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Night Walk

von
Koautor:  Puppenspieler

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Kai und Rui waren verschwunden.

 

Es passierte so plötzlich, dass Koi im Nachhinein keinerlei Ahnung hatte, wie es passieren konnte. Im einen Moment spielten sie ihr albernes Frage-Antwort-Spiel, im nächsten Moment drehte er sich um, und plötzlich war ihre Nachhut verschwunden. Einfach so. Ohne einen Hinweis darauf, dass sie überhaupt dagewesen waren.

Sie mochten laut gewesen sein mit ihrem Spiel, aber nicht so laut, als dass sie verpasst haben könnten, wie die beiden verschwanden. Koi starrte immer noch entsetzt auf den Fleck Waldboden, an dem Rui und Kai vorhin noch gewesen sein mussten. Sah zu seinen Kameraden, die ähnlich wie er unglaublich besorgt dreinsahen. Kakeru erwiderte seinen Blick panisch.

„Wie kann das sein?“, hauchte er; die Panik aus seinem Blick weitete sich auch auf seine Stimme aus. Koi schüttelte den Kopf, unfähig, eine logische Erklärung zu finden.

„Vielleicht sind sie schon einmal zurückgegangen? Es ist spät. Rui wird so früh müde…“

„Sie hätten Bescheid gesagt“, wischte Arata Aois Einwand schroff beiseite. Der Blondschopf verzog unglücklich die Mundwinkel. Letztlich wanderten ihrer aller Blicke zu Hajime, der nichts gesagt hatte bisher, sondern nur schweigend dastand und auf die Stelle leuchtete, die eigentlich nicht leer hätte sein sollen.

 

Gruseliger als das Verschwinden selbst war die Tatsache, dass Hajime nicht augenblicklich eine Erklärung lieferte.

 

„Wir sollten–“, setzte der Mann an, doch er unterbrach sich selbst mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich, kaum merklich. Kois Magen krampfte, und obwohl er wusste, dass es eine dumme Idee war, folgte er Hajimes Blick.

Er bereute es augenblicklich.

„Hiiiiiiiiiiiiiiiiiii–“

Kakerus Stimme neben ihm ließ Koi erschrocken zusammenfahren. Instinktiv packte er nach seinem Freund, hielt sich an seinem Arm fest. Kakerus Finger krallten sich in seinen eigenen Unterarm. Er musste nicht zu ihm hinübersehen, um zu wissen, dass er genauso entsetzt auf den gleichen Punkt starrte wie er selbst.

Sie schwebten keinen Meter über dem Boden. Kugeln aus Licht, die etwa so groß wie ein Kinderkopf waren, umgeben von einem bläulichen oder grünlichen Schimmer. Ihre langen, fadendünnen Schweife wiegten sich unter ihnen, nicht ganz tief genug reichend, um über die spärlichen Grashalme am Waldboden zu kitzeln. Es waren nicht viele. Zwei, drei. Als Koi noch einmal nachzählte, zählte er vier. Dann waren plötzlich wieder nur zwei da.

Sie taten nichts. Sie schwebten einfach da, so reglos, wie man eben als Geist in der Luft schweben konnte, kaum eine Bewegung außer ihrer träge schlängelnden Schweife. Koi war sich sicher, er hatte vergessen, wie man richtig atmete. Sein Brustkorb schmerzte. Vielleicht konnte er auch gar nicht mehr atmen. Konnten Geister durch bloßen Anblick töten?

Theoretisch waren Hitodama nicht gefährlich! Angeblich. Laut vieler Legenden zumindest.

Andere Legenden wiederum… Er schluckte hart um einen Kloß aus Panik herum, als er sich an all die Geschichten erinnerte, die Shun ihnen in den letzten Tagen erzählt hatte, wann immer er Gelegenheit dazu bekam. Geister, Flüche, all die schrecklichen Dinge. War da nicht etwas gewesen von wegen Hitodama konnten gefährlich werden, wenn ihr Beschwörer verstarb?

Wer sagte denn, dass wer auch immer diese Dinger beschworen hatte noch am Leben war?!

