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Crystal Eyes

reloaded
von

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Sachiko klopfte sich genervt den Schnee von den Schultern, atmete, das Gesicht unwillig verzogen, aus und drückte die Klingel. Sie hasste den Winter. Er war kalt, er war feucht und er war dunkel. Die kahlen Bäume und die früh einbrechende Dunkelheit drückten die Stimmung, während die Kälte dafür sorgte, dass man sich am liebsten gar nicht nach draußen begab. Der einzige positive Aspekt an ihm war, dass er zum Kuscheln mit ihrem Schatz einlud, aber das war auch wirklich alles. Sie war ein Sonnenkind, eindeutig. Ihretwegen hätte der Winter ruhig schon im vorherigen Jahrhundert abgeschafft werden können, aber dummerweise hörte Petrus so selten auf die Wünsche der Menschen. Unzuverlässiges Pack, diese Himmelsbewohner.
 

Der Glockenton erschallte durch das ganze Haus, doch nichts rührte sich. Sie seufzte, während sie ein zweites Mal klingelte und gleichzeitig den Schlüsselbund aus der Tasche zog. Normalerweise wartete sie darauf, dass Leon ihr die Tür öffnete, schließlich war es immer noch sein Haus, aber da sich der werte Herr anscheinend in seinem Atelier befand und somit die Klingel nicht hörte, musste sie sich selbst Zugang verschaffen. Er hatte ihr immerhin seinen Schlüssel gegeben, als er eingezogen war, also sollte sie ihn wohl auch nutzen. Für irgendwas musste es ja gut sein.
 

Mit einem Klick öffnete sich das Schloss. Leise trat sie ein, zog ihre Schuhe und ihren Mantel aus und machte die Tür lautlos hinter sich zu. Kurz sah sie sich um, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, holte sich dann weiche Hausschuhe aus dem Schuhschrank und machte sich, leise eine Melodie vor sich hinsummend, einen Kaffee in der Küche, bevor sie behutsam die Treppen nach oben stieg. Irgendwann hatte sie es sich angewöhnt, möglichst still und unbemerkt zu gehen, und jetzt machte sie es schon automatisch, ohne dass es ihr auffiel. Sie wusste nicht mal, wann genau sie diese Gewohnheit angenommen hatte. Vermutlich, als Suo mit dem Piano spielen anfing. Er hatte seine Übungen immer abrupt beendet, wenn er merkte, dass jemand zuhörte, also hatte sie sich stets angeschlichen und dann unbemerkt an der Tür gelauscht. Es war so verdammt lang her, dass sie es schon komplett vergessen hatte. Wie so vieles von Suo. Trotzdem blieb er auf seine eigene Art und Weise immer präsent, wie ein Schemen am Rande des Blickfeldes. Immer da, doch nicht wirklich sichtbar. Er und seine Musik.
 

Auf der obersten Treppenstufe blieb sie für einen Moment stehen und schloss die Augen. Obwohl Leon schon seit über drei Monaten hier wohnte, hatte sie sich immer noch nicht an dieses Haus gewöhnt. Oder, besser gesagt, nicht daran, dass sie gar nicht mit ihm zusammen hier wohnte. Seit sie denken konnte, waren sie immer zusammen gewesen, und die letzten vier Jahre sogar sehr intensiv. Und jetzt plötzlich hatten sie beide ihr eigenes Reich, ihr eigenes Leben. Ein ungewohnter Gedanke. Ein ungewohntes Gefühl. Aber zumindest, auch wenn es nicht ihr Haus war, hieß es sie doch jedes Mal aufs neue herzlichst Willkommen. Sie hatte hier ihren Platz, ihr zweites Zuhause. Und niemand würde diesen Platz einnehmen. Ein beruhigendes Gefühl. Bei so vielen Veränderungen in ihrem Leben war es gut zu wissen, dass zumindest diese eine Sache immer gleich bleiben würde.
 

Mit einem zufriedenen Lächeln schritt sie zum Atelier hoch und betrat es lautlos. Noch bevor sie richtig im Raum stand, erkannte sie schon die Musik, die von dort erklang. Suos Piano. Die Kassette, die er Leon an ihrem Abschlusstag geschenkt hatte. Wie sehr hatte sie es geliebt, wenn er spielte. Seine Klänge hatten sie immer in eine andere Welt entführt, an Orte, die sie nie zuvor gekannt hatte. An wunderbare, bezaubernde Orte, die jeden Zuhörer zum Bleiben einluden. Und trotzdem hatte er immer nur für Leon gespielt, jedes Mal. Einzig und allein für Leon.
 

