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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Vermasselter Geburtstag

Im Mai wurde Jesse zweiundzwanzig. Ich war froh, dass Lydia es eine Woche vorher ansprach, denn Jesse hatte es mit keinem Wort erwähnt. Ich geriet ein wenig in Panik, weil ich nicht wusste, was ich ihm schenken sollte. Das war unsere erste gemeinsame Feier. Weihnachten, Silvester und den Valentinstag hatten wir noch als Singles verbracht.

„Wieso hast du nichts gesagt?“, fragte ich ihn ein wenig eingeschnappt. Er zuckte die Schultern.

„Ist doch keine große Sache. Und die Party war Lydias Idee. Sie besteht darauf.“ Er verdrehte die Augen. „Ich will auch keine Geschenke“, sagte er und sah mich beschwörend an. Lydia lachte nur im Hintergrund.

„Lea, hilfst du mir, die Party zu organisieren?“

Ich hatte zwar keine Ahnung davon, wollte aber helfen und nickte deshalb eifrig.

„Sehr gern.“

Jesse packte seine Lernsachen und stapfte die Treppe hinauf.

„Da ich hier sowieso nicht gefragt werde, verziehe ich mich jetzt.“

Wir sahen ihm nur grinsend hinterher, auch wenn sein Abgang mir ein Ziehen im Magen bereitete. Er lernte wirklich viel, seit er das Fernstudium begonnen hatte. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, hielten ihn die Bandproben oder die Arbeit auf Trab. Und falls er dann doch mal Zeit hatte, war meistens Kelly da. Ich wollte mich nicht beschweren, aber ein paar Stunden allein mit ihm waren momentan rar. Ihm schien das nicht besonders viel auszumachen. Anfangs hatte ich auch nicht geglaubt, dass es mich stören würde. Tat es aber. Ich war selbst Schuld, da ich mich weigerte, zu den Bandproben mitzugehen, weil ich Brandon boykottierte. Außerdem hatte ich mir eine Nachhilfelehrerin gesucht, damit Jesse sich auf seine Psychologiestudien konzentrieren konnte – und ich mich nicht mehr vor ihm blamierte. Am Anfang war er deshalb ziemlich eingeschnappt gewesen, aber er erkannte wohl selbst, dass er zu viel um die Ohren hatte. Er kündigte seinen Teilzeitjob im Plattenladen, dafür stand er häufiger hinterm Tresen in der Bar. Dort bezahlten sie besser. Und das Trinkgeld war beträchtlich. Bisher hatte ich es vermieden, ihn dort zu besuchen, weil ich nicht sehen wollte, wie er mit den weiblichen Gästen flirtete. Bei den Auftritten war das was anderes. Ich war immer dabei, und die Groupies bekamen bald mit, dass Jesse vergeben war. Außerdem hatte ich ihn da immer im Auge. Ich wollte wirklich keine krankhaft eifersüchtige Kuh sein, aber es fiel mir nicht leicht.
 

Am liebsten hätte ich Tammy gefragt, was man seinem Freund am besten schenkte, doch da sie noch immer mit ihrem Liebeskummer zu kämpfen hatte, verzichtete ich darauf. Stattdessen fragte ich Greg und Lydia, ob ihnen irgendetwas einfiel, das Jesse vielleicht in letzter Zeit erwähnt hatte. Doch so wie es aussah, hatten sie selbst Probleme, ein passendes Geschenk zu finden. Letztendlich ging ich zu Needle in die Tattoohell und besorgte einen Gutschein. Das war nicht besonders kreativ, aber lieber schenkte ich Jesse etwas Simples, das er gebrauchen konnte, anstatt irgendeinen Blödsinn zu kaufen. Und für kitschige Liebesgedichte und Herzchen waren weder er noch ich der Typ. Ich fragte mich, was er sich wohl stechen lassen würde. Die meisten seiner Tattoos hatten irgendeine Bedeutung. Der Spruch über Precious, der Anker, der Notenschlüssel, das aufgespießte Unendlichkeitszeichen. Nur sein erstes, das Zitat aus Der Herr der Ringe, war spontane Dummheit gewesen. Mir gefiel es trotzdem, mit den schnörkeligen, filigranen Buchstaben. Ich fragte mich, ob Jesse sich freuen würde, wenn ich mir eines stechen lassen würde. Doch wenn ich an unseren Besuch bei Needle zurückdachte, würde er mich eher umbringen. Needle erinnerte sich noch an mich, was ich äußerst schmeichelhaft fand und er versuchte erneut, mich für einen Nasenpiercing zu begeistern, doch er hatte kein Glück. Ich kaufte einen Gutschein für fünfzig Euro und war mir ziemlich unsicher, ob das zu viel oder zu wenig war. Vor allem, da Jesse mir ausdrücklich verboten hatte, ihm etwas zu schenken. Doch das ignorierte ich beflissentlich.

Lydia lud auch Jesses Mutter und Sam ein, worüber er sich unerwarteterweise nicht beschwerte. Ich hatte etwas Angst, weil sowohl Tammy als auch Brandon zugesagt hatten. Selbst Jen wollte kommen.

Es gab einiges, was mich an dem Abend nervös machte, doch als ich Kasper und Rob erspähte, erstarrte ich. Lydia kannte Kasper nicht, also musste Jesse ihn eingeladen haben. Wieso? Und Rob? Wir hatten uns seit dem Date nicht mehr gesehen. Wieso tauchte er gerade jetzt auf? Meine Hände wurden schwitzig, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab. Aber wenn ich daran dachte, wie eifersüchtig Jesse gewesen war, als ich Kasper umarmt hatte, wollte ich mir nicht ausmalen, wie er reagierte, wenn er herausfand, was damals wirklich in der Speisekammer vorgefallen war. Ich hatte ihm hundertmal beteuert, es sei nichts passiert. Nichts, was ich nicht selbst initiiert hätte. Aber das wusste Jesse nicht. Und ich hatte auch nicht vor, das zu ändern. Wahrscheinlich machte ich mir völlig umsonst Sorgen. Wieso sollte Rob den Kuss überhaupt ansprechen – oder das Date? Und selbst wenn, damals war ich noch nicht mit Jesse zusammen gewesen. Er hatte selbst gesagt, er würde sich für nichts entschuldigen, was vor unserer Beziehung passiert war. Also alles ganz easy.
 

