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Crystal Eyes

reloaded
von

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Mit einem Ruck klatsche Adam sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Er zuckte zusammen, doch diese Abkühlung war bitter nötig gewesen. Sich mit beiden Händen auf dem Becken abstützend, hielt er für einige Momente inne und betrachtete sich fast wütend im Spiegel. Seine tiefschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und tropften ein wenig, seine Wangen waren leicht gerötet, das strahlende und kristalline Blau seiner Augen wurde von einem sanften, dunklen Schimmer überlagert. Vorsichtig streckte er seine Finger aus und berührte sein Spiegelbild, fuhr die weichen Züge nach, den schmalen, blassroten Mund, strich zu seinem Hals nach unten, zu seinen Schlüsselbeinen.
 

Abrupt drehte er sich weg und atmete tief durch. Zum Glück kamen nicht sonderlich viele Leute in die Männertoiletten des Cafés, ansonsten hätte man ihn vielleicht noch für einen selbstverliebten Narzissten gehalten. Auch wenn er wusste, dass er attraktiv war, selbstverliebt oder narzisstisch konnte man ihn gewiss nicht nennen. Eher das Gegenteil.
 

Leicht auf die Unterlippe beißend, schlug er kurz mit der Faust gegen den Beckenrand. Sein ganzes Leben lang hatte es ihn nicht ein bisschen interessiert, ob er gut aussah, ob er begehrenswert war oder mit anderen mithalten oder sie gar ausstechen konnte. Sein ganzes, verdammtes Leben lang, genau siebzehn Jahre, elf Monate und Gott verdammte zwei Wochen. Und das hatte sich mit einem Schlag geändert. Er wollte der Beste, Schönste, Charmanteste sein, den die Welt je gesehen hat. Er wollte mit einem einzigen Lächeln Herzen höher schlagen lassen, durch Wortwitz und Intellekt bezaubern, von Wissen nur so strotzen. Und das nur wegen einer einzigen, dummen Erkenntnis. Fast schon amüsiert schüttelte er den Kopf.
 

Er hatte sich verliebt.
 

Unsterblich.
 

Hals über Kopf.
 

Bis über beide Ohren.
 

Er, der jahrelang nicht mal großartig Sympathie für andere empfunden hatte.
 

Dabei hatte er sich immer so lustig darüber gemacht, wenn er beobachtete, wie sich seine Klassenkameraden auf den Kopf gestellt hatten, um ihrem Schwarm nahe zu kommen. Wie sie wie verrückt herum gesimst hatten, sich extra für die Person ihres Herzens neue Hobbies zulegten oder eine komplette Stilumwandlung machten.
 

Und jetzt war er selber kurz davor.
 

Mit einer einzigen Ausnahme. Er war seinem „Schwarm“ schon nahe. Sehr nahe. Nur noch nicht nahe genug. Und am liebsten hätte er diese verteufelten Schmetterlinge in seinem Bauch umgebracht. Einen nach dem anderen gegen die Wand klatschen oder drauf rumtrampeln. Irgendwas. Hauptsache, sie hörten damit auf, seinen Bauch auf den Kopf zu stellen. Und den Rest seiner Welt auch.
 

Er atmete noch einmal tief durch und versuchte sich zu sammeln. Leon saß immer noch draußen, genoss seinen Tee und wartete darauf, dass er wiederkam. Wobei Adam grad eher die Lust verspürte, sich in sein Zimmer zurück zu ziehen und die nächsten paar Jahre dort nicht mehr raus zu kommen. Oder eine Weltreise zu machen. Oder einen Trip auf den Mond. Oder Leon einen Trip auf den Mond zu schenken. Ohne Rückreiseticket, versteht sich. Sollte er doch den Mondhasen bezirzen, wenn’s ihm Freude bereitete.
 

„Aaaaaaaaaaaaarg!“
 

Wieso hatte er sich eigentlich zu diesem Treffen bereit erklärt? Wäre er zu Hause geblieben, wären ihm einige unangenehme Erkenntnisse erspart geblieben. Zum Beispiel, dass er schwul war. Oder dass er Leon liebte. Wobei ihm zweiteres als ein bisschen schlimmer vorkam. Aber nur ein bisschen.
 

Er strich sich mit beiden Händen seine Haare zurück, drehte sich nochmal zum Spiegel um und betrachtete sich einige Momente lang. Und was nun? Leon durfte seine Gefühle nicht erfahren. Definitiv nicht. Das hatte das Gespräch, dass er belauscht hatte, deutlich gemacht. Deswegen war er schließlich auch so schnell zu den Toiletten geflüchtet, damit Leon nicht die Gelegenheit bekam, in seinen Augen seine Gedanken zu lesen. Er hatte beim besten Willen keine Lust, nur ein Püppchen, irgendein Spielzeug zu sein, das man wegwarf, wenn man es nicht mehr brauchte. Einziges Problem, Leon war nicht nur wahnsinnig von sich selbst überzeugt, sondern auch ungewöhnlich aufmerksam, was die Gefühle anderer Leute anging. Zumindest die, die ihn betrafen. Und Adam war nicht gerade der beste Schauspieler. Eigentlich, um genau zu sein, war er ein hundsmiserabler Schauspieler. Und lügen konnte er sowieso schon drei Mal nicht.
 