 

Er konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Irgendwo hörte er ein Rascheln im Gebüsch, doch er schaffte es nicht, in die entsprechende Richtung zu sehen. Diese seltsamen, unwirklichen Lichtbälle zogen all seine Aufmerksamkeit auf sich, in einem Maße, dass Koi geradezu vergaß, wo er sich überhaupt befand.

Plötzlich setzten sich die Kugeln in Bewegung. In einem Tempo, das Koi niemals für möglich gehalten hätte, rauschten sie an ihnen vorbei, hinterließen einen eisigen Wind und völlige Dunkelheit.
 

Dunkelheit.
 

Es dauerte einen langen Moment, bis Koi begriff, dass ihre Taschenlampen ausgegangen waren. Panisch tastete er nach dem Einschaltknopf. Betätigte ihn. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Lampe blieb aus. Dem hektischen Klicklaut neben sich nach zu urteilen hatte Kakeru keinen Deut mehr Erfolg als er.

„Koi…“

Er wimmerte beinahe. Koi schluckte, seine Finger krallten sich haltsuchend in Kakerus Unterarm, den er immer noch nicht losgelassen hatte. Er wollte es  nicht tun, aber wusste, einer von ihnen musste sich umdrehen und herausfinden, was mit ihren Freunden war. Er wusste, dass er es sein musste, denn Kakeru sah aus, als wäre er geradezu zu Stein erstarrt. Er holte Luft, mühsam, bebend, musste sich zwingen, einzuatmen, denn es erschien mit einem Mal so unglaublich anstrengend. Seine Beine waren wie Blei. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich einen Fuß heben und wieder auf den Boden setzen konnte, ohne dass irgendwo dazwischen seine Knie einknickten.

Sie konnten auch einfach hier bleiben. Stehen bleiben. Abwarten. Gleich würde Arata einen blöden Spruch bringen. Oder Aoi nachfragen, ob bei ihnen alles okay war. Wo blieben Hajimes Mahnungen?

Jemand lachte. Erleichterung machte sich in Koi breit, und beinahe hätte er selbst aufgelacht. Wahrscheinlich hätte er selbst aufgelacht, wenn sein ganzer Hals nicht so schmerzhaft verkrampft gewesen wäre. Er drehte sich hektisch um.

„Arata-Kun–!“

 

Es war nicht Arata.

Da war überhaupt niemand. Koi starrte in beinahe undurchdringliche, nachtschwarze Dunkelheit, die nur von vagen Sprenkeln Mondlicht durchbrochen wurden, die Muster auf den Waldboden malten. Muster, die gerade alle ein bisschen so aussahen, als wollten sie Koi hämisch auslachen.

Er schluckte hart. Sein Hals schmerzte.

„K-Kakeru-San…“

„Mhmmm?“

Er wollte es nicht sagen. Er wollte es nicht einmal denken, und es zu sagen würde es endgültig real machen. Da war niemand. Kein Arata mit seiner spitzen Zunge. Kein Aoi mit seinem sanften, behutsamen Lachen. Kein Hajime, dessen bloße Anwesenheit schon dazu führte, dass man sich sicher fühlte, wo man war. Aus dem Augenwinkel nahm er eine vage Bewegung war – ein Lichtkügelchen, das zwischen den Bäumen verschwand. Koi sah seinen langen Schweif noch lange vor seinen Augen nach, wie die seltsamen Formen, die im Blickfeld tanzten, wenn man zu lange ins Licht sah.

„Koi?“

Finger gruben sich in seinen Unterarm. Es tat beinahe weh, aber gleichzeitig war es unglaublich beruhigend; Kakeru war eindeutig noch da. Koi war nicht alleine, würde nicht alleine sein, solange sie einander einfach nicht losließen. Langsam verstand er wirklich, wieso Kai Rui an die Hand genommen hatte vorhin.

Er wollte es nicht sagen. Er starrte auf den Waldboden, der ihn mit hämischen, mondlichtsilbrigen Grimassen aufzog, versuchte nicht zu genau hinzuhören, wie über das Lärmen der Zikaden hinweg der Wind durch die Bäume strich und ein unheimliches Wispern auslöste. Hörte er Gelächter? Es klang wie tausend kleine, bösartige Stimmen, die seine Misere verlachten.

Sie passten zu den Mondlichtgesichtern am Boden.