Außerdem hatte ich gar keine Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, weil ich alle Hände voll damit zu tun hatte, Tammy davon abzuhalten, sich zu betrinken und Brandon eine Szene zu machen, Jen von Greg und Lydia fernzuhalten, Marissa aus dem Weg zu gehen und Kelly zu bespaßen. Am liebsten hätte ich mich in Jesses Zimmer vergraben und die Decke über den Kopf gezogen. So viele Menschen auf einmal, die mit mir reden wollten, Notiz von mir nahmen, war ich einfach nicht gewohnt. Ich war darum bemüht, mein Lächeln aufrechtzuerhalten, was mir immer schwerer fiel, und flüchtete regelmäßig in die Küche, um Getränke und Knabberzeug aufzufüllen.

„Na, Stress?“ Kasper tauchte plötzlich hinter mir auf und legte seine Hände auf meine Schultern und massierte meine verspannten Muskeln. Ich seufzte zufrieden und schloss für einen Moment die Augen, bis ich mich besann und daran dachte, wie Jesse gucken würde, wenn er uns so sah. Ich räusperte mich und als hätte Kasper meine Gedanken gelesen, ließ er von mir ab. Er lächelte sein bezauberndes Lächeln, dann griff er in seine hintere Hosentasche.

„Ich weiß, es ist eigentlich Jesses Geburtstag, aber ich habe trotzdem was für dich.“ Er holte einen Briefumschlag hervor, was mir sofort ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Von Natalie?“, fragte ich überflüssigerweise. Natürlich war er von seiner Schwester. Kaspers Grinsen wurde noch breiter. Am liebsten wollte ich das Papier sofort aufreißen und die Zeilen in mich aufsaugen. Aber der Umschlag fühlte sich dicker an als letztes Mal. Sie hatte mehr geschrieben. Ich wollte nicht unhöflich sein und Jesse und seine Familie und Freunde vernachlässigen.
 

„Ich lese ihn später“, sagte ich, woraufhin Kasper den Kopf schief legte.

„Alles in Ordnung. Ich will ihn nur in Ruhe lesen“, erklärte ich ihm.

„Hey, Lea. Da bist du.“ Oh nein. Rob. Ich war ihm bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen.

„Kann ich mir und den Jungs ein Bier holen?“, fragte er, während er bereits die Speisekammer betrat.

„Klar“, erwiderte ich, bewegte mich aber nicht vom Fleck, um ihm zu helfen, wie ich das normalerweise getan hätte. Ich war nicht gerade scharf darauf, nochmal mit Rob in der Speisekammer zu stehen.

„Das weckt Erinnerungen, was?“, meinte Rob grinsend und kam mit vier Flaschen in den Händen zurück. Ich versuchte mich an einem Lachen, doch es blieb mir im Hals stecken.

„Was für Erinnerungen?“ Ich drehte mich in Zeitlupe um und hoffte, ich hätte mir Jesses Stimme vielleicht nur eingebildet. Doch er lehnte wahrhaftig an der Küchentheke und sah zwischen den Jungs und mir hin und her. Mein Mund wurde trocken und ich versuchte, Rob stumm zu verstehen zu geben, dass er die Klappe halten sollte. Er verstand mich nicht.

„Wie Lea über mich hergefallen ist. Das war echt süß. Sie war so betrunken.“

Kasper schüttelte den Kopf, doch Rob sah es zu spät. Er runzelte die Stirn, als ich den Kopf hängen ließ und hörbar ausatmete.

„Was denn?“ Rob hatte wohl echt keine Ahnung. Er wusste nicht, dass Jesse und ich zusammen waren. Oder er war ein Arschloch und ein guter Schauspieler.

„Über dich hergefallen?“, fragte Jesse. Er klang völlig ruhig und gelassen. Das gefiel mir nicht.

„Wer weiß, wo wir gelandet wären, wenn ich dich nicht gebremst hätte.“

Er zwinkerte mir zu.

„Rob“, sagte ich beschwörend und hoffte, er würde endlich aufhören. Wenn er anfing, Details auszupacken, müsste ich ihn wohl oder übel umbringen. Ich fragte mich kurz, ob er vielleicht doch absichtlich den Kuss erwähnt hatte. Was, wenn er von Jesse und mir wusste, eifersüchtig war, und versuchte, mir eins auszuwischen. Ich hasste mich für diese Gedanken, aber sobald jemand meine und Jesses kleine Welt zu zerstören drohte, sah ich rot. Rob hatte das nicht verdient. Schon den ganzen Abend ging ich ihm aus dem Weg, mied eine Konversation, wo es nur ging. Er wollte bestimmt nur lustig sein. Vielleicht war er längst über mich hinweg, versuchte ich mir einzureden, während die Blicke, die er mir zuwarf, etwas ganz anderes sagten.

„Tatsächlich?“ Jesses Blick ruhte auf mir. „Ist ja interessant“, sagte er trocken.

„Rob. Komm, wir bringen den Jungs das Bier“, schaltete Kasper sich ein und schob den etwas verwirrten Rob vor sich her.

„Hab' ich was Falsches gesagt?“, hörte ich ihn noch sagen, bevor sie verschwanden. Dann waren es nur noch Jesse und ich. Meine Fingernägel krallten sich in Natalies Umschlag.

„Noch ein Brief?“, fragte Jesse mit Blick auf das Papier. Ich nickte nur, weil ich meiner Stimme nicht traute und schluckte schwer, während ich auf den Ausbruch wartete. Einige Sekunden, in denen ich es nicht wagte, ihm in die Augen zu sehen, herrschte bedrückendes Schweigen.

„Also... du und Rob.“ Es klang eher nach einer Feststellung, als einer Frage.

„Es war nur ein Kuss. Es hatte nichts zu bedeuten. Ich war völlig betrunken.“

Jesse verzog das Gesicht.

„Ja, daran erinnere ich mich.“ Ich wollte ihn nicht so sehen, so distanziert. Es fühlte sich an, als würde sich eine Schlucht zwischen uns auftun und den Abstand zwischen uns stetig vergrößern.