Er hatte die Kassette auch schon am Sonntag gehört gehabt. Obwohl er sie davor so gut wie nie angerührt hatte. Wieso nur jetzt? Es gab viele Antworten auf diese Frage, doch sie wusste, dass es nichts brachte, wenn sie spekulierte. Und Leon würde, könnte es vermutlich gar nicht beantworten.
 

In den Türrahmen blieb Sachiko für einen Moment stehen, die Augenbrauen leicht zusammen gezogen. Leon hatte sie nicht bemerkt, so dass sie sich ein wenig Zeit für ihre Betrachtung seiner Person nehmen konnte. Etwas, was sie sehr gerne tat.
 

Er saß auf dem Boden, eine alte, leicht zerrissene Jeans und einen kuscheligen Pullover tragend, die hellen Haare, die im grauen Licht weißlich glitzerten, mit einer Klammer nach hinten gesteckt. Einen Fuß hatte er angewinkelt und darauf seinen Ellbogen gelegt, während er aufmerksam irgendwelche Blätter hin- und hersortierte. Seine langen Wimpern warfen leichte Schatten auf seine dunklen Wangen. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum und nahm hin und wieder einen Schluck aus der Tasse, die neben ihm stand, ohne die Aufmerksamkeit von den um ihn herum ausgebreiteten Papieren abzuwenden.
 

„Was ist das?“
 

Er schaute nicht auf, er zuckte noch nicht einmal überrascht zusammen, als er Sachikos Stimme vernahm.
 

„Skizzen.“ Seine Stimme klang unbeteiligt, leicht abwesend. Wie immer, wenn er in seine Arbeit vertieft war.
 

Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, ging in die Knie und hob eines der Blätter hoch. Skizzen. Von Adam.
 

„Wieso schaust du sie durch?“
 

„Ich will ein Bild mit ihm für die Ausstellung benutzen.“ Er hob eins der Motive hoch und betrachtete es mit gerunzelter Stirn, bevor er es dann kopfschüttelnd weglegte. „Aber da er die nächste Zeit wohl nicht mehr zum Modell stehen kommen wird, muss ich schauen, ob ich die bisherigen Skizzen verwenden kann.“
 

Sachiko sah sich mit gekräuselten Lippen um. Die Anzahl an Skizzenblättern war unüberschaubar. Soweit sie wusste, hatte Leon noch nie so viele Skizzen von ein und derselben Person gemacht. Aber soweit sie wusste, hatte er auch noch nie geschlagene drei Monate gebraucht, um ein Motiv auf Leinwand zu bannen.
 

„Wie findest du das?“
 

Leon sah jetzt zum ersten Mal auf und hielt ihr eins der Blätter hin. Sie machte sich nicht die Mühe es zu nehmen oder auch nur anzuschauen.
 

„Wann war er hier?“
 

Ihr Gegenüber seufzte, so als ob er wusste, was jetzt kommen würde, kramte ein paar der Skizzen zusammen, stand mit einem Ruck auf und ging zu einem Tisch, um sie dort nochmals auszubreiten.
 

„Am Montag. Hat seine Sachen geholt.“
 

„Und das war alles?“ Sie hob die Augenbrauen.
 

„Er hat mir gesagt, dass er mich liebt.“ Leon zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal. Als würde es ihn nichts angehen. Als würde es nicht um ihn gehen.
 

Schweigen trat ein. Sachiko setze sich auf einen Diwan, zog ihre Füße nach oben und legte die Arme um die Knie, während sie Leons Rücken beobachtete, seine gemächlichen Bewegungen, wie er die Skizzenblätter auf zwei Stapel aufteilte. Selbst bei dieser simplen Tätigkeit, wie er die Blätter vorsichtig mit den Fingerspitzen anfasste, sie nachdenklich musterte und dann auf eine Seite legte, wie er den Kopf neigte, die Lippen leicht geöffnet, die Augenlider gesenkt, selbst hier strahlte er etwas besonderes, faszinierendes aus. Die Nachmittagssonne hüllte ihn in gräuliches Licht, ließ seine Haare silbern glänzen und hob seine Gestalt vom Fenster silhouettenartig ab. Leon war ein Kunstwerk an sich. Kein Wunder, dass ihm so viele Menschen verfielen. Ein Wunder, dass Adam sich noch gegen ihn wehren konnte und für ihn einen mehr als gleichwertigen Partner darstellte.
 

„Du hast ihm nicht geglaubt.“
 

Es war keine Frage, nur eine simple Feststellung. Leons kurzer Blick zu ihr bestätigte es auch sofort.
 