Toll.
 

Wirklich ganz, ganz toll.
 

Jahrelang hatte er sich für ein ausgefuchstes Bürschchen gehalten, das welterfahren, gewieft und gegen alles immun war. Nur um jetzt zu erkennen, dass er die personifizierte Naivität und Unschuld darstellte. Seine eigene, kleine Welt ging gerade fröhlich den Bach runter, ohne sich um seinen seelischen Zustand auch nur im Geringsten zu kümmern.
 

Mit einem genervten Knurren verließ er die Toiletten und stapfte zum Tisch und somit auch zum Mann seiner Träume zurück. Was brachte es bitte, sich über den ganzen Kram den Kopf zu zerbrechen? Er wollte bestimmt nicht mit viel Mühe einen Schlachtplan austüfteln, wie er sich vor Leon schützen konnte, der dann in die Hose gehen würde. Und so wie er sein Glück kannte, würde sowieso jeder noch so geniale Schlachtplan in die Hose gehen. Also ließ er es lieber gleich bleiben und die ganze Sache einfach mal auf sich zu kommen. Er musste nur stur bleiben. Einfach nur stur. Und zumindest das konnte er meistens recht gut. Und, um es mal positiv zu sehen, es konnte ja nur noch besser werden...
 

Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er Leon sah. Er sah umwerfend aus. Gut, er sah immer umwerfend aus, aber so, wie die letzten Sonnenstrahlen sein Profil umrissen, seine Haarsträhnen zum Glänzen brachten, wie er ein Bein überschlagen hatte, an seinem Tee nippte und dabei nachdenklich aus dem Fenster blickte, wirkte er einfach unwiderstehlich. Und Adam kam sich wie ein Idiot vor, während er ihn betrachtete. Oder eher wie ein kleines, verliebtes Schulmädchen mit rosaroter Brille und Lolli im Mund, das einem strahlenden Ritter auf dem weißen Schimmel begegnet war. Machte die Liebe das eigentlich mit jedem? Jetzt wusste er zumindest, wieso er jahrelang einen großen Bogen um sie gemacht hatte.
 

„Da bist du ja.“
 

Adam zuckte erschrocken zusammen, als Leon sich zu ihm drehte. Er hatte doch gar kein Geräusch gemacht, wie hatte er wissen können, dass er zurück war?
 

Er nickte nur knapp und setzte sich wieder auf seinen Platz. Den Blick nach draußen gerichtet, spürte er überdeutlich, wie Leon ihn abschätzend musterte.
 

„Was?“, blaffte er und warf Leon einen düsteren Blick zu.
 

„Macht es dir so viel aus?“
 

Ja, es macht mir mächtig was aus, dir dämlichen Trottel verfallen zu sein. Aber das sagte Adam nicht. Mal davon abgesehen, dass Leon das auch nicht gemeint hatte.
 

„Tut mir leid, aber ja, es ist nicht gerade so ein tolles Gefühl, wenn man plötzlich erfährt, dass man schwul ist, und dann von der ganzen Welt verachtet wird.“
 

In seiner Stimme schwang ein genervtes Knurren mit, aber Leon ließ sich davon nicht irritieren. Seine Augen verdunkelten sich nur ein wenig.
 

„Es ist ja nicht so, dass das eine Krankheit ist und du auf einmal die Diagnose eines Arztes erfahren hast.“ Er nippte an seinem Tee und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Treiben unter sich. „Du warst es schon immer und hast es nur nicht gemerkt. Mal davon abgesehen weiß ich wirklich nicht, wo dein Problem ist. Homosexualität ist nichts unnormales. Es ist nur eine gleichwertige Alternative zur Heterosexualität. Genieß es doch einfach zu lieben, statt dir irgendwelche künstlichen Probleme zu schaffen. Außerdem“, er hielt kurz inne, „außerdem hatte ich bis jetzt eigentlich nicht das Gefühl, dass du dir aus der Meinung anderer großartig etwas machst. Kann es dir nicht egal sein?“
 

Adam schluckte. Eigentlich hatte Leon ja auch recht. Aber eben auch nur eigentlich.
 

„Mich stört es aber.“ Er starrte in seine Tasse. Die heiße Schokolade war inzwischen nur noch lauwarm. „Schwule sind weibisch, tragen pink, arbeiten als Friseure und... und... und ficken sich gegenseitig in den Arsch.“ Er erschauderte kurz. „Das ist so... wäh...“
 

„Bist du wirklich so voll von Vorurteilen? Seltsam, ich hätte dich für toleranter gehalten. Anscheinend irr ich mich immer wieder bei dir.“
 

Es klang enttäuscht und verletzt. Adam sah überrascht hoch, doch in Leons Miene zeigte sich keines der Gefühle, das seine Stimme vermittelt hatte. Hatte er sich das nur eingebildet?
 

