egal wie, Hauptsache falsch.
 

Wenn dieser irgendetwas interpretierte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Mit einem süffisanten Lächeln nahm er einen Schluck und musterte Adam kurz.
 

„Willst du nicht auch auf die Tanzfläche gehen?“
 

„Wie du siehst, ich arbeite.“, knurrte der Junge. Seine einzige Rettung. Würde er mit Leon tanzen, wäre es dahin mit seiner Selbstbeherrschung.
 

„Dann später. Ich denke, wir werden noch etwas länger hier bleiben.“
 

Leon schmunzelte und drehte sich zur Tanzfläche. Elegant und stolz, wie ein König, der seinen Thronsaal betrat, mischte er sich unter die Menschenmenge. Er war der Blickfang, der Mittelpunkt. Adam konnte förmlich sehen, wie die Kerle nach ihm lechzten und hechelten. Und als er zu Tanzen anfing, war es um sie geschehen. Seine geschmeidigen Bewegungen zogen die Aufmerksamkeit auf sich, seine lasziven Blicke waren purer Sex, sein gesamter Körper verkörperte Verheißung und Glut. Die Hose brachte seine Schenkel wirklich ungehörig zur Geltung, betonte Körperstellen, die nicht noch extra betont werden mussten, und sein Oberteil bedeckte nur knapp seinen flachen, braungebrannten Bauch. Das goldweiße Haar fing die Discolichter auf und spiegelte sie in einem kleinen Feuerwerk wieder. Als Leon nach einiger Zeit seinen Kopf nach hinten fallen ließ und sich komplett der Musik hingab, musste Adam sich abrupt umdrehen. Dieses Gefühl, jetzt gleich zu ihm laufen zu wollen, ihn zu küssen und ihm am besten noch die Kleider vom Leib zu reißen, schien übermächtig. Aber es mischte sich noch mit einer unangenehmen Bitterkeit. Leon war ein Gott, den jeder wollte, und Adam nur ein kleiner, dummer, unscheinbarer Junge, der sich nach diesem Gott sehnte. Wieso sollte dieser Gott gerade ihn erwählen, wenn er doch weitaus bessere und willigere Leute zur Auswahl hatte?
 

Und trotzdem fühlte er so etwas wie Stolz, dass er nicht bereit war, sich wehrlos zu einem willigen Püppchen zu machen. Er wendete sich wieder zu Leon und ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er hatte aber auch bestimmt nicht vor, einfach so aufzugeben.
 

„Sag mal, was macht ihr eigentlich hier?“ Ihr eine Cola hinstellend, gesellte er sich zu Sachiko.
 

Sie zuckte nur mit den Schultern, glitt auf den Barhocker und warf kurz einen Blick zu Leon, eindeutig darüber erleichtert, ihn nicht mehr in Andrés Nähe zu sehen. Dann ließ sie ihr Augenmerk kurz über den Tänzer gleiten und unterdrückte ein sardonisches Lächeln, bevor sie sich Adam zuwandte.
 

„Er hat kurz, nachdem wir uns heute Nachmittag getrennt haben, mich darüber benachrichtigt, dass er doch heute gerne hierher kommen würde. Frag mich nicht, wieso.“
 

„Um mich zu provozieren?“
 

„Vielleicht.“ Das Gesicht unbegeistert verziehend, nippte sie an ihrem Getränk. „Vermutlich. Ach, ich weiß es nicht. In letzter Zeit ist er für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich versteh seine Handlungen nicht mehr so ganz.“ Für einen kurzen Augenblick schwieg sie, öffnete kurz den Mund, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Aber anscheinend hast du durchaus Einfluss auf ihn. Du solltest nicht aufgeben.“
 

„Hm.“
 

Er hätte nur zu gerne gewusst, was sie eigentlich hatte sagen wollen, aber sie würde ihm auf eine entsprechende Frage bestimmt nicht antworten.
 

„Kopf hoch.“ Sachiko tippte ihm leicht an die Stirn. „Und jetzt geh ich mal mit André ein Wörtchen reden. Ich glaub, er sollte wissen, wer ich bin. Oder, besser gesagt, mal war.“
 

Sie zwinkerte ihm noch mal kurz zu, bevor sie wieder von ihrem Hocker rutschte und zu dem Tänzer ging. Adam hörte nicht, was sie sagten, doch Andrés Gesichtsausdruck wechselte von höchst erstaunt zu beinahe betroffen. Anscheinend vertieften sie sich in ein anregendes Gespräch, so dass Adam sein Interesse verlor und sich seiner Arbeit widmete. Viele Kunden gab es im Moment eh nicht, da sich die meisten dem blonden Adonis auf der Tanzfläche zugewandt hatten, und die wenigen, die sich von seinem Anblick losreißen konnten, wurden von seinen Kollegen bedient. Er unterdrückte ein unzufriedenes Grummeln in seiner Bauchgegend. Leon würde heute Nacht vermutlich nicht alleine nach Hause gehen. Und es bereitete ihm mittelschwere Übelkeit, wenn er daran dachte, dass irgendeiner dieser notgeilen Kerle seinen Künstler anfasste.
 

Er zuckte erschrocken zusammen, als er einen Druck auf seiner Schulter spürte, und drehte sich überrascht um. Muse lächelte ihn etwas schief an.
 

„Ich glaub, du solltest etwas frische Luft schnappen.“
 

Adam verzog das Gesicht. Muse hatte Recht. Wenn er noch länger hier bleiben würde, würde er entweder eingehen oder ausrasten. Beides klang nicht sonderlich verführerisch.
 

„Der Müll muss rausgetragen werden.“
 

Ein eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl. Er lächelte.
 

„Ist zwar nicht unbedingt die frischeste Luft, die ich mir da vorstellen könnte...“
 

„Besser als gar nichts.“
 

Muse streckte ihm kurz die Zunge raus und schob ihn dann nach hinten zur Küche. Adam seufzte, schloss die Tür hinter sich und atmete erst einmal tief ein. Mit einem selbstironischen Lächeln schnippte er ein paar Mal, doch irgendwie schaffte er es nicht, von hier zu verschwinden. Und er brauchte nicht in den Saal zu schauen, um zu wissen, dass auch Leon noch da war. Zauberei und Wunder gab es eben doch nur in Büchern.
 

Nach einem weiteren Seufzer räumte er die Flaschen und den restlichen Müll zusammen und verpackte sie in einigen Tüten, bevor er sie durch die schmale Tür, die nach draußen in eine Gasse führte, zog. Angewidert verzog er die Nase. Die ganzen Mülltonnen verbreiteten gewiss keine frische Luft, aber irgendwer musste die Arbeit ja machen. Er knurrte leise. Die Tonnen waren alle bis über den Rand gefüllt, so dass er die vollen Tüten einfach in eine Ecke quetschte. Eigentlich war es keine sonderlich aufwendige oder langwierige Aufgabe, weswegen die meisten, die sie machen mussten, sich noch ein bisschen Zeit für eine Raucherpause nahmen. Dumm nur, dass er nicht rauchte.
 

Müde ging er an der Gassenecke in die Knie, so dass er einen Blick auf den Eingang der Diskothek und die Straße hatte. Zumindest konnte er so ein bisschen Ruhe haben. Er saß öfter mal hier, wenn er Zeit dafür hatte, und betrachtete die Passanten und Discobesucher. Es war immer wieder interessant, was es doch für verschiedene Leute gab. Vom scheuen Brillenträger über den langhaarigen Hardcoremetaler bis zum herausgeputzten Beau konnte man so ziemlich jede Persönlichkeit entdecken. Tatsächlich diente die Discopassage eigentlich in erster Linie zum Sehen und Gesehen werden, Kontakte knüpfen und am Besten jemanden für eine Nacht finden. Er fragte sich, wie viele von diesen Leuten, Männer wie Frauen, an einer ernsthaften Beziehung interessiert waren. Zumindest wusste er von sich, dass er wohl nicht mit jemandem ins Bett konnte, den er nicht liebte. Das hatte ihm letztenendes die Nacht bei André deutlich gezeigt. Egal wie nah dran er gewesen war, er hätte es nicht durchgezogen. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, mit jemand anderem als Leon zu schlafen. Und dieser Gedanke stachelte wieder seinen Ärger an. Wieso zum Teufel war er so abhängig von dem Kerl? Wieso so verliebt?
 

„Arg.“
 

Er schüttelte den Kopf, um die unnützen Gedanken zu verscheuchen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Bald müsste er eh wieder rein, bevor Muse einen Suchtrupp nach ihm losschickte. Aber die kühle Luft und die Ruhe hielten ihn doch noch einige Augenblicke fest. Er ließ seinen Blick schweifen, als er plötzlich Schritte hörten, die aus Richtung der Straße direkt auf ihn zukamen. Unbegeistert verzog er das Gesicht, als er sah, wer da auf ihn zumarschierte, und erhob sich aus seiner hockenden Position. Auch wenn es schon einige Zeit her war, erkannte er den Kerl, der ihn vorher auf derart unsympathische Weise angemacht hatte. Und der leicht torkelnde Gang sagte ihm, dass er schleunigst wieder in die Küche verschwinden sollte. Dummerweise schaffte er gerade mal ein paar Schritte weiter in die Gasse rein, bevor der Typ nah genug an ihn ran gekommen war, um ihn am Handgelenk zu packen.
 

„Hey, bleib stehen!“
 

„Entschuldigen Sie, ich muss weiter arbeiten.“
 

Er musterte ihn kurz. Sein Blick war noch recht klar, er hatte also anscheinend nicht so viel getrunken, jedoch genug, um ihn übermütig zu machen. Adam gefiel das gar nicht. Er hatte schon die wildesten Geschichten gehört und er hatte gewiss keine Lust, sich jetzt mit einem notgeilen Betrunkenen auseinander zu setzen.
 

„Du hast bestimmt ein bisschen Zeit, um dich mit mir zu unterhalten.“
 

Dadurch, dass Adam immer weiter vor dem Gast zurückwich, hatte er ihn schließlich irgendwann an die Wand gedrängt. Adam sah ihn angewidert an, als die Bierfahne zu ihm rüberwehte.
 

„Nein, tut mir Leid.“ Er presste die Worte förmlich aus seinem Mund, um höflich zu bleiben. „Ich habe zu tun.“
 

„Ach, komm schon. Stell dich nicht so an.“
 

Adam schluckte und unterdrückte das starke Bedürfnis, ihm eine der Bierflaschen über den Schädel zu ziehen, die auf einigen der Tonnen standen. Stattdessen presse er seine Hände gegen dessen Brustkorb und versuchte ihn wegzudrücken. Aber obwohl er nicht gerade ein Schwächling war, stellte sich sein Bedränger als schwerer heraus, als er aussah. Und das er nicht auf eine Unterhaltung aus war, wurde auch ziemlich deutlich, nachdem der Typ seine Hände zu Adams Hintern gleiten ließ. Der Junge knurrte innerlich.
 

„Würden Sie bitte Ihre Hände von mir nehmen?“
 

Einem Kunden gegenüber durfte man niemals unhöflich oder unfreundlich sein. Das hatte ihm sein Chef mehrmals eingetrichtert und ihn dazu angehalten, diese Regel beflissentlich anzuwenden.
 

Die einzige Antwort, die er bekam, war ein leises Kichern und Lippen, die sich an seinem Ohr zu schaffen machten. Der Bieratem rief leichte Übelkeit in ihm hervor und die Feuchtigkeit an seinem Ohr ließ ihn vor Ekel erschaudern.
 

Er schloss kurz die Augen. Scheiß auf diese Regel!
 

„Lass mich los, du mieses Arschloch!“
 

Ohne weiter auf Höflichkeit und kundenfreundliches Benehmen zu achten, rammte er ihm sein Knie in die Weichteile und stieß ihn grob von sich. Durch den Schmerz taumelte der Typ nach hinten, so dass Adam sich an ihm vorbei zur Küchentür schlängeln konnte. Erschrocken prallte er zurück, als sich die Tür öffnete und Leon ihm gegenüberstand. Das hatte grad noch gefehlt! Das Glück schien ihm in dieser Nacht wirklich nicht hold zu sein.
 

Leon ließ kurz seinen Blick über das Geschehen und vor allem den halb zusammengekrümmten Kunden schweifen und zog dann skeptisch eine Augenbraue hoch.
 

„Was machst du denn hier?“, zischte Adam leise. Dass Leon sehen musste, wie seine Vorhersagen Realität wurden, gefiel ihm so ganz und gar nicht.
 

„Eigentlich dich suchen. Ich hab vom Chef die Erlaubnis bekommen, dich auf die Tanzfläche zu entführen.“ Er betrachtete Adam eine Spur genauer. „Und das du so lange weggeblieben bist, hat mich stutzig gemacht. Zurecht, wie ich sehe. Hätte das hier aber nicht erwartet.“
 

„Ich auch nicht. Und wenn das jetzt geklärt wäre, könnten wir bitte rein gehen?“
 

Er machte Anstalten, Leon wieder zurück durch die Tür zu schieben, als ein Stöhnen, gemischt mit einem verärgerten Knurren, ihn inne halten ließ.
 

„Glaubst du, du kannst mir einfach so in die Eier treten und dich davon machen, du kleiner Hurensohn?“ Sein unangenehmer Verehrer richtete sich ein wenig auf und funkelte die beiden wütend an. „Erst flirten was das Zeug hält und dann den Rückzug antreten. Das haben wir wieder gern! Bleib hier, du kleine Schwuchtel!“
 

Erschrocken zuckte Adam zusammen und wich zur Seite aus, als er plötzlich etwas Glitzerndes angeflogen kommen sah. Die Bierflasche, die sehr ungezielt geworfen worden war, zersplitterte knapp neben der Tür an der Wand und zerbarst in zahlreiche, kleine Splitter. Noch bevor er irgendwie reagieren konnte, rauschte Leon an ihm vorbei, packte den Betrunkenen am Kragen und drückte ihn gegen die gegenüberliegende Mauer.
 

„Hast du irgendein Problem, Kleiner?“, fauchte Leon äußerst ungehalten.
 

Adam schluckte. Er sah den Künstler zwar nur von hinten, konnte sich aber seinen funkelnden Blick nur zu gut vorstellen. Und bei seinem Auftreten vergaß man irgendwie immer zu leicht, dass er nicht nur recht groß war, sondern auch nicht unbedingt ein Schwächling. Tatsächlich schien er keine weiteren Probleme zu haben, Adams Bedränger festzuhalten.
 

„Lass ihn los.“ Adams Stimme zitterte leicht. „Gehen wir wieder rein. Ich will hier keinen Ärger.“
 

Leon drehte seinen Kopf zu ihm und warf ihm einen abschätzenden Blick zu, und Adam zuckte nochmals erschrocken zusammen. Anscheinend hatten einige der Glassplitter Leons Stirnseite getroffen, zumindest bedeckte frisches, rotes Blut die Schläfe und lief die Wange hinab. Er starrte ihn einige Sekunden lang an. Sein Innerstes verkrampfte sich schmerzhaft und schien zu gefrieren.
 

