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Crystal Eyes

reloaded
von

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„Du hast diese Strähne inzwischen fünf Mal zurecht gezupft, Adam. Langsam dürfte sie doch richtig sitzen, oder?“
 

„Mom.“ Adam klang leicht genervt. „Wenn du nichts besseres zu tun hast als an meinem Äußeren rumzumäkeln, geh doch bitte und hilf Dad bei seiner Arbeit. Er vermisst dich bestimmt schon.“
 

Seine Mutter zog ihre Beine an den Körper und machte nicht die geringsten Anstalten, sich vom Fleck wegzubewegen. Mit einem amüsierten Lächeln musterte sie ihren Sohn.
 

„Ich mäkle nicht an deinem Äußeren rum, im Gegenteil. Du siehst wirklich umwerfend aus. Und genau deswegen musst du diese Strähne nicht noch ein sechstes Mal zurecht zupfen.“
 

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu und dann einen kritischen in den Spiegel, vor dem er jetzt eine geschlagene Stunde gestanden hatte. Es war Samstagabend und er hatte sich entschlossen, diese Homobar, in der Muse arbeitete, aufzusuchen. Tatsächlich hatte den Ausschlag dazu erst sein Sportlehrer gegeben. Mit einem angeekelten Gesichtsausdruck hatte er den beiden nach der Sportstunde am Donnerstag, als sie zu den Umkleideräumen gehen wollten, gemeint, sie sollten doch bitte warten, bis die anderen fertig und wieder weg waren, und erst dann sich selber umziehen und duschen. Adam wäre ihm am liebsten an den Kragen gegangen, jedoch hatte ihn Muse weggezogen und beruhigend auf ihn eingeredet. Sein Ärger war aber nicht verraucht. Nur weil das von Pete feucht fröhlich verbreitete Gerücht rumging, dass die zwei schwul wären, musste man ihn ja nicht gleich wie ein knabenvernaschendes Monster behandeln. Vor allem, da er an den Ärschen seiner Mitschüler bestimmt kein Interesse hatte. Schließlich hatte er entschieden, er könnte sich auch in einer Homobar sehen lassen, wenn das Gerücht von seiner Sexualität schon rumging. Mal davon abgesehen, dass es eine gute Möglichkeit war, sich von Leon abzulenken. Oder, besser gesagt, seiner Sehnsucht nach Leon.
 

„Geht das wirklich? Seh’ ich nicht ein wenig zu konservativ aus? Oder überstylt?“
 

Mit einem skeptischen Blick strich er sich nochmal durch die Haare und betrachte sich eingehend. Er trug einen kirschroten, ärmellosen Rollkragenpullover, der seine durchtrainierten Oberarme gut zur Geltung brachte. Um sein linkes Handgelenkt war mehrfach ein schmales Lederband geschlungen, während an dem rechten drei dünne, kupferfarbene Armreifen baumelten. Den rechten Mittelfinger zierte noch dazu ein breiter, einfacher Kupferring. Als Ohrringe hatte er sich zwei Stecker mit blutroten Rubinen von seiner Mutter geliehen. Seine Hose war tiefschwarz, hatte an jedem Hosenbein noch zusätzlich zwei Taschen, an denen jeweils wiederum zwei Bändel angebracht waren, und zwei dunkelbraune, dünne Streifen an den Seiten. An den Schlaufen für den Gürtel waren noch drei rotgoldene Kettchen befestigt, die von der Gürtelschlaufe über der vorderen Tasche zu der über der Gesäßtasche führten. Seine Haare hatte Adam mit Gel ein wenig in Form gebracht, so dass die Haarspitzen am Hinterkopf ein wenig abstanden, während die Ponysträhnen halb ein Auge verdeckten. Um draußen nicht zu erfrieren, würde er noch eine schwarze Kapuzenjacke und Handschuhe anziehen, doch die würde er in der Bar ablegen, da es nach Muse’ Beschreibung eher einer Diskothek glich denn einer Bar und somit sehr warm sein würde.
 

Alles in allem war er eigentlich recht zufrieden mit seinem Äußeren. Zumindest dafür, dass er noch nie im Leben Tanzen gewesen war und dementsprechend im Stylen auch keine Übung hatte.
 

„Nein, Adam, du siehst umwerfend aus. Die Kerle werden dir reihenweise zu Füßen liegen, glaub mir.“ Seine Mutter verdrehte belustigt die Augen.
 