 

„Wir sind alleine, Kakeru-San.“

 

 
 

***

 

 

Koi war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt noch wirklich in dem Wald waren, in dem sie hätten sein sollen. Er war sich sicher, dass es Paranoia war. Hysterie. Jedenfalls wollte er sich das so erklären, und dass seine innere Stimme verblüffende Ähnlichkeit mit Hajime hatte, half immens.

Einbildung, erklärte sein innerer Hajime zum fünften Mal, seit Koi begonnen hatte, an seinem Verstand zu zweifeln, Panik. Kein Grund, wirklich durchzudrehen.

Es gab auch ganz bestimmt keinen Grund zur Panik. Und logische Erklärungen für alles. Koi hatte keine, aber das war auch kein Wunder; er war nicht gut in logischen Erklärungen, ganz egal, worum es ging. Seine Fantasie machte ihm da viel zu schnell einen Strich durch die Rechnung, was dazu führte, dass er eher auf hanebüchene Verschwörungstheorien kam als auf die banale, simple, eigentlich völlig offensichtliche Erklärung.

 

Gerade hatte er auch mehr als genug Theorien, die bestimmt alle nicht wahr waren. Angefangen bei der offensichtlichsten: Geister. Er hatte keine andere Möglichkeit, die Lichtkugeln zu erklären, die mit ihren schmalen Schweifen hintendrein über den Waldboden schwebten, als wäre es das natürlichste der Welt. Wenn sie zu nahe kamen, schienen sie jedes Mal irgendetwas mitzubringen.

Da waren Geräusche, die nicht in einen Wald gehörten. Kinderlachen. Glöckchenklingeln. Das Knistern eines Lagerfeuers. Da waren Gerüche, die genauso wenig passten. Süß und klebrig, wie die Luft in einer Konditorei. Der salzige Geruch des Meers. Etwas, das Koi verblüffend an sein Duschgel erinnerte und in seiner Vertrautheit nur noch gruseliger wurde. Es waren so viele Dinge, die einfach nicht zusammenpassten, und jeder wirre Eindruck wurde von einem anderen neuen, wirren und unpassenden Eindruck abgelöst.

Er wollte, dass es aufhörte. Die Zikaden waren nicht laut genug, um das wirre Schauspiel zu übertönen, und Koi schaffte es nicht, wirklich einen Ton hervorzubringen. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte. Ihm fiel kein cleverer Spruch ein. Kein dummer Witz. Sie könnten über das Spiel reden, das sie vorhin gespielt hatten. Aber wollte Koi das? Schon der Versuch, daraus ein Gespräch zu konstruieren, scheiterte daran, dass sein Verstand immer wieder den Dienst quittierte. Das meiste fiel ihm gar nicht mehr ein.

Kakeru war auch still. Er stand neben ihm, klammerte sich mit schmerzhafter Kraft an Kois Arm fest und das einzige, das er ab und zu von sich gab, war ein kleiner, verstörter Laut, wenn irgendwo ein Zweig knackte oder ein anderes Geräusch ihn aus dem Takt brachte – oder ein Hitodama zu nah an ihm vorbeiflog. Er sah aus, als würde er sich gleich übergeben – oder zumindest sehr, sehr mitgenommen. Koi konnte es ihm kaum verübeln. Hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte sofort alles getan, um Kakeru von seinem Leid zu befreien.

 

Bisher waren sie aber nicht einmal einen Schritt von der Stelle gekommen.

Herumirren ist eine dumme Idee, erinnerte Hajimes Stimme ihn, wenn ihr euch verlaufen habt, wartet darauf, dass euch jemand findet, ehe ihr euch noch mehr verlauft. Koi war ganz seiner Meinung, und er wollte sich an Hajimes Ratschlag klammern. Gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob sein Verstand es überleben würde, noch länger hier zu bleiben. Es war pure Folter.

Er war sich fast sicher, es reichte, um verrückt zu werden. Ständig diese seltsamen Geisterwesen, die um sie herumschwirrten. All die Geräusche, die hier nicht hergehörten. Die Zikaden, die nicht leiser wurden und einen steten, monotonen Hintergrund boten für die Horrorshow, die Koi sicher nicht hatte erleben wollen. Sie waren nicht gefährlich. Praktisch gesehen konnte ihnen also nichts passieren, selbst wenn sie sich in Bewegung setzten, oder? Außer, dass sie sich noch mehr verliefen, aber wie groß konnte so ein Wald schon sein? Nicht riesig.