Etwas verwirrt senkte er wieder den Blick. Natürlich hatte er Recht. Es waren Vorurteile. Und er wusste, dass sie absolut nicht der Wahrheit entsprachen. Dazu musste er nur Muse anschauen. Oder sich selber. Trotzdem. Es fiel ihm schwer, diese Tatsache, schwul zu sein, einfach so zu akzeptieren als ob es absolute Normalität wäre.
 

„Ich brauch wohl nur ein bisschen Zeit, um das zu akzeptieren.“, meinte er fast ein wenig kleinlaut und mit einem hilflosen Schulterzucken. „Ich weiß ja, dass diese ganzen Klischees nicht der Wahrheit entsprechen, aber... ach, keine Ahnung. Ich brauch nur ein bisschen Zeit.“
 

Sie schwiegen einige Momente, während Adam weiterhin intensiv den Tisch musterte. Plötzlich spürte er Leons Hand auf seinem Kopf, wie er sanft durch sein Haar fuhr und ihn beruhigend streichelte. Adam senkte ein wenig die Augenlider, um dieses Gefühl zu genießen. Es überraschte ihn immer wieder, welche Wärme, welche Geborgenheit Leon manchmal ausstrahlen konnte. Wie auch jetzt.
 

„Mach dir nichts draus. Es wird schon werden.“
 

Seine warme Stimme verursachte einen angenehmen Schauder auf Adams Haut. Wie konnte jemand so arrogant sein und gleichzeitig so fürsorglich? Wieso konnte er nicht immer dieses warme Gefühl vermitteln?
 

Aber genau in diesem Moment, in dem er kurz die andere Seite von Leon sah, die liebevolle, zärtliche Seite, wusste Adam, wieso er sich in ihn verliebt hatte. Es war nicht nur dieser Charme, dieses unwiderstehliche Charisma. Es war auch diese Wärme, die immer wieder durchdrang. Wie zu dem Zeitpunkt, als Adam Fieber gehabt hatte und Leon sich um ihn kümmerte. Oder als er ihn urplötzlich abends besucht hatte und er ihn ohne eine Frage einfach aufnahm. Oder als er ihn heute, im Park, kommentarlos in den Arm genommen hatte. Diese Momente, das wusste er, waren selten, waren unheimlich kostbar, und deswegen bewahrte Adam sie tief in sich drinnen auf, wie einen wertvollen, unschätzbar wertvollen Schatz. Vielleicht der einzige Schatz, den er von Leon je bekommen würde.
 

Leon nahm seine Hand wieder weg, was Adam mit Bedauern registrierte, verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah Adam von unten an. Der Junge hob den Blick und musste unwillkürlich lächeln. Leon wirkte wie ein kleiner Dackel, der ein Leckerli haben wollte.
 

„Wollen wir noch was unternehmen?“ Leon lächelte ebenfalls, ganz leicht, ganz sanft.
 

„Und was?“ Er entspannte sich.
 

„Schlittschuhlaufen. Hier in der Nähe gibt es eine Eisbahn im Freien. Hast du Lust?“
 

„Schlittschuhlaufen?“ Adam zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr.“
 

„Na, dann wird’s Zeit.“
 

Ohne ein weiteres Wort stand Leon auf und ging an die Theke um zu zahlen, kam dann nach einigen Augenblicken beschwingt zurück und zog Adam auf die Beine, der immer noch ein wenig perplex an seinem Platz saß. Alles war wieder beim Alten. Leon nahm die Zügel in die Hand, ohne zu fragen. Doch diesmal störte Adam sich nicht daran.
 

Draußen war es kalt, eiskalt. Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor ihren Mündern und es schien, als ob es bald schneien würde. Es waren nicht mehr so viele Leute unterwegs, hauptsächlich noch Jugendliche und junge Erwachsene, die in Grüppchen zusammen standen oder irgendwohin gingen. Adam sah auf sein Handy. Sie waren über eine Stunde im Café gesessen, erstaunlich lange, wie er fand. Recht bald, und es würde komplett dunkel werden. Und kalt, sehr, sehr kalt.
 

Mit einem kurzen Frösteln zog er den Schal noch enger um sich und folgte Leon, der ohne große Umwege die erwähnte Eisbahn ansteuerte. Sie war nicht sonderlich weit entfernt, so dass Adam mal wieder höchst erstaunt darüber war, wie schlecht er sich doch in seiner eigenen Stadt, in der er seit seiner Geburt lebte, auskannte. Er sollte wirklich öfter rausgehen.
 

Das Eis schimmerte im letzten Schein der untergehenden Sonne orange und war in leichtes Dämmerlicht getaucht. Gerade als die zwei dort ankamen, wurden mehrere große Scheinwerfer angeschaltet, um für genügend Licht zu sorgen. Um die Bahn herum, die die Ausmaße einer kleinen Sporthalle hatte, befanden sich mehrere Buden, einerseits für den Eintritt und den Schlittschuhverleih, anderseits für das leibliche Wohl. Auf der Fläche selber hielten sich nicht sonderlich viele Leute auf. Die meisten standen an der Bande und schauten den wenigen Läufern zu oder saßen auf Bänken und unterhielten sich.
 