„Gehen wir rein.“
 

Er bemühte sich, nicht hysterisch zu klingen, doch ihm viel es schwer, Ruhe zu bewahren. Nur einige Zentimeter weiter zur Seite und die Flasche hätte Leon treffen können. Nur einige, wenige Zentimeter. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was dann passiert wäre. Welche Verletzungen er davon getragen hätte. Wie viel Blut sein Gesicht dann bedecken würde.
 

Mit einem verächtlichen Laut ließ Leon seinen Gefangenen los und gab ihm einen Stoß in Richtung Straße.
 

„Verschwinde.“
 

Ohne weiter auf ihn zu achten, drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte in die Küche, Adam am Oberarm packend und hinter sich herzerrend. Mit einem lauten Knall schloß er die Tür hinter sich und fixierte dann Adam.
 

„Ich will es ja ungern sagen, aber... hab ich es nicht gesagt?“
 

„Dann sag es nicht, wenn du es nur ungern sagen willst. Lass es einfach. Mal davon abgesehen, dass ich auch ganz gut ohne dich zurecht gekommen wäre.“
 

„Natürlich. Du magst zwar sportlich sein, aber der Kerl war größer und breiter als du. Der hätte dich mit Leichtigkeit flach legen können. Gegen deinen Willen.“
 

„Er war betrunken, er konnte ja nicht mal die Flasche vernünftig werfen. Wie hätte er mich da bitte festhalten können?“
 

„Ja, er war betrunken. Du kannst dir anscheinend gar nicht vorstellen, wie stark und penetrant Betrunkene sein können.“
 

Adam starrte ihn wütend an und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, klappte ihn jedoch zu, als ihm das Blut wieder bewusst wurde, das immer noch stetig nach unten zu Boden tropfte.
 

„Wir sollten deine Wunde versorgen.“, meinte er, eine Spur ruhiger, aber ziemlich bestimmt.
 

Und er sah deutlich, wie sich bei Leon ein Widerspruch bildete. Ist doch gar nicht so schlimm, nur ein bisschen Blut abwaschen, passt schon. Er konnte es förmlich hören und verdrehte bereits innerlich die Augen, sich für eine weitere Diskussion wappnend, als just in diesem Augenblick die Tür zur Theke aufging.
 

„Seit ihr fer...tig...“ Muse starrte erschrocken Leon an, als er das Blut sah. „Was ist passiert?“
 

„Ein Betrunkener wollte nicht von mir lassen. Und als ich ihm deutlich zu verstehen gegeben habe, dass seine Avancen nicht erwünscht sind, hat er vor Wut ne Bierflasche gegen die Wand geschleudert.“ Adam versuchte möglichst unbeeindruckt zu wirken, doch in seinem Inneren schien immer noch ein Frostklumpen zu liegen. „Dummerweise stand Leon dort, deswegen haben ihn ein paar Splitter getroffen.“
 

„Ich hol den Erste-Hilfe-Kasten. Und ihr geht besser in den Aufenthaltsraum. Hier ist es zu voll.“
 

„Und nimm Sachi gleich dazu.“, rief Leon ihm noch nach, während Muse schon halb verschwunden war und fügte mit einem leisen Murmeln hinzu: „Wenn ich mich schon versorgen lassen muss, dann von ihr.“
 

Adam unterdrückte einen unzufriedenen Laut. Als ob er sich nicht auch hätte drum kümmern können. Gut, vielleicht hatte Sachiko tatsächlich mehr Ahnung von Wundversorgung, aber er musste ja nicht gleich so rundheraus Adams Fähigkeiten in Frage stellen. Er warf ihm aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu. Wobei er wohl einfach nur überinterpretierte. Was Leon und seine Handlungen anging, war er wirklich empfindlich geworden.
 

„Komm mit.“
 

Durch eine dritte Tür, die in einen Gang führte, verließ er die Küche und ging eine Treppe hoch zum Aufenthaltsraum, in dem die Mitarbeiter normalerweise ihre Pausen verbrachten. Wie erwartet war keiner da, es war zu spät, als das noch jemand seine Pause nicht gehabt hätte. Und die Tänzer, die sich ausruhten und vorbereiteten, besaßen einen separaten Raum, um ungestört zu sein.
 

Adam deutete auf einen Stuhl und drehte sich zum Kühlschrank.
 

„Was willst du trinken?“
 

„Tee.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, trat Leon an einen der Schränke, holte eine Tasse, füllte einen Teebeutel und Zucker ein und setzte dann den Wasserkocher auf. „Heiße Schokolade für dich?“
 

„Du kennst dich ja ziemlich gut hier aus.“ Adam verschränkte skeptisch die Arme, nickte aber.
 

Während der Künstler das Getränk des Jungen zubereitete, zuckte er nur mit den Schultern. „Ich war früher häufig hier und war auch mit dem Chef und den Mitarbeitern per du. Deswegen hab ich mich öfter mal hier aufgehalten. Und anscheinend hat sich in all den Jahren ja nichts geändert.“
 

Mit ungerührter Miene wartete er auf den Wasserkocher, goss ihnen dann schließlich heißes Wasser ein und setzte sich. Schweigen trat ein. Die Uhr schien ohrenbetäubend laut zu ticken. Adam schluckte und warf einen Blick auf sie. Bald war seine Schicht zu Ende und er würde sich gemütlich in sein Bett einkuscheln können. Schlaf und Ruhe waren bitter nötig, vor allem nach diesem kleinen Schock jetzt. Er bemühte sich, nicht auf das Blut zu starren, denn jedes Mal, wenn er einen Blick drauf warf, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Der kleine Vorfall hätte weitaus gefährlicher enden können, und das machte ihm Angst. Mächtig Angst.
 

Bevor das Schweigen komplett unangenehm werden konnte, hörten sie Schritte auf der Treppe und Sachiko und Muse traten mitsamt Verbandskasten ein. Sachiko musterte ihren Freund mit geschürzten Lippen und schüttelte nur leicht den Kopf. Anscheinend brachte sie das Blut nicht sonderlich aus der Fassung.
 

„Was machst du wieder für Sachen. Dich kann man ja echt nicht aus den Augen lassen.“
 

„Hey, das ist doch nicht meine Schuld.“, protestierte Leon gespielt empört, doch der Schalk in seinen Augen war nicht zu übersehen.
 

„Natürlich, wie immer halt.“ Sie betrachtete auch Adam kurz. „Geht es dir gut?“
 

Er nickte nur und kniff die Lippen zusammen. Sie sollten nicht irgendwelche dummen Späßchen treiben, sondern sich um die Verletzungen kümmern, verdammt!
 

„Du siehst blass aus.“ Muse trat zu ihm und strich ihm sanft ein paar Strähnen zurück.
 

„Ich hab mich ziemlich erschrocken. Es war pures Glück, dass der Kerl so schlecht gezielt hat.“
 

Kurz erzählte er Muse genauer, was passiert war, während Sachiko mit warmen Wasser Leons Gesicht abwusch. Die beiden scherzten fröhlich, als ob nichts weiter passiert wäre, und das versetze Adam wieder einen leichten Stich ins Herz. Wieso nahmen sie das so leicht? Ein paar Zentimeter zur Seite und Leons Auge hätte ernsthaft verletzt werden können. Oder noch schlimmeres. Er musste einen kurzen Schauder unterdrücken. Lieber nicht daran denken. Es war vorbei, fertig.
 

„Diese beschissenen Betrunkenen.“ Muse fluchte leise. „Wir sollten wirklich mehr aufpassen. Ist ja nicht das erste Mal, dass einer versucht, handgreiflich zu werden.“
 

„Leon hat mich gewarnt.“ Adam schnitt eine unbegeisterte Grimasse. „Aber ich dachte mir, er macht sich einfach nur zu viele Gedanken.“
 

„Naja, es kommt nicht häufig vor, aber es kommt vor.“ Sein Freund zuckte mit den Schultern und drückte Adam dann zur Beruhigung einen Kuss auf die Stirn. „Komm, mach dir keine Gedanken. Es ist nichts weiter passiert und ab sofort wirst du einfach vorsichtiger sein.“ Sein Blick schweifte kurz zur Uhr. „Ich red mit dem Chef, dass du früher gehen darfst. Heute Nacht wirst du nicht mehr viel zustande bringen, denk ich.“
 

Adam nickte, und Muse verschwand wieder nach unten. Einige Augenblicke später war auch Sachiko mit ihrer Krankenversorgung fertig.
 

„So,“, sie klatschte kurz in die Hände, „fertig. Die Verletzungen sind wirklich nicht weiter der Rede wert. Da werden noch nicht mal Narben übrig bleiben. Es sah viel schlimmer aus, als es eigentlich ist. Kopfwunden bluten häufig stärker, als die Verletzung es wert ist. Und desinfiziert hab ich es auch.“ Zufrieden betrachtete sie ihr Werk, das aus einem leicht bepflasterten Leon bestand. „Nicht weiter schlimm.“
 

Etwas unsicher nickte Adam. Er wusste nicht so recht, ob sie das zu ihrer eigenen oder zu seiner Beruhigung sagte, aber er tippte auf letzteres. Den beiden schien das Ganze ja nicht sonderlich viel auszumachen. Die Ruhe hätte er auch gern gehabt, denn sein Magen hatte sich immer noch nicht aus seinem eisigen Zustand in wärmere Gefilde begeben.
 

„Ah, und wenn der Chef dich früher gehen lässt, bringen wir dich heim. Länger hier zu bleiben wollen wir eigentlich auch nicht.“
 

Wieder nickte er. Was blieb ihm anderes übrig? Er würde jetzt kaum drauf bestehen können, allein im Dunkeln nach Hause zu laufen. Die würden ihn alle, André und Muse eingeschlossen, für bescheuert und hirnamputiert halten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen, und als Muse einige Minuten später die Erlaubnis vom Chef übermittelte, brachen sie auf. Adam nahm sich nur kurz Zeit, um sich von seinen Kollegen zu verabschieden und sich für sein frühzeitiges Verschwinden zu entschuldigen, bevor sie dann in Leons Auto einstiegen.
 

Er lehnte seine Stirn gegen das kühle Fenster und starrte nach draußen, auf die leicht verschneiten Straßen, während Leon Musik anmachte und sich leise mit Sachiko unterhielt. Es dauerte nicht lange, bis sie bei Sachikos Heim ankamen, einem kleinen Einfamilienhaus, in dem sie mit ihrer Freundin lebte. Ohne großes Aufhebens drückte sie Adam noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich von Leon auf ähnliche Weise verabschiedete und einige Augenblicke später in ihrem Haus verschwand. Adam wechselte zum Beifahrersitz und Leon fuhr wieder los. Sie schwiegen. Das gleiche, fast unangenehme Schweigen wie im Aufenthaltsraum, das sich auch die ganze Fahrt lang hinzog. Schließlich hielten sie vor Adams Haus.
 

„Danke fürs Heimfahren.“
 

Seine Stimme klang trocken und seine Kehle fühlte sich zugeschnürt an. Am liebsten hätte er sich jetzt an Leon gekuschelt und wäre ihm nicht von der Seite gewichen, aber er wusste, dass der nächste Schritt nicht von ihm kommen durfte. Ansonsten würde er zum Spielball in Leons Klauen werden, und das wollte er nicht.
 

Leon schwieg einige Augenblicke, bevor er sich zu ihm drehte und ihm sanft einige Strähnen aus der Stirn strich.
 

„Du bist immer noch blass.“, meinte er sanft. „Mach dir keine Gedanken, mir ist nichts passiert. Nur ein bisschen Kopfschmerzen, nichts weiter.“
 

Adam nickte, doch es beruhigte ihn nicht wirklich. Dazu war er innerlich noch zu aufgewühlt, auch wenn er nach der gehörigen Portion Schlaf die ganze Sache wohl schon viel lockerer sehen würde. Im Moment war das ganze Blut, die ganze Begegnung, die glitzernden Splitter, das alles in seinem Kopf noch zu präsent, als das er es einfach so wegwischen könnte.
 

„Mhm.“ Leon zog Adam an sich und küsste ihn zärtlich auf die Schläfe. „Geh schlafen. Du bist doch zu unschuldig und unerfahren, als das du so was einfach so verarbeiten kannst.“
 

Diese Aussage hätte Adam auf die Palme bringen können, aber der weiche Klang in Leons Stimme nahm ihr alle Schärfe. Und dummerweise hatte er ja Recht. Wie viele Schlägereien oder Auseinandersetzungen mit Betrunkenen hatte er denn bitte schon erlebt? Er war wirklich unerfahren. Er hatte überhaupt keinen Plan vom Leben. Nicht gerade etwas, worauf er stolz sein konnte, schon gar nicht als Achtzehnjähriger. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, ein grad frisch geschlüpftes Küken zu sein, dass noch seiner Mamahenne nachlief. Und diese Mamahenne schien in erster Linie Leon zu sein, ein bisschen gemixt mit Muse und Sachiko. Ein sehr aufbauender Gedanke.
 

„Ich bin zu dumm und naiv, als das du dich in mich verlieben könntest, nicht wahr?“ Er wusste, dass es nichts brachte, in Selbstmitleid zu baden, aber irgendwie musste er das jetzt los werden. „Steh ich auf verlorenem Posten?“
 

Leon lächelte. „Wenn ich jetzt Ja sage, würdest du dann aufgeben?“
 

Adam musterte ihn überrascht. Die Frage hatte er nicht erwartet. Für einige Augenblicke war er auch geneigt zu nicken, doch es brachte nichts zu lügen. Er schüttelte leicht den Kopf.
 

„Nein. Noch gebe ich nicht auf.“
 

„Eben.“ Er seufzte. „Ich möchte mit dir reden, aber nicht jetzt. Dazu bin ich zu müde und mein Kopf tut weh. Ich besuch dich dann irgendwann im Laufe der Woche. Und jetzt geh, du brauchst Schlaf.“
 

Der Junge nickte, löste sich von Leon und stieg ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. Nach einigen Schritten drehte er sich jedoch wieder zu Leon um.
 

„Wieso warst du heute Abend da? Du magst die Disco doch gar nicht wirklich.“
 

Für einige Sekunden tippte Leon schweigend mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad, so als ob er überlegen würde. Dann fing er Adams Blick mit seinen auf.
 

„Wegen dir. Ich wollte sehen, wie es dir geht. Darauf achten, dass André seine Finger von dir lässt. Dass überhaupt die Leute ihre Finger von dir lassen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einen schiefen Grinsen. „Und ja, ich wollte auch dafür sorgen, dass du mich nicht vergisst. Dass du weißt, um welches heiße Prachtexemplar sich deine Gedanken drehen sollten.“
 

„Ich versteh dich nicht, Leon. Ich versteh dich einfach nicht.“
 

„Ich mich auch nicht immer.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ein wenig nachdenklicher. „Aber eigentlich geht es doch gar nicht ums Verstehen. Es geht darum, ob sich etwas richtig anfühlt oder nicht. Ob du dich mit etwas wohl fühlst. Fühlst du dich bei mir wohl?“
 

Adam schluckte. „Wenn du nicht grad mal wieder den Arroganten raushängen lässt oder wir uns streiten... ja, doch, eigentlich schon.“
 

„Siehst du. Dann brauchst du mich auch nicht zu verstehen.“ Er lächelte. „Und jetzt geh ins Bett. Wir brauchen beide Schlaf.“
 

Mit einem fast sadistischen Grinsen warf er ihm eine Kusshand zu, startete den Motor und fuhr los. Adam sah ihm noch einige Momente lang nach. Es ging also nur darum, sich wohl zu fühlen? Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Oder wie er es auf Leons Verhalten übertragen konnte. Und es war auch nicht sonderlich beruhigend zu wissen, dass nicht mal Leon sich selber verstand. Aber irgendwie hatte dieses kurze Gespräch die Spannung zwischen ihnen genommen. Es hieß wohl abwarten und Tee trinken. Mal wieder. Leon wollte mit ihm reden. Gut. Dann würde er warten.
 