Sie würden einen Ausgang finden, früher oder später.

Oder sich zumindest ablenken können, weil sie mehr zu tun hatten als erstarrt in der Gegend herumzustehen.

Sie mussten doch nur bis zum Morgen überstehen. Das konnte nicht so schwer sein. So endlos lang waren japanische Sommernächte nicht. Es würde überlebbar sein. Sie brauchten nur Ablenkung.

Herumirren war eine dumme Idee, da gab Koi Hajime wirklich Recht.

 

Aber manchmal waren dumme Ideen immer noch besser als gar keine.

 

„Wir sollten“, begann er, brach ab, als es im Unterholz wieder raschelte. Er warf reflexartig einen Blick in die Richtung, ohne zu erwarten, dort etwas zu sehen – er hatte bisher nie etwas gesehen.

Er sah etwas.

Er wusste nicht, was es war. Aber es war da. Ein undefinierbares Etwas, ein Schatten, der noch dunkler war als der Rest der Finsternis. Ein Schatten, der im vagen Licht vorbeifliegender Hitodama eine beinahe menschenähnliche Form hatte – auf eine groteske Art. Verzerrt, wie ein Schatten bei Sonnenuntergang, der obendrein über drei verschiedene Richtungswechsel gebrochen wurde. Er schluckte.

Da waren Schritte.

Kam der Schatten näher?

„Wir sollten weiter“, wiederholte er, selbst erstaunt, wie fest und selbstsicher seine Stimme mit einem Mal klang. Er hatte Panik, aber das Adrenalin in seinen Adern war gerade effektiv dabei, sie für den Moment zu unterdrücken. Er funktionierte. Noch. Es würde funktionieren, solange es musste, zumindest hoffte er das. Mit einem tiefen Durchatmen wandte er sich Kakeru zu.

„Los, gib mir deine Hand. Wir kommen besser voran, wenn wir nicht so aneinanderklammern, dass wir uns schon gegenseitig boykottieren.“

Ganz überzeugt sah Kakeru nicht aus, soweit Koi irgendetwas in der Dunkelheit erkennen konnte. Riesige, verängstigte Augen blickten ihn an, ließen ihn keinen Augenblick aus den Augen, aber immerhin folgte der Kerl seiner Aufforderung – bald waren ihre Hände fest miteinander verschränkt, ihre Finger geradezu verknotet. Er würde Kakeru nicht verlieren. Kakeru würde ihn nicht verlieren.

So viel konnte also nicht schief gehen!

 

Die ersten Schritte waren die Schlimmsten.

Koi hatte bei jedem Einzelnen noch die Panik, dass die bisher friedlichen Hitodama plötzlich auf die Idee kamen, sie attackieren zu wollen. Er hatte Angst, dass der Schatten plötzlich durchs Unterholz bräche und sie in einer Geschwindigkeit verfolgte, der sie niemals etwas entgegenzusetzen hätten.

Was machte man überhaupt, wenn man in einem Wald voller Geister verloren ging? Er hatte doch keine Ahnung!

Wieso gab Shun ihnen nicht wenigstens Survivaltipps mit auf den Weg, wenn er schon so viel Ahnung von solchen Themen hatte?!

Aber alles, was er tat, war Gruselgeschichten zu erzählen, in denen überhaupt nichts Hilfreiches steckte.

„Was meinst du, wo die Anderen sind?“

Kakerus Stimme klang dünn, besorgt. Ängstlich. Koi fühlte sich nicht wirklich besser, trotzdem gab er sich Mühe, aufmunternd zu klingen, als er in einem etwas zu gekünstelten Plauderton antwortete: „Vielleicht zum Waldrand zurück? Ist die beste Lösung, wenn das Licht ausfällt, oder? Und vielleicht hatte Aoi-San ja doch Recht…“

Er glaubte nicht daran. Schon alleine, weil Stimme der Vernunft Hajime es nicht bestätigt hatte. Es war einfach zu unglaublich.