Adam blickte sich mit einem flauen Gefühl im Magen um. Für seinen Geschmack waren zu viele junge Leute hier, wodurch die Möglichkeit, jemanden zu treffen, den er aus der Schule kannte, sehr hoch war. Und das gefiel ihm so ganz und gar nicht. Doch Leon ließ ihm keine Wahl, sondern schleppte ihn zur Kasse und danach zum Schlittschuhverleih. Adam kam sich ein wenig wie ein Pudel vor, der von seinem Frauchen auf dem Arm herumgeschleppt wurde. Der hatte schließlich auch keine Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wohin er wollte.
 

Schweigend wechselten sie ihre Schuhe, doch während Leon dann ohne großen Aufhebens aufs Eis glitt und einige Meter fuhr, blieb Adam unsicher am Rand stehen und hielt sich an der Bande fest. Sein Blick folgte Leon, der aussah, als ob er auf dem Eis geboren wäre. Mit fließenden, leichten Bewegungen flog er über die Fläche. Er wirkte fast wie ein Lichtwesen, durch seine hellen Haare, die um ihn herum wehten, seinen champagnerfarbenen Halbmantel und der beigenen Hose. Tatsächlich fiel Adam erst jetzt auf, dass Leon heute sehr hell gekleidet war, obwohl er ihn an diesem Tag bereits öfter mal genauer gemustert hatte. Selbst die Handschuhe, die er jetzt trug, und der Schal waren weiß. Aber sein Augenmerk hatte ja auch immer auf seinem Gesicht, dem Ausdruck in seinen Augen und seinen Handlungen gelegen, nicht auf seiner Kleidung. Er seufzte. Leons nahezu makelloses Äußeres hatte nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt. Die meisten Leute hatten sich inzwischen der Beobachtung dieses unwiderstehlichen Mannes gewidmet, und vor allem der weibliche Anteil sah aus, als ob er sich sofort auf ihn stürzen wollen würde. Ein flaues Gefühl breitete sich in Adams Magen aus, ein Gemisch aus Eifersucht und Verlustangst. Wenn eine dieser Grazien Leon darum bitten würde, den Abend mit ihr zu verbringen, würde er es auch machen? Oder würde er bei seinem eigentlichen Date, dem absolut naiven und unschuldigen Schwulen, bleiben? Es war unwahrscheinlich, so verflucht unwahrscheinlich.
 

„Hey, bist du an der Bande festgeeist oder was?“ Leon kam neben ihm zu stehen und stupste ihn gegen die Stirn. „Rumstehen kannst du auch woanders.“
 

„Ich hab dir gesagt, dass ich schon Ewigkeiten nicht mehr gefahren bin.“, meinte Adam grimmig und sah die freie Eisfläche anklagend an. „Ich würd nur hinknallen, wenn ich da rausgehe.“
 

„Aha.“
 

Noch bevor Adam sich über diese lapidare Antwort wundern oder sonst irgendwie reagieren konnte, hatte Leon ihm mit der flachen Hand schon einen kräftigen Stoß in den Rücken gegeben.
 

„Waaaaaaaaaaaah!“
 

Adam schlitterte ziemlich ungraziös über das Eis, die Augen weit aufgerissen und wild mit den Armen fuchtelnd, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dieser Versuch scheiterte jedoch kläglich und einige Augenblicke später saß er bereits auf seinem Allerwertesten, während von hinten Leons schallendes Gelächter erklang.
 

„Du verdammter Mistkerl!“
 

Adam versuchte sich aufzurappeln, rutschte aber wieder aus und landete diesmal fast mit dem Gesicht auf dem Boden. Er hörte, wie Leon höchst schadenfroh Kreise um ihn drehte, ohne auch nur Anstalten zu machen, ihm zu helfen. Mit einen tiefen Knurren begab er sich in eine sitzende Position und warf dem Grund seiner jetzigen Situation wütende Blicke zu.
 

„Könntest du mir wenigstens aufhelfen, wenn du mich schon umschmeißt?“
 

„Ich hab dich nicht umgeschmissen, nur angestupst. Gefallen bist du selber.“ Leon schenkte ihm ein äußerst charmantes, süffisantes Lächeln.
 

„Ha, danke auch. Könntest du mir trotzdem helfen?“
 

„Nur, wenn du ‚bitte’ sagt.“
 

Adam schaute ihn mit einem Blick an, der selbst Superman getötet hätte, atmete dann aber nur einmal tief durch und versuchte sich an einem freundlichen Lächeln. Auch dieser Versuch scheiterte kläglich.
 

„Bitte.“
 

Mit einem zufriedenen Ausdruck in den Augen glitt Leon näher zu ihm ran, packte ihn an den Händen und zog ihn hoch. Er wartete, bis Adam halbwegs sicher auf den Kufen stand, und ließ ihn dann los.
 

„Siehst du, so schwer ist es doch gar nicht. Zumindest stehst du schon mal.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen.
 