„Du hast ihm nicht geglaubt und ihn abgewiesen.“ Sie seufzte. „Leon, du bist so ein jämmerliches, bemitleidenswertes Kind, dass es schon fast weh tut.“
 

„Danke, ich hab dich auch lieb.“ Mit einem tiefen Grollen in seiner Stimme drehte er sich zu ihr um. „Was soll das? Willst du mir mal wieder eine Standpauke halten? Gibt es denn kein anderes Thema mehr außer Adam?“
 

„Natürlich gibt es die.“ Unbeeindruckt nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee. „Wir könnten zum Beispiel über Weihnachten und Silvester reden. Was du da vor hast. Du wolltest Silvester doch eine Party geben, nicht wahr? So eine richtig schön große. Und, uhm... du wolltest Adam einladen. Aber wir wollen ja nicht über ihn reden.“ Sie fixierte Leon. „Aber wolltest du sein Bild nicht für die Ausstellung benutzen? Wie willst du das machen, ohne Modell? Du bist doch mit keiner einzigen dieser Skizzen zufrieden. Du willst mehr haben. Mehr von diesen Skizzen und mehr von Adam. Das kriegst du aber nicht, wenn du ihn einfach so gehen lässt.“
 

„Du überinterpretierst.“
 

Er drehte sich wieder zum Tisch, doch Sachiko ließ ihn nicht so schnell vom Haken. Sie stellte ihre Tasse auf ein kleines Tischchen, trat zu ihm, legte ihre Arme um seine Hüfte und lehnte ihre Stirn gegen seinen Rücken.
 

„Versuch nicht, mir irgendetwas vorzumachen, Leon, Schätzchen. Ich kenn dich schon seit deiner Geburt, wir sind zusammen aufgewachsen, du kannst mir nichts vormachen. Ob du willst oder nicht.“
 

„Ich liebe ihn nicht.“
 

Sie drückte ihm einen Kuss zwischen die Schulterblätter. „Ich weiß das. Du willst ihn aber an deiner Seite haben. Du willst, dass er dir gehört.“ Mit einem Lächeln rieb sie ihre Wange an seinem Rücken. Ihre Stimme klang wie das zufriedene Schnurren einer Katze. „Du wurdest noch nie so wütend, wenn einer deiner Lover jemand anderen geküsst hat. Nicht mal bei Suo.“
 

„Suo ist auch was anderes.“ Er hatte die Hände auf den Tisch gestützt und leicht zusammen geballt, und starrte stur aus dem Fenster. „Etwas komplett anderes.“
 

Sachiko musste ein erfreutes Grinsen unterdrücken. Bis jetzt war er immer ausgerastet, wenn sie auch nur versucht hatte, Suos Namen zu erwähnen. Diesmal jedoch, bis auf ein leichtes Zittern, war keine weitere Reaktion wahrzunehmen. Er machte Fortschritte. Nach vier Jahren machte er endlich Fortschritte, und dazu hatte es nur einen kleinen, unschuldigen Jungen gebraucht, der mit dem Kopf durch die Wand seinen Weg ging und nicht davor scheute, einen Prachtkerl wie Leon eine zu scheuern. Sie schluckte mühsam ein Kichern hinunter. Nein, Leon liebte Adam nicht. Noch nicht, aber er war auf dem besten Weg dahin.
 

„Außerdem,“, Leon drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn, „wie soll ich ihm bitte glauben, dass er mich liebt, wenn er trotz allem feucht fröhlich einen anderen küsst? Hm? Bei einigen Leuten mag das tatsächlich möglich sein, bei Adam ist es unglaubwürdig. Er hat doch keine Ahnung, was Liebe ist.“
 

„Und du hast sie?“ Diesmal konnte Sachiko ein spöttisches Lachen nicht vermeiden. „Ich glaub, er ist dir da sogar einige Schritte voraus. Vielleicht ist er mit der Ausführung noch ein bisschen unsicher, aber das Gefühl kennt er jedenfalls besser als du. Seine Liebe ist weitreichender. Und sie fordert nicht so viel.“
 

„Sie fordert mich.“, meinte Leon nur simpel und zog lakonisch eine Augenbraue hoch. „Das ist schon genug.“
 

Sachiko schluckte. Da hatte er recht. Leon zu fordern war viel. Und nahezu utopisch. Man bekam ihn nicht, nie ganz, nie sicher. Das wollte Adam aber. Verständlicherweise. Irgendwie würde es da wohl noch ein paar Prinzipienprobleme geben. Sie musterte Leon kurz. Wobei... vielleicht auch nicht.
 

