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Fuchsmädchen

von

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Silberstreifen

Zwei Wochen waren vergangen, in denen sie nicht in der Schule erschienen war. Ein einwöchiger Krankenhausaufenthalt durchzog ihre Erinnerung. Die Höchststrafe für Liv. Krankenhäuser gehörten nicht zu ihrem natürlichen Lebensraum und sie verabscheute diese sterile und doch von Krankheit durchzogene Atmosphäre. Sie habe Glück im Unglück gehabt, hatten die Ärzte behauptet. Doch Liv wusste, dass es mehr als nur Glück gewesen sein musste. Der Gedanke an den kleinen Rotfuchs ließ sie nicht mehr los. Als sie an diesem Tag ihre Augen aufschlug, erblickte sie endlich wieder ihren kleinen Himmel. „Ich bin immer noch hier...“ murmelte sie leise und betrachtete dabei das Antlitz ihrer besten Freundin. Man konnte nicht deuten, ob sie diese Tatsache freute oder enttäuschte, doch sie war sich sicher, dass Clara es so gewollt hätte. Sie war schon immer mehr um andere besorgt als um sich selbst. Als Liv schließlich ihren linken Arm gen Stirn hob um nach verbleibenden Verletzungen zu tasten, fühlte sich ihr Arm viel schwerer als sonst an. Ein dunkelblauer Gips prangerte um ihren gesamten Unterarm. Tatsächlich hatte sie es geschafft, sich den Arm zu brechen. Ruhig ausatmend ließ sie ihre lädierte Gliedmaße wieder auf das Bett sinken und nahm sich mit der intakten Hand schließlich den Verband um ihren Kopf ab. Die Wunde schien verheilt, auch wenn sie eine sichtbare Narbe hinterlassen hatte und auch die Gehirnerschütterung schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Wie lange hatte sie eigentlich geschlafen? Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits nachmittags war. Seufzend rappelte Liv sich in ihrem Bett auf und blieb sitzen, während sie aus dem Fenster blickte. Ihre leeren Augen drückten die Ratlosigkeit in ihrem Herzen aus und zeigten, dass dieses Mädchen nicht wusste, wie es weiter gehen sollte. Was konnte sie mit ihrem Leben noch anfangen? Die Beine schließlich aus dem Bett gehoben, fiel ihr Blick zuerst auf das lange, weiße Nachthemd, das ihre nackten Beine verhüllte. Nachdem sie den Saum etwas angehoben hatte, entdeckte sie die unzähligen Kratzer, die sie an ihren Unfall erinnerten. Kleine, kaum mehr sichtbare Narben, die sich jedoch in ihre Seele gebohrt hatten und sie nie mehr vergessen ließen, was sie vorgehabt hatte. Vielleicht könnte sie bald endlich wieder in die Schule um sich abzulenken. Sie hatte sicher schon eine Menge verpasst und natürlich hatte sich niemand darum kümmern wollen, ihr die Aufgaben vorbeizubringen. Es erschütterte Liv nicht im Geringsten. Wer würde sie denn auch vermissen? Ein ziemlich ernüchternder Gedanke für ein junges Mädchen. Gerade als sie es wagen wollte, sich auf ihre Beine zurück zu kämpfen, hörte sie ein leises Kratzen. Zuerst konnte sie nicht ausmachen, von welcher Ecke ihres Zimmers es kommen konnte, doch als sie sich schließlich umdrehte und durch das Fenster direkt an ihrem Bett blickte, konnte sie gerade noch erkennen, wie ein rötlicher Schatten das Weite suchte. Doch dieses Mal war er nicht mit leeren Händen erschienen. Mit etwas Mühe reckte Liv sich hinüber zum Fenster, öffnete es einen Spalt und angelte nach dem kleinen Zettel, den vermutlich der Fuchs dort hinterlassen hatte. Ein Blick auf das verdreckte, leicht eingerissene Papier offenbarte ihr einen Namen, der in krakeliger Schrift auf das Papier gebracht worden war.
 