„Meinst du?“ – „Jap! Rui ist doch echt viel zu schlafmützig, um so lange draußen auszuhalten.“

Kakeru grinste. Zögerlich, aber so langsam schien seine positive Einstellung wieder an ihren Platz zurückzukehren. Koi fiel ein Stein vom Herzen und er erwiderte das Grinsen des anderen breit.

 

„Weißt du, irgendwie ist es fast cool!“, kommentierte Kakeru nach ein paar Minuten. Koi lachte hilflos, schüttelte den Kopf.

„Cool“, wiederholte er, ungläubig. Er sah sich um. Sah Hitodama, teilweise nah genug, dass er sich nur ausstrecken müsste, um sie zu berühren. Sah unheimliche Mondlichtbilder auf dem Boden, sah Schatten im Dickicht, die viel zu lebendig aussahen, obwohl sie sich nicht regten.

„Deine Definition von cool ist eigenwillig, Kakeru-San.“

Sein Freund lachte, und der Laut war so erleichternd für Koi, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, dass der Wald mit einem Schlag heller geworden wäre.

„Ich mein’s ernst, Koi! Das ist doch eigentlich echt aufregend! Sieh es so, diese Teile hätten uns längst etwas tun können – aber sie tun es nicht! Also sind sie ungefährlich. Es ist auch nicht anders als gigantische Glühwürmchen!“

Gigantische Glühwürmchen. Koi schmunzelte, ein bisschen überfordert. Wenn er sich die Hitodama wirklich einfach als riesige Leuchtkäfer vorstellte… das war irgendwie einfacher. Leuchtkäfer gab es. An denen war nichts Unheimliches oder Gruseliges, sie waren ganz natürlich und nicht angsteinflößend. Er grinste, schob konsequent die Erinnerung an den Schatten zwischen den Bäumen von sich. Ohne den Schatten war es wirklich erträglich. Leuchtkäfer waren cool!

 

„Weißt du, was uns fehlt, Kakeru-San? Ein riesiges Schmetterlingsnetz, um die Leuchtkäfer auch einzufangen.“

 

 
 

***

 

 

Obwohl sie sorgfältig in die Richtung liefen, aus der sie gekommen waren, kam der Waldrand nicht näher. Koi wusste nicht, wie lange sie unterwegs gewesen waren, er hatte ein schlechtes Zeitgefühl und konnte nicht einschätzen, ob das tatsächlich passte oder mit dem wirren Spuk zusammenhing, aber in jedem Fall – er wurde ungeduldig. Er wollte den Weg raus aus dem Wald finden. Wollte irgendein Anzeichen dafür, dass sie einen Fortschritt machten und nicht auf der Stelle liefen.

Es sah alles gleich aus!

Es war eben ein Wald, wie sollte er da einen bestimmten Platz ausmachen können? Hatte er sich die Formation der Bäume gemerkt? Nein! Und außerdem sah ohne das Licht der Taschenlampen ohnehin alles noch einmal ganz anders aus – auf eine beunruhigende, unangenehme Art.

Insgesamt war es aber doch irgendwie erträglich geworden. Die Stille wurde nicht weniger quälend, aber in Bewegung zu sein war entspannend, selbst wenn man nirgendwo so recht hinlief. Und Kakeru ging es besser – das allein machte eine ganze Welt an Unterschied für Koi. Mit der positiven Stimmung seines Freundes konnte er sich gar nicht mehr in dem Grusel um sie herum verlieren. Kakeru war ansteckend, und das auf die beste Art überhaupt.

 

Es war solange gut, bis sie plötzlich auf einer Lichtung standen, die es so ganz sicher auf dem Hinweg nicht gegeben hatte. Sie war riesig – viel größer, als Koi eine Lichtung in diesem Wald erwartet hätte. Sie war riesig, sie war komplett leer, und der Boden war völlig karg. Kein Gras, obwohl nirgendwo Bäume waren, die mit ihren Kronen das lebensnotwendige Sonnenlicht stehlen könnten. Der Boden sah aus wie eine einzige, tiefdunkle Masse. Im Mondlicht war es nicht erkennbar, aber Koi hätte beinahe auf Schwarz spekuliert.

Hier waren so viele Hitodama, dass er sie nicht mehr zählen wollte. Nicht zählen konnte. Sie wuselten durch die Luft, eins ums andere, nah am Boden, tanzten umeinander herum. Es sah aus, als wären sie in einen Reigen vertieft; nach einigem schweigenden Zusehen entdeckte Koi tatsächlich so etwas wie ein Schema in ihren Bewegungen.