„Ach, findest du?“
 

Leon hatte nicht mal Zeit, bei Adams Knurren überrascht zu schauen, da hatte sich dieser schon gegen ihn geschmissen. Mit einem Keuchen landete er auf seinem Rücken, während Adam halb auf ihm saß und ihn nach unten drückte.
 

„Siehst du.“ Sein Lächeln glich dem eines hungrigen Wolfes, der das schutzlose Lamm erblickt hatte. „Es ist doch schwerer als du denkst.“ Er beugte sich ein wenig vor. Seine Stimme war nur ein leises Raunen. „Rache ist süß.“
 

Sein Opfer sah ihn für einen Moment ungläubig an, lachte dann kurz auf und puffte ihn mit einem Grinsen gegen die Schulter.
 

„Schachmatt. Wir sind quitt, würd ich sagen.“ Leon drückte mit einem Zeigefinger gegen Adams Brust. „Aber du bist schwer. Würdest du bitte runter gehen?“
 

„Hey, ich bin nicht schwer.“, protestierte Adam, tat aber wie geheißen und stellte sich leicht wackelig auf die Beine.
 

Leon erhob sich weitaus eleganter und sicherer. Er klopfte kurz seine Klamotten ab und nahm dann Adams Hand.
 

„Komm, ich halt dich fest. Dann fällst du nicht so leicht.“ Mit einem Lächeln zog er eine Augenbraue hoch. „Du kannst richtig fies sein, weißt du das? Mein Rücken tut jetzt weh.“
 

„Dito. Selbst schuld, sag ich da nur.“
 

Adam streckte ihm kurz die Zunge raus und hielt sich dann mit beiden Händen an Leon fest. Er konnte ihm beim besten Willen nicht böse sein, denn er hätte an Leons Stelle wohl den gleichen Streich gespielt. Und außerdem... Leons Lachen war nicht bösartig gewesen. Im Gegenteil, es hatte sich absolut fröhlich und gelöst angehört. Wenn er es öfter hören könnte, er würde sich mit Freuden umschmeißen lassen.
 

Vorsichtig stieß sich Leon ab und zog Adam hinter sich her, der immer noch wackelig auf den Beinen stand.
 

„Du bist so elegant wie ein Nilpferd auf dem Eis.“ Leon musterte ihn mit einem schelmischen Grinsen, drehte sich um und fuhr rückwärts, immer wieder einen prüfenden Blick nach hinten werfend, während er Adam an beiden Händen hielt und mit sich zog.
 

„Ich glaub nicht, dass du schon mal ein Nilpferd auf dem Eis gesehen hast.“ Adam schaute kritisch auf seine Füße und wartete nur darauf, wieder den Boden zu küssen. „Und selbst wenn, ich habe nicht vor, elegant zu wirken. Mir reicht es vorerst, wenn ich nur auf den Füßen stehen bleib.“
 

„Na, das hoff ich doch mal. Denk dran, wenn du fällst, fall ich auch.“
 

Adam warf ihm einen frechen Blick zu. „Dann lohnt sich das Fallen wenigstens. Vielleicht sollte ich das absichtlich machen?“
 

„Danke auch, mir tut mein Rücken so schon genug weh. Also lass es bitte bleiben, ja?“
 

Der Junge lachte leise und löste seine Aufmerksamkeit für einige Momente von seinen Füßen, um Leon anzuschauen. Fast schlagartig trocknete seine Kehle aus und das Blut stieg ihm ins Gesicht, als ihm auffiel, dass sie auf andere wohl wie ein Liebespaar wirken mussten. Sich an den Händen haltend, einander gut gelaunt piesackend und fröhlich anstrahlend machte tatsächlich einen irritierenden Eindruck. Schmerzhaft irritierend. Sein Herz begann etwas schneller zu schlagen und es meldeten sich wieder diese nervtötenden Schmetterlinge in seinem Bauch. Konnte das nicht einfach Realität sein? Konnten sie nicht einfach wirklich ein Paar sein?
 

Mühsam schluckte er. Sollte er sich nicht mit dem begnügen, was er hatte? Er sah auf seine und Leons Hände. Dieser Friede, diese Ruhe zwischen ihnen war wirklich selten. Er dachte an den letzten Donnerstag, an den betrunkenen Leon, das Gespräch mit Sachiko, an seine letzten Worte. Er dachte an ihren ersten Kuss. An den Abend, als er plötzlich bei ihm vorbei gekommen war. Konnte es sein, dass sie tatsächlich auch ohne Streit auskommen konnten? War es möglich, dass sie vielleicht sogar zusammen passten? Dass sie vielleicht ein Paar werden konnten? Dass er für Leon vielleicht doch mehr als nur ein Modell, nur ein Objekt war? Oder waren das alles nur irgendwelche falschen Hoffnungen, Illusionen, die er sich auf Grund von schönen Momenten und zärtlichen Berührungen machte? Was war falsch, was richtig?
 