Er gähnte und betrat sein Haus. Jetzt würde er sich erst mal eine Mütze Schlaf gönnen. Außerdem würden heute seine Eltern wieder kommen, da wollte er halbwegs ausgeschlafen sein. Es gab immerhin viel zu erzählen.
 

Und es dauerte wirklich nicht lange, da schlief er tief und fest in seinem Bett und ließ die unverständlichen Geliebten unverständliche Geliebte sein.

Mit halb geschlossenen Augen lehnte Adam seine Stirn gegen die Fensterscheibe und starrte nach draußen. Der Wind fegte den Schnee, der auf dem Boden lag, nach oben und machte aus dem eigentlich ruhigen Schneefall ein wildes Gestöber. Das Wetter hatte sich in den letzten Tagen wieder verschlechtert, so dass Adam am liebsten das Haus erst gar nicht verlassen würde. Deswegen hatte er sich jetzt auch in den wärmsten Pullover, den er bei seinem Vater hatte auftreiben können, eingemümmelt, sich eine heiße Tasse Schokolade gemacht und sich auf sein Bett bequemt. Einen Arm auf das Fensterbrett abgestützt, genoss er die laute Musik, die über die Kopfhörer seinen Kopf volldröhnte. Ihm wäre seine Stereoanlage lieber gewesen, doch da seine Eltern bereits schliefen, konnte er den Ton da nur sehr leise drehen, wenn er sie nicht aufwecken wollte. Und das entsprach gerade nicht unbedingt seinem Gemütszustand.
 

Er war bis in die Haarspitzen angespannt. Seine Eltern waren am Sonntag wieder zurückgekommen, so dass er den Tag komplett mit ihrer Anwesenheit, dem Austausch an Neuigkeiten und dem gemeinsamen Zusammensein füllen konnte, aber jetzt war es Dienstag, und er wartete nur darauf, dass sich Leon bei ihm meldete. Der Gedanke, was wohl dieses Gespräch zwischen ihnen erbringen würde, nagte schmerzhaft in seinem Kopf und ließ ihn nicht los. Er dachte zwar keine 24 Stunden am Tag daran, aber es kam dieser Zeitspanne doch leider recht nahe. Und dabei wälzte er alle Möglichkeiten, alles, was er sagen wollte und was Leon sagen könnte, ohne auf ein Ergebnis zu kommen. Es war frustrierend. Egal, welche Antwort er von Leon bekommen würde, die Warterei war das Schlimmste daran. Viel schlimmer als alles andere.
 

Nicht sonderlich aufmerksam starrte er wieder nach draußen, auf die verschneite Einfahrt ihres Hauses und das kleine, von Büschen gesäumte Tor. Da das Licht in seinem Zimmer nicht brannte, hatte er einen guten Blick auf den von einer Straßenlaterne erleuchteten Weg, ohne sich im Fensterglas zu spiegeln. Um diese Zeit war es nicht gerade ein aufregendes Bild, das sich ihm da bot, da selten ein Passant oder ein Auto vorbei kam. Einzig der Tanz des Schnees im Wind fesselte seine Aufmerksamkeit und schaffte es, zusammen mit der Musik, seine Gedanken und seine Anspannung ein wenig zu beruhigen. Dadurch bemerkte er auch erst nach einigen Augenblicken, dass jemand an ihrer Einfahrt stehen geblieben war und das Haus musterte. Träge, fast blind, betrachtete er die Person. Und gerade dann, als sie sich wegdrehte und weiterging, erkannte er durch das Schneegestöber hindurch das blonde Haar und den langen, schwarzen Mantel. Für einen Moment erstarrte er, bevor er ruckartig die Kopfhörer von seinem Kopf riss, in seine Hausschuhe schlüpfte und fast panisch die Treppe nach unten und durch die Haustür nach draußen polterte.
 

Die eisige Luft schnitt augenblicklich schmerzhaft in seine Lungen, der Wind umfing ihn mit eiskalter Hand und der Schnee setzte sich in seinen Haaren fest, doch das störte ihn nicht. Unbeirrt eilt er auf die Straße und schaute sich um. Und sah nicht weit entfernt den Rücken seines sich langsam entfernenden, nächtlichen Besuchers.
 

„Wenn du schon hier her gekommen bist, kannst du auch gleich eintreten.“
 

Überrascht drehte Leon sich zu ihm, als er seine fast ein wenig verärgerte Stimme hörte, und sah ihn einige Augenblicke nahezu entgeistert an.
 

„Woher weißt du, dass ich hier bin?“ Er blickte mit hochgezogener Augenbraue an ihm runter und betrachtete die dünnen Hausschuhe, die durch den Schnee schon nass waren. „Und was machst du hier draußen?“
 

„Ich hab dich gesehen. Von meinem Fenster aus.“ Adam zuckte mit den Schultern. „Und ich wollte nicht, dass du wegläufst, wenn du schon mal hier bist.“
 

„Ich laufe nicht weg.“ Leon starrte ihn immer noch unverwandt an, so als ob er es einfach nicht fassen konnte, dass Adam dort stand. „Ich bin eher zufällig bis hierher spaziert und wollte um die Zeit niemanden wecken.“
 

„Na, jetzt kannst du ja reinkommen.“ Irgendwie hatte er eher den Verdacht, dass Leon plötzlich Muffensausen bekommen hatte, sprach den Gedanken aber lieber nicht aus. Zufällig lief man bestimmt nicht die weite Strecke bis hierher, aber sein Geliebter würde es vor lauter Stolz sowieso nur abstreiten. Frierend legte er die Arme um sich. „Mir ist kalt. Beeil dich.“
 

Ohne weiter auf ihn zu warten, drehte er sich um und ging langsam zum Haus zurück. Die eisige Luft hatte sich inzwischen an seiner Haut festgesetzt, so fühlte es sich zumindest an, und ihm kam der Gedanke, dass er erst vor knapp einer Woche von einer Grippe genesen war. Kurz schloss er die Augen. Erst eine Woche. In der ganzen Zeit war so viel passiert, ihm kam es wie Monate vor. Aber ja, es war erst vor einer Woche gewesen, dass er gesund geworden war. Dass er mit Leon geschlafen und knapp zwei Tage später sich so heftig mit ihm gestritten hatte. Bei so einem Auf und Ab wunderte es ihn mächtig, dass er nicht schon längst seekrank geworden war. Oder komplett in Winterdepressionen versumpft.
 

Es dauerte einige Sekunden, bis er Schritte hinter sich hörte. Leon musste noch dran gestanden und überlegt haben, kam aber anscheinend zu dem Schluss, dass er dieses Gespräch auch jetzt führen konnte, wenn er schon von Adam entdeckt worden war. So zumindest interpretierte er es. Der Schnee knirschte leise unter Leons Stiefeln, aber ansonsten war nur der Wind zu hören, der den Schnee ins Gesicht wirbelte. Adam war tierisch froh, als er durch seine Haustür ging und das weiße Puder von sich abschütteln konnte. Innen war es wohlig warm. Es vermittelte ein Gefühl von Kuscheln und Genießen. Zwei Optionen, die sich ihm gerade anboten, aber doch verschlossen. Er seufzte. Kuscheln und Genießen stand im Moment mit Leon nicht gerade auf dem Plan.
 

Kurz nach ihm trat auch Leon in den Flur und klopfte den Schnee von sich ab. Im Licht der Lampe betrachtete Adam ihn etwas genauer. Seine Wangen waren durch den Wechsel von kalt zu warm gerötet. An der Schläfe zeichneten sich noch die kleinen Wunden von dem Vorfall am Wochenende ab, doch sie schienen tatsächlich nicht der Rede wert zu sein, wie Sachiko gesagt hatte. Vermutlich würden sie sowieso bald verheilt sein, und da Leons Haar, das sich bei dem Wind aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, die Schläfen verdeckte, fiel es nicht weiter auf.
 

Mit einem fast schon sehnsüchtigen Blick auf sein Gesicht nahm er ihm den Mantel aus der Hand und breitete ihn zum Trocknen über zwei Stühlen in der Küche aus.
 

„Willst du Tee?“
 

Adam lehnte sich gegen den Küchentürstock und musterte Leon von Kopf bis Fuß, während dieser immer noch im Flur stand. Gepflegt und elegant wie eh und je.
 

„Ja, bitte. Irgendwas fruchtiges.“
 

„Ich schau, was wir da haben.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe, die zum ersten Stock hoch führte. „Du weißt ja, wo mein Zimmer ist. Ich komm gleich nach.“
 

Leon nickte und verschwand nach oben. Kurz sah Adam ihm noch nach, bevor er in die Küche zurück ging und die Getränke zubereitete. Er hätte Leon eigentlich auch in der Küche empfangen können, aber sein Zimmer war ihm letztenendes lieber. Die Küche war neutrales Gebiet, aber sein Schlafzimmer war definitiv sein Bereich, da, wo er sich wohl fühlte. Und wo er so etwas wie einen Heimvorteil genoss. Auch wenn er nicht wollte, dass ihr Gespräch in einen Krieg oder Wettkampf ausartete.
 

Der Geruch von dampfendem Himbeertee und frisch aufgekochter, heißer Schokolade breitete sich in der Küche aus, während er noch ein paar Plätzchen zusammen stellte. Ein ironisches Lächeln huschte über seine Lippen. Man wollte ja den Gast so gut es ging bedienen. Schließlich sollte er ja wiederkommen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf stellte er die Tassen und den Teller mit dem Gebäck auf ein Tablett und balancierte es nach oben in sein Zimmer.
 

Die Tür war nur leicht angelehnt, so dass er sie mit einer Hand öffnen konnte, ohne ein Geräusch zu verursachen. Leon saß auf dem Drehstuhl an seinem Schreibtisch und hatte auf den Knien ein Schulbuch liegen, in dem er blätterte. Es brannte nur die Tischlampe, so dass sein Profil von warmem, orangenem Licht umrahmt wurde und seinen Schatten schemenhaft an die Wand warf. Langsam sah er auf, obwohl Adam keinen Laut von sich gegeben hatte. Vielleicht hatte er auch einfach seine Präsenz gespürt. Oder ihm war danach. Innerlich zuckte er mit den Achseln. Egal.
 

„Interessante Lektüre?“
 

Leon warf einen amüsierten Blick auf das Buch und hielt es hoch, so dass Adam sehen konnte, was es war. Unwillkürlich musste er ebenfalls lächeln, denn chemische Formeln waren bestimmt nicht das, was Leon als interessante Lektüre einstufte. Vorsichtig stellte er das Tablett auf seinen Schreibtisch, nahm sich seine Tasse und ließ sich auf seinem Bett nieder, den Rücken gegen die Wand gelehnt und die Beine angezogen.
 

„Bedien dich!“
 

Mit einem kurzen Blick auf die Plätzchen nahm Leon sich eines und knabberte daran. Langsam klappte er das Buch zu und legte es auf den Schreibtisch zurück, um sich danach Adam zuzuwenden.
 

„Wie geht es dir? Besser?“
 

„Du meinst, nach dem kleinen Zwischenfall am Wochenende?“ Adam zuckte mit den Schultern. „Das sollte ich wohl lieber dich fragen. Aber die Wunden scheinen ja nicht allzu schlimm zu sein.“
 

„Nein, sind sie auch nicht. Nicht der Rede wert.“
 

Es breitete sich wieder Schweigen aus. Schweigen, das von Leon ausging. Adam konnte seine innere Zufriedenheit nicht unterdrücken. Endlich mal war nicht er der Depp, der sich befangen fühlte. Und das Leon nicht so ganz wohl war, konnte man ihm tatsächlich an der Nasenspitze ablesen. Vermutlich bereute er es jetzt, dass er überhaupt hierher gekommen war. Nun ja, selber Schuld. Adam fehlte in diesem Punkt jegliches Mitleid. Wie oft hatte er sich schließlich in so einer unangenehmen Lage befunden?
 

„Wolltest du nicht mit mir was besprechen? Deswegen bist du doch hergekommen.“
 

Ungerührt nippte er an seiner heißen Schokolade. So nervös und angespannt er sich vorher auch gefühlt hatte, jetzt, wo er Leon hier hatte, wo er ihm nicht mehr entkommen konnte, schien seine ganze Nervosität von ihm abgefallen zu sein. Jetzt konnte er in Ruhe abwarten, was wohl der gute Herr zu sagen hatte.
 

Der Künstler seufzte leise.
 

„Ja, wollte ich.“ Er lehnte seinen Kopf zurück und sah Adam unter fast geschlossenen Augenlidern an. „Ich möchte nicht lange um den heißen Brei herumreden.“ Nochmal schwieg er für einige Augenblicke. „Würdest du auch mit mir zusammen sein wollen, selbst wenn ich dir nicht versprechen kann, dass ich dich lieben werde?“
 

Adam spuckte fast seine heiße Schokolade bei diesem Satz aus, verschluckte sich stattdessen jedoch und hustete kurz. Mit hochrotem Kopf starrte er Leon an.
 

“Was?“ war das Einzige, was er krächzend hervorbrachte.
 

„Genau das.“
 

Etwas, was er so absolut nicht erwartet hatte. Er fixierte den Künstler fassungslos und rang nach Beherrschung. Sein Gehirn schien mit Hochgeschwindigkeit zu arbeiten und kurz vor dem Explodieren zu sein, aber trotzdem kam er nicht auf den Sinn oder Zweck hinter diesen Worten. Das Einzige, was er sagen konnte, war, dass es ihm wie ein Ding der Unmöglichkeit erschien.
 

„Wieso?“ Er wischte sich verwirrt über den Mund und ließ seinen Blick unstet im Zimmer herumschweifen. „Wenn du mich nicht liebst... wieso?“
 

„Besitzdenken vielleicht?“ Leon zuckte mit den Schultern. Eine ungewohnte Geste bei ihm, wo er doch sonst immer auf alles eine Antwort zu haben schien. „Sympathie? Neugier? Eifersucht? Ich will dich nicht in den Händen eines anderen wissen, und das ist wohl die beste Möglichkeit, es zu verhindern.“
 

„Besitz?“ Adam sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Das ist doch nicht alles, oder?“
 

„Nein, ist es nicht. Es ist komplizierter.“
 

„Erklär es mir.“
 

Leon fuhr mit beiden Händen durch seine Haare und wich Adams durchdringendem Blick aus.
 