„Es war bedeutungslos. Und es war auch nicht so wild, wie sich das bei Rob angehört hat, ich schwör's. Es war nur ganz kurz.“

Ehrlich gesagt konnte ich das nicht so genau beurteilen. Der Alkohol hatte mir damals jegliches Zeitgefühl geraubt. Jesse schüttelte den Kopf.

„Und ich habe mir Sorgen gemacht, dass er dich bedrängt hat.“

Mein schlechtes Gewissen wuchs.

„Ich habe dir doch gesagt, er hat nichts gemacht“, erwiderte ich kleinlaut. Jesse verengte die Augen zu Schlitzen.

„Du hast Recht. Nächstes Mal sollte ich mich vielleicht lieber um Rob kümmern und ihn fragen, ob ihm jemand auf die Pelle gerückt ist.“

Sein Kommentar hinterließ mich sprachlos. Bisher hatte ich nur Schuldgefühle, doch diese schlugen nun in Ärger um.

„Entschuldige mal. Wir waren damals nicht zusammen. Also ist doch nichts dabei.“ Dass ich schon damals unsterblich in Jesse verliebt gewesen war, behielt ich für mich.

„Und mit wem hast du sonst noch was gehabt, wenn du betrunken warst?“

Ich schielte Richtung Flur, ob uns jemand hörte, weil Jesse nicht gerade leise sprach.

„Mit niemandem! Für wen hältst du mich denn? Außerdem ist das unwichtig. Das war vor uns.“

Jesse zuckte die Schultern.

„Vielleicht macht es mir aber trotzdem was aus.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ach ja? Darf ich dich an dein kleines Stelldichein im Garten erinnern - mit dieser... Amy?“

„Amanda“, verbesserte mich Jesse, was mir einen Stich versetzte.

„Ist mir egal, wie sie heißt. Tatsache ist, dass du sie in der Nacht beinahe aufgefressen hättest.“

Jesse sah mich verwirrt an.

„Was hat das denn jetzt damit zu tun? Das ist eine uralte Geschichte.“ Ich nickte.

„Ja, genau. Ist es bei mir und Rob auch. Außerdem hätte ich mich doch nie an ihn rangeschmissen, wenn du nicht...“ Ich verstummte.

„Wenn was?“

Ich stieß wütend Luft aus.

„Ich war eifersüchtig, okay!? Deshalb habe ich mir ja überhaupt den ganzen Alkohol reingekippt. Und wäre ich nicht so betrunken gewesen, wäre das mit Rob gar nicht passiert.“

Jesses Gereiztheit schlug in Neugier um.

„Auf wen warst du eifersüchtig?“, wollte er wissen. Ich biss mir auf die Lippe. Das war so verdammt peinlich. Ich konnte ihm doch nicht erzählen, dass ich auf seine Schwester eifersüchtig war. Wenn er ihr das weitererzählte, könnte ich ihr nie wieder unter die Augen treten, ohne rot anzulaufen.

„Betty“, presste ich leise hervor und spürte, wie meine Ohren begannen, zu glühen. Ich konnte das Fragezeichen vor Jesses Nase förmlich sehen.

„Betty?“ Ich zuckte verlegen die Schultern.

„Damals wusste ich ja noch nicht, dass sie deine Schwester ist“, sagte ich kleinlaut. Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken. Doch als Jesse nun lauthals zu lachen begann, war mir das tausendmal lieber, als wenn wir weiter stritten. Ich schlug ihn leicht, aber er hörte nicht auf und legte die Hand auf die Brust, um sich wieder zu beruhigen.

„Haha“, sagte ich und zog einen Schmollmund. Jesse zog mich an sich und hielt meinen Blick fest.

„Also warst du damals schon scharf auf mich“, meinte er und zog eine Augenbraue hoch. Ich wand mich ein wenig. Jetzt war es sowieso zu spät, es noch zu leugnen.

„Ein bisschen vielleicht“, flüsterte ich verlegen. Jesse küsste meine Stirn und meine Nase.

„Hätte ich das bloß gewusst. Wieso hast du nichts gesagt?“ Sollte ich ihm verraten, dass ich niemals vorgehabt hatte, ihm meine Gefühle zu offenbaren? Wenn er nicht die Initiative ergriffen hätte, würde ich mich noch immer in meinem Schneckenhaus verkriechen. Ich zuckte nur die Schultern, statt eine Antwort zu geben, und legte meinen Kopf an seine Halsbeuge.

„Na gut. Aber versprichst du mir, das nächste Mal gleich Bescheid zu geben, wenn du eifersüchtig bist, anstatt irgendwem um den Hals zu fallen?“, sagte er mit einem Lächeln. Ich war wirklich froh, dass die Sache mit Rob keinen ernsthaften Streit verursacht hatte, doch Jesses Worte hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Warum sollte ich Grund haben, eifersüchtig zu sein? Ich merkte, wie mir meine Gesichtszüge kurz entglitten und versuchte, das durch einen lockeren Kommentar wettzumachen.

„Wieso? Hast du noch mehr Schwestern, von denen ich nichts weiß?“

Jesse schüttelte den Kopf und versiegelte meine Lippen mit einem Kuss, bevor ich noch etwas sagen konnte.
 

„Daddy!“ Wie immer kam Kelly genau im richtigen Augenblick. Ich seufzte und Jesse rollte kurz mit den Augen, dann setzte er ein strahlendes Lächeln auf und nahm seine Tochter auf den Arm.

„Na, wen haben wir denn da!“ Er kitzelte sie im Nacken, was ihr wie immer ein Lachen entlockte.

„Ich hab' dir ein Bild gemalt“, verkündete sie stolz und fuhr mit ihren kleinen Händen über seine Wangen. Das machte sie in letzter Zeit häufiger. Wahrscheinlich, weil Jesse das mit dem Rasieren momentan nicht so genau nahm und die kleinen Stoppel auf seiner Haut zu spüren waren.