„Hey, Erde an Adam! Anwesend?“
 

Adam zuckte zusammen. Sein Gegenüber sah ihn ein wenig fragend an. Anscheinend hatte er gerade irgendetwas gesagt, was eine Reaktion verlangte.
 

„Sorry, was hast du gesagt?“ Adam zog die Augenbrauen zusammen. Er musste ja wirklich mächtig abgedriftet sein.
 

Leon lachte leise auf.
 

„Nicht so wichtig. Willst du eine Pause machen? Du siehst ein wenig fertig aus.“
 

Er nickte. „Jap, meine Beine tun schon ein bisschen weh. Ich muss mich wohl doch erst mal daran gewöhnen, Schlittschuhe zu tragen.“
 

„Du hast den ganzen Winter Zeit. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich es bei diesem einen Mal belasse, oder?“
 

Adam sah ihn ein wenig überrascht an, während er von Leon zur Bande gezogen wurde. „Hätte nicht gedacht, dass du so eine Leidenschaft für das Schlittschuhlaufen hegst.“
 

Der Künstler lächelte leicht. „Nicht für das Schlittschuhlaufen. Eher für dich.“ Er drehte sich um. „Ich dreh noch ein paar Runden.“
 

Ohne ein weiteres Wort glitt er davon, während Adam ihm sprachlos nachschaute. Wie konnte er so einen Satz hinschmeißen und ihn dann einfach allein lassen? Das war fies, verflucht fies!
 

Mit einem Seufzer lehnte er sich über die Bande und ließ die Arme baumeln. Seine Waden taten tatsächlich weh, morgen würde er vermutlich einen gehörigen Muskelkater haben. Aber es störte ihn nicht wirklich. Dafür war die Zeit mit Leon einfach zu schön.
 

Leicht gelangweilt sah er auf, um sich ein Bild darüber zu machen, wo Leon ihn eigentlich genau abgesetzt hatte, da stockte ihm der Atem. Es konnte doch nicht... hatte er sich geirrt? Nein. Genau vor ihm, nur wenige Meter entfernt, erkannte er einige Jungs und Mädchen aus seiner und Muse’ Klasse, mit denen er regelmäßig Sportunterricht hatte. Und so, wie sie alle in seine Richtung schauten, hatten sie ihn nicht nur erkannt, sondern vermutlich auch die ganze Zeit beobachtet. Und ihre Blicke ließen keinen Zweifel daran, wie sie sein Verhalten und Leons Anwesenheit deuteten.
 

Er schluckte schwer und wollte sich wegdrehen, doch da war einer von ihnen schon aufgesprungen und näher getreten, während einige der anderen ihm folgten. Adam kannte ihn nicht sehr gut, doch er ging in seine Klasse und war ein ziemlich eingebildetes Großmaul. Einer der Leitwölfe, sozusagen. Das konnte nur Ärger bedeuteten, mächtigen Ärger. Wieso musste das jetzt passieren?
 

„Na, wenn das nicht Adam Bacher ist. Kaum zu glauben, dass man dich auch in freier Wildbahn antrifft.“ Sein Kommentar wurde mit Lachen quittiert, doch Adam konnte beim besten Willen nichts amüsantes daran finden. Im Gegenteil, das unangenehme Gefühl in seinem Magen wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. „Kommst du öfter hierher?“
 

„Nein.“ Die Antwort war kurz und knapp, und der Ton zeigte deutlich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, doch es verfehlte seine Wirkung.
 

„Ach, tatsächlich? Wie schade.“ Die Ironie war kaum zu überhören. „Dabei hast du eine wirkliche Augenweide als Begleitung. Die Mädchen sind schon ganz aus dem Häuschen.“
 

„Ach, wie interessant.“ Er knurrte es mehr, denn das er es sagte. Pete. Der Kerl, mit dem er gerade sprach, hieß Pete. Kaum zu glauben, dass er seinen Namen wusste, wo er doch so gut wie keine Aufmerksamkeit seiner schulischen Umgebung schenkte.
 

„Jap, höchst interessant. Nur leider werden die wohl enttäuscht werden, die Mädels.“
 

Pete lehnte sich neben ihm auf die Bande und sah ihn von der Seite an. Inzwischen hatten sich auch die anderen zu ihnen gesellt und bildeten einen Halbkreis. Der einzige Grund, wieso Adam nicht sofort floh, war der, dass er noch auf dem Eis stand. Ansonsten hätte ihn nichts bei dieser erdrückenden Ansammlung von Menschen gehalten. Er kam sich vor wie ein Fuchs, der von den Jägern in eine Ecke gedrängt worden war. Eine höchst unangenehme Situation.
 

„Was genau willst du von mir, Pete?“, blaffte er bissig.
 

„Eigentlich nichts. Ich find es nur interessant, dass sich meine Vermutung endlich bestätigt hat.“
 

„Welche Vermutung?“ Er konnte es sich schon denken. Und er hatte Recht.
 