„Das geht nicht. Ich will nicht.“ Er atmete tief durch. „Jetzt noch nicht.“
 

„Später könnte es vielleicht zu spät sein.“ Der Junge biss sich auf die Unterlippe. „Es ist nicht gerade schmeichelnd, wenn jemand jemanden nur aus Eifersucht und Besitzgier als Partner haben will. Und es ist gewiss nicht das, was eine Partnerschaft ausmachen sollte. Ich will Liebe, nicht Lust.“
 

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals bei diesen Worten, doch er konnte nicht anders. So verführerisch Leons Angebot auch klang, er wollte nicht einfach so nachgeben, nicht einfach so seinen Stolz und seine Treue sich selbst gegenüber über Bord werfen, nur um einen seiner größten Wünsche auf halbschalige Art zu erfüllen.
 

„Ich kann dir keine Liebe geben. Noch nicht.“ Leon sah ihn an. Ein ehrlicher Blick. Vielleicht der ehrlichste, den er jemals bei ihm gesehen hatte. „Ich kann dir nur Treue geben. Gegenseitige Treue. Meine Nähe, meine Fürsorge, meinen Körper. Bis zu einem gewissen Grad mein Vertrauen. Vorerst nicht mehr. Dazu muss ich erst selber einige Dinge bereinigen. Mit mir selber.“
 

Adam verschränkte seine Finger ineinander und blickte einige Sekunden auf den Boden.
 

„Hat es etwas mit Suo zu tun?“
 

Seine Stimme war leise, kaum zu verstehen, doch Leon zuckte sofort zusammen, als er diesen Namen hörte.
 

„Woher...“
 

„Die Kassette. Mit Klaviermusik. ‚From Suo to Leon. With Love’.“ Er schwieg für einen Moment. “Ich hab sie gefunden, als ich bei dir die Pflanzen gegossen habe. Du hast sie danach mal gehört gehabt. Er kam mir wichtig vor.“
 

Schweigen breitete sich erneut im Zimmer aus. Momente, Sekunden, Minuten. Adam war sich nicht sicher, wie lang. Aber lang genug. Und unangenehm genug.
 

„Ja.“
 

Nur diese eine Silbe, nur dieses eine Wort, das die Stille beinah wie eine Bombe sprengte. Mehr nicht, aber Adam meinte darin einen Schmerz zu hören, der ihm sein Innerstes zusammenzog. Fast bereute er es, diesen Namen erwähnt zu haben. Fast.
 

„Du wirst mir nichts über ihn erzählen, oder?“
 

“Nein, werde ich nicht.“
 

Leon strich sich einige Strähnen zurück, sah dann für einen Moment Adam an, der immer noch seinen Blick auf dem Boden gerichtet hatte, und schloss kurz die Augen. Leise stand er auf, ging vor dem Jungen in die Knie und nahm seine Hände. Durch diese unerwartete Geste zwang er ihn förmlich, erschrocken den Kopf zu heben und seinen rauchgrauen Blick zu erwidern.
 

„Lass mir Zeit. Ich verspreche dir nichts, aber lass mir Zeit. Auch wenn ich dich nicht liebe, du bist mir auf eine Art wichtig, die ich selber nicht so ganz erklären kann. Ich weiß nicht, was daraus wird oder werden kann, aber ich will dich nicht an jemand anderen verlieren, während ich selber auf der Suche bin.“
 

“Auf der Suche nach was?“
 

„Einem Weg.“ Er seufzte leise. „Einem Weg für mich.“
 

Die Verständnislosigkeit war förmlich in Adams Gesichtszüge gemeißelt, doch er fragte nicht weiter. Er würde keine Antwort bekommen, das sah er Leon an. Vermutlich hatte er, so wenig es auch war, bereits mehr erfahren als der exzentrische Künstler eigentlich gewollt hatte.
 

„Also Zeit lassen?“
 

“Also Zeit lassen.“
 

Sie sahen sich einige Augenblicke still an. Unergründlich, dunkel, aber trotzdem ehrlich. So empfand Adam Leons Ausdruck. Die Worte in seinen Augen blieben unausgesprochen, doch sie versprachen etwa. Etwas, von dem Adam bis vor kurzem noch nicht mal annähernd zu träumen gewagt hätte. Glück, Treue, Ehrlichkeit. Bis zu einem gewissen Grad nur. Aber es war ein Anfang.
 

Langsam nickte er.
 

Es war kein Verkauf unter Wert, kein falscher Handel. Es war der Versuch, eine Chance zu geben. Eine Chance für Liebe.
 

Ohne ein weiteres Wort beugte Leon sich zu ihm und legte ihm sanft die Lippen auf die seinigen. Süß, schmerzlich süß schmeckte dieser Kuss. Er hatte ihn vermisst. Er hatte die Hände, die sich vorsichtig um seine Hüften legten, vermisst, die zärtliche Berührung, die angenehme Wärme, den typischen Geruch. Wie wahnsinnig. Und jetzt hatte er nicht nur das, er hatte mehr. Mit einem Mal war er Leons fester Freund.
 

Auf unbestimmte Zeit. Ohne Liebe.
 

Aber selbst dieser bittere Beisatz konnte ihm den Moment nicht verderben. Er hatte etwas geschafft, was vorher keiner geschafft hatte. Leon war nie in einer festen Beziehung gewesen – bis jetzt. Leon hatte nie jemandem Treue geschworen – bis jetzt. Und Leon hatte nie die Treue von jemand anderem gewünscht – bis jetzt.
 

Und jetzt saß er hier, seinen Geliebten in den Armen, nah bei sich, so nah, dass er fast seinen Herzschlag spüren konnte.
 

Für den Moment wollte er keine Fragen stellen.
 

Für den Moment wollte er einfach nur glücklich sein.
 

Er zog Leon noch näher an sich.
 

Für den Moment war er glücklich.
 

Ein unendlicher Moment. Ein unendliches Glück.
 

Zerbrechlich wie Porzellan.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ein nervtötendes Piepen erklang. Adam stöhnte. Der Wecker. Sechs Uhr morgens. Er hasste dieses Geräusch.
 

Mit einem genervten Laut drehte er sich noch einmal um, wickelte die Decke enger um sich und kuschelte sich etwas tiefer in die Kissen.
 

Moment.
 

Irgendwas war hier falsch. Das Bett hatte viel zu viel Platz für ihn. Da war kein anderer Atem, keine andere Haut an seiner Haut. Kein...
 

Leon!!!
 

Leon???
 

Mit einem Ruck fuhr er hoch und sah sich im Zimmer um. Das Tablett, das er am vorherigen Abend nach oben gebracht hatte, fehlte samt der Tassen und dem Keksteller, aber er war nackt und am Boden lag seine gestrige Kleidung verstreut. Er konnte das unmöglich geträumt haben. Hatte Leon sich ernsthaft mitten in der Nacht davon geschlichen?
 

Hastig zog er sich ein paar frische Sachen an, strubbelte sich einmal durchs Haar und verließ sein Zimmer. Ihm stieg der Duft von frischgekochtem Kaffee in die Nase. Das Radio in der Küche spielte leise einen Popsong, gemischt mit dem Gemurmel einer Unterhaltung. Seine Eltern waren wach. Seine Eltern und...
 

Sein Magen verkrampfte sich, als er langsam die Treppe hinunter lief und in die Küche lugte. Bei dem Anblick, der sich im bot, musste er ein hysterisches Lachen unterdrücken. Leon stand an ihrem Herd, neben sich eine Tasse mit Kaffee, auf der das kitschige „Ohne Dich ist alles doof“-Schaf prangte, und wendete gerade ein Spiegelei. Seine Haare hatte er locker nach hinten gebunden, seine Hemdsärmel hochgekrempelt, und den Kopf leicht zur Seite geneigt. Er war vertieft in ein Gespräch mit Adams Mutter, die neben ihm an die Arbeitsplatte gelehnt stand. Ihr langes, krauses Haar war wirr wie immer, und sie trug ein altes Holzfällerhemd von seinem Vater, mindestens drei Nummern zu groß und ein paar Mal zu oft gewaschen und getragen. Die alten Jeans wiesen zahlreiche Löcher auf, und ihre Füße zierten ihre Hausschuhe in Tigertatzenform, wirkte ansonsten aber wie das sprudelnde Leben selbst und lachte immer wieder leise auf. Adams Vater hingegen saß bereits am alten, abgenutzen Küchentisch, fertig angezogen für die Arbeit, aber noch nicht ganz wach. Er machte einen etwas verwirrten Eindruck, nicht ganz er selbst, wie immer um diese Uhrzeit – vermutlich trug Leons Anwesenheit noch ihr übriges zu diesem Zustand bei –, und blätterte in der Morgenzeitung, während er aus einer Tasse Kaffee trank, auf der „Der beste Papa der Welt“ stand. Ein Geschenk, dass Adam ihm irgendwann in der Grundschule gemacht hatte, und das immer noch in regem Gebrauch war.
 

Adam schluckte. Gut, er hatte nicht gedacht, dass er Leon heimlich, still und leise aus dem Haus befördern konnte, aber... er machte Spiegeleier in ihrer Küche, unterhielt sich blendend mit seiner Mutter und hatte bestimmt auch das ein oder andere Wort mit seinem Vater gewechselt. Irgendwie hatte er sich die Einführung in die Familie etwas anders vorgestellt.
 

„Ehm...“
 

Alle drei wendeten sich ihm zu.
 

„Adam! Du bist wach!“
 

Seine Mutter stürzte auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe, während Leon sein Lächeln hinter einem Schluck aus seiner Tasse versteckte.
 

„Jaaaa.... hab ich was verpasst?“
 

„Verpasst? Nein, warum? Wir haben wohl eher was verpasst...“ Sie grinste, ein Grinsen, das besagte, dass es noch ein pädagogisch wertvolles Folgegespräch geben würde. „Mich hat ein wunderbarer Kaffeeduft geweckt... Leon ist ja der perfekte Gast! Und Spiegeleier machen kann er auch! Und kochen übrigens auch.. du hättest ihn ruhig früher herbringen können.“
 

„Ähm...“
 

Er tauschte mit seinem Vater einen verwirrten Blick aus, der nur hilflos mit seinen Schultern zuckte. Sein Vater hatte sich wohl gottergeben der Situation gebeugt, wobei er offensichtlich überfordert war. Da stand er morgens nichts ahnend auf und fand sich plötzlich einem wunderschön anzusehenden Pfau in seiner Küche gegenüber. Ein Pfau im Hühnerstall, der Kaffee kochte und Spiegeleier briet.
 

„Geh und mach dich ansehnlich! Frühstück ist gleich fertig... du hast dir noch nicht mal das Gesicht gewaschen, oder? Los, los!“ Sie schob ihn aus der Küche und flüsterte dann leise: „Leon ist ja ein Schnuckel. Der ist ja nicht nur chic anzusehen, der kann auch was! Den behalten wir, nicht wahr?“ Mit einem Grinsen gab sie ihm noch einen Stupser, drehte sich dann wieder um und gesellte sich zu den beiden Männern.
 

Für einen Moment blieb Adam verdattert im Flur stehen. Das war zu viel auf einmal. Der ganze gestrige Abend, die Nacht, der Morgen. Sein Herz flatterte. Das war zu viel des Guten. Gab es nicht so was wie Karma? Oder das Gesetz des Universums? Auf zu viel Positives musste was Negatives folgen? War es nicht die letzten Wochen dauernd so gewesen? Er schluckte und tapste ins Bad, machte sich frisch, und blieb dann an der Spüle stehen und starrte in den Spiegel. Seine Haut war ein wenig fahl, unter seinen Augen zeichneten sich Augenringe ab. Wie lange hatte er geschlafen? Drei, vier Stunden? Wie lange hatte er die letzten Nächte geschlafen? Vermutlich noch weniger.
 

Konnte es so einfach sein?
 

Sie waren zusammen, und seine Mutter hatte Leon wohl schon als Lieblingsschwiegersohn auserkoren.
 

Leon und Adam. Adam und Leon.
 

Am liebsten hätte er etwas unfassbar Kitschiges und Nerviges gemacht. Auf Facebook den Single-Status ändern und im Newsfeed der ganzen Welt verkünden, wie verdammt verliebt und glücklich und happy und überhaupt er war. Oder den gestrigen Tag mit fettem Rotstift und mit Millionen kleiner Herzchen umrahmen. Dumm nur, dass er weder einen Facebook-Account noch einen Kalender hatte.
 

Er wusste, dass es nicht so einfach war. Dass es noch Tausend offene Fragen gab, Tausend Fragezeichen, blinde Flecken, unausgesprochene Worte. Tausend Abers und Wenns und Jedochs.
 

Jetzt wollte er aber nur glücklich sein. So glücklich wie ein bis über beide Ohren verliebter Jugendlicher zu sein hatte.
 

Etwas wacher und beschwingter kehrte er in die Küche zurück. Sie hatten sich inzwischen alle an den Tisch gesetzt, in der Mitte die Pfanne mit den Spiegeleiern, zusätzlich zum restlichen Frühstückskram wie Brot, Butter und verschiedener Aufschnitt. An seinem Platz dampfte bereits heiße Schokolade in einer Tasse. An seinem Platz direkt neben Leon.
 

„Das ging ja schnell! Los, setz dich, ich hab Hunger!“ Seine Mutter legte ihm ein Ei auf den Teller und schüttete sich Kaffee nach.
 

Für einen Augenblick stockte er. Eigentlich hatten Leon und er sich noch gar nicht richtig begrüßt, da ihn seine Mutter direkt überfallen hatte. Wie sollten sie das machen, vor seinen Eltern? Mit einem Kuss? Eher nicht. Er glitt auf seinen Stuhl und starrte für einen Moment auf seinen Teller, als er an seinem Knie einen Stupser spürte. Ein Stupser von Knie zu Knie. Er sah auf, sah Leons Lächeln, milde, müde, aber zufrieden.
 

„Guten Morgen...“
 

Sein Herz setzte für einen Moment aus.
 

„Guten Morgen!“
 

Mit einem verlegenen Grinsen nahm er einen Schluck von seiner Schokolade. Er entspannte sich, während er dem Gespräch von seiner Mutter und Leon zuhörte. Sie diskutierten irgendeine Nachricht aus der Zeitung. Ab und zu warf sein Vater einen Kommentar ein, blätterte die meiste Zeit jedoch schweigend in seiner Lektüre. Ein harmonisches Frühstück. Der beste Beginn für diesen Tag. Für jeden Tag.
 

Konnte es so einfach sein?
 

Kurze Zeit später verließen sie gemeinsam das Haus. Leons Heimweg führte an Adams Schule vorbei, weswegen Adam vehement ablehnte, als seine Mutter anbot, sie beide zu fahren. Er wollte wenigstens noch ein bisschen Zweisamkeit genießen.
 

Sie schwiegen. Während Leon seine erste Zigarette rauchte, hatte Adam seine Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Wie benahm man sich als frisches Paar? Nein, wie benahm man sich als frisches Paar, wovon der eine Teil jemand wie Leon war? Konnte er einfach seine Hand nehmen? Händchen halten, eine Guten Morgen- und Gute Nacht-Nachricht schicken? Einfach eine Nachricht schreiben, ohne wirklichen Sinn... nur „Ich vermiss dich“ oder „Ich will dich sehen“ oder „Es war ein schöner Tag“? Eher nicht.
 