„Noch ein Bild. Ich bin wohl ein Glückspilz.“ Es war mindestens das dritte, das sie ihm heute gemalt hatte. Ich holte Gemüse und Schneidebrett hervor, um das Abendessen vorzubereiten, während Kelly versuchte, ihren Vater zu kitzeln. Nur leider war Jesse nicht kitzelig. Nirgends. Ich hatte es selbst an sämtlichen Stellen versucht. Am ehesten erhielt ich eine Reaktion, wenn ich über seine linke Kniekehle fuhr.

„Willst du es mir zeigen?“ Precious schüttelte den Kopf.

„Nein, ich will Lea zuschauen.“ Wie alle kleinen Kinder änderte sie schnell ihre Meinung und ließ sich leicht ablenken.

„Oh. Okay. Du kannst mir sogar helfen, wenn du willst. Die Paprika und die Gurken müssen gewaschen werden. Möchtest du das für mich übernehmen?“ Ich hatte schnell gelernt, Kelly kleine Aufgaben zu übertragen. So war sie beschäftigt und fühlte sich wie eine von den Großen. Sie nickte heftig. Jesse stellte den kleinen Schemel, den er extra für sie besorgt hatte, vor die Küchentheke, sodass sie groß genug war, um an den Wasserhahn zu kommen. Eine zeitlang sah er ihr dabei zu, wie sie wusch, und mir, wie ich alles kleinschnitt. Ich wäre jetzt wirklich gerne mit ihm allein gewesen. Und ich hätte liebend gern den Brief gelesen.

„Das Bild. Du musst dir mein Bild ansehen“, befahl der kleine Blondschopf wie aus heiterem Himmel, als wäre es ihr gerade wieder eingefallen. Dieses Mal gab sich Jesse nicht die Mühe, das Augenrollen vor ihr zu verbergen.

„Schon gut, Picasso. Bin gleich wieder da“, sagte er an mich gewandt und ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ich wollte, dass er glücklich war. Es war schließlich sein Geburtstag. Auch alle anderen schienen sich anzustrengen, denn bisher hatte es keine Streitereien gegeben.

„Gibt es keine Tomaten?“ Kelly liebte Tomaten.

„Doch, bestimmt.“ Ich sah im Kühlschrank nach, doch von dem roten Gemüse keine Spur. Wahrscheinlich in der Speisekammer. Ich durchforstete die Regale, und wie sollte es auch anders sein, lagen sie ganz oben. Dort, wo ich nicht hinkam. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, blieb aber erfolglos. Leise fluchend zog ich eine Bierkiste heran, um darauf steigen zu können. Ich konnte die Speisekammer nicht mehr leiden, seit das mit Rob passiert war, und noch weniger, seit Jesse es vorhin herausgefunden hatte.
 

Ein Schrei ließ mich zusammenfahren. Beinahe wäre ich von der Kiste gestürzt, konnte mich aber gerade noch am Regal festhalten.

„Kelly!“ War sie den Schemel hinuntergefallen? Hatte sie das Wasser zu heiß aufgedreht? Schnell rannte ich die wenigen Schritte aus der Speisekammer zurück in die Küche. Jesses Tochter saß auf der Theke und hielt sich die Hand. Die blutende Hand. Oh nein!

„Kelly, Süße. Zeig her.“ Ich sah das Messer, das nicht mehr an der Stelle lag, an der ich es abgelegt hatte. Und ich sah, dass an der Spitze frisches Blut klebte. „Ich muss mir das ansehen.“ Doch sie schüttelte den Kopf und weinte. Kein Show-Weinen, wie Kleinkinder es gerne taten. Sie hatte Schmerzen. Ihr Schrei hatte auch Jesse zurück in die Küche gelockt.

„Was ist passiert?“ Kelly streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Dabei tropfte Blut auf die Ablage. Mir wurde schlecht. Nicht wegen des Blutes, sondern weil es meine Schuld war.

„Daddy.“ Schluchzend ließ sie Jesse die Wunde sehen. Ich trat neben ihn und sah den tiefen Schnitt in ihrem linken Zeigefinger.

„Jesse. Es tut mir so Leid. Ich wollte nur-“

Sein Blick brachte mich zum Schweigen.

„Wie konnte das nur passieren?“ Er war wütend. Stinkwütend.

„Ich wollte nur kurz was aus der Speisekammer holen. Ich war nicht lange weg. Ich wollte doch nicht, dass sie sich verletzt.“ Ich war den Tränen nahe.

„Du hättest auf sie aufpassen müssen. Weißt du, was alles hätte passieren können?“ Ich schluckte bei der Vorstellung und wegen seines harten Tonfalls. Er wandte sich von mir ab.

„Ist gut, Schätzchen. Wir bringen das gleich in Ordnung.“

„Es muss bestimmt genäht werden.“ Er reagierte nicht auf meine Worte, riss nur zwei Blätter Küchenpapier ab, das ich ihm hinhielt, und presste es auf die Wunde. Dass wir inzwischen Zuschauer hatten, fiel mir erst auf, als Jesse Greg bat, ihn mit Kelly ins Krankenhaus zu fahren.

„Kann ich mitkommen?“, fragte ich über Kellys laute Schluchzer hinweg. Meine Schuldgefühle waren so groß, und doch waren sie nicht so stark wie die Angst, Jesse würde nie wieder mit mir reden. „Jesse, lass mich bitte mitkommen.“ Mein Flehen blieb unerhört. Er gab mir keine Antwort.

„Ich fahre mit und melde mich gleich.“ Lydia schnappte sich ihre Tasche, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und lief den Männern hinterher. Betty legte einen Arm um mich und ich starrte der Liebe meines Lebens hinterher, die zusammen mit Greg, Lydia und Kelly das Haus verließ. Es war totenstill. Keiner sagte etwas. Mit der Party war es jetzt vorbei.
 

Liebe Lea,

ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, den Brief von dir zu erhalten. Danke, dass du mir geantwortet hast. Und ich danke dir, dass du so ehrlich zu mir warst. Es bestürzt mich, der Auslöser für deine Schwierigkeiten gewesen zu sein. Das werde ich nie wieder gutmachen können. Es tut mir sehr Leid! Aber ich verspreche dir, mich zu bemühen, dir in Zukunft eine bessere Freundin zu sein. Ich bin immer für dich da, auch wenn ich momentan sehr weit weg bin.
 