„Abwarten.“ Tief einatmend verschränkte sie die Arme. „Ich hab das Gefühl, dass es vielleicht doch nicht so viel sein wird. Nur,“, sie zog die Augenbrauen zusammen, „wenn du so weiter machst, wirst du ihn verlieren. Vielleicht sogar an André.“
 

Leon verzog seine Lippen zu einem süffisanten Grinsen. „An André? Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Er würde Adam nie halten können, niemals.“ Mit einem belustigten Lächeln ging er zur Tür und sah Sachiko mit leicht schiefgelegtem Kopf an. „Komm, ich will was essen. Wechseln wir das Thema, wir können auch über irgendwas anderes reden.“
 

Seine Freundin sah ihn einige Augenblicke sprachlos an und schüttelte dann den Kopf, so als ob sie irgendwelche Gedanken loswerden wollte. „Ist dir Adam so egal? Ist es dir egal, was er macht? Ob du ihn wiedersiehst?“
 

„Das hab ich nicht gesagt. Es ist mir keineswegs egal.“
 

„Was dann? Wieso tust du nichts?“
 

Leon lachte leise auf. „Ich tue was. Auf meine Art und Weise. Was erwartest du, dass ich mit einem Rosenstrauß Arien vor seinem Balkon singe und ihm meinen Herzschmerz zu Füßen lege? Vergiss es. Ich wäre nicht, wer ich bin, wenn ich das machen würde. Egal was ist, ich bleib mir bestimmt treu.“ Er lächelte sanft. „Weißt du, er hat sich doch angeblich in mich verliebt. Also soll er auch mit mir und meiner Art, die Dinge zu erledigen, zurecht kommen. Ich mach keine Ausnahmen, auch nicht für ihn. Und verändern werde ich mich sowieso nicht.“ Grinsend drehte er sich auf dem Absatz um und stiefelte die Treppen runter. „Bleib nicht dort wie angewurzelt stehen. Ich hab Hunger.“
 

Sachiko hörte seine letzte Aufforderung nur mit einem halben Ohr. Sie hatte etwas anderes erwartet. Keinen selbstbewussten, sich seiner Sache sicheren Leon. Lernte er denn nie? Wollte er es immer mit seiner arroganten Art lösen? Nein. Moment. Sie kniff leicht die Augen zusammen. Normalerweise versuchte er nie etwas zu lösen. Egal ob ihn jemand hasste, verachtete, liebte oder verehrte, er versuchte nie, jemanden zu halten oder zurück zu bekommen. Außer jetzt. Außer dieses eine Mal.
 

Und das tat er auf eine Art, wie es bei ihm eben üblich war. Arrogant, selbstbewusst, seiner Sache sicher.
 

„Oh Gott.“ Langsam folgte sie ihm, unsicher und völlig ratlos. Sie hatte das alles ein bisschen anders kalkuliert. Sie hatte, wie viel zu oft in letzter Zeit, Leon komplett falsch eingeschätzt. „Oh Gott, was wird das nur werden?“
 

Sie wusste keine Antwort darauf.
 

„Hier.“
 

„Mhm, danke schön.“
 

Adam nahm von Sachiko den dampfenden Becher heißer Schokolade entgegen und schloss fröstelnd die Finger darum. Sein Blick schweifte wieder zur Eislaufbahn, auf der sich die Leute tummelten. Er war froh, im Moment nicht dort zu sein. Zu voll und zu gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, auf seinen Allerwertesten zu knallen und sich damit vor allen zu blamieren, war zu hoch. Noch hatte er ja keine Möglichkeit für Übungsstunden mit Leon gefunden.
 

„Ah, ist das schön. Ein Kaffee, ein bisschen frische Luft und ich brauch nicht mehr. Nur wärmer könnte es sein.“ Sachiko nippte an ihrem Kaffee, schielte dann zu ihrem Begleiter und kicherte leise. „Du trinkst keinen Kaffee, hm? Wie ein kleines Kind, nur süße Schokolade.“
 

Er streckte ihr nur kurz die Zunge raus. „Ne, danke, mit dem bitteren Zeug kann ich wirklich nicht viel anfangen. Ich verzichte.“
 

„Wirklich, wie ein kleines Kind.“
 

Sachiko lachte auf und kassierte sofort einen Puffer in die Seite von Adam.
 