„Kaspar.“ Dieser Name war alles, was darauf zu lesen war. Sollte das etwa der Name des Fuchses sein? Und wer war sein Besitzer? Schließlich konnten Füchse bekanntlich nicht schreiben. Den Zettel rasch beiseite gelegt, riskierte sie einen prüfenden Blick durch das Fenster und erblickte gerade noch so den kleinen Streuner, der geschickt von Ast zu Ast sprang und mit allen vier Pfoten sicher auf dem Gras landete. In diesem Moment blickte der Fuchs zu Liv hinauf und ihre Blicke kreuzten sich. Ohne etwas in dem Gesicht des Fuchses lesen zu können, der sie mit seinen wachsamen Augen beobachtete, lächelte Liv sanft, bevor der Rotfuchs sich abwand und davonlief. Kaspar schien also sein Name zu sein. Nur von wem hatte er diesen erhalten? Wollte das Tier etwa mit ihr in Kontakt treten? Liv war leichtgläubig genug um so etwas zu denken. Schließlich war sie ihm noch zu Dank verpflichtet. Ihr Blick fiel auf die von ihrer Mutter hergerichtete Obstschale, die eine Vielfalt an süßen Früchten beherbergt und da Füchse bekanntlich Allesfresser waren, schien Liv damit zumindest für den Anfang ihre Dankbarkeit ausdrücken zu wollen. Einige kleine Kirschen in die Faust genommen und auf dem äußeren Fensterbrett drapiert, schloss Liv das Fenster wieder um den Fuchs nicht gleich zu verschrecken, falls er sich seine Leckerei früher oder später holen sollte.
 

Nun wurde es aber endlich Zeit wieder auf die Beine zu kommen. Zaghaft tastete das Mädchen nach dem großen Teppich und spürte zuerst nur den kalten Parkettboden. Dann wurde sie mutiger und schaffte es schließlich, wenn auch wackelig, auf die Füße. Den kleinen Zettel an sich genommen, wankte Liv zu ihrem Schreibtisch, nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz und kramte ihr Tagebuch aus der untersten Schublade hervor. Es schließlich aufgeschlagen, notierte sie das heutige Datum auf einer neuen Seite und klebte den Zettel hinein. Es war alles, was an diesem Tag zählte. Auch wenn es nur für jetzt sein würde, der Fuchs hatte sie neugierig gemacht und damit zumindest eine temporäre Aufgabe für Liv geschaffen. Ein Gefühl von Hoffnung lag in der Luft und es war, als würde sich ein einzelner Silberstreif durch ihren kleinen Himmel ziehen. Das Tagebuch wieder an seinen Platz gelegt, wand sie sich zum Fenster um, hinter welchem die Kirschen noch unberührt lagen. Was hatte sie erwartet? Das Tier würde sicher nicht so schnell Vertrauen zu ihr fassen. Aber war es wirklich ein normales Tier? Liv verstrickte sich innerlich in die wildesten Vermutungen und Behauptungen. Was könnte es mit Kaspar auf sich haben?
 

Während sie völlig in ihren Gedanken versunken war, hatte sie das Geräusch der Türklingel vollkommen ausgeblendet. Egal, was dort für ein Besuch auf sie wartete, er würde sicher nicht so einfach ins Haus gelangen. Livs Eltern waren noch nicht zuhause und ihre Tochter war in ihrer Traumwelt aus vernunftbegabten Tieren und ihrem eigenen Sternenhimmel verschollen. Einige Augenblicke war es ruhig und Liv hatte sogar ihre Augen geschlossen, bis sie durch ein unangenehm lautes und wiederkehrendes Klopfen auf Glas aus ihren Träumen geholt wurde. Verdutzt begutachtete sie das Fenster, aus dessen Richtung sie die Störquelle vermutete. Und tatsächlich sah sie im nächsten Moment ein weiteres Steinchen gegen die durchsichtige Oberfläche klirren. Leicht genervt von der Tatsache, dass davon die Fenster ruiniert werden konnten, rappelte Liv sich erneut auf um aus dem Fenster zu blicken, doch als sie sich einen Überblick verschafft hatte, war der Unruhestifter nicht mehr zu sehen. Kopfschüttelnd zog sie sich schließlich ihren hellblauen Cardigan über das weiße Nachthemd und trat aus ihrem Zimmer. Während sie die Treppe nach unten schlich, hielt sie sich beinah krampfhaft am Geländer fest um ja nicht hinabzustürzen. Ein falscher Schritt und sie wäre wieder dort, wo sie vor zwei Wochen begonnen hatte. Im unteren Wohnzimmer angekommen, beobachtete sie wachsam die großen Panoramafenster, um den überraschend hartnäckigen Gast ausmachen zu können. Nichts. Keine Spur von irgendjemandem. Ihr letzter Anhaltspunkt führte sie schließlich zur Eingangstür, die sie zuvor überhört hatte. Im Briefschlitz der hellen Tür befand sich nicht wie üblich ein Haufen an Zeitungen und anderen Werbezeitschriften, sondern ein beträchtlicher Haufen an Schulmaterialien und Arbeitsunterlagen. Vollkommen überrumpelt von diesem Anblick, ging sie nun deutlich schneller auf die Haustür zu und öffnete sie genau in dem Moment, als der ungebetene Gast ihr den Rücken zugewendet hatte. Mit großen Augen musterte sie die ihr nicht ganz unbekannte, düstere Rückansicht und schluckte kurz. Das Geräusch der sich öffnenden Tür schien auch den Gast überrumpelt zu haben und er sah angespannt über die Schulter zurück. Er schien sich zu einer Erklärung bereit machen zu wollen, doch als er seinen Blick auf die wesentlich kleinere Liv warf, verfinsterte sich seine Miene deutlich. „Ist irgendwer zuhause?“ fragte er völlig aus dem Zusammenhang gegriffen, während Liv nur wie versteinert den Kopf schüttelte. Auf diese Reaktion hin schmälerte der ungebetene Gast die Augen, packte die vorübergehende Herrin des Hauses am Arm und ging wie selbstverständlich in die fremde Wohnung hinein. Sein Blick galt für keinen Moment dem Mobiliar oder der anderen Einrichtung und schon gar nicht Liv. Stattdessen schien er gefunden zu haben, was er suchte, als sie das Wohnzimmer betraten und er Liv auf das Sofa schubste und sich selbst bedrohlich vor ihr aufbaute.
 