Seufzend legte ich den Brief weg. Natalies Worte konnten mich nicht ablenken. Am liebsten hätte ich sie sofort angerufen und ihr erzählt, was gerade passiert war. Wie hatte ich nur so leichtsinnig, so dumm sein können? Jesse hatte Recht, es hätte sonst was passieren können. Ich hätte Kelly niemals alleine in der Küche lassen dürfen. Oder ich hätte zumindest das Messer weglegen müssen. Eigentlich hatte ich gedacht, es außer Reichweite abgelegt zu haben, aber ich konnte schließlich nicht ahnen, dass die Kleine auf die Ablage klettern und fröhlich weiterschnibbeln würde. Aber ihr konnte ich die Schuld nicht geben, wollte ich auch gar nicht. Kelly war ein kleines Kind. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, sich mit dem großen scharfen Messer verletzen zu können. Bestimmt hatte sie mir nur helfen wollen. Und ich ließ sie dafür allein und brachte sie damit in Gefahr. Ich stand kurz davor, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Verdient hätte ich es. Normalerweise verletzte ich mich nicht selbst zur Strafe, aber die andere Option, meine Wut auf mich loszuwerden, war, all meinen Frust herauszuschreien und das Zimmer zu verwüsten. Da ich mich in Jesses Zimmer verbarrikadiert hatte, war das keine besonders gute Idee. Kindisch, wie ich war, hatte ich hinter mir abgeschlossen. Helen, Kasper und meine Schwester hatten erfolglos versucht, mich herauszulocken. Aber ich wollte jetzt niemanden sehen. Ich wollte mich nicht rechtfertigen müssen. Ich wollte die anklagenden Blicke nicht sehen, oder das Mitleid.
 

Vielleicht hatte meine Mutter Recht. Womöglich konnte ich tatsächlich nicht mit Kindern umgehen, egal wie viel Mühe ich mir gab. Im Spielen mit Kelly schlug ich mich zwar ganz gut, aber erzieherische Maßnahmen hatte ich bisher noch nicht bei ihr angewandt. Ich wollte mich nicht einmischen. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie Jesse dazu stehen würde, wenn ich Eleonores Tochter etwas vorschreiben wollte. Und das war ja das Problem: Ich wollte ihr nicht sagen, was sie durfte und was nicht. Ich mochte sie sehr, hatte sie gern um mich, aber als einen Mutterersatz sah ich mich einfach nicht. Weder jetzt, noch irgendwann. Was erwartete Jesse von mir? Wollte er, dass ich irgendwie Eleonores Platz einnahm? Bei dem Gedanken, Kelly könnte „Mom“ zu mir sagen, wurde mir fast schlecht. Ich war einfach keine Mutter. Ich hatte ja gerade mal gelernt, für mich selbst verantwortlich zu sein. Mehr ging nicht. Aber was, wenn Jesse genau so jemanden brauchte? Jemand, der ihm die Last des Eltern-Seins von der Schulter nehmen konnte. Jemand, der eine Mutter sein wollte. Jemand, der Freundin und zugleich Aufpasserin war. Ich war einfach nicht die Richtige für ihn. Nicht unter diesen Umständen. Vielleicht, wenn er ein normaler junger Mann wäre. Normal. Wie ich dieses Wort hasste. Und jetzt wand ich es selbst an, um ihm einen Stempel aufzudrücken. Was war denn bitteschön normal und was unnormal? Ich war eindeutig unnormal, Jesses Situation war unnormal, unsere Beziehung war unnormal. Aber das hieß nicht gleichzeitig, dass es schlecht war.

Frustriert faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn zurück in seinen Umschlag. Ich hatte gehofft, die Zeilen könnten mich beruhigen, mir ein besseres Gefühl geben, aber mein Kopf spielte einfach nicht mit. Ich war vollkommen durch den Wind. Dieser Zwischenfall ließ mich alles in Frage stellen.
 

Das Klopfen weckte mich aus meiner Trance.

„Lea?“ Es war Betty. Ich mochte Jesses Schwester, aber ich wollte momentan niemanden sehen. „Lydia hat gerade angerufen.“

Noch während ihrer Worte stürmte ich durchs Zimmer und schloss schnell auf.

„Wie geht es Kelly?“

Betty erschrak beim plötzlichen Aufreißen der Tür.

„Es ist nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hat. Sie musste nicht mal genäht werden. Sie hat nur einen Druckverband bekommen, um die Blutung zu stillen.“

Erleichtert seufzte ich auf. Wenn sie sie hätten nähen müssen, oder eine Sehne beschädigt worden wäre...

„Gott sei Dank.“

Betty lächelte mich aufmunternd an.

„Möchtest du nicht mit runter kommen? Die anderen sind schon gegangen. Nur Helen und Pete sind noch da.“

Ich schämte mich, ihnen wieder unter die Augen zu treten, nachdem ich mich in Jesses Zimmer eingeschlossen hatte. Warum war ich immer so impulsiv? Ich fühlte mich beinahe so wie damals, als ich abgehauen war, nachdem mir Jesse Kelly vorgestellt hatte. Wiederwillig nickte ich und folgte ihr nach unten ins Wohnzimmer.

„Du stehst wohl auf 'nen großen Abgang, was?“ Ich wusste, Pete wollte nur die Stimmung auflockern, doch er erreichte mit diesem Kommentar genau das Gegenteil. Ich wurde noch nervöser.

„In einer Viertelstunde sollten sie spätestens zurück sein“, versuchte Betty, das Thema zu wechseln.

„Hat jemand Hunger? Ich mache mal was zu essen.“ Ich musste meine Nerven in den Griff kriegen. Und ich wollte allein sein. Den ganzen Tag hatte ich so viele Menschen um mich gehabt.

Jemand hatte das Gemüse und alles andere aufgeräumt. Ich starrte nur auf die Anrichte, auf die vorhin Kellys Blut getropft war. Ich bekam das Bild nicht aus dem Kopf. Und Jesses Gesichtsausdruck auch nicht. Der Vorwurf, der in seinen Augen lag. Würde er mich immer noch ignorieren, wenn sie zurückkamen? Würde er mich überhaupt noch sehen wollen? Fieberhaft dachte ich darüber nach, wie ich meinen Fehler wiedergutmachen konnte, doch es war sinnlos. Mein Fehlverhalten war unverzeihlich.
 