„Na, dir nimmt man deine 24 Jahre aber auch nicht immer ab.“
 

„Das ist Absicht. Damit ich jünger wirke. Du weißt doch, Frauen und das Alter sind eine problematische Thematik.“
 

„Wunderbar, dann hast du ja bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich fünfzehn Jahre jünger schätze als dein reales Alter, oder?“
 

„Hey, übertreib mal nicht.“
 

Sie lachten auf. Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte Adam sich nach hinten und starrte den langsam dunkler werdenden Himmel an. Im Moment war er relativ wolkenlos, so dass sich ein leuchtendes Purpur zu einem dunklen Blau hin verfärbte. Ganz schwach sah man bereits Sterne zwischen den kahlen Ästen der Bäume aufblinken. Es war so bitterkalt, dass sich die Kälte bis unter die Haut fraß, aber zumindest wurden die Bäume von weißem Reif überzogen. Ein wunderschöner Anblick.
 

„Es tut richtig gut, mal entspannt zu sitzen und an nichts zu denken.“
 

Ein Gefühl von Schnurren überkam ihn. Spontan hatte er heute Sachiko angerufen und sich mit ihr verabredet. Sie waren shoppen gewesen, hatten über dies und das geredet und einfach nur einen schönen Tag miteinander verbracht. Und jetzt saßen sie auf einer Bank bei der Eislaufbahn im Park, tranken ihre warmen Getränke in den chilligen Take-away-Bechern, die Sachiko bei einem der Stände geholt hatte, und genossen die Aussicht.
 

Er sah seinen Atemwölkchen nach. Wenigstens hatte er für ein paar Stunden seine kreisenden Gedanken vergessen.
 

„Mhm.“ Sachiko warf ihm einen seitlichen Blick zu. „Deine Gedanken kreisen nur um Leon, was?“
 

„Ja. Nein, nicht nur. Aber hauptsächlich, ja.“ Er seufzte und grinste innerlich. Sachiko hatte eine gute Intuition. „Irgendwie ist das erbärmlich. Er macht sich höchstwahrscheinlich nicht halb so viele Gedanken.“
 

„Uhm, da wäre ich mir nicht so sicher.“, meinte sie nur schulterzuckend. „Inzwischen weiß nicht mal ich mehr, was er denkt. Und das will schon was heißen.“
 

„Und dabei kennt ihr euch so lange. Irgendwie seltsam.“ Adam lächelte und atmete einmal tief durch. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, um ein paar seiner wirren Gedanken zu entwirren. Zumindest die, die harmlos wirkten. „Sag mal, kann ich dir eine Frage stellen?“
 

„Hm? Nur zu, keine Hemmungen.“
 

„Hast du irgendwie... einen Bruder? Einer, der Leon wichtig ist?“
 

Sachiko war gerade dabei, den Kaffee an ihre Lippen zu führen, und stockte mitten in der Bewegung. Langsam, so als ob sich in ihrem Inneren irgendetwas dagegen sträubte, drehte sie den Kopf zu ihm. Einige Augenblicke sah sieh ihn nur sprachlos an. Er biss sich leicht auf die Unterlippe. War das eine falsche Frage gewesen? War das ein Gedanke, der nicht so harmlos war wie er schien?
 

„Wie... kommst du darauf?“
 

„Naja... ich hab ein Bild von einem jungen Mann in Leons Zimmer gesehen. Und er sah dir sehr ähnlich. Deswegen dacht ich halt...“ Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Das war für mich das Naheliegenste, auch wenn keiner von euch jemals einen Bruder erwähnt hat.“
 

„Oh, ach so...das...“ Sie lachte verunsichert auf, starrte dann verwirrt in ihren Kaffeebecher und schüttelte den Kopf. „Ich... also... na ja...“ Mit einem entschuldigenden Blick sah sie ihn an. „Das bin ich. Nein, das war ich.“
 

„Das.... eh, was?“ Adam blinzelte ein paar Mal. „Was?“
 

„Das war ich.“ Sachiko lächelte fast schon schüchtern. „Irgendwie dachte ich, Leon hätte dir vielleicht davon erzählt. Naja, da ja anscheinend nicht... auf meiner Geburtsurkunde und bis vor ungefähr drei Jahren hieß ich noch Kasami und war männlich.“
 

Diesmal war es an Adam, sie sprachlos anzustarren. Fast automatisch wanderte sein Blick einige Zentimeter weiter nach unten, wo sich kleine, aber kaum zu übersehbare Hügel ins Auge des Betrachters schoben. Er hätte sein Augenmerk auch weiter nach unten gerichtet, wusste jedoch, dass ihm das wohl keinen Aufschluss über ihre Worte geben würde.
 