„Ich will doch gar nicht, dass sie mir zu Füßen liegen.“ Er zupfte nochmal an einer Ponysträhne und warf dann einen kurzen Blick auf die Uhr. „Gut, ich sollte langsam los. Muse erwartet mich gegen zwölf.“
 

Mit seiner Mutter im Schlepptau verließ er sein Zimmer, sprang die Treppen ins Erdgeschoss nach unten und zog sich an.
 

„Wenn was ist, ich hab mein Handy dabei. Ruf mich einfach an.“ Er lächelte seiner Mutter zu. „Ich hoffe mal, dass es spät wird.“
 

„Na, ich hoffe mal, dass es dir Spaß machen wird.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf dich auf und geh nicht mit irgendwelchen Kerlen mit, die du nicht kennst. Und sag Muse, er soll auf dich aufpassen, verstanden?“
 

„Ja, klar, Mom. Er ist ja auch mein Babysitter, ne?“ Er zog seine Kapuze über den Kopf und öffnete die Haustür. „Sag Dad tschüss von mir. Er soll sich nicht überarbeiten.“
 

„Natürlich, mach ich. Viel Spaß, mein Schatz.“
 

Mit einem letzten Winken verließ er das Haus. Ausnahmsweise hatte es sogar aufgehört zu schneien und der Himmel war aufgeklart. Der fast volle Mond tauchte die Straßen in silbernes Licht und warf schemenhafte Schatten auf den Boden. Adam fröstelte kurz. So wirklich warm angezogen war er dann doch nicht, weswegen er auch einen Zahn zulegte. Er traf kaum Menschen, da die meisten den Abend entweder in ihren warmen Häusern verbrachten oder bereits zur Disco gefahren waren. Nun ja, er war halt ein Spätzünder. Er musste innerlich grinsen. Nicht nur, was die Discobesuche anging, wie ihm schien.
 

Die Homobar, wie es Muse nannte, lag im zentralen Partybereich der Stadt, dort, wo man auch alle anderen Discos, Bars und sonstige Vergnügungsstätten finden konnte. Natürlich auch nicht zu vergessen der Rotlichtbereich, der jedoch durch zwei, drei Parallelstraßen von der Partymeile abgetrennt war und somit nicht wirklich viel damit zu tun hatte. Man merkte sofort, wenn man sich den Discos näherte, da die Anzahl an Leuten stark zunahm und ein belebtes Gewusel herrschte. Adam schlängelte sich durch die meist schon leicht angetrunkenen Nachtschwärmer hindurch und kräuselte angewidert die Nase. Er konnte es beim besten Willen nicht verstehen, wieso man sich schon zu so früher Stunde zukippen musste. Wo blieb denn da der Spaß? Aber gut, seine Leber war es ja nicht, die darunter leiden würde.
 

Ganz kurz streiften seine Gedanken Leon, der dem Alkohol anscheinend auch nicht ganz abgeneigt war, wenn er schlechte Laune hatte, jedoch schob er ihn sofort weit von sich weg. Er hatte sich geschworen, diese zwei Wochen möglichst wenig an seinen Künstler zu denken, und schon gar nicht an diesem Abend, an dem er einfach nur Spaß und Ablenkung haben wollte. Es gab selbstverständlich keine leichtere Sache als das, vor allem, wenn er täglich in seinem Haus war, aber zumindest dieser Abend sollte frei von Gedanken an Leon sein.
 

Schließlich fand er zum „Paradise Hill“, wie die Diskothek hieß, sogar ziemlich problemlos, da sie sich zentral neben einigen anderen Discos befand. Er fand ja schon den Namen ein wenig... nun, zweideutig, aber da Muse dort arbeitete, hielt er den Schuppen doch für halbwegs vertrauenswürdig. Für einige Momente blieb Adam einige Meter entfernt stehen und musterte die ausnahmslos männlichen Besucher, die fröhlich ein- und ausgingen. Einigen konnte man das Schwulsein förmlich ansehen, zumindest, wenn man nach den gängigen Klischees ging. Vor allem ein Typ in engen Schlangenlederhosen und einem bauchfreiem Oberteil hätte ihn fast zu einem Lachanfall verleitet. Jedoch hätte er die meisten, hätte er sie auf der Straße getroffen, nie und nimmer für homosexuell gehalten. Erstaunlich, wie wenig die Klischees doch zutrafen. Und mal wieder vergaß er Muse und sich selber, die ja beide genauso wenig diesen Vorurteilen entsprachen.
 