„Deine Eltern sind nett.“
 

Leons leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
 

„Mhm.“ Adam lachte auf. „Ich war etwas... überrascht, dich da unten zu sehen. Oder, eher, milde geschockt. Ich muss mir später bestimmt noch einiges von ihnen anhören.“
 

„Entschuldige.“ Leon zuckte mit den Schultern. „Ich bin Frühaufsteher. Und ich hab einen Kaffee gebraucht. Und du wirktest nicht, als ob du aufwachen willst.“
 

Adam gähnte. „Zumindest nicht vor um sechs Uhr morgens. Und danach eigentlich auch nicht...“
 

Leon lachte leise, hielt dann aber nachdenklich inne. „Kommst du morgen eigentlich?“
 

„Morgen?“
 

„Donnerstag. Unser Termin, den du ausgesetzt hast?“
 

„Ah!“ Natürlich. Trotz allem war er ja immer noch Leons Modell. „Ja.“ Er grinste. „Ja, jetzt spricht nichts mehr dagegen. Ich komme.“
 

Der Künstler lächelte spitzbübisch. „Muss ich dich dann eigentlich weiterhin bezahlen? Immerhin sind wir ja jetzt... zusammen.“
 

Adam gluckte belustigt. Klar, der arme Künstler musste natürlich an seinem Modell sparen. Sonst konnte er es sich ja unter gar keinen Umständen leisten. Er lehnte seinen Kopf etwas nach hinten und sah Leon von unten her an.
 

„Natürlich. Meine Arbeit muss doch entlohnt werden.“ Er tippte sich nachdenklich an die Unterlippe. „Aber wir könnten über die Art der Bezahlung sprechen. Heiße Schokolade nehm ich auch. Und Küsse. Und Streicheleinheiten. Und gemeinsame Nächte.“
 

Ein leises, raues Lachen. „Ich denke, das kann ich mir noch leisten.“
 

Lächelnd trat er einen Schritt näher an Leons Seite und lehnte sich gegen seine Schulter. „Bekomm ich eine Anzahlung?“
 

Ein belustigtes Funkeln trat in die rauchgrauen Augen, als Leon sich über ihn beugte, sanft seinen Kopf nach hinten neigte und ihn küsste. Ihre kalten Lippen berührten sich zärtlich. Nicht fordernd, nicht wild, wie in der Nacht. Zärtlich, ein Hauch, eine flüchtige Berührung. Unendlich süß.
 

Er hörte ein Summen, ein Tuscheln um ihn herum. Sie waren nicht mehr weit von seiner Schule entfernt, und die Straße war entsprechend um diese Uhrzeit voller Schüler. Natürlich war das Bild von zwei sich küssenden Männern ein gefundenes Fressen für die Klatschtanten und alle anderen, die mehr als nötig neugierig waren. Aber das war ihm egal. Das war ihm so so so egal.
 

Sie lösten sich voneinander, und wie selbstverständlich nahm Leon seine Hand, verschränkte seine Finger mit Adams. Falls er die Blicke der Passanten bemerkte, das leise Wispern, das sie umgab, dann störte es ihn nicht. Aber es war auch Leon. Adam lachte innerlich auf. Er brauchte nur irgendwo aufzutauchen und herumzustehen, und würde schon die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Neugierige oder kritische Blicke, Getuschel und Gewisper war er wohl mehr als gewohnt.
 

Vor dem Schultor blieben sie stehen. Erst jetzt bemerkte Adam so richtig, wie unglücklich seine Idee gewesen war, zusammen mit Leon hierher zu kommen. Alle, wirklich alle starrten. Die Menge teilte sich um sie, aber er spürte jeden einzelnen Blick auf sich. Er hatte noch nie so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Und eigentlich war er auch nicht scharf drauf. Eigentlich hatte er doch immer ein unauffälliges Leben führen wollen. Sein beglücktes Grinsen konnte er jedoch trotzdem nicht unterdrücken.
 

Scheiß auf die Anderen!
 

„Wir sehen uns morgen?“
 

Die leise Frage versetzte Adam einen kurzen Stich. Natürlich, Leon würde ihn trotz ihrer Beziehung bestimmt nicht jeden Tag um sich haben wollen. Wie würde das ab jetzt aussehen? Die Modellstunden, und dann... Dates? Gemeinsame TV-Abende? Was machte man eigentlich als Paar so?
 

„Mhm.“ Er zuckte kurz mit den Schultern. „Darf ich dir schreiben? Wenn wir uns nicht so oft sehen... sowas wie.. guten Morgen, gute Nacht.. und so.“ Die Unsicherheit in seiner Stimme nervte ihn. „Sowas... du weißt schon, sowas pärchentypisches...“
 

„Hör mal...“ Leon strich sich mit beiden Händen einige Strähnen zurück, bevor er die neugierige Menge um sich herum bemerkte. Er schnalzte unwillig mit der Zunge, zog Adam näher zu sich heran und kam mit seinem Mund nah an sein Ohr. „Mach es nicht zu kompliziert. Wenn du mir schreiben willst, dann schreib mir. Wenn ich dir antworten will, werde ich antworten. Wenn nicht... dann nicht.“
 

„Du hast das auch nicht sonderlich durchdacht, hm?“
 

Er wusste nicht, ob er darüber lachen sollte. Natürlich, es war Leon. Pärchentypisch war nicht gerade ein Adjektiv, das zu ihm passte. Er würde ihm keine süßen, zärtlichen Nachrichten schreiben. Er würde keinen Jahrestag feiern – falls das überhaupt alles so lange hielt. Er würde sich nichts aus dem Valentinstag machen oder plötzlich mit einem Strauß Rosen vor der Tür stehen. Es war eine pragmatische Lösung für ihn. In dieser trunkenen Glückseligkeit, diesem Hochgefühl war es leicht, die ganzen Umstände zu vergessen.
 

„Nein, habe ich nicht. Ich hab es auch nicht als notwendig erachtet, mir über... pärchentypische Aktivitäten Gedanken zu machen.“
 

Adam starrte für einen kurzen Moment auf seine Schuhspitzen, etwas wehmütig, hob dann aber mit einem Lächeln den Kopf.
 

„Okay. Dann werde ich einfach machen, wie es mir in den Kram passt. Und du... naja, du wirst es mich schon wissen lassen, wenn ich dir auf die Nerven gehe, nicht wahr?“
 

Leon sah ihn nur an. Wieder diese unleserliche Miene, aber in seinen Augen lag ein warmer Glanz. Er nickte, beugte sich nach unten und küsste Adam zart.
 

„Bis morgen.“
 

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging. Adam gönnte es sich, ihm kurz nachzusehen, bevor er selber im Schulgebäude verschwand. Das Kribbeln in seinem Bauch, die Schmetterlinge, die ihn so lange gequält hatten, waren jetzt warm. Ruhig, friedlich. Trunken vor Glück. Es war nicht alles perfekt, noch lange nicht. Er grinste. Aber für den Moment war es perfekt genug.
 

Auf einem der Flure entdeckte er Muse' Silhouette. Mit einigen schnellen Schritten holte er ihn ein und hakte sich mit Schwung unter. Muse strauchelte kurz, bevor er sich fing und Adam entgeistert ansah.
 

„Waa... was zum...“ Er sah das Grinsen, das Leuchten in den hellblauen Augen, das Strahlen, das sich über das ganze Gesicht ausbreitete. „Was ist passiert?“
 

„Wir sind zusammen!“ Es war nur ein Flüstern, ein unterdrücktes Flüstern, das eigentlich ein lauter Schrei sein sollte. „Wir sind zusammen!!!“
 

„Wer... ihr... Leon und du?“ Muse' Augen weiteten sich ungläubig. „Ernsthaft?“
 

„Ernsthaft!“
 

„Er... hat gesagt, dass...“
 

„Nein.“ Adam schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das nicht. Eigentlich hat er sogar gesagt, dass er mich definitiv nicht liebt. Aber... er will mit mir zusammen sein.“
 

„Adam.“ Muse kratzte sich nachdenklich am Hals. „Ich weiß nicht, ob ich glücklich für dich sein soll. Das klingt... Ich weiß nicht. Als ob er.. als ob er das nur sagt, um dich festzuhalten.“
 

„Ich weiß.“ Sie schlenderten langsam in Richtung ihrer Klassenzimmer. „Aber so ist es nicht. Du warst nicht dabei.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht, was ich für ihn bin. Ich glaube, er weiß es selber nicht. Aber er will mit mir zusammen sein. Mit allen Folgen.“
 

„Allen Folgen?“
 

„Treue zum Beispiel.“ Jetzt grinste Adam wieder. „Und dass ich ihn mit SMS zuspammen darf. Oder seine Hand halten. Ihn küssen. Ohne dauernd zu fragen, oder zu befürchten, dass das irgendwie falsch rüberkommt. Sowas halt.“
 

„Hm. Ich verstehe.“ Muse zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Aber wenn du glücklich bist mit diesem... Arrangement, dann will ich nichts sagen.“
 

Adam schielte seitlich zu seinem Freund, mit einem Blick, der einen süßen Welpen verdächtig ähnlich sah. „Kannst du... wenigstens versuchen, dich mit ihm zu verstehen? Wenigstens, dass ihr euch nicht an die Gurgel geht, wenn ihr im gleichen Raum seid?“
 

„Ich kann es versuchen.“ Ein schiefes Grinsen. „Ich bin ja eigentlich recht friedfer...“
 

Jemand lief an ihm vorbei und rempelte ihn an. Mit voller Wucht. Muse unterdrückte einen Schmerzenslaut, während er sich durch den Aufprall halb nach hinten drehte.
 

„Bringt ihr Schwuchteln eure Stecher jetzt auch noch hierher mit?“
 

Pete. Adam und Muse drehten sich komplett zu ihm um, zu ihm und seinen beiden besten Freunden, die wie eine Mauer einige Schritte hinter ihnen standen. Sein Gesicht war vor Ekel verzogen.
 

„Was soll das?“, zischte Adam, die Fäuste geballt. Er spürte Muse' Hand auf seinem Oberarm.
 

„Lass, schon gut.“ Muse drehte sich schnell wieder weg und zog ihn mit sich. Aus den Augenwinkeln sahen sie nur, wie Pete ihnen folgen wollte, aber ebenfalls von einem seiner Freunde aufgehalten wurde.
 

„Verzieht euch, ihr Schwanzlutscher!“
 

„Fuck!“ Adam öffnete und schloß seine Hände, um nicht mit der Faust gegen die nächste Wand zu donnern. „Warum lässt du dir das gefallen?“
 

„Was sollen wir denn machen?“ Sein Freund rieb sich die schmerzende Schulter, und warf Adam einen resiginierten Blick zu. „Willst du dich mit denen prügeln? Und dann?“
 

„Weiß ich nicht.“ Es war nur ein Flüstern. Natürlich würde es nichts ändern, im Gegenteil, vermutlich würde es ihre Situation sogar verschlimmern. Aber es wäre so befriedigend. Es wäre einfach nur befriedigend.
 

„Lass gut sein. In zwei Jahren sind wir hier fertig.“
 

Adam musterte Muse von der Seite. Den Blick, der es aufgegeben hatte, dagegen vorzugehen. Der vielleicht nie auch nur damit angefangen hatte. Er war erst seit wenigen Wochen mit diesen Schikanen konfrontiert, und das sogar relativ selten. Sie waren ihm auch nicht wichtig. Irgendwelche dummen Menschen, die meinten, ihre dummen Ansichten an ihm auszutragen, was sollte ihn das stören?
 

Aber Muse hatte das – wie lange? Zwei Jahre? Drei? – fast täglich ertragen. Dumme Kommentare, abwertende Blicke, anzügliche Briefe im Spind. Rempler auf dem Schulflur, offene Anfeindungen. Die Lehrer, die Schüler, alle. Er war bestimmt nicht der einzige Schwule an der Schule, aber sein ganzes, sanftes, zurückhaltendes Wesen, seine friedliche Art, die Angewohnheit, sich bei Ärger zu verziehen, alles zu ertragen, nichts zu sagen, das alles machte ihn scheinbar zum perfekten Opfer. Warum war er in der Lage, sich für ihn mit Leon anzulegen, aber für sich selber scheute er den Kampf? Warum zum Teufel hatte er so wenig für sich selber übrig?
 

Er ging ein paar Schritte hinter ihm, betrachtete ihn. Die blonden Haare, die er inzwischen meist zusammen gebunden hatte. Die Schultern, die ein wenig nach vorne gebeugt waren, so, als ob er sich kleiner machen wollte als er war. Der dunkle Kapuzenpulli, dessen Ärmel er immer bis zu seinen Handflächen gezogen hatte. Über einer Schulter trug er locker den Rucksack, hielt ihn mit einer Hand am Träger. Die langen Finger, die rauen Handflächen.
 

Muse drehte sich halb zu ihm und sah ihn fragend aus seinen braunen, sanften Augen an. „Wo bleibst du?“
 

Er wollte ihn beschützen. Er wollte ihn vor diesem ganzen Scheiß beschützen.
 

Er wusste nur nicht, wie.

Der Duft von Kaffee empfing Adam, als er die Haustür von Leons Villa öffnete, und aus der Küche hörte er leise Musik. Er sah kurz auf die Uhr. Er war eine viertel Stunde zu früh, aber... naja, sie waren jetzt ein Paar, oder? Da war Pünktlichkeit nicht so wirklich relevant... oder? Während er seine Sachen ablegte, runzelte er unzufrieden die Stirn. Wobei er von ihrem Pärchendasein noch nicht wirklich überzeugt war. Seit der einen Nacht, in der Leon bei ihm gewesen war, über eine Woche vergangen. Die Modellstunde am Donnerstag war entfallen, weil Leon irgendwelche Dinge organisieren musste. Die unheimlich wichtig gewesen sein mussten, wenn er seine Kunst dafür zurückstellte. Und am Wochenende hatten sie ein Kinodate gehabt. Zugegeben, es war ein schöner Abend gewesen, mit vorherigem Restaurantbesuch und einem interessanten Film, aber.. ernsthaft, er hatte nicht mal die Nacht mit Leon verbracht! Und heute trafen sie sich auch nur wegen der Modellstunde. Wie erwartet beantwortete Leon auch kaum eine der Nachrichten, die Adam ihm schrieb. Nur die Wichtigsten in aller Kürze. Kein Guten Morgen, Gute Nacht, Was machst du so...
 

Es war zum Haare raufen. Er musste vorsichtig sein, um nicht zu gierig zu werden, das wusste er, aber ernsthaft... er hatte das Gefühl, dass er Leon seltener sah als vorher. Aber wenigstens hatte er ihm den Schlüssel zu seinem Haus wiedergegeben. Wenn das mal nicht ein Zeichen seiner tiefen, unendlichen Liebe war...
 

Leise vor sich hingrummelnd betrat er die Küche. Leon stand über den Küchentisch gebeugt, der übersät war mit Skizzenblättern. Skizzen von Adam. Unzufrieden schob er sie hin und her, betrachtete das ein oder andere Blatt genauer und legte es wieder zur Seite. Seine Stirn hatte er konzentriert gerunzelt.
 