Leise zog ich meine Schuhe an, schnappte mir meine Jacke und die Tasche und öffnete die Haustür. Doch dann hielt ich inne. Ich konnte nicht schon wieder davonlaufen, feige sein. Zwar hatte ich Angst, Jesse würde mich weiterhin ignorieren, oder noch schlimmer, mich sogar fortschicken, aber ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Kelly wohlauf war. Ich ließ meine Tasche fallen und hockte mich auf die kalten Steinstufen, die zum Hauseingang führten. Meine Augen schweiften die Straße entlang, hielten Ausschau nach Gregs Wagen. Was, wenn Kelly mich jetzt nicht mehr leiden konnte, wenn auch sie mir die Schuld an den Ereignissen gab?

Helen bemerkte ich erst, als sie sich neben mich setzte und die Arme auf den Knien verschränkte.

„Ziemlich frisch hier draußen“, sagte sie und behielt ebenfalls die Auffahrt im Auge. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Warum seid ihr nicht mit ins Krankenhaus gefahren?“, wollte ich wissen und legte die Stirn in Falten. Eigentlich waren es doch Helen und Pete, die täglich über Kelly wachten, bei denen sie lebte, die soetwas wie ihre Eltern waren. Eleonores Mutter sah mich nun direkt an und lächelte gutherzig. Dieses Wort gefiel mir eigentlich nicht, aber es beschrieb Helen doch genau: Sie hatte ein durch und durch gutes Herz.

„Jesse schafft das schon allein. Und so schlimm sah der Schnitt nun doch nicht aus.“ Sie machte eine kurze Pause, so als überlegte sie sorgfältig, ob sie die nächsten Worte tatsächlich aussprechen sollte.

„Ich mache mir eher Sorgen um dich.“

Erstaunt sah ich sie an.

„Um mich? Wieso?“ Ich fragte mich, ob Helen meine blanken Nerven erahnen konnte. Wahrscheinlich waren meine übereilte Flucht und das darauffolgende Eingesperrtsein in Jesses Zimmer genügend Hinweise, um zu kombinieren, dass ich ziemlich durch den Wind war. Ich seufzte.

„Es war nicht deine Schuld“, sagte Helen und sah mich dabei aufmerksam an. Mein Blick wanderte zu Boden.

„Doch, war es.“ Es war ja nett, dass sie mich trösten wollte, aber dieses Mal konnte man wirklich niemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben. Ich hatte meine Aufsichtspflicht verletzt. Dazu musste ich nun stehen. Doch sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Es war nicht deine Schuld.“

Ich zuckte nur mit den Schultern, um ihr nicht erneut zu widersprechen.

„Was, wenn Jesse mir nicht verzeiht?“

Helen legte einen Arm um mich.

„Jesse hat nur einen unglaublichen Schreck bekommen. Wenn er mitkriegen würde, wie oft Kelly bei uns auf die Nase fällt oder gegen irgendetwas läuft, würde er die Krise kriegen.“ Helen lachte leise. Ich bewunderte diese Frau. „Sein Beschützerinstinkt ist eben sehr ausgeprägt.“

Ich wusste genau, was sie damit meinte.

„Er will nicht noch jemanden verlieren.“

Helen nickte.

„Leider übertreibt er es damit manchmal ein bisschen. Auch wenn er sonst ein ziemlich cooler Dad ist.“ Jetzt lachten wir beide.

„Er will auch dich nicht verlieren, Lea.“ Ich musste mich beherrschen, damit ich nicht anfing, zu heulen.

„Hoffentlich.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Ich hatte noch nie richtig mit Jesse gestritten. Mir wäre auch kein Grund eingefallen. Aber jetzt kannte ich ihn. Das Einzige, was ihm wirklich heilig war. Seine Tochter.

Für einen Moment wünschte ich mir den alten Jesse zurück. Den Jesse, über den ich kaum etwas wusste, der zynische Kommentare abgab und der mich herausforderte, mich mehr zu mir selbst machte, mich aus meinem sicheren Kokon lockte. Aber jetzt war ich draußen, ungeschützt und verletzbar. Sollte der Erste, der einen Riss in mein verwundbares Fleisch schnitt, derselbe sein, der mich ins Leben zurückgeholt hatte?

Ich schämte mich für meine eigenen Gedanken. Ich wollte Jesse genau so, wie er war, mit allem, was dazugehörte. Und ich würde nie genug über ihn erfahren können, ich würde immer noch mehr wissen wollen. Ich wollte Teil an seinem Leben haben. Ich wollte ein Teil seines Lebens sein.
 

„Nimm es nicht zu ernst, wenn er sauer ist. Er muss sich erst wieder einkriegen“, riet mir Helen, als Gregs Auto in Sichtweite kam. Mein Herz begann, heftiger zu schlagen. Doch es war anders als sonst. Es war keine freudige Erwartung, wie gewöhnlich. Vielmehr wünschte ich mir, Greg würde langsamer fahren, damit das Auto nicht so bald bei uns ankam. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten, was ich sagen sollte. Zum ersten Mal hatte ich Angst davor, Jesse zu sehen - wie er mich ansehen würde, wenn er mich überhaupt eines Blickes würdigte. Ich konnte mich nicht entscheiden, was schlimmer war: Wenn er mir strafende Blicke zuwarf, oder mich ignorierte. Mit keinem von beidem konnte ich umgehen. Meine Hände wurden schwitzig, als das Auto vor dem Haus hielt. Ich hätte doch besser abhauen sollen. Lydia stieg als Erste aus und versicherte uns, dass alles okay sei.

„Gott sei Dank“, sagte ich, obwohl wir das ja eigentlich schon von Betty wussten. Diese kam nun, Pete im Schlepptau, aus dem Haus. Greg legte seiner Freundin den Arm um die Schulter und grinste.