Einmal tief einatmend näherte Adam sich schließlich dem Eingang. Der Türsteher sah ein wenig bedrohlich aus, groß, dunkel angezogen und sehr muskulös. Er fixierte Adam auch sofort.
 

„Ausweis, bitte.“ Seine Stimme klang gefährlich.
 

Adam kramte seinen Personalausweis raus und streckte ihn vor.
 

„Ich bin ein Freund von Muse. Er hat gesagt, ich könnte rein.“ Er hoffte nur, dass es klappte. Seine Lust, jetzt wieder unverrichteter Dinge heimzukehren, war nicht gerade groß.
 

Bei Muse’ Namen leuchteten die Augen des Türstehers kurz auf und sein hartes Gesicht entspannte sich. Er brachte sogar ein freundliches Lächeln zustande.
 

„Ah, ja, er hat mir Bescheid gesagt, dass du vorbei kommst. Na dann, viel Spaß da drin. Aber tret’s nicht breit, wie alt du bist, sonst gibt’s nur Probleme für den Besitzer, klar?“
 

Adam nickte nur, huschte an ihm vorbei und nahm sich nur noch kurz die Zeit, um im ziemlich schlicht eingerichteten Vorzimmer den Eintritt zu zahlen. Bereits hier hörte er die Musik, oder, besser gesagt, den Bass, von drinnen, die zum Tanzen einlud. Und gewiss bleibende Hörschäden anrichtete.
 

Immer noch etwas unsicher öffnete er die zwei Schwingtüren und betrat den Tanzsaal. Und wäre fast vor der Masse an Leuten und der Stärke der Musik wieder zurück geschreckt. Und dann erst sah er sich genau um, während sein Kiefer leicht nach unten klappte.
 

Die Halle war gigantisch, zumindest soweit es Adam in dem Licht und bei den ganzen Leuten einschätzen konnte. Die Decke bestand aus Spiegelglas, und immer wieder zuckten dunkelrote Blitze zum Beat der Musik darüber, die für einige Sekunden den Raum aufleuchten ließen, begleitet von violetten und dunkelgrünen Strahlen von Scheinwerfern, die über die Menge schweiften und sich im Wechsel von einem einzigen zu nach und nach fünf aufteilten und wieder zurück. An der linken und rechten Seite gingen gläserne Treppen zu einer weiteren Ebene hoch, deren Boden ebenfalls durchsichtig war, so dass man von unten die Leute oben sehen konnte. Gegenüber dem Eingang befand sich eine breite, dunkelfarbene Bühne, die sich fast über die komplette Wand zog und auf der hinten einige DJs mit ihren Gerätschaften standen und für die Musik sorgten, während sich davor fünf Gogo-Tänzer dazu bewegten. Fast direkt daran schlossen sich links und rechts die Theken an, an denen mehrere Barkeeper Getränke ausschenkten. Die Thekenfläche und die Regale mit den Gläsern und Flaschen bestand ebenfalls aus Glas, die Front aus dunklem, mit Silber marmoriertem Material. Scheinbar willkürlich standen im Raum verteilt sieben oder acht Säulen, um die die Leute herumtanzten. Sie wiesen das gleiche Material auf wie die Thekenfront und waren etwa drei Meter hoch. Auf einer Seite waren schmale Stangen angebracht, an denen man auf die Plattform, die sich oben befand, gelangen konnte. Diese Plattform diente ebenfalls als Tanzfläche für die Gogo-Tänzer und war zu deren Sicherheit umzäunt. Die Umzäunung störte jedoch in keinster Weise, im Gegenteil, sie wurde gekonnt in die Tanzeinlagen mit eingebunden.
 

Adam schluckte. Diese komplette Einrichtung beeindruckte ihn mehr als nur ein bisschen. Er wusste ja wirklich nicht, ob es überall so aussah, aber zumindest konnte er gut verstehen, wieso es hier so gut besucht war. Tatsächlich war die komplette Tanzfläche gefüllt. Nicht so sehr, dass man sich quasi nicht mehr bewegen konnte, aber doch genug, um sich nicht allein vorzukommen. Und es standen immer noch haufenweise Leute am Rand und schauten den Tanzenden zu oder befanden sich auf der Galerie. Adam schluckte nochmal. Und es waren alles Männer, allesamt.
 