„Das du ne elende Schwuchtel bist.“ Pete spuckte das Wort förmlich aus. „Es ist ja schon sehr verdächtig gewesen, das du dich in letzter Zeit mit dieser schwulen Sau Muse abgibst, aber so, wie du mit dem Kerl da rumgeturtelt hast...“ Er sah ihn verächtlich an. „Sag, fickt er dich auch in den Arsch? So richtig? Wirst du geil davon, wenn du uns in den Duschen beobachtest? Holst du dir danach einen runter? Na, komm, sag schon, wie ist es, ein Schwanzlutscher zu sein?“
 

Die anderen lachten hämisch, doch bei Adam stellten sich nur die Nackenhaare vor Wut auf. Absolut wütend und gleichzeitig hilflos. Was sollte er sagen? Wie sollte er sich verteidigen? Er war schwul, es war eine Tatsache. Und egal was er sagte, Pete und die anderen würden doch nicht drauf hören oder von ihrer Meinung ablassen. Nur gingen ihm diese Beleidigungen mächtig gegen den Strich. Voller Zorn biss er sich auf die Unterlippe. Es war ja nicht so, dass das erste Mal auf ihm rumgehackt wurde. Allein schon dadurch, dass er ein Alleingänger war, war er prädestiniert dafür. Bis jetzt hatte er es immer ignorieren können, doch diesmal fühlte es sich nicht richtig an. Diesmal konnte, durfte er es nicht einfach ignorieren. Doch was zum Teufel sollte er sagen?
 

Plötzlich hörte er jemanden von hinten angefahren kommen und spürte einen Moment darauf einen warmen Körper an seinem Rücken. Leon legte seine Arme um Adams Schulter und sah ihn von der Seite an, ohne großartig auf die anderen zu achten.
 

„Was ist hier los, Adam? Wer sind die?“
 

Er wusste nicht, ob er froh über Leons Anwesenheit sein sollte, aber zumindest vermittelte es ihm ein wenig Sicherheit, ein wenig Halt. Auch wenn es trügerisch war.
 

„Nur ein paar Leute aus der Schule.“ Seine Stimme bebte ein wenig.
 

„Woho, da ist ja dein Stecher. Kann er mir meine Fragen vielleicht eher beantworten?“ Pete richtete sein Augenmerk auf Leon. „Na, komm, sag schon, wie ist es, den Kleinen zu ficken? Ist er schön eng? Stöhnt er schön? Ist es geil? Na los, erzähl uns, wie es ist, ne verfickte Schwuchtel zu sein.“
 

Adam warf einen Blick zu Leon, der schweigend die Leute musterte. Sein Gesicht war ausdruckslos, man konnte beim besten Willen nicht ablesen, was er dachte oder fühlte. Vielleicht war er solche Beleidigungen gewöhnt. Vielleicht störten sie ihn nicht. Oder er fand es unter seinem Niveau, darauf zu antworten.
 

Statt jedoch eine Antwort zu geben, drückte er Adam noch fester an sich und legte kurz seine Wange an seine Schläfe. Dann richtete er sein Augenmerk auf die Leute vor ihm.
 

„Tut mir leid, die Frage kann ich dir leider nicht beantworten.“ Leons Stimme befand sich eindeutig unter dem Gefrierpunkt. „Ich bin leider keine verfickte Schwuchtel und ich kenn auch keine, die ich fragen könnte. Aber wie wär’s, wenn du es selber mal ausprobierst, wenn es dich so brennend interessiert? Dann musst du andere nicht mit deinem dämlichen Fragen quälen.“ Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Vielleicht stellt sich ja einer deiner Freunde zur Verfügung. Die scheinen ja genauso interessiert daran zu sein wie du.“
 

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Adams Hand und zog ihn mit sich. Dieser strauchelte ein wenig durch die plötzliche Bewegung, wehrte sich aber nicht sonderlich.
 

„Ich will hier weg.“
 

Leon klang verstimmt. Wortlos steuerten sie den Ausgang an, zogen sich um und verließen die Eisbahn. Mit einem Mal war die Stimmung im Keller. Einfach so. Adam hätte Pete und die anderen dafür umbringen können. Genüsslich, langsam. Es hätte so ein perfekter Abend werden können. So absolut perfekt. Und dann das.
 

In einem Abstand von einigen Schritten trotte er hinter Leon her, bis sie von der Eisbahn nichts mehr sahen. Sie befanden sich auf einem ruhigen, verlassenen Weg, so dass sie kaum jemanden begegneten. Die Blätter raschelten und ab und zu schrie eine Krähe auf. Inzwischen war die Temperatur noch um einige Grade gesunken.
 

Adam schluckte. In seinem Inneren fühlte es sich ähnlich kalt an wie draußen. Er wurde das Gefühl nicht los, an dieser kurzen Auseinandersetzung und der damit einhergehenden schlechten Stimmung Schuld zu sein. Hätte er sich doch gleich entfernt, als er die Kerle entdeckt hatte. Hätte er sich doch kein Gespräch aufzwingen lassen. Hätte er doch selber etwas zu seiner Verteidigung gesagt. Mann, wie blöd war er eigentlich?
 