„Willst du mich eigentlich verarschen...? Woher hast du meine Handynummer?!“ brachte Victor, seine Wut unterdrückend und die Zähne aufeinander pressend, hervor. Liv sah bloß verwundert zu ihm auf. Sie hätte jedes Recht gehabt ihn anzuschreien oder ihn aus dem Haus zu jagen, schließlich beging er hier gerade eine Straftat. Hausfriedensbruch in dieser Form war wirklich kein Kavaliersdelikt. In aller Ruhe rappelte Liv sich wieder etwas auf und versuchte zwischen seinen Worten und ihren Erinnerungen einen Zusammenhang zu finden. Schließlich schien sie die passende Antwort gefunden zu haben. „Ich hab' deine Handynummer nicht.“ brachte sie ihm sachlich entgegen und musterte ihn auffällig. Warum trat er nun bereits ein zweites Mal in ihr Leben? Einen so üblen Zeitgenossen wollte niemand lange um sich haben. Und doch fiel ihr in diesem Moment auf, dass beide sich in gewisser Weise ähnelten. Niemand wollte mehr als nötig mit ihnen zu tun haben. An Victors Blick konnte sie erkennen, dass er sich mit ihrer Antwort nicht zufrieden geben würde. Stattdessen schien er gleich wieder handgreiflich werden zu wollen und griff nach Livs Handgelenk. Doch dieses Mal nahm das Mädchen allen Mut, den sie in ihrem schmalen Leib hatte, zusammen und schlug seine Hand weg. „Hast du mir deswegen meine Sachen vorbeigebracht? Als Ausrede um mir diese bescheuerte Frage zu stellen, deren Antwort du kennen solltest?! Ich habe keine Lust mit irgendjemandem in Kontakt zu kommen. Und schon gar nicht mit dir!“ machte Liv ihren Standpunkt mehr als klar und zeigte zum ersten Mal einen wahren Gefühlsausbruch, weshalb Victor sich etwas zurückzog. Ihr Wutausbruch konnte nichts an seiner gefällten Erkenntnis rütteln: Der Geek hatte ihm die verdammte Nachricht geschrieben. „Als ob ich dich einfach so besuchen würde um dir deine Sachen zu bringen. Du kümmerst mich nicht, aber ich hab' ein Problem damit so dämliche, neunmalkluge Nachrichten von dir zu bekommen...“ verdeutlichte er den Grund für seine Anwesenheit hier ein weiteres Mal und entdeckte dann erst den Gipsarm des Mädchens. „Du bist nicht nur verrückt, sondern auch noch tollpatschig?“ begann Victor in diesem Moment abfällig zu grinsen, doch da hörte der Spaß endgültig auf. Erneut kochte die Wut in Livs Innerem hoch und wusste nicht, durch welches Ventil sie entweichen sollte. „Was ist? Lass mich einfach in Ruhe und ich lass dir dein elendes Leben, wenn man es überhaupt so nennen kann.“ ging Victor mit seinen Worten eindeutig viel zu weit und traf Livs empfindlichsten Nerv, ihre Kontroverse bezüglich Clara und ihrem Ableben. Ihre Hand traf seine Wange wie ein Blitz, während Victors Kopf zur Seite wippte. Er schien im ersten Moment selbst nicht zu wissen wie ihm geschieh, doch schnappte sich fast sofort Livs Arm, den er unsanft drückte. „Spinnst du-?!“ setzte Victor an sofort wieder loszuschreien, doch wurde barsch von Liv unterbrochen. „Du hast doch keine Ahnung wie es ist alleine zu sein! Jeden Tag darauf zu hoffen, dass es einfach aufhört! Du kennst meine Probleme doch überhaupt nicht!“ fuhr sie ihn schließlich an und begann heftig zu atmen. Tatsächlich schien sie Victor mit diesen Worten endlich zum Schweigen