Mit einem Seufzer schlängelte er sich an der Wand entlang zu einer der Theken. Muse musste hier irgendwo sein, und tatsächlich stand er mit ein paar anderen dran und unterhielt sich. Sie hatten alle eine schwarze Weste mit weißen, langen Ärmeln an, jedoch war der Reißverschluss bei den Westen bis Mitte der Brust offen, so dass man einen guten Einblick auf die nackte Haut hatte. Gehörte wohl zum Service dazu, dass die Bedienungen etwas hermachten und anregend wirkten. Adam lächelte. Muse fühlte sich hier, zwischen Gleichgesinnten, anscheinend sehr wohl, da seine Gesichtszüge entspannt und fröhlich waren, etwas, was Adam in der Schule niemals zu Gesicht bekam, außer in seiner eigenen Gegenwart.
 

Er stellte sich an die momentan recht leere Theke und winkte Muse zu. Dieser entdeckte ihn fast augenblicklich, grinste ihn fröhlich an und beugte sich zu ihm rüber, während Adam seine Jacke auszog.
 

„Hab mich schon gefragt, wo du bleibst. Du hast dir Zeit gelassen.“
 

„Nya, musste mich doch erst noch herrichten. Ich bin nicht sonderlich geübt im Stylen.“ Er reichte Muse seine Jacke, in deren Tasche er die Handschuhe stopfte. „Kannst du die irgendwo verstauen? Wenn ich die anbehalte, schwitz ich mich noch zu Tode.“
 

„Ja, klar.“ Er nahm sie entgegen, verschwand kurz durch eine Tür und kam dann einige Augenblicke später wieder zurück. „Gut siehst du aus. Von wem hast du denn die Ohrringe geklaut?“
 

„Von meiner Mutter.“ Adam lachte. „Muss ich aber zurück geben, das Kompliment. Die Weste steht dir.“ Er rutschte auf einen der Barhocker, die an den Rändern der Theke aufstellt waren, und blickte sich einmal kurz um. „Hast du nicht gesagt, dass wär eine Homobar? Homo bedeutet für mich aber auch Frauen, nicht nur Männer.“
 

„Na ja, Schwulendisco trifft’s besser, jep. Es wird nur allgemein als Homobar gehandelt.“ Muse stütze sich mit einem Ellbogen auf der Theke ab und legte sein Kinn in die Handfläche. „Willst du was trinken? Ich geb’ dir einen aus. Ah, und bevor ich es vergesse, nimm nichts zu Trinken von anderen an. Die meisten Leute sind zwar in Ordnung, aber es gibt einige, die um jeden Preis Gesellschaft für die Nacht haben wollen, und da benutzen die auch schon gerne mal Drogen oder Aphrodisiaka.“
 

Adam zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Das klang ja wirklich aufbauend. „Okay, merk ich mir. Uhm... keine Ahnung, was so gängig ist, ich trink nicht viel Alkohol. Also bitte auch nichts starkes, ich will nicht komplett besoffen nach Hause kommen.“
 

Muse lachte kurz auf. „Ja, klar, kein Problem. Moment, ich mach dir nen Cocktail, dauert nur einen Augenblick.“
 

Der Junge nickte und nutzte die Wartezeit, um sich ein wenig umzuschauen. Irgendwie fühlte er sich immer noch nicht ganz wohl hier, umgeben von lauter Männern, von lauter schwulen Männern, wohlgemerkt. Und so, wie ihn einige von ihnen anschauten, schien er so eine Art Frischfleisch zu sein, dass es zu erobern galt. Er hatte jedoch wenig Lust, gejagt zu werden.
 

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Die Besucher waren gut gemischt. Von offensichtlich stockschwulen über wohl gepflegt und gut gekleidet bis zu Testosteron pur war jegliche Art Mann vertreten, aber irgendwie sprach ihn keiner so wirklich an. Die Art Leon verirrte sich anscheinend nicht in solche Locations. Er seufzte. Nicht an ihn denken, ja nicht an ihn denken! Es gab noch andere Männer außer Leon.
 