Plötzlich blieb Leon stehen und drehte sich zu ihm um. Er war immer noch wütend, dass sah man überdeutlich, doch er lächelte.
 

„Mach dir nichts draus. Solche Idioten gibt es immer wieder. Einige können es einfach nicht akzeptieren, wenn jemand anders ist als man selber.“
 

„Ja. Ich weiß.“ Adam starrte auf seine Schuhspitzen. Das machte es auch nicht wirklich besser. „Tut mir leid. Ich hätte... gar nicht mit ihnen reden sollen.“
 

„Es ist nicht deine Schuld, also vergiss es einfach. Ich nehm mal an, die haben dir dieses ‚Gespräch’ aufgezwungen, nicht wahr?“ Leon trat einen Schritt näher und strich mit dem Handrücken über seine Wange. „Wenn sie es nochmal versuchen, ignorier es einfach. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, ist Ignorieren immer noch das Beste.“
 

Adam nickte zögerlich, löste seinen Blick jedoch nicht vom Boden. Er fühlte sich schlecht, so hundsmiserabel schlecht. Und feige. Wie ein kleiner, ängstlicher Hase, der nicht den Mumm hatte, den Wölfen die Zähne zu zeigen.
 

Sein Begleiter seufzte leise. Mit einem undeutbaren Blick zog er ihn näher an sich und drückte seine Stirn gegen Adams.
 

„Du bist ausgekühlt.“ Langsam zog er seine Handschuhe aus und legte die warmen Handflächen auf Adams Wangen. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch krank und ich muss wieder Krankenschwester spielen. Glaubst du, ich hab Lust dazu?“
 

„Tut mir leid.“ Adam nahm Leons fürsorglichen, warmen Blick tief in sich auf und schloss dann selbst die Augen. „Tut mir leid.“
 

„Nicht nötig.“
 

Für einige unendliche Augenblicke verharrten sie so. Sie hörten zu Atmen auf, konzentrierten sich komplett auf die Wärme, auf das Gefühl des anderen. Dann, langsam, fast automatisch, hob Adam die Hände und legte sie auf Leons Hüfte, zog ihn näher an sich heran, spürte einige Momente später seine warmen Lippen auf den eigenen. Die Welt um sie herum hörte zu existieren auf. Die Bäume, die Kälte, die Krähen, die Nacht. Alles weg. Alles nicht mehr vorhanden. Nur noch sie beide. Allein sie beide.
 

Leon löste sich kurz von Adam und blickte ihn an. Ein undeutbarer Blick. Ein fragender Blick. Dann küsste er ihn noch mal. Gemächlich. Als ob er alle Zeit der Welt hatte. Langsam öffnete er seinen Mund und strich mit seiner Zungenspitze über Adams Lippen. Stupste sie an. Teilte sie behutsam und glitt über die Zähne. Ging tiefer, streichelte Adams Zunge. Abwartend, auffordernd.
 

Adam erzitterte kurz. Ein wenig hilflos krallte er seine Finger in Leons Mantel. Entspannte sich wieder. Genoss dieses neue, ungewöhnliche Gefühl. Vorsichtig bewegte er seine eigene Zunge, kam Leons entgegen, strich mit seiner über Leons Zungenspitze. Er beachtete nicht sein wild schlagendes Herz, seine zittrigen Hände. Es gab nur Leon. Einzig und allein Leon.
 

Nach einiger Zeit lösten sie sich voneinander. Adams Wangen hatten sich gerötet. Leon lächelte. Dann, etwas überrascht, schaute er nach oben. Sein Lächeln wurde breiter.
 

„Es schneit.“
 

Seine Stimme klang ruhig. Er löste seine Hände von Adams Wangen und überkreuzte sie hinter seinem Nacken bei den Handgelenken, während Adam seinen Blick ebenfalls zum Himmel richtete. Tatsächlich. Große, weiße Flocken schwebten leicht wie Federn zu Boden, begruben ihn unter einer dünnen, weißen Schicht und erzeugten eine Atmosphäre der Ruhe. Eine unschuldige, unbefleckte Ruhe.
 

Sie blieben einige Augenblicke so stehen, ohne sich vom Anblick der Schneeflocken zu lösen. Bis Leon sich schließlich wieder Adam widmete. Sein Gesicht wirkte ernst, doch in seinen Augen und den Winkeln seiner Lippen lag ein Lächeln. Adam erwiderte es, ein wenig unsicher, ein wenig nervös. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus und seine Kehle wurde wieder ungewöhnlich trocken. Aber es störte ihn nicht. Im Moment störte ihn gar nichts mehr.
 

Leon drückte ihm kurz einen Kuss auf die Lippen.
 

„Gehen wir.“
 

Adam nickte nur. Wortlos hakte er sich bei ihm unter und warf noch einen Blick auf die Umgebung. Die Bäume, die Wiesen, der Weg, alles wurde weißer und weißer, als ob jemand die Welt mit einem dünnen Tuch bedecken würde.
 

Der erste Schnee in diesem Winter.
 

Der schönste erste Schnee, den Adam jemals erlebt hatte.



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