„Dafür, dass sie kein Blut sehen kann, war sie ziemlich tapfer.“

Die anderen lachten amüsiert. Lydia verdrehte die Augen und mir wurde klar, dass Greg sie meinte, und nicht Kelly. Er wollte nur die Stimmung auflockern, denn uns war natürlich allen klar, dass Lydia durch ihren Beruf als Krankenschwester sehr wohl an den Anblick von Blut gewohnt war. Alle waren so heiter, als ob nichts passiert wäre. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, wie sie nur so sein konnten, wo die Welt für mich doch gerade auf der Kippe stand. Sahen sie denn nicht, was auf dem Spiel stand?

Jesse trat an uns vorbei ins Haus, Kelly auf dem Arm. Er sagte nichts, sah mich nicht an. Nun war es klar: Ignoriert zu werden, war eindeutig schlimmer, als beschuldigt zu werden. Ich machte den Mund auf, der auf einmal völlig trocken war, um ihm etwas hinterherzurufen, klappte ihn aber gleich wieder zu. Kelly hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief. Ich wollte sie nicht aufwecken, denn ich wollte nicht noch etwas falsch machen. Ich sah den beiden nach, wie sie im Haus verschwanden. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war ein unerträgliches Gefühl, diese Ungewissheit. Ich stolperte leicht nach vorn, als Greg mir einen aufmunternden Klaps auf den Rücken gab.

„Keine Angst, Kleines. Entspann dich. Er kriegt sich schon wieder ein.“

Warum waren sich da alle so sicher? Ich war es jedenfalls nicht. Außer einem Nicken und einem schwachen Lächeln brachte ich keine Antwort zustande.

„Ich sehe mal nach ihnen.“ Wohl wissend, dass alle Blicke auf mir lasteten, eilte ich ins Haus und die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Tür zu Kellys Zimmer war geschlossen. Jesse legte sie bestimmt gerade in ihr Bett. Vor meinem inneren Auge konnte ich genau sehen, wie er ihr die Socken auszog, die Decke über sie breitete und ihr liebevoll das Haar aus der Stirn strich. Gottseidank schlief sie. Das hieß, sie hatte keine großen Schmerzen.

Ich hielt es nicht länger aus, ich wollte zu ihm, mich bei ihm entschuldigen und ihm versichern, dass mir so etwas bestimmt nicht nochmal passieren würde. Ich würde Kelly nie wieder aus den Augen lassen. Ich musste aus seinem Mund hören, dass zwischen uns alles in Ordnung war, dass er mir verzeihen würde. Erst, als meine Lunge begann, zu schmerzen, wurde mir klar, sekundenland die Luft angehalten zu haben.

Atme, befahl ich mir selbst und schnappte nach Luft. Es wird alles gut.

Wenn ich Eleonore wäre, würde ich einfach da hineinspazieren, Jesse am Ärmel packen und ihn aus dem Zimmer zerren. Dann würde ich ihm sagen, was ihm eigentlich einfiel, sich so aufzuspielen und mich so zu behandeln. Schließlich trug ich genau dieselbe Verantwortung für Kelly, wie er; immerhin war ich die Mutter.

Doch ich war nicht Kellys Mutter. Ich war nicht Eleonore.

Ich war Lea.
 

Meinen ganzen Mut zusammennehmend, hob ich die Hand zur Klinke, doch bevor ich sie herunterdrücken konnte, wurde die Tür bereits von innen geöffnet. Jesse war genauso überrascht wie ich, fand jedoch als erster wieder Worte.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich antwortete nicht und versuchte stattdessen, seine Stimmung zu deuten. Er redete mit mir, das war schon mal ein Anfang.

„Es tut mir Leid, Jesse. Ich verspreche dir, so etwas passiert nie wieder. Ich schwöre es. In Zukunft werde ich besser aufpassen.“

Meine Zuversicht löste sich in Luft auf, als er mich einfach stehen ließ und in sein Zimmer ging. Dieses Mal ließ ich mich nicht abschütteln. Ich folgte ihm auf dem Fuße. Er warf einen Blick über die Schulter, sagte aber nichts. War das nun ein gutes Zeichen?

„Ich werde mir das nie verzeihen. Und ich erwarte auch nicht von dir, dass du das tust.“ Wünschen würde ich es mir trotzdem. „Bitte rede mit mir.“ Er setzte sich auf sein Bett. Ich blieb stehen, weil ich es nicht zu weit treiben wollte. Ich fühlte mich wie auf dünnem Eis, das jederzeit einen Knacks bekommen konnte. Ich wusste genau, dass es einbrechen würde, nur nicht genau, wann. Er nahm das kleine Kissen in die Hand, das ich meistens benutzte, wenn ich bei ihm schlief. Stirnrunzelnd fuhr er über den Stoff. Den feuchten Stoff, wie mir gerade wieder einfiel. Ich hatte vorhin Rotz und Wasser geheult, im wahrsten Sinne des Wortes. Kurzerhand riss ich ihm das Kissen aus der Hand.

„Ich wasche das“, sagte ich und versuchte, den Reißverschluss des Überzugs zu öffnen, der jedoch klemmte. Ich zog und zog, aber er blieb immer an derselben Stelle hängen.

„Komm schon. Geh auf, du Scheißteil“, fluchte ich leise.

„Gib her“, sagte Jesse und streckte fordernd die Hand aus. Nach einem letzten verzweifelten Versuch gab ich mich geschlagen und gab es ihm zurück. Mit einem kräftigen Ruck erledigte er die Sache und streifte den Überzug vom Kissen. Doch er gab ihn mir nicht. Stattdessen legte sich seine Stirn in Falten, als er das Stück Stoff in seiner Hand betrachtete.

„Schon wieder Tränen?“, fragte er.

„Nicht nur Tränen“, sagte ich kleinlaut, um ihm klarzumachen, was er da in der Hand hielt.

„Ich habe monatelang Windeln gewechselt, wenn ich dich daran erinnern darf. Da kann mich ein bisschen Rotze nicht schocken.“

Ich lächelte über seine Worte, doch als ich merkte, wie er mich anstarrte, verblasste es sofort.

„Tut mir Leid.“ Ich sollte in solch einer Situation nicht lachen. Vor allem nicht, da ich Schuld an der ganzen Misere war.