Adam richtete seine Aufmerksamkeit auf einen der Gogo-Tänzer, der auf einer der Säulen tanzte. Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte er ihm gerade zugezwinkert? Wohl kaum, bei diesem Licht musste das eine Sinnestäuschung gewesen sein. Trotzdem musterte er ihn etwas genauer. Muskulös, braungebrannt und oben ohne. Gut aussehend. Das waren die ersten Dinge, die ihm auffielen. Er trug enge Jeans, die seine Oberschenkel und seinen Hintern betonten, schwarze Stiefel und ein Lederhalsband. Seine kurzen, aufgegelten Haare hatten einen kastanienfarbenen Ton und eine Augenbraue war gepierct. Er tanzte sehr aufreizend, sexy, mit fließenden, selbstbewussten Bewegungen. Es war eine Wohltat, ihm zuzuschauen. Und mit leichtem Erstaunen merkte Adam, dass es tatsächlich noch andere Männer außer Leon gab.
 

„Gefällt er dir?“
 

Adam hätte fast erschrocken aufgeschrieen, als Muse sich plötzlich wieder zu ihm gesellt hatte. Er schob ihm ein Glas mit einer dunkelblauen Flüssigkeit zu. Irgendein Cocktail, den er wohl gerade fabriziert hatte.
 

„Wer?“
 

„Na, er.“ Muse deutete mit dem Kinn auf den Tänzer.
 

„Hm.“ Adam zuckte nur mit den Schultern. Er wusste im Moment noch nicht, wie er „gefallen“ definieren sollte.
 

„Er heißt André. Ein alter Hase hier, tanzt schon seit Ewigkeiten. Wenn du willst, stell ich ihn dir vor.“
 

„Nee, lass mal. Ein andermal vielleicht.”
 

Adam widmete seine Aufmerksamkeit wieder komplett Muse. Er wollte es nicht gleich am ersten Abend mit neuen Bekanntschaften überstürzen. Mit einem kritischen Blick nahm er einen Schluck von dem Getränk, das sein Freund ihm vorgesetzt hatte. Man schmeckte den Alkohol noch raus, jedoch wurde es fast komplett von einem fruchtigen Geschmack übertüncht. Er hoffte ernsthaft, dass da nichts hochprozentiges beigemischt war, aber selbst wenn, ab und zu konnte man sich ja betrinken. Oder zumindest antrinken.
 

Muse und er unterhielten sich noch eine Zeit lang, so gut es bei dem Lärm ging, über belanglose Dinge, bis Muse sich schließlich doch um seine Arbeit kümmern musste.
 

„Wie wär’s, geh auf die Tanzfläche, tanz ein wenig.“ Er lächelte ihn aufmunternd zu. „Hier juckt es keinen, wenn du es nicht kannst. Lass dich einfach von der Musik mitreißen, dann klappt das schon.“
 

Mit einem Stupser gegen seine Stirn ließ er Adam allein und verschwand im Raum hinter der Theke. Adam seufzte. Es war vielleicht keine schlechte Idee, schließlich war er in einer Disco, die ja bekanntermaßen zum Tanzen da war. Er musterte die Tanzfläche kritisch. Und Muse hatte Recht. Bei der Masse würde keiner auf ihn Acht geben. Also schlängelte er sich zwischen den Leuten hindurch in die Mitte, dort, wo am meisten los und er somit am unauffälligsten war.
 

Zuerst beobachtete er die anderen skeptisch, während er sich nur vorsichtig bewegte. Ihm blieb halb der Mund offen stehen, mit welchen Bewegungen sie tanzten, wie genial das aussah, wie fließend und harmonisch, zur Musik passend, als ob sie damit verbunden wären. Er schloss die Augen. Aber das, was sie konnten, konnte er doch schon lange.
 

Für einen Moment blieb er einfach auf der Tanzfläche, in der ganzen, sich bewegenden Menge stehen, lauschte auf die Musik, den Beat, ließ es auf sich einwirken. Und begann sich dann zu bewegen, die Augenlider halb wieder angehoben. Er verlor seine Hemmungen, bestimmte seine Bewegungen nach der Musik, erlaubte ihr, ihn zu bestimmen, mit sich zu ziehen. Die Tanzfläche, der Raum, alles gehörte ihm. Nachgeben, sich fallen lassen. Das war alles, was er jetzt machte.
 

Er wusste, dass die anderen ihn beobachteten, neugierig musterten. Und er wusste, er war gut. Er war begehrenswert.
 