„Das... ist jetzt ein Witz, oder?“ Er versuchte ein Lächeln, dass jedoch nicht so ganz gelingen wollte und skeptisch blieb. „Du... bist doch kein Kerl.“
 

„Nein, bin ich auch nicht. Nicht mehr. Aber, wie gesagt, ich war es bis vor einigen Jahren. Ich bin transsexuell. Oder war, wie man’s nimmt.“ Sie nippte an ihrem Kaffee. „Und dann hab ich mich operieren lassen.“
 

„Ah... puh...“
 

„Ein Schock?“
 

Adam antwortete nicht. In dem Versuch, seine Gedanken zu ordnen, fixierte er die Äste der Bäume über ihm. Der weiße Reif sah wirklich wunderschön aus. Ein bisschen unwirklich, wie aus einer Märchenwelt, aber nichtsdestotrotz schön. Surreal schön. Er blinzelte wieder.
 

„Schock... nein, nicht wirklich.“
 

Er wusste nicht, was es war. Schockierend nicht unbedingt. Eher unerwartet, vielleicht, ungewöhnlich, seltsam. Ihm wurde wieder mal bewusst, wie viele verschiedene Menschen es doch auf der Welt gab, mit verschiedenen Vorlieben, Neigungen und Persönlichkeiten, wie viele dieser Dinge er noch nicht kannte, sich noch nicht mal damit auseinandergesetzt hatte. Einige Sachen hörte man häufig mal, sah sie im Fernsehen, bildete sich eine Meinung dazu, doch wenn man dann damit konfrontiert wurde, ging diese ach so tolle Meinung den Bach runter. Von einem Moment auf den anderen war im Kopf erst mal nichts. Rein gar nichts. Tabula rasa.
 

Adam atmete erst mal tief durch und sah dann wieder Sachiko an.
 

„Okay, das war jetzt unerwartet. Das... sieht man dir nicht an.“
 

„Danke, ich nehme das als Kompliment.“ Sie blickte ihn sanft an. „Ich weiß, es ist erst mal seltsam, so was zu hören. Ich dachte wirklich, Leon hätte es vielleicht erwähnt.“
 

„Nein, hat er nicht.“ Na, zumindest war jetzt diese Frage geklärt. Aber zig andere tauchten mit einem Mal auf. „Wie... uhm...“
 

„Ja, du darfst fragen. Wie gesagt, nur keine Hemmungen.“
 

„Wie... wann hast du es erkannt? Ich mein...“ Er atmete, wegen seiner Unfähigkeit, seine Gedanken verständlich auszudrücken, genervt aus. „Ich kann mir das nicht so recht vorstellen.“
 

„Hm.“ Sachiko zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit einem Arm und ließ den anderen über die Knie baumeln. Nachdenklich beobachtete sie die Schlittschuhläufer. „Stell dir vor, du wachst eines Tages auf und hast den Körper eines Mädchens. So war es bei mir. Nur, dass es nicht eines Tages war, sondern sich entwickelte. Ich merkte einfach, dass ich mich nicht als Junge fühlte. Es war falsch, fühlte sich einfach falsch an.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Im Laufe der Zeit und mit mehr Informationen verstand ich dann, dass ich wohl transsexuell war. Und das es Möglichkeiten gab, mich aus diesem falschen Körper zu befreien. Schließlich hab ich sie genutzt, kurz nachdem ich die Schule beendet hatte.“
 

Adam schloss die Augen. Ihm fiel es schwer, sich das vorzustellen. Natürlich, wenn er plötzlich den Körper eines Mädchens hätte, wäre er sehr, sehr geschockt und unerfreut. Aber wie war es, wenn man damit bereits geboren wurde? Gewöhnte man sich nicht daran? Entwickelte man dann nicht das Bewusstsein des physiologischen Körpers?
 

„Schwer zu verstehen, was?“
 

„Ja, irgendwie schon.“ Er nickte. „Aber, es ist wohl so, wie ein Heterosexueller nie ganz verstehen wird, wie es möglich ist, das eigene Geschlecht zu lieben, nicht wahr? Man kann es versuchen zu verstehen, vielleicht nachvollziehen, aber so ganz wird man nie dahinter blicken, nicht wahr?“
 

„Hm, ja, vermutlich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist wohl ein guter Vergleich.“
 

„Naja... ich werde mich wohl erst mal dran gewöhnen müssen.“ Nachdenklich strich er sich einige Strähnen aus dem Gesicht. „Aber, du bleibst Sachiko, nicht wahr? Ich mein, so wie ich dich kennen gelernt habe. Du bleibst die, die du bist.“
 

Sie sah ihn einige Momente lang ausdruckslos an, bevor ihre Augen langsam zu leuchten begangen und sie ihm stürmisch um den Hals fiel, so dass der Kaffee ein wenig überschwappte. Adam gab einen erschrockenen Laut von sich und hielt Sachiko instinktiv fest.
 