Es war verstörend, auf eine so makabre Art, dass er nicht einmal Worte dafür hatte.

Irgendwo wurde Gelächter laut. Zuerst nur ein kleines, harmloses Kichern. Es kam ganz plötzlich, dann hörte es wieder auf. Dann kam es wieder.

Und dann blieb es.

Ein dauerhaftes, körperloses Kichern, das seinen Ursprung überall und nirgendwo nahm, das nicht mehr aufhörte, das nur noch lauter wurde. Kakerus Hand klammerte mit einem Mal wieder viel fester an seiner.

„Ich glaube, wir sollten nicht hier sein“, wisperte er, so leise, dass Koi es selbst kaum hörte. Trotzdem wurde das Lachen prompt noch lauter – wie eine Antwort. Eine Bestätigung, dass ja, es eine ganze dumme Idee war, hier zu sein.

Nebel kroch aus dem schwarzen Boden. In langen, dünnen Schlieren schob er sich langsam aus dem Erdreich und verteilte sich überall, kroch in jede Ritze, umspülte Kois Füße mit einem Gefühl von eisiger Kälte, die völlig unpassend zu dem heißen Sommerabend war, an dem sie ihre Nachtwanderung begonnen hatten. Er trat einen Schritt zurück, noch einen, doch der Nebel war längst überall um sie herum – es war zwecklos.

 

Er hatte keine Ahnung, was hier passierte. Ein großer Teil von Koi wollte es auch gar nicht wissen.

Sollten sie weglaufen? Er sah über die Schulter, doch in der Ferne sah er nur noch eine dichte, milchig weiße Nebelwand, die ihm mehr und mehr Übelkeit bescherte. Zwischen der schlierig weißen Suppe sahen die schwebenden Hitodama noch gruseliger aus, weil Koi nicht einmal mehr recht erkannte, wo das eine aufhörte und das nächste anfing.

„Koi.“

Kakerus Stimme war drängend. Er zog an Kois Hand; Koi rührte sich keinen Millimeter. Er klammerte, schüttelte vage den Kopf, biss sich auf die Unterlippe, um einen panischen Laut schon im Keim zu ersticken.

„Koi! Wir müssen–“

Hier weg.

Es blieb Kakeru selbst im Hals hängen. Wohin sollten sie auch flüchten? Sie waren mitten im Nirgendwo, und so dicht, wie der Nebel gerade wurde, traute Koi sich kaum einen Schritt voran, ohne fürchten zu müssen, dass er mit vollem Karacho gegen den nächsten Baum lief.

Vielleicht wäre das aber auch ein besseres Schicksal, als hier von der trüben Brühe verschluckt zu werden.

„Kakeru-San, vielleicht–“

 

Koi wusste selbst nicht, was.

Seine Knie zitterten. Sein Herz krampfte, genauso wie sein Magen. Das schrille Lachen schwoll immer weiter an, übertönte längst alle Zikaden, die es geben mochte. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, als könnte er damit verhindern, was auf ihn zukam – was man nicht sah, existierte nicht.

Die Logik hatte ihm schon als Kind nicht wirklich geholfen, aber vielleicht half es eben doch? Ein Schatten in der Finsternis machte in jedem Fall wirklich nur dann ein Problem, wenn man ihn auch sah.

 

Und dann war plötzlich nichts mehr.

 

Die Stille traf Koi wie ein Lastwagen. Seinen Ohren schmerzten von der jähen Geräuschlosigkeit, ein schrilles Klingeln, das eindeutig aus seinem Kopf selbst heraus kam, das einzige, das er noch wahrnahm.

„Koi! Kakeru!“

Die Stimme klang so dumpf, dass er sie nicht zuordnen konnte. Langsam flaute das Klingeln ab, langsam kehrten die Zikaden zurück. Er hörte Lärm im Unterholz, der so eindeutig menschlich klang, dass ihm fast übel vor Erleichterung wurde.