Adam wusste nicht, wie lange er schon auf der Tanzfläche gewesen war, als er plötzlich einen Körper hinter sich spürte, jemanden, der seine Hände auf seine Hüften legte. Ein bisschen überrascht drehte er sich um. André. Der Gogo-Tänzer. Er lächelte ihn an und zog ihn näher an sich, passte sich seinen Bewegungen an. Es störte Adam nicht. Er wusste nicht, ob es am Alkohol oder an der ganze Stimmung lag, aber es störte ihn einfach nicht. Mit einen Lächeln legte er die Arme um seinen Hals, während Andrés Hände in seinen Gesäßtaschen verschwanden und ihn noch ein bisschen fester an sich drückten. Er spürte seine Muskeln, seinen nackten Oberkörper. Er roch den Schweiß, der jedoch nicht unangenehm war, in keinster Weise, sondern herb und männlich. Anregend. Er spürte die Hände an seinem Gesäß, die leicht zudrückten, die harten, durchtrainierten Schenkel an seinen eigenen. André beugte sich zu ihm runter, küsste ihn. Es schmeckte süß, bitter. Es war ein Kuss, den er so bis jetzt nicht gehabt hatte. Wild, forsch. Erobernd. Sein Innerstes begann zu kribbeln. Er gab sich einfach hin, spürte die Zunge des anderen, genoss sie.
 

André glitt mit seinen Händen langsam unter Adams Oberteil, ohne den Kuss zu unterbrechen, streichelte den Bereich unter dem Hosenbund, ließ seine Finger dort ruhen. Adam erzitterte kurz. Die etwas kühlen Finger an seiner nackten Haut, die sanften Berührungen, der wilde Kuss. Verdammt, es gab noch andere Männer außer Leon! Andere Männer, die ihn begehrten. Wieso sollte er sich so auf ihn versteifen?
 

Die Zeit verstrich, in der sie so miteinander tanzten, eng miteinander verschlungen. Schließlich löste sich der Tänzer von ihm, lächelte ihn mit einem zufriedenen Blick an, nahm ihn bei der Hand und führte ihn von der Tanzfläche zur Theke zurück. Muse hatte sich wieder dort eingefunden und grinste Adam jetzt fröhlich und wissend entgegen. Der Junge blickte André kurz entschuldigend an und zog seinen Freund zu sich rüber.
 

„Hast du ihn zu mir geschickt?“, fragte er, nicht wütend, nur neugierig. Er fühlte sich berauscht, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
 

„Jep. Er hat sich nach dir erkundigt. Anscheinend hat er dich von dem Tanzplateau aus gesehen.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich hab euch auf der Tanzfläche gesehen. Na, gefällt er dir?“
 

Adams Blick wurde ein wenig unsicher und er wollte gerade was erwidern, da hatte André ihm schon einen Arm um die Schulter gelegt und ihn näher an sich rangezogen.
 

“Hey, Muse, mix uns mal was schönes. Geht auf mich.“ Er schaute Adam fragend an. „Du willst doch bestimmt noch was, ne?“
 

Adam nickte nur. Er hörte jetzt das erste Mal Andrés Stimme. Sie war tiefer als Leons, rau von zu viel Rauch. Sie verursachte ein Kribbeln auf seiner Haut. Er wusste auch nicht, ob ihm noch mehr Alkohol gut tun würde, aber irgendwie wollte er sich auch nicht dagegen wehren. Er wollte es einfach nur genießen, die gesamte Nacht ohne Reue genießen.
 

Es dauerte nicht lange, da hatte Muse ihnen bereits zwei weitere Cocktails kredenzt. André nahm einen an sich, drückte den anderen Adam in die Hand und zog ihn dann wieder mit sich, diesmal auf die Galerie hoch. Dort waren mehrere Sitzgelegenheiten, Sofas, Couchen, Stühle und ähnliches Verteilt, etwas, was Adam von unten nicht gesehen hatte. Zu einer der Couchen führte André ihn, stellte ihre Getränke auf einem Tischchen vor ihnen ab und drückte Adam nach unten. Ohne Vorwarnung küsste er ihn. Wieder. Und wieder. Adams Herz schlug ein bisschen schneller. Ihm wurde warm, fast heiß, unerträglich heiß. Er spürte den Druck des fremden Körpers auf ihm, die Hände, die seinen eigenen Körper erforschten. Er wusste, wie weit er gehen wollte, er wusste, wo seine Grenzen waren, aber André schien einen guten Instinkt zu haben, diese Grenzen nicht zu überschreiten, sondern nur sehr nahe an sie ran zu kommen. Er hörte die Musik um sich herum, die tanzenden Menschen, die Gespräche, aber er bekam nichts wirklich mit. Seine Konzentration richtete sich voll auf André, auf seine Lippen, seine nackte Haut, die Wärme, die er ausstrahlte. Es war ein komplett anderes Gefühl als das, das Leons Nähe bei ihm verursachte. Es waren zwei verschiedene Welten. Und er wollte diese eine Welt mit ganzem Herzen genießen, wollte sich von ihr treiben, von ihr mitreißen lassen. Und für einen Moment den ganzen Rest vergessen.
 