„Waaahhh...!“
 

„Du bist so toll, Adam, du bist so gigantisch toll.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund und strahlte ihn wie ein kleines Kind an. „Es ist selten, dass jemand das so einfach akzeptiert. Danke, vielen, vielen Dank dafür.“
 

„Scho... schon gut.“ Er tätschelte etwas verunsichert ihren Rücken. „Schon okay. Ist doch klar.“
 

Sie löste sich mit einem erfreuten Grinsen und schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Meine Eltern haben es nicht verstanden. Und weigern sich seitdem auch, mich zu sehen. Und, nun ja, viele Bekannte halten auch Abstand. Einige sind neugierig, andere akzeptieren es einfach, aber viele, viel zu viele können nicht wirklich damit umgehen. Teilweise versuchen sie es zwar, aber nichtsdestotrotz... na ja, man fühlt, dass man nicht normal ist.“
 

„Deine Eltern...?“
 

„Ja. Sie wollen nichts mehr von mir wissen.“ Sie löste sich von ihm und überschlug die Beine, etwas beruhigt ihre Atemwölkchen beobachtend. „Als ich entschied, dass ich mich operieren lassen wollte, na ja... es folgte eine ziemlich harte Zeit. Es gab nicht viele Menschen, denen ich mich anvertrauen konnte. Und die mich nicht wegstießen. Meine Eltern kamen damit nicht zurecht. Sie wollten keine Tochter. Für sie war es damals... zuviel. Und ich bin noch nicht bereit, wieder mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es war schon seltsam und schwierig genug, hierher, in meine Heimatstadt, zurückzukehren.“
 

„Was... wie hat Leon reagiert?“
 

„Er hat mir geholfen.“ Ihr Lächeln wurde nostalgisch. „Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um meine Wünsche zu erfüllen. Tatsächlich hielt er von Anfang an zu mir, war an meiner Seite, baute mich auf, wenn es mir dreckig ging. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Er mag arrogant und egozentrisch sein, aber für die, die er liebt, würde er sein Leben geben.“
 

„Ward ihr im Ausland? Ich hab nur gehört, dass Leon die letzten vier Jahre nicht hier war.“ Adam legte nachdenklich den Kopf schief. „Er war bei dir?“
 

„Jep. In den U.S.A.. Ich hätte es zwar auch hier machen können, aber ich wollte nicht dem Tuscheln hier begegnen und die Gerüchte nähren.“ Sie seufzte. „Leon wäre auch noch länger dort geblieben, aber ich wollte zurück. Meine Behandlung war erfolgreich verlaufen, ich hatte mich als Modedesignerin etabliert und meine Freundin wollte auch hierher zurück. Also kamen wir zurück in die Heimat. Es war seltsam, getrennt von Leon zu leben. Ich bin es immer noch nicht gewöhnt. Aber ich hab ja Claire, dann geht’s. Reine Gewöhnungssache. Und bei ihm bin ich ja auch immer willkommen.“
 

„Mo... Moment!“ Der Junge stockte. „Du hast eine Freundin? Also... du bist noch dazu lesbisch? Oder so... und sie hat keine Probleme damit?“
 

„Sie hatte. Anfangs.“ Sachiko schmunzelte. „Es ist eine eigentlich recht amüsante Geschichte.“
 

„Erzähl!“
 

Sie lachte leise auf. „Naja, sie ging nämlich mit mir und Leon auf die gleiche Schule, nur eine Klasse unter uns, und hatte sich schon damals in mich verliebt, sich aber nie getraut, irgendwas zu sagen. Nach unserem Abschluss verschwanden Leon und ich dann nach New York. Zufälligerweise fing sie dann dort zu studieren an und wir trafen uns wieder, kurz nach meiner Operation. Ich hab sie da erst so richtig kennen gelernt und mich verliebt. Und sie... sie war ziemlich von den Socken, als sie erfuhr, wer ich eigentlich war. Und ziemlich unsicher. Ihre Gefühle hatten sich aber nicht geändert.“ Seufzend nahm sie einem weiteren Schluck von ihrem Kaffee. „Wir sind wie zwei Katzen umeinander geschlichen, und würden das noch heute tun, hätte Leon uns beiden nicht einen festen Tritt in den Hintern gegeben. Tja, und jetzt sind wir, sehr glücklich, zusammen.“
 