„Ich brauche Aktzeichnungen von dir, sonst wird das nichts.“
 

Er schaute nicht mal vom Tisch auf. Adam gab einen wütenden Laut von sich.
 

„Dir auch einen schönen Tag, mein Schatz!“
 

Leon zuckte leicht zusammen und sah ihn dann verwirrt an, so als ob er gerade weit weg gewesen wäre.
 

„Oh... ich hab dich gar nicht gehört.“
 

Adam seufzte, trat zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Aber du hast mit mir geredet?“
 

„Ja, anscheinend.“ Er blinzelte ein paar Mal, immer noch verwirrt. „Schokolade?“
 

„Mhm.“ Während Leon in der Küche rumwerkelte, betrachtete Adam die Skizzen vor sich. Irgendwie war es peinlich, sich selber in so vielen verschiedenen Ausführungen vor sich zu haben, aber schon anhand der Skizzen konnte er, selbst als Laie, erkennen, wie talentiert Leon war. Es brannte ihm unter den Fingernägeln, das fertige Werk zu sehen. „Du hast so viele. Stellt dich davon nichts zufrieden?“
 

„Nein. Es ist nichts dabei, was ich gebrauchen kann.“ Leon gab einen unzufriedenen Seufzer von sich. „Die Ausstellung beginnt im Februar, so viel Zeit bleibt nicht mehr.“
 

Mit einem Blick auf eine Abbilung, bei der Adam sich lasziv und mit nacktem Oberkörper auf einem der Diwane räkelte, grinste er Leon an.
 

„Das letzte Mal, als du einen Akt von mir zeichnen wolltest, bist du nicht weit gekommen. Glaubst du etwa, diesmal klappt es besser?“
 

„Ts.“
 

Leon betrachtete ihn für einen Moment mit einem undefinierbaren Blick, bevor er zu ihm trat, seine Finger in seinen Haaren vergrub und Adams Kopf leicht nach hinten zog, so dass seine Kehle freilag. Sanft biss er in die zarte Haut, bevor er mit der Zunge darüber leckte und leicht an der Stelle saugte. Adam erzitterte kurz und krallte sich in Leons Hemd fest.
 

„Wer sagt denn, dass ich mich nicht vorher ein wenig austobe?“ Er fuhr mit den Zähnen über sein Ohrläppchen. „Oder danach?“ Seine Augen verdunkelten sich, und ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, während er Adam küsste. „Oder zwischendrin?“
 

„Okay, okay, okay, ich hab's kapiert.“ Adam trat einige Schritte zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Sein Gesicht brannte. „Aber nicht jetzt und nicht hier, oder?“
 

Der Künstler ließ seinen Blick süffisant durch die Küche schweifen. Er blieb kurz am Küchentisch hängen. „Nein, die Skizzen würden dreckig werden. Das will ich nicht.“
 

„Leon... du lässt mich ernsthaft seit über einer Woche zappeln, setzt mich am Samstag brav zuhause wieder ab, ohne auch nur eine zweideutige Bemerkung zu machen, und willst mich jetzt quasi durchs Haus vögeln? Ernsthaft?“
 

„Hm...“ Leon zog belustigt eine Augenbraue hoch. „Ich habe deine ungeblümte Wortwahl vermisst.“ Er schloß kurz die Augen und rieb sich die Nasenwurzel. Erst jetzt bemerkte Adam, dass er müde wirkte. „Ich war etwas zu beschäftigt, um sich meinem... unserem Sexleben zu widmen.“
 

„Womit?“
 

„Mhm.“ Er gähnte leicht und wendete sich wieder Adams heißer Schokolade zu. „Was hast du die Weihnachtsfeiertage vor?“
 

Adam stutzte durch den plötzlichen Themenwechsel „Ehm... am 24ten verbringe ich den Abend mit meinen Eltern und Muse... und die anderen Tage... nichts.“
 

„Muse?“ Leon warf ihm einen verwunderten Blick zu. „Warum feiert Muse mit euch?“
 

Unwillig verschränkte Adam die Arme und ließ sich am Küchentisch nieder. „Weil... Muse kein gutes Verhältnis zu seiner Familie hat.“
 

„Das heißt?“ Er konnte förmlich den Frost in Leons Stimme hören.
 

„Sein Vater hat seit seinem Outing vor.. uhm, zwei Jahren kein Wort mehr mit ihm geredet. Seine Mutter spricht nur das Nötigste mit ihm, und seine kleinen Brüder wissen gar nicht, warum die Eltern sich so komisch ihm gegenüber benehmen, also meiden sie ihn auch. Die Familie fährt über die Feiertage weg... ohne ihn, und da er sonst alleine wäre, ist er am 24ten bei uns. Die anderen Tage arbeitet er...“
 

Er hatte es hastig ausgesprochen, ohne auch nur Atem zu holen. Über Muse' Familienverhältnisse hatte er selber erst vor kurzem erfahren, nachdem er mal nachgehakt hatte, warum sie sich nie bei ihm trafen. Nun, die Antwort war alles andere als erquickend gewesen, aber Muse hatte es mit einem schiefen Grinsen erzählt. So, als ob er sich bereits daran gewöhnt hatte. Als ob man sich jemals an sowas gewöhnen konnte.
 

Leons Schultern versteiften sich ein wenig. Wie erwartet. Es unterstrich wohl nur sein Bild von Muse als unsicheren, labilen Jungen, der mit sich und der Welt nicht klar kam, und damit kein adäquater Umgang für Adam war. Aber er verlor kein weiteres Wort darüber.
 

„Wie auch immer... ich hätte gerne ein Weihnachtsgeschenk von dir.“
 

„Ein... Weihnachtsgeschenk?“ Adam sah überrascht an. „Eh.. gerne, okay... aber... was kann ich dir kaufen, was du dir nicht selber kaufen kannst?“
 

„Nichts.“ Er grinste. „Du sollst mir auch nichts kaufen. Du sollst mich mit deiner Anwesenheit beglücken.“ Leicht genervt verdrehte die Augen. „Ich richte gezwungenermaßen am 25ten eine Weihnachtsparty aus. Wird ein großes Event mit ganz vielen ganz tollen und einflussreichen Leuten. Elegant, edel, abgehoben. So, wie man sich eine High Society-Party vorstellt. Und ich brauche dringend einen Ausgleich, um den Abend durchzustehen. Zumal meine Familie auch kommt.“
 

„Deine...“ Adam schluckte. Er hatte sich verhört, oder? Bitte, bitte, er hatte sich verhört! „Deine... Familie?“
 

„Meine Mutter und mein Bruder mit seiner Familie, ja.“
 

„Oh...“
 

Oh... what the fuck? Er sollte Leons Familie kennenlernen? Ernsthaft? Wie sollte er sich das vorstellen? Hallo, ich bin Adam, ich bin der – vielleicht irgendwie auf ganz komische Art und Weise – geliebte Freund von Ihrem Sohn, ich habe keine Ahnung von nichts und weiß nicht mal, wie man die goldene Gabel richtig hält, aber darf ich Sie Mama nennen?
 

Ihm wurde schlecht.
 

„Adam, ich weiß ja nicht, woran du gerade denkst, aber klapp bitte wieder deinen Mund zu.“
 

„Ich soll deine Familie kennenlernen?“ Seine Stimme klang fiepsiger als geplant.
 

Leon strich sich mit beiden Händen übers Gesicht und seufzte schwer. „Ernsthaft, hör auf damit. Ich verlange es als Weihnachtsgeschenk, weil das ein wirklich großes Opfer ist. Meine Familie ist in nichts, wirklich nichts mit deiner Familie zu vergleichen. Mein Bruder ist ja noch halbwegs erträglich, aber vor meiner Mutter wirst du vermutlich schreiend wegrennen wollen. Wenn du mich schon für arrogant hältst, hast du die beiden noch nicht erlebt. Für sie gibt es nur Geld. Alles, was sich nicht in handfesten Zahlen ausdrücken lässt, ist wertlos. Jeder, der nicht wenigstens eine goldene Rolex trägt, einen Rolls Royce besitzt und einen eigenen Butler hat, ist wertlos. Meine Mutter hätte mir fast den Kopf abgerissen, als sie erfuhr, dass ich kein Personal habe. Du bist für sie bestimmt nicht der heiß geliebte zukünftige Schwiegersohn, sondern bestenfalls eine Kakerlake, deren Anwesenheit sie gezwungenermaßen ertragen muss.“
 

Adam betrachtete ihn. Er hatte die Kiefermuskeln angespannt, und seine Augen hatten einen harten Glanz. Anscheinend versetzte schon allein der Gedanke an seine Familie ihn in Wut.
 

„Und warum machst du das dann? Also, die Party?“
 

Der Künstler zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter legt großen Wert auf ihr Image. Und damit es nicht ganz so offensichtlich wird, wie wenig sie von mir hält, muss ich wenigstens ab und zu so tun, als ob ich zur Familie gehöre. Das heißt, regelmäßig auf Partys auftauchen, regelmäßig eigene veranstalten. Sie sagt mir, wann sie mich gerne wo hätte, und in neunzig Prozent der Fälle erfülle ich ihr ihren Wunsch. Sonst hätte sie mich vermutlich schon enterbt.“
 

Adam stützte nachdenklich sein Gesicht auf seiner Hand ab und schob die Skizzen vor ihm unruhig hin und her. Seine anfängliche Euphorie war direkt verpufft, und... ja, was? Einem unguten Gefühl im Bauch gewichen. „Ist dir ihr Geld so wichtig? Bist du darauf angewiesen?“
 

„Nein. Mit meinen Werken verdiene ich mehr als genug, um meinen Lebensstil so zu pflegen, wie ich es gerne hätte.“ Seine Augen funkelten. „Nenne es eine krude Art der Rache, dafür, dass ich sie als Mutter ertragen muss. Ich weiß, wie sehr es sie fuchst, jedes Mal, wenn ich ihr Geld ausgebe. Aber solange ich meine Rolle als pflichtbewusster Sohn spiele, wäre es ein zu großer Imageschaden, wenn sie mich enterben würde. Also spiele ich weiterhin meine Rolle und genieße den Gedanken, wie sehr sie sich in ihrem zukünftigen Grab umdrehen wird.“
 

„Warum?“ Nervös tippte er auf dem Tisch rum. Er war sich nicht sicher, wie viel er fragen durfte, ohne bei Leon auf dünnes Eis zu geraten. „Warum habt ihr so ein schlechtes Verhältnis?“
 

„Ich entspreche nicht ihren Erwartungen.“ Leon runzelte verwirrt die Stirn, und betrachtete dann die Tasse mit Adams heißer Schokolade, die inzwischen abgekühlt war und die er komplett vergessen hatte. „Für sie sind Zahlen wichtig. Jemand, der die Firma führen kann. Jemand wie mein Bruder, mit dem entsprechenden mathematischen und technischen Verständnis. Kein kleiner Junge, der nur bunte Bilder malen kann.“
 

Im letzten Satz schwang ein leiser Schmerz mit. Gemischt mit Zorn, Wut, Ablehnung. Und so viel mehr, doch Adam ahnte, dass er nicht an diesen Wunden rühren sollte. Zumindest noch nicht.
 

„Mhm.“ Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. „Womit... was macht deine Familie eigentlich, dass ihr so reich seid?“
 

„Ehm.“ Leon neigte nachdenklich seinen Kopf zur Seite. „Irgendwas... mit Computern. Oder Software. Oder... beides?“
 

Adam sah ihn verdutzt an. „Was? Du weißt es nicht?“
 

Der Künstler zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht ganz richtig. Ich verstehe es nicht. Mein Bruder hat schon vor Jahren aufgegeben, es mir zu erklären. Das ist einfach... nicht meine Welt. Es interessiert mich auch nicht sonderlich. Es hat irgendwas mit Technik zu tun, und dafür bin ich nicht geeignet.“
 

„Du... bist nicht für Technik geeignet?“
 

Er verdrehte die Augen. „Richtig.“ Fast schon verlegen strich er sich einige Strähnen hinters Ohr und musterte höchst interessiert seine Fingernägel, während er leise vor sich hinmurmelte. „Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich nicht sehr viel Technik hier rumstehen habe? Sachi nennt mich den größten DAU, den sie jemals getroffen hat. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich meinen BluRay-Player noch selber bedienen kann und mir die Mikrowelle bisher nicht um die Ohren geflogen ist. Wenn was mit dem Handy ist, lass ich es Sachi machen oder gehe zu einem Profi. Ich mag keine Technik, und die Technik mag mich nicht.“
 

Er sah auf und fixierte Adam, der ihn nur aus großen Augen ansah.
 

„Wenn du lachst, schmeiß ich dich raus.“
 

Adam schüttelte nur den Kopf, legte sich jedoch eine Hand vor den Mund, um sein Grinsen zu unterdrücken.
 

„Ich meine es ernst!“
 

Er konnte nicht mehr. Mit einem Keuchen brach das Lachen aus ihm raus. Er hielt sich den Bauch, während er versuchte, zu Atem zu komme, doch er konnte einfach nicht aufhören.
 

Leon! Der große, alleskönnende, bestaussehendste und arroganteste Leon! Die Verführung in Person, der coolste, und beste, und sexieste Mann aller Zeiten... stand auf Kriegsfuß mit Technik! Selbst mit der einfachsten Technik eines Handys, das jeder Fünfjährige benutzen konnte!
 

Es dauerte einige Momente, bis er sich wieder im Griff hatte. In der Zeit fixierte Leon ihn mit zusammengekniffenen Augen, während er am Küchentresen lehnte und die Arme verärgert verschränkte. Sein Blick war kalt, eiskalt, doch das störte Adam nicht. Diesmal nicht.
 

Mit einem verschmitzten Lächeln stand er auf und stellte sich vor Leon. Sanft strich er ihm über die Ohrmuscheln.
 

„Adam...“ Leons Stimme glich einem Knurren, doch er ignorierte es.
 

„Ich hab etwas Neues über dich erfahren.“
 

„Dass Technik und ich nicht miteinander können?“
 

„Nein.“ Adam schnurrte fast. „Wenn dir etwas peinlich ist, wirst du nicht rot, nicht richtig zumindest.“ Er lächelte. „Aber die Spitzen deiner Ohren. Sie sind dunkelrot.“
 

Und wurden es just in diesem Moment noch etwas mehr. Leon wollte ein wenig zurückweichen, einen erschrockenen Ausdruck in den Augen, doch Adam ließ es nicht zu. Er küsste ihn zärtlich, strich sanft an seinen Ohren entlang über die Wangenknochen, und verschränkte dann seine Arme hinter Leons Nacken. Er spürte, wie sein Widerstand langsam wegbrach, bis Leon ihn schließlich enger an sich zog und den Kuss vertiefte.
 

„Du bist unmöglich...“ Leons Stimme war heiser. In seinen Augen lag ein fiebriger Glanz, gierig.
 

„Mhm.“
 

Und er war es unheimlich gerne.
 