Die Nacht wurde lang, sehr lang. Sie tanzten, sie tranken, sie küssten sich. In verschiedenster Reihenfolge. Sie redeten nicht viel miteinander, nur unwichtige, belanglose Dinge, aber sie lachten viel. Adam wusste nicht, ob es am Alkohol lag oder ob er mit André einfach wirklich so auf einer Wellenlänge war. Er merkte auch kaum, wie die Zeit verging, wie sich der Raum langsam leerte und die Gäste nach und nach gingen. Sie saßen gerade auf einer der Couchen und schwiegen, als Muse zu ihnen kam. André hatte seine Arme um Adam gelegt und seinen Kopf in dessen Haar vergraben. Adam sah nur etwas müde auf, als er von seinem Freund angestupst wurde.
 

„Es wird Zeit. So langsam schließen wir.“
 

„Mhm.“ Adam schälte sich aus Andrés Umarmung. „Ein bisschen Schlaf wird mir auch nicht schaden.“
 

„Arg, Muse, du störst.“ André lächelte bedauernd und hielt Adam kurz am Handgelenk fest. „Ich ruf dich an. Vielleicht können wir ja uns mal unter der Woche sehen.“ Er zog ihn zu sich runter und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Vergiss mich nicht.“
 

Adam erwiderte nur das Lächeln, müde und etwas unsicher, nahm die Jacke von Muse und folgte ihm nach draußen. Irritiert von dem Licht blinzelte er. Es dämmerte bereits.
 

„Verdammt, tun mir meine Füße weh.“ Er streifte schnell seine Jacke über und kuschelte sich in sie rein. „Und es ist verdammt kalt.“
 

Muse lachte leise auf. „Im Gegensatz zu der Hitze der Nacht, was? Deine Lippen tun dir nicht zufällig weh, hm?“
 

Adam streckte ihm nur kurz die Zunge raus und hakte sich bei ihm unter. „Ich will nur noch ins Bett. Ich glaub, ich werde bis morgen früh durchpennen.“
 

„Oi, weich mir nicht aus.“ Muse stupste ihn leicht in die Seite. „Spann mich nicht auf die Folter. Wie findest du ihn?“
 

„Willst du mich verkuppeln?“ Adam zog die Augenbrauen zusammen und zuckte dann mit den Schultern. „Er ist nett. Ich versteh mich gut mit ihm. Er sieht gut aus und kann gut küssen. Das war’s.“
 

„Das war’s?“ Mue hob skeptisch eine Augenbraue. „Ihr habt die ganze Nacht lang aneinander geklebt. Das sah nach ein bisschen mehr als nur ‚gut verstehen’ aus. Er hat jedenfalls definitiv einen Narren an dir gefressen.“
 

„Ich aber nicht an ihm.“ Adam seufzte. „Muse, sag mal, willst du uns verkuppeln?“
 

“Um ehrlich zu sein, ja, will ich. Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich Leon nicht mag. Mir wäre es viel lieber, du würdest dich in André verlieben. Er mag zwar sehr forsch und rau sein, aber er ist zumindest ehrlich und treibt keine Spielchen.“
 

„Du kennst Leon noch gar nicht. Außerdem...“ Adam schwieg kurz. Er hatte schon öfter in der Nacht den vergleich zu Leon gezogen. Und André hatte wirklich gar nicht mal schlecht abgeschnitten. Aber es war nur ein ‚nicht mal schlecht’, es war kein ‚besser’. „Es fehlt mir was. Er ist nicht Leon. Ich...“ Er fuhr sich etwas unsicher durch das Haar. „Ich mein, als er mich geküsst hat, es hat mir gefallen und so. Und wir haben uns gut unterhalten, aber... Es war einfach nicht Leon. Es war anders, komplett anders. Bei Leon fühl ich mich einfach nur wohl. Er... er muss nur da sein, muss nur anrufen, ne SMS schreiben, irgendwas. Er brauch mich nur anschauen, und ich werde halb wahnsinnig vor Glück. André wäre... also, er wäre für mich nie mehr als nur ein Kumpel, jemand, mit dem ich weggehe und den Abend verbring, vielleicht auch so was wie ein Sexfreund oder so. Zumindest, wenn ich Sex mit ihm haben wollen würde.“ Er seufzte. „Aber er ist nicht Leon.“
 

Muse musterte ihn eine Weile schweigend. Dann atmete er einmal tief ein und wieder aus.
 