„Das...,“, Adam stockte. „würde ich nicht unbedingt amüsant nennen. Eher nervenaufreibend.“
 

„War es auch. Aber da sich alles zum Guten gewendet hat, sehe ich es eher mit einem Schmunzeln. Die Liebe nimmt immer wieder recht seltsame Wege, um an ihrem Ziel anzukommen. Aber letztlich lässt sie sich anscheinend von nichts aufhalten, nicht mal von einem geänderten Geschlecht.“
 

„Ja... anscheinend.“ Er blickte immer noch recht verdattert aus der Wäsche, lachte dann aber auf. „Es freut mich sehr, dass du so glücklich sein kannst. Zumindest in der Hinsicht. Es wäre schön, wenn du dich auch mit deinen Eltern versöhnen würdest.“
 

„Abwarten. Ich bin noch nicht bereit, mich mit ihnen zu konfrontieren. Und sie wohl auch nicht. Irgendwann mal vielleicht.“
 

„Mhm. Ich drück mal Däumchen.“
 

In einvernehmlichem Schweigen beobachteten sie die Schlittschuhläufer auf dem Eis. Es war inzwischen fast komplett dunkel, und die Gegend wurde nur noch von einigen Laternen erleuchtet. Trotzdem herrschte, wie für einen Samstag üblich, noch reges Treiben. In der Luft sirrten die verschiedensten Gespräche, leises Geflüster und aufgeregte Zurufe, während Kinder fröhlich albernd herumliefen, frisch verliebte Pärchen das Eis zum Schmelzen brachten und die etwas ältere Generation die Jungspunde belustigt musterten. Über allem lag die fröhliche Popmusik, die aus den Boxen dröhnte und zum Mitsingen einlud. Irgendwie beschaulich. Trotz des Trubels wirkte alles ruhig und beschaulich.
 

Nach einiger Zeit streckte sich Adam. Er hatte an nichts gedacht, seinen Kopf einfach leer gemacht.
 

„Ich glaub, ich sollte noch ein, zwei Stunden schlafen. Muss noch zur Arbeit.“
 

„Oh, das hätte ich fast vergessen. Komm, ich fahr dich heim.“
 

„Liebend gern.“
 

Adam grinste und tappte Sachiko hinterher. Irgendwie war er gut gelaunt. Nicht nur hatte ihn das Gespräch abgelenkt, es freute ihn auch wahnsinnig, dass Sachiko ihm anscheinend genug vertraute, um diese doch sehr persönliche Sache zu erzählen. Sie schien sehr ausgeglichen und glücklich zu sein, wieso sollte er sich da also Gedanken machen? Sie war, wer sie war. Das war die Hauptsache. Und jetzt würde er sich auch in die Arbeit stürzen können. Oder, besser gesagt, die erste Begegnung mit André nach letztem Sonntag.
 

Es dauerte nicht lange, bis Sachiko ihn vor seiner Haustür absetzte. Mit einem fast schon schüchternen Lächeln drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
 

„Überarbeite dich nicht. Und lass die Jungs dort nicht zu frech werden.“
 

„Keine Sorge, mach ich nicht. Und danke fürs nach Hause bringen.“ Er grinste, winkte ihr noch mal kurz zu und verschwand dann in seinem Haus.
 

Sachiko lehnte sich mit einem glücklichen Lächeln zurück und startete das Auto. Sie mochte Adam wirklich gerne, umso mehr freute es sie, dass er keine Probleme mit ihrer früheren oder jetzigen Identität hatte. Tatsächlich war er in vielen Dingen noch wie ein kleines Kind. Neugierig und bereit, Neues aufzunehmen, ohne Vorurteile, ohne Skepsis. Einfach hinnehmen, wie es war, ohne es in Frage zu stellen. Eigentlich war er viel zu unschuldig für diese Welt. Eigentlich...
 

Ihr Handy klingelte kurz. An einer roten Ampel kramte sie es aus ihrer Tasche und las die SMS, die Leon ihr geschickt hatte. Sie las sie noch mal und dann noch einmal. Hielt für einen Moment den Atem an. Und übersah fast, dass die Ampel wieder auf Grün gesprungen war.
 

Während sie langsam anfuhr, ließ sie in einem tiefen Seufzer den Atem wieder aus ihren Lungen raus.
 

Was zum Teufel hatte der Kerl jetzt schon wieder vor?



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