---
 

Langsam gingen die Lichterketten an den einzelnen Ständen an. Sie tauchten den Weihnachtsmarkt in warmes Orange, und gaben der Szenerie eine heimelige Stimmung. Die Besucher waren ausgelassen, und ließen sich noch nicht mal von dem leichten Schneefall stören. Adam konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen war. Irgendwann als Kind mit seinen Eltern vermutlich. Aber eigentlich änderten sie sich auch nicht. Jedes Jahr die gleiche Musik, die gleichen Stände, die gleichen Leute. Trotzdem, irgendwie fand er es ganz nett. Auch wenn er sich nicht so sonderlich wohl fühlte in großen Menschenmengen, diesmal ging es. Er war nicht allein.
 

„Hier!“
 

Muse hielt ihm einen der beiden To-Go-Becher hin, den er grad an einem der Stände geholt hatte. Heiße Schokolade für Adam, Kaffee für Muse. Adam lächelte und schloß die Finger um den heißen Becher. In der Kälte genau das Richtige.
 

„Danke.“
 

Sie schlenderten weiter, immer wieder einen Blick auf die Auslage der Buden werfend, aber nicht wirklich interessiert. Keiner von beiden hatte so richtig Lust, irgendwas einzukaufen. Sie wollten nur zusammen was unternehmen.
 

„Hast du eigentlich inzwischen mit André gesprochen? Über deinen neuen Beziehungsstatus?“
 

„Mhm. Gestern bei der Arbeit.“ Er nahm einen Schluck von seiner Schokolade. „Nur kurz, aber.. ich weiß nicht. Er meinte, ich soll mir keine Sorgen machen. Er sei ja schon ein großer Junge und so.“ Er lachte leise auf. „Keine Ahnung, ob Liebeskummer leichter zu ertragen ist, wenn man älter wird. Jedenfalls wirkte er nicht so wahnsinnig bekümmert. Vielleicht... war es ihm doch nicht so ernst.“
 

„Hm.“ Muse sah Adam von der Seite an, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. „Ich glaube nicht. André wirkt wie ein Spieler, ja. Es geht ihm um Spaß, und eigentlich will er nur eine gute Zeit verbringen. Aber...“ Er überlegte. „Mit dir war es ihm schon ernst. Er hat in den letzten Wochen keinen Typen mehr abgeschleppt, und das will schon was heißen. Normalerweise geht er nicht alleine nach Hause.“
 

„Ach, das ist doch Scheiße.“ Adam verzog unwillig den Mund. „Ich will mit ihm einfach nur befreundet sein. Ganz normal, wie mit dir.“
 

„Mach dir keine Sorgen. Auch wenn André jetzt erstmal ein gebrochenes Herz hat, er kommt damit schon zurecht. Er ist ein guter Kerl, von seiner Seite aus wird es keine Probleme machen. Wenn du dich normal verhältst, tut er es auch.“
 

Ihm fiel Andrés Blick ein, in der einen Nacht, als er ihm gesagt hatte, was er für ihn fühlte. Die Resignation, diese Verletztheit. Er war wirklich gut in der Lage, diese Gefühle zu verbergen. Zu gut, vermutlich. Im Paradise Hill oder wenn sie zusammen unterwegs waren, unter Freunden und auf der Tanzfläche war er immer der Stimmungsmacher, der fröhliche, gut gelaunte Typ, der gerne flirtete, scherzte, und einen aus negativen Gedanken herausriss. Der für einen da war, aufmunterte, zuhörte. Er fragte sich, wie es war, wenn André allein in seinem Loft war. Ohne Gesellschaft, nur für sich. Gab es da auch schlaflose Nächte, in denen er Gedanken hin- und herwälzte? Und wer hörte ihm dann zu?
 

„Da du ja eh bald in Leons Familie eingeführt wirst, macht es eh keinen Sinn, wenn André sich noch weiter Hoffnungen macht.“
 

Muse grinste, als Adam ihn leicht in den Arm boxte.
 

„In Leons Familie eingeführt, dass ich nicht lache. Wenn ich ihm glauben darf, kommt seine Mutter aus den tiefsten Tiefen der Hölle und ist ein siebenköpfiges Monstrum, das Gift speit und kleine Kinder zum Nachtisch frisst. Ernsthaft, ich hab ein bisschen Angst vor ihr.“
 

„Von Leon vernascht und von seiner Mutter gefressen... klingt doch traumhaft!“
 

„Haha!“
 

Adam zog einen Schmollmund, musste aber lächeln, als Muse loslachte. Er hakte sich bei ihm unter, bemerkte jedoch, wie dieser plötzlich langsamer wurde, und sein Lachen erstarb. Überrascht sah er ihn an, und folgte seinem Blick, der auf eine Person gerichtet war, mitten in der Menge, umgeben von den anderen Besuchern des Weihnachtsmarktes. Ein Mann in einem einfachen Anzug. Er trug eine Brille, und seine braunen Haare waren leicht verstrubbelt. Ein Allerweltsgesicht, total unauffällig, und dann irgendwie doch nicht. Ihm fielen Muse' Worte wieder ein.
 

Sie starrten sich einige Sekunden lang schweigend an, Philip mit einem Gesichtsausdruck, der erschrocken, fast schon panisch wirkte. Als eine Frau – seine Frau – ihm eine Hand auf den Arm legte und ihn ansprach, drehte er sich weg, wendete sich ihr zu. Sagte etwas, mit einem verlegenen Gesicht und einem Lachen, und Sekunden später verschwanden sie wieder im Gewusel. Wie Geister, nicht wirklich da. Nicht wirklich greifbar.
 

Adam bemerkte, dass er ja bei Muse eingehakt war, und gab einen erschrockenen Laut von sich.
 

„Er... wird das doch nicht missverstanden haben, oder? Er sah so geschockt aus.“
 

„Nein.“ Muse' Stimme war nur ein Flüstern. „Er war geschockt, weil es mich tatsächlich auch in der realen Welt gibt. Außerhalb unserer Dates. Da, wo seine Frau mich treffen könnte... wo ich seine Familie zerstören könnte...“
 

„Aber..“ Er wusste nicht, was er sagen sollte.
 

„Schon okay.“ Ein schiefes Lächeln, unsicher. „Lass uns weitergehen.“
 

„Muse...“ Adam hielt ihn fest und drehte ihn zu sich. „Warum? Warum lächelst du, wenn du eigentlich... weiß nicht... heulen solltest? Schreien? Wütend werden?“
 

Muse lächelte sanft. Traurig und sanft. Seine braunen, liebevollen Augen glänzten leicht. „Weil es auch nichts ändern würde. Ich muss geduldig sein. Irgendwann...“ Er stockte. „Irgendwann wird es besser werden. Er ist noch nicht bereit dazu. Irgendwann wird er den Mut haben und dazu.. zu uns stehen. Ganz sicher. Und so lange muss ich ihm Zeit lassen.“
 

Es klang wie ein Mantra, das er sich immer wieder und wieder und wieder vorsagte. Leise, wenn der Schmerz, die Sehnsucht zu groß wurde. Irgendwann. Ganz sicher.
 

Adam sah ihn ungläubig an, und vergrub dann sein Gesicht an Muse' Schulter. Er spürte, wie Muse ihm tröstend durch die Haare fuhr. Es war so absurd. Eigentlich sollte er ihn trösten. Am liebsten würde er für ihn schreien, für ihn weinen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er wusste, Muse liebte Philip über alles. Er wusste, er sollte ihn mögen, weil er Muse Freund war. Ihn akzeptieren, sich freuen, wenn sie sich sehen konnten.
 

Aber er wusste beim besten Willen nicht, wie er diesen Mann nicht hassen sollte.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Adam gähnte müde. Die Morgensonne hatte ihn geweckt, mit ihrem grellen, weißen Winterlicht. Er vergrub kurz sein Gesicht im Kissen, nahm noch ein bisschen Schlaf mit. Nahm Leons Geruch auf. Unwillkürlich musste er grinsen, räkelte sich genüsslich und blieb dann doch noch einen Moment liegen. Sah sich im Zimmer um, eingekuschelt in die warme Decke. In Leons Zimmer, das ihm inzwischen schon so vertraut war.

 

Seit der Weihnachtsparty waren drei Wochen vergangen. Sie hatten sich nicht oft gesehen in der Zeit. Über Silvester musste Leon wieder seine Familie in New York beehren – diesmal mit einem talentierteren Pflanzensitter als Adam –, und dann hatte Adams Schule angefangen. Seine Eltern hatten die strikte Regel aufgestellt, dass er zwar während der Schulzeit die Wochenenden bei Leon verbringen durfte, unter der Woche sich aber auf's Lernen konzentrieren sollte. Zapfenstreich war um sechs Uhr, und wehe, er kam nur eine Sekunde zu spät. Dabei mussten sie sich eigentlich keine Sorgen machen. Auch wenn Adam rund um die Uhr mit seinem Künstler verbringen könnte, dieser hatte da andere Ansichten. Mal davon abgesehen, dass er auch ab und zu arbeiten wollte, ohne dass sein Anhängsel dabei war, war ihm Freiraum überaus wichtig.

 

Sein Blick glitt verträumt zum Fenster hinaus, betrachtete den glitzernden Schnee. Die wenigen Male, die sie sich gesehen hatten... Adam strich sich die verstrubbelten Haare zurück, überlegte. Er konnte es nicht fest machen, aber etwas hatte sich verändert. Zwischen ihnen, bei Leon. Wie er ihn ansah. Wie er ihn berührte. Bedächtiger. Nachdenklicher. Anders.

 

Irgendwas war bei Leon in Bewegung geraten. Er war immer noch arrogant und bestimmend, er hielt ihn immer noch auf Abstand, nahm sich, was er wollte, und gab ihm selten etwas im Gegenzug, aber er hatte das Gefühl, dass hinter seinen Aktionen ein Fragezeichen stand. Leon lächelte seltener, aber wenn, dann war es sanft. Zärtlich. Wehmütig.

 

Adam hätte gerne nachgefragt, doch irgendetwas sagte ihm, dass er jetzt abwarten musste. Es hatte sich nicht viel zwischen ihnen verändert, und doch wirkte es komplett anders. Wenn sie diskutierten – man konnte es nicht mal mehr Streit nennen –, dann über Kleinigkeiten. Mit einem Lachen in der Stimme. Ohne jegliche Überheblichkeit. Wenn sie miteinander schliefen, erkundete Leon seinen Körper immer wieder aufs Neue. Kuschelte sich danach an ihn, nahm seinen Duft, seine Wärme in ihm auf. Es wirkte, als ob Leon ihn als Partner ernst nehmen würde.

 

Oder, dass er ihn einfach nur wahr nahm.

 

Leon nahm ihn tatsächlich endlich wahr.

 

Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, während er aus dem Bett glitt, sich anzog und das Zimmer verließ. Er folgte dem Duft nach Bacon und gebratenem Ei in die Küche. Leon stand am Herd, die Haare locker zusammen gebunden, das Hemd noch halb offen, und kümmerte sich um ihr Frühstück. Leise trat er hinter ihn, schmiegte seine Wange an Leons Rücken und verschränkte seine Hände an seinem Bauch.

 

„Guten Morgen...“

 

Leon streichelte sanft mit der freien Hand Adams verschränkte Finger, während er den Bacon in der Pfanne wendete.

 

Noch so eine Veränderung. Er berührte ihn anders. Abwesender. Selbstverständlicher.

 

„Guten Morgen, Langschläfer.“ Er drehte sich nicht zu ihm um, doch er hörte das zärtliche Lächeln in seiner Stimme. „Frühstück ist gleich fertig. Deckst du den Tisch?“

 

Adam drückte ihm einen Kuss zwischen die Schulterblätter, bevor er sich von ihm löste und aus dem Küchenschrank Teller und Besteck holte.
 

„Von wegen Langschläfer. Es ist erst kurz nach Neun! Das ist noch fast mitten in der Nacht...“

 

„Natürlich.“ Leon brachte die Pfanne an den Tisch, während Adam fertig deckte. „Wie sieht dein Tagesplan aus? Du musst heute arbeiten?“

 

„Ja.“ Adam überlegte. „Ich muss um 18 Uhr anfangen. Hm... ich will aber noch Zeit haben, um mit Muse zu reden.“ Er grinste fröhlich. „Er trifft sich heute seit über einem Monat endlich wieder mit seinem Freund. So süß.... er war die ganze Woche total aufgedreht... zumindest das, was bei Muse als aufgedreht gilt. Naja... fährst du mich? Dann würde ich mich vorher nochmal für zwei, drei Stunden hinlegen.“

 

Leon nickte nur und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Auch wenn er ein absoluter Frühaufsteher war, war er es offensichtlich nicht gewohnt, um diese Uhrzeit schon so einen Redefluss auf sich einprasseln zu lassen. Adam musste ein belustigtes Lächeln unterdrücken, während er sich sein Brötchen bestrich. Er fragte sich, wie er die gemeinsame Zeit in den USA mit Sachiko ausgehalten hatte.

 

„Können wir heute eine Modellsitzung einlegen?“, unterbrach Leon seine Gedanken.

 

Adam stutzte kurz, nickte aber.

 

„Klar. Die Ausstellung fängt im Februar an, oder?“

 

„Ja.“ Der Künstler runzelte leicht die Stirn, während er über seinem Rührei brütete. „Heute wäre dann auch die letzte Sitzung. Ich muss noch ein paar Skizzen sammeln, danach mach ich mich an die Arbeit für das fertige Bild.“

 

„Dafür... brauchst du mich nicht?“ Er war überrascht. Eigentlich hatte er erwartet, dass das Modell bis zum Schluss als Vorlage dienen würde.

 

„Nein.“ Leon musterte Adam für einen Moment, spöttisch eine Augenbraue gehoben. „Von dir kriege ich eh nur Skizzen hin, du bist viel zu unruhig. Außerdem entstehen viele meiner Bilder nur aus dem Gedächtnis. Sie sind dann...“ Er hielt kurz inne. „Authentischer, könnte man sagen.“

 

Adam streckte sich, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und sah ihn unter halb gesenkten Augenlidern an, mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen.

 

„Ich bin gespannt, welches authentische Bild du von mir malen wirst.“

 

Leon erwiderte seinen Blick, jedoch ohne zu lächeln. Die Miene eines Künstlers, der sein Motiv betrachtete. Die Augen des Liebhabers, irritiert wegen seiner neuen Rolle. In der Stimme ein undefinierbarer, rauer Ton.

 

„Ich auch. Glaub mir, ich auch.“

 

---

Adam warf einen Blick auf die Uhr, rührte nochmal in seiner heißen Schokolade, und sah wieder auf die Uhr. Es war halb sechs. Das Date war wohl besser als gedacht. Unter normalen Umständen wäre Muse längst hier, sein Arbeiterethos sagte ihm, dass er überaus superpünktlich zur Arbeit erscheinen musste. Adam rutsche unruhig auf dem Stuhl hin und her. Natürlich wollte er vermutlich bis zur letzten Sekunde die Zeit mit Phillip auskosten, aber... er war doch soooo neugierig! Er wollte wissen, wie es gewesen war, ob sie eine schöne Zeit gehabt hatten, ob sich vielleicht etwas Neues bezüglich dieser beschissenen Situation mit der Ehefrau ergeben hatte.