„Für dich gibt es nur Leon, was?“
 

„Ja.“ Es klang endgültig. Es war endgültig.
 

Er blieb stehen und nahm Adam in den Arm, drückte ihn fest an sich.
 

„Dann richte deinem Leon aus, dass ich ihm ziemlich tief in den Arsch treten werde, wenn er dir weh tut.“ Er löste sich von ihm und legte seine Hände um Adams Gesicht. „Er soll sich glücklich schätzen, jemanden zu haben, der ihn so liebt. Es gefällt mir zwar ganz und gar nicht, aber es ist deine Entscheidung. Und die werde ich unterstützen, so gut es geht.“ Frech lächelte er. „Nicht, dass ich nicht weiterhin versuchen werde, dir André schmackhaft zu machen, darauf kannst du Gift nehmen.“
 

Adam grinste ihn nur an. Er wusste, Muse würde ihn in allem unterstützen, was er machte, selbst wenn es ihm nicht gefiel. Er bot ihm eine Sicherheit, die er momentan bei niemand anderem hatte.
 

„Danke.“
 

Mehr brauchte er nicht sagen. Muse verstand den Rest ohne große Worte. Er streckte sich und blickte sich kurz um.
 

„Ah, da kommt mein Bus schon. Ich muss dann los, wir sehen uns morgen. Schlaf gut.“
 

„Jep, danke, du auch.“
 

Muse verabschiedete sich schnell und verschwand dann im Bus. Ein wenig dämmrig sah Adam ihm noch nach, bis er seine Hände schließlich tief in den Hosentaschen vergrub und den Heimweg antrat. Nach und nach wurde es immer heller. Der Schnee glitzerte bläulich im Licht der ersten Sonne, zauberte eine wunderschöne Landschaft mitten in die Stadt. Adam kniff die Augen geblendet zusammen. Durch die Dunkelheit, der er der ganzen Nacht ausgesetzt gewesen war, waren sie etwas empfindlicher als normalerweise. Doch das würde sich legen, genauso wie die Taubheit seiner Ohren. Oder die seiner Lippen.
 

Vorsichtig betastete er seine Unterlippe. André hatte immer wieder leicht reingebissen, so dass sie jetzt angeschwollen war. Es hatte ihm aber nichts ausgemacht. Es machte ihm auch jetzt nichts aus. Er freute sich darauf, André wieder zu sehen, mit ihm etwas trinken zu gehen und einfach nur einen netten Nachmittag zu machen. Sie beide hatten ähnliche Interessen und konnten sich gut unterhalten, verstanden einander, ohne großartig etwas erklären zu müssen. Das hatte er in dieser Nacht sehr deutlich gemerkt. André hatte seine Grenzen gekannt, ohne danach fragen zu müssen, und Adam wusste, dass er vor ihm nichts ernsthaftes zu befürchten hatte. Ja, sie verstanden sich wirklich sehr gut.
 

Aber André war nicht Leon.
 

Und für diesen Gedanken konnte Adam sich fast hassen. Wieso war er nur so auf diesen exzentrischen Künstler fixiert? Klar, er war bei dem Treffen im Park sehr nett gewesen, aber er blieb trotzdem ein arroganter und egoistischer Bastard. Und trotzdem. Das Kribbeln, dass er bei Leon spürte, war nicht das Gleiche wie bei André, war nicht dieses erotische, aufgeregte. Es vermittelte Geborgenheit, Sehnsucht nach Nähe, nach Berührung, aber auf komplett andere Weise. Er konnte es nicht in Worte fassen, nicht benennen oder erklären. Er wusste nur, wie es war.
 

Er liebte Leon.
 

Er würde es immer tun, egal was geschehen würde. Egal, wie schmerzhaft es noch sein würde.
 

Und es würde keinen anderen außer ihm, außer diesem blonden Künstler geben. Keinen anderen.
 

Adam seufzte und hob sein Gesicht der Sonne entgegen, blinzelte ein wenig.
 

Gerade jetzt, in diesem Moment, hatte er eine unheimliche Sehnsucht nach diesem arroganten Bastard.



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