Vielleicht auch nicht nur fast. Reflexartig presste er die freie Hand vor den Mund, schluckte hektisch, panisch, bis er sich sicher sein konnte, dass sein Abendessen blieb, wo es hingehörte – in seinem Magen. Als er die Augen öffnete, war es so dunkel, dass er nichts mehr sah.

 

Ein Lichtkegel schob sich in sein Blickfeld. Es war unverkennbar eine Taschenlampe, an deren Ende eindeutig ein Mensch hing.

Shun.

Shun.

„Shun-San?!“, rief Kakeru völlig überrascht aus. Der junge Mann kam vor ihnen zum Stehen. Koi erkannte dicht hinter ihm Hajime, dessen besorgter Gesichtsausdruck in Erleichterung schmolz. Er fühlte sich nach Lachen und Heulen gleichzeitig.

„Hajime-San.“

Seine Knie gaben nach. Endgültig. Koi fiel zu Boden, riss Kakeru mit sich. Vielleicht fiel er aber auch einfach aus eigener Unfähigkeit, sich aufrecht zu halten. Sofort hockten Shun und Hajime neben ihnen. Koi bemerkte es nicht sofort, aber hinter ihnen standen auch Aoi und Arata, beide mit besorgten Mienen. Selbst Arata!

„Seid ihr okay?“

Kakeru nickte.

„Sind wir! Irgendwie. Was ist passiert?“

„Ganz egal! Hauptsache, wir sind da raus! Hajime-San, du hast uns das Leben gerettet!!“

 

Hajime sah nicht aus, als wüsste er, warum. Er konnte es auch nicht wissen, dass da ein innerer Hajime in Kois Kopf war, der ihm Vernunft eingeflüstert hatte. Trotzdem lächelte er, legte eine Hand auf Kois Schopf und zerzauste ihm sanft das Haar.

„Ich bin froh, dass es euch gut geht.“

Koi hätte ihn am Liebsten geknutscht vor Erleichterung.

Es war vorbei!

Sie hatten, was auch immer da passiert war, überlebt!

 

„Wo sind Kai-San und Rui?“

Kois Erleichterung bekam einen unangenehmen Dämpfer. Er sah zu Kakeru hinüber, beinahe anklagend, dass der die Stimmung wieder runterziehen musste. Aber andererseits – er hatte ja Recht!

„Keine Sorge.“

Shun klang überzeugt. Auf eine angenehme, ruhige Art, die Koi gerade das Gefühl gab, dass er mindestens genauso zuverlässig war wie Hajime. Er lächelte sogar ernsthaft beruhigend, statt besorgniserregend. Langsam erhob der junge Mann sich wieder, Hajime folgte, und auch Koi tat es ihm gleich, nachdem seine Beine sich langsam wieder anfühlten, als wären sie Beine und keine weichen Spaghetti. Er zog Kakeru mit sich hoch – ein bisschen zu schwungvoll, der Junge stolperte sofort gegen ihn. Kakeru lachte. Koi lachte, und es störte ihn eigentlich auch überhaupt nicht, Kakeru so nah zu sein.

Eher im Gegenteil.

„Ah, schaut. Da sind sie schon.“

 

Zwei Lichtkegel kamen auf sie zu. Kai und Rui, immer noch Hand in Hand, und sie sahen so gesund und munter aus, als wäre ihnen überhaupt nichts passiert. Selbst Rui lächelte.

Koi verstand gar nichts. Wohin waren sie verschwunden?

Aber wohin es auch war – er war einfach froh darum, dass es ihnen gut ging, dass sie gesund und munter waren, und dass da nirgendwo mehr irgendwelche Geisterwesen waren, die ihnen das Leben schwer machen konnten.

Es war seltsam. Irgendwie hatte Koi das untrügliche Gefühl, etwas sehr wichtiges verpasst zu haben, als die zwei zu ihnen aufschlossen.

Irgendwie…

Shun seufzte zufrieden auf. Als Koi zu ihm sah, grinste er wieder sein wissendes, besorgniserregendes Grinsen, das ihm die Aura verlieh, dass er einfach alles wüsste und noch mehr. Koi fand es unheimlich. Und gerade war es irgendwie trotzdem fast charmant, denn er sah immer noch ehrlich erleichtert dabei aus.

 

„Wie beruhigend~ Manchmal braucht es eben gar keine Dämonen, um die bösen Geister zu vertreiben.“



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