„Hör auf, dich zu entschuldigen.“ Jesse klang müde. Furchtbar müde.

„Nein, ich höre nicht damit auf.“ Nun setzte ich mich doch aufs Bett.

„Es tut mir nun mal Leid. Das wirst du akzeptieren müssen. Und es gibt auch nichts, was du dagegen tun kannst. Also lass mich mich verdammt noch mal entschuldigen.“ Etwas überrascht, keine Einwände zu hören, fuhr ich fort. „Es tut mir Leid, dass ich nicht aufgepasst habe. Es tut mir Leid, dass Kelly sich verletzt hat. Es tut mir Leid, dass du dir solche Sorgen machen musst. Und es tut mir Leid, dass ich deinen Geburtstag versaut habe.“ Ich holte tief Luft, weil ich kaum geatmet hatte, als die Worte aus mir herausgesprudelt kamen. Jesse sah mich nachdenklich an. Ich hasste die Momente, in denen ich absolut nicht einschätzen konnte, was in ihm vorging.

„Gut. Dann werde ich jetzt auch etwas los: Es tut mir Leid, dass ich dich so angefahren habe. Das hätte genauso gut mir passieren können. Ich habe überreagiert.“

Ich blinzelte erstaunt. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

„Wieso sagst du das?“ Ich konnte ihm anmerken, dass er noch nicht mit der Sache abgeschlossen hatte, aber seine Worte erleichterten mich ungemein.

„Weil ein großer Bruder doch manchmal zu etwas nütze ist.“

Als ich den Kopf schief legte, erklärte er: „Greg hat mir auf der Rückfahrt eine kleine Gehirnwäsche verpasst, was ich für ein Klemmi bin. Und er hat nicht ganz Unrecht.“ Endlich lächelte er. Ich war so froh über dieses Lächeln. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Auch wenn mir klar war, dass Jesse noch eine Weile brauchte, bis er auch meinte, was er sagte.

„Das heißt, du verzeihst mir?“ Ich versuchte, zu grinsen, doch es gelang mir nicht ganz. Die Verunsicherung saß noch zu tief. Jesse lehnte sich nach hinten und stützte sich auf seinen Händen ab.

„Das kommt ganz drauf an“, sagte er und ein anzügliches Grinsen verzog seine Lippen. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie konnte er so schnell von kalt auf heiß umstellen? Ich jedenfalls war gerade nicht in der Stimmung. Aber wenn es hieß, dass er mir verzieh, würde ich so ziemlich alles machen... Röte stieg mir in die Wangen.

„Auf was?“

Sein Grinsen wurde noch breiter.

„Nicht, was du denkst, du kleiner Perversling. Ich meine mein Geschenk.“ Wie peinlich. Ich dachte an den Gutschein in meiner Tasche, der mir plötzlich ein ziemlich blödes Geschenk zu sein schien.

„Ich weiß doch, dass du es nicht lassen kannst. Also rück es schon raus.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Eigentlich ist es ein ziemlich blödes Geschenk.“

Jesse zuckte die Schultern.

„Ist mir egal. Ich mag blöde Geschenke.“ Er schob sich auf der Matratze näher zu mir heran und sah mich auffordernd an. Er wusste genau, dass ich ihm nicht widerstehen konnte und nutzte das schamlos aus. Doch im Moment wollte ich nichts lieber, als ihm um den Hals fallen und ihn ganz fest an mich drücken. Und das tat ich dann auch.

„Danke“, flüsterte ich in sein Haar, das mich an der Nasenspitze kitzelte. Er wich ein Stück zurück, um mir ins Gesicht sehen zu können.

„Ich hatte solche Angst“, wisperte ich. Als er mich küsste, war ich froh, dass das Thema Geschenk für heute erledigt war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Silberwoelfin
2017-09-14T12:34:20+00:00 14.09.2017 14:34
Soo jetzt komm ich auch noch dazu mich mal ein paar Minuten an den PC zu setzen um meinen Kommi zu schreiben.... am Handy ist mir das immer zu mühselig.
Ich weiß nicht warum aber das Kapitel hat mich komplett überrascht… ich weiß nicht was genau ich als nächstes Kapitel erwartet hatte, aber dieses irgendwie nicht.
Es war glaub auch das erste mal das ein Datum genannt wurde oder? Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern das schon mal ein Datum oder Monat genannt wurde, daher weiß ich gar nicht wann Jesse und Lea zusammen gekommen sind… irgendwo zwischen Mitte Februar und Mai.
Jesse wirkt in diesem Kapitel anders wie sonst, normal hat man immer den Eindruck vom verständnisvollen und einfühlsamen jungen Mann… und hier wirkt er auf eine gewisse weiße egoistisch und ein wenig kleinlich.
Das es Jesse nicht so toll fand von der Sache mit Rob zu erfahren ist klar… aber wenn er sich selbst in die Nase packt würde ihm auffallen das es mit Amanda nahezu dasselbe war.
Und die Art wie er mit Lea umgegangen ist als sich Kelly geschnitten hat war auch nicht gerade eine Glanzleistung und darauf hätte ihn nicht erst sein Bruder bringen müssen. Im ersten Momentan kann man es auf den Schock und die Panik schieben, aber spätestens beim Heim kommen wäre eine Entschuldigung fällig gewesen. Und diese von sich heraus und nicht erst nach Bitten und Bettel von Lea. Dieses lange hinhalten und anschweigen, war nicht nett.
Auch insgesamt hatte man den Eindruck, dass Jesse ein recht reserviertes Verhalten gehabt hatte.
Ich fürchte auf die Zwei wird noch einiges zukommen, wenn man bedenkt das sie jetzt schon kaum noch Zeit für einander haben… und dann noch die anderen Mädels in der Bar und bei den Konzerten… ob Lea das so verpackt.
In welcher Klasse ist Lea nun eigentlich? Müsste sie mit 17 nicht schon in der Abschlussklasse sein?
Und was macht eigentlich Tamy, sie müsste mit der Schule ja schon fertig sein… Fragen über Fragen 
Bin gespannt auf das nächste Kapitel, bis hoffentlich Sonntag



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