 

Und einfach mit Muse quatschen und hoffentlich endlich, endlich wieder das fröhliche Leuchten in seinen Augen sehen. Das Leuchten, das er schon seit Wochen vermisste.

 

*

Das Café war voll, doch er sah ihn sofort, als er zur Tür eintrat. Ein ungewöhnlicher Ort für ihr Treffen, und eine ungewöhnliche Zeit. Normalerweise sahen sie sich zu Uhrzeiten, bei denen nicht die Gefahr bestand, zufällig einem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen, an Orten, die abgeschieden waren. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte, zumal ihnen die Öffentlichkeit auch die Möglichkeit nahm, sich zu berühren und intimer zu werden, doch er wollte es nicht hinterfragen. Sie hatten sich seit über einem Monat nicht gesehen, also wollte er diesen Nachmittag genießen.

 

Er winkte, um ihm anzuzeigen, wo er saß. Viel zu aufgeregt, um die Schatten um seine Augen zu bemerken, die bedrückte Miene, das ernste Gesicht. Kein Lächeln, das ihn begrüßte.

 

Hi! Ich hab schon was bestellt... was willst du trinken?“

 

Sein Gegenüber nickte. „Ich bin etwas spät.“ Er sah sich um, etwas gehetzt. Wie immer. Könnte ja doch jemand hier sein, der ihn kannte. „Ich will nichts, danke.“

*

 

Er wurde unruhig. Es war kurz vor Arbeitsbeginn, und Muse war immer noch nicht aufgetaucht. Das passte nicht zu ihm. Bestimmt hatte er sich so sehr mit Philip verquatscht – oder war in eine andere Beschäftigung vertieft –, dass er die Zeit vergessen hatte. Ungewöhnlich für ihn, normalerweise war er verlässlich. Sehr verlässlich. Normalerweise hätte er ihm zumindest eine Nachricht geschickt. Adam starrte auf sein Handy, schrieb nur ein kurzes „Wo bist du???“ und steckte es dann in seine Gesäßtasche. Für gewöhnlich blieb sein Handy in seiner Jackentasche oder im Spind, vorne an der Theke hatte es nichts verloren. Gerade war die Situation aber alles andere als gewöhnlich.

 

*

Er stutzte. „Nichts?“

 

Nein.“ Ein tiefes Durchatmen. „Das soll kein Date werden.“

 

Kein Date. Fast automatisch umklammerte er seine Kaffeetasse. Versuchte, sich daran festzuhalten. Musterte ihn jetzt genauer. Die Schatten, die Ernsthaftigkeit. Das Fehlen eines Lächelns.

 

Was dann?“ Seine Stimme war nur ein Flüstern, ging fast unter im Hintergrundrauschen des Cafés. Kein Zittern, immerhin.

*

 

André kam mit einem fröhlichen Grinsen an die Theke. Die Woche war ganz gut vergangen, er hatte sich mit Cyril irgendwie arrangiert, so dass sie sich nicht allzu sehr auf die Nerven gingen. Auch wenn sein neuer Mitbewohner die Tanzstunden gerne zur Provokation nutzte, es hielt sich im Rahmen. Sie hatten genug Abstand, umkreisten sich zwar, als ob sie sich auf einem Minenfeld bewegen würden, aber Cyril hatte seine Finger bei sich behalten und war auch sonst recht handzahm gewesen. Heute Abend würde er die Bude hier einheizen und morgen einen schönen, gemütlichen Sonntag vor dem Fernseher verbringen. Vielleicht gab es ja sogar irgendwas, was er sich mit Cyril zusammen angucken konnte.

 

Er wollte sich noch etwas zu trinken holen, solange der Tanzbereich relativ leer war. Es war zwar kurz vor acht Uhr und damit kurz vor Schichtbeginn, aber auf die Bühne musste er erst in einer Stunde. Vorher hieß es, aufwärmen, mit den Anderen den Abend absprechen, Instruktionen bei Thomas abholen. Aber einen kleinen Drink konnte er sich noch gönnen.

 

Seine ausgelassene Stimmung bekam jedoch einen Puffer, als er Adams Gesichtsausdruck sah. Von dem gut gelaunten Barkeeper, der da eigentlich stehen sollte, war absolut nichts zu sehen. Im Gegenteil, der Schönling, der sonst der reinste Kundenmagnet war, schien heute sein Bestes zu geben, damit ihm die Leute fernblieben. Es roch nach Ärger. Und mit wem konnte Adam schon Ärger haben außer mit Leon?

 

„Hey, du vergraulst uns die Kunden, Adam!“ André rutsche auf einen der Barstühle vor Adam und tippte ihm leicht an die Stirn. „Lächeln. Schon mal was davon gehört?“

 

Adam sah ihn an, mit Augen, deren Ausdruck schwer zu deuten waren. Als ob er gleich losheulen wollte. Oder irgendwo rein boxen. Oder einfach nur weglaufen. Vorsichtig stellte er das Glas, das er gerade mit einem Tuch poliert hatte, zur Seite.

 

„Muse ist noch nicht da.“

 

„Muse?“

 

„Ja. Er hätte vor zwei Stunden mit mir anfangen sollen. Er ist noch nicht da. Und geht nicht ans Handy.“

 

„Er hatte heute ein Date mit Philip, oder?“ André bemühte sich um ein Lächeln. Es wäre albern, sich Sorgen zu machen. „Er hat es bestimmt verpeilt.“

 

„Muse? Etwas verpeilen? Ohne sich zu melden?“

 

Er strubbelte Adam beruhigend durch die Haare. Seine Mundwinkel, die sich immer noch bemühten zu lächeln, taten ein wenig weh. „Natürlich. Auch ihm passiert das mal.“

 

*

Sein Gegenüber legte das Handy auf den Tisch. Ein billiges Prepaid-Handy, wie aus einem schlechten Film. Damit seine Frau nicht zufällig irgendwelche SMS las. Damit ihre Beziehung, damit das, was sie waren – das, was er war – geheim bleiben konnte.

 

Es tut mir leid, aber es geht nicht mehr.“ Er holte Luft. „Das alles... es geht nicht mehr. Es ist zu gefährlich. Und mit dem Baby hätte ich eh keine Zeit mehr für dich. So ist es besser.“

 

Aber...“

 

Besser? Für wen?

 

Ich wollte es dir persönlich sagen. Wenigstens das hast du verdient, nicht wahr?“

 

Wenigstens das hatte er verdient? Nur das?

 

Für einen Moment schwieg er. Sammelte sich. Deswegen das Café, die Uhrzeit. Vor so viel Publikum würde er keine Szene machen. Als ob er jemals eine Szene gemacht hätte. Als ob er jemals eine machen würde.

 

Ist das alles?“

 

Was soll mehr sein?“

 

Er suchte seinen Blick. Suchte in seinen Augen etwas. Etwas, das ihm sagte, dass die letzten zwei Jahre es wert gewesen waren.

 

So einfach? Weil du keine Zeit mehr hast, willst du das alles aufgeben? Bin ich dir... so unwichtig?“

 

Unangenehm berührt wich er seinem suchenden Blick aus.

 

Es tut mir leid. Es war eine nette Zeit. Aber...“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich habe mich in etwas verrannt. Ich liebe meine Frau. Das mit dir... war ein Fehler. Eine vorgezogene Midlife-Crisis oder sowas.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ich bin nicht schwul. Ich war es nie. Du bist ein netter Junge, aber... das war es. Die letzten zwei Jahre waren ein Fehler. Ich hätte es früher beenden sollen.“

 

Feigling.

 

Am liebsten hätte er es geschrien. Sah diesen Mann nur stumm an, der zwei Jahre lang sein Leben bestimmt hatte. Seine Gedanken, seine Gefühle. Alles, einfach alles.

 

Das war es. Ich wünsche dir alles Gute.“

 

Kurz und schmerzlos.

*

 

„Hast du was gehört?“

 

Adam schüttelte auf Thomas' Frage hin den Kopf. Die Frage, die sein Chef fast im Zehn-Minuten-Takt wiederholte. Wie alle anderen Mitarbeiter auch. Keiner sagte mehr, dass er sich keine Sorgen machen sollte. Keiner meinte, dass könnte auch Muse mal passieren. Seit vier Stunden nicht bei der Arbeit erschienen und keine Nachricht von ihm – nein, das war nicht Muse. Jeder andere, aber nicht Muse.

 

Sie machten ihre Arbeit. Sie lächelten, sie bedienten die Gäste, sie heizten die Menge an, sie sorgten für gute Laune. The show must go on. Und trotzdem, der Schatten, der über allem lag, war da. Kaum zu sehen, aber er war da.

 

Muse war nicht nur ein Mitarbeiter. Muse war die gute Seele, das Herz, der, der immer lächelte, immer zuhörte, immer aufmunterte. Er schäkerte mit den Türstehern, er fragte die Reinigungsdamen in der Früh, ob sie einen Kaffee wollten, er massierte den Tänzern kurz den Nacken oder sprang für die Barkeeper ein, die einen schlechten Tag hatten. Jeder kannte ihn. Jeder liebte ihn.

 

Und jeder fragte sich, wo er war.

 

*

Ohne ihn anzusehen, stand er auf. Den Kopf gesenkt, zu feige, um seinen Augen zu begegnen. Den warmen, braunen Augen. Zu feige, um das ertragen zu können, was er darin lesen würde.

 

Zwei Jahre.

 

Er sah ihm nach. Sah den Rücken, den er so oft berührte, die Haare, die immer ungekämmt wirkten, den Nacken, den er tausend Mal geküsst hatte.

 

Zwei Jahre. Zerstört mit einigen wenigen Worten.

 

Ich wünsche dir alles Gute.

 

Wie lachhaft.

 

Fast automatisch, ohne nachzudenken, bezahlte er und verließ das Café. Spürte den kalten Wind auf den Wangen nicht, nicht den Schnee, nicht die zögerlichen Sonnenstrahlen.

 

Er musste sich zusammenreißen. Sich hinlegen, noch ein, zwei Stunden schlafen, bevor er zur Arbeit musste. Die Gedanken vertreiben.

*

 

Adam hatte sich in den Aufenthaltsraum verzogen. Vorne war er nicht mehr zu gebrauchen. Und alle wussten, wenn Muse sich bei jemandem melden würde, dann bei ihm. Seinem neuen, besten Freund. Er sollte nicht durch einen Kunden abgelenkt sein, falls sein Handy klingelte.

 

*

Zwei Jahre, die er immer gewartet hatte. Auf einen Anruf. Auf eine Nachricht. Auf das nächste Treffen.

 

Bevor er es bemerkte, stand er vor seiner Haustür. Öffnete sie. Begrüßte die Stille, die ihm so vertraut war. Seine Eltern, seine Brüder. Nicht da, wie immer. Und wenn sie da gewesen wären... dann würde er auch die Stille begrüßen, nur wäre sie anders. Kälter. Stechender.

 

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, betrat er sein Zimmer. Der einzige Raum, der ihn willkommen hieß. Er schloß die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen. Rutschte an ihr herunter. Vergrub seinen Kopf in seinen Händen.

*

 

Er starrte sein Handy an. Flehte es an. Klingel. Klingel doch endlich!

 

*

Zwei Jahre für Nichts.

 

Streichelte seine Unterarme. Spürte den Stoff seines Pullovers. Spürte die Narben, die sich darunter befanden. Die Wunden. Heute würde es Neue geben.

*

 

Es klingelte. Erschrocken zuckte er zusammen. Muse! Fahrig, eilig, seine eigenen Bewegungen kaum koordinierend, ging er ran. Drückte auf den grünen Hörer.

 

„Muse! Was ist los? Wo bist du?“

 

Stille.

 

„Muse?“

 

*

Zwei Jahre. Kälte. Stille.

 

Warten.

 

Er krempelte seinen Ärmel hoch. Betrachtete seine Haut. Betrachtete die hellen Striemen. Das Rot, das sich dazwischen mischte.

 

Worauf sollte er noch warten?

*

 

Ein Schluchzen. Ein Wispern. Voller Tränen.
 

„Adam?“

 

Eine Frauenstimme. Er kannte sie nicht. Er musste sie nicht kennen.

 

„Du bist Adam, oder?“ Ihre Stimme brach. „Muse... er... er hat...“

 

Er würde sie noch früh genug kennen lernen.

 

„Muse...“



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  June_Narcieq
2018-11-30T18:02:17+00:00 30.11.2018 19:02
Ich hab mich gerade hier angemeldet, weil ich mich an diese Fanfic erinnert habe.
Damals hab ich sie glaube ich im Tokyopop-Forum gefunden und bin dann hier gelandet.
Da hast du sie noch unter dem Nick 'dragonheart' geschrieben, wenn ich mich richtig erinnere.
Ich bin so froh sie wieder gefunden zu haben 😍
Und dann auch noch mit mehr Lesestoff.
Ich hab deinen Schreibstil damals schon geliebt, ich freue mich gerade sehr über diesen Zufall wieder hier gelandet zu sein! ❤

Antwort von:  June_Narcieq
02.12.2018 09:22
Oh, ich glaube es war nicht dragonheart sondern dragonblood 😅
Von:  Laila82
2018-01-30T22:10:59+00:00 30.01.2018 23:10
... hat versucht sich umzubringen?
Hoffentlich ist es gründlich schief gegangen und Muse "nur" im KH oder so...
Von:  MarryDeLioncourt
2017-12-11T17:04:37+00:00 11.12.2017 18:04
Wow, bin bisher sehr begeistert und auch deine Art zu schreiben trägt dazu bei, dass man sich alles ziemlich genau vorstellen kann ;)
Antwort von:  Monstertier
12.12.2017 13:14
Danke schön ^_^ Ich bemühe mich tatsächlich, sehr bildlich zu schreiben, und freue mich, wenn es scheinbar klappt :D
Von:  Pandidita
2017-12-02T10:37:18+00:00 02.12.2017 11:37
Eine wirklich tolle Ff! Ich find die Charaktere wirklich super gemacht und das Lesen macht total Spaß.
Antwort von:  Monstertier
03.12.2017 13:09
Vielen Dank ^_^
Von:  Laila82
2017-11-21T10:20:44+00:00 21.11.2017 11:20
Leon in Adam hast wohl jemand gefunden der dir ebenbürtig ist. So ganz anders wie du und doch...

Von:  Laila82
2017-11-16T21:02:47+00:00 16.11.2017 22:02
Die Ff ist super. Bin begeistert bisher und sehr gespannt wie es weiter geht.
Antwort von:  Monstertier
16.11.2017 22:27
Danke schön ^_^
Von:  Streber_Nr1
2017-11-13T08:34:31+00:00 13.11.2017 09:34
I love it.
Freue mich schon auf das nächste Kapitel😍.
Lg streber
Antwort von:  Monstertier
13.11.2017 10:17
Danke ^_^ Dann beeil ich mich mit dem Hochladen, sind ja schon ein paar fertig :D
Antwort von:  Streber_Nr1
13.11.2017 12:11
Da warst du ja ziemlich schnell.
Also nur weiter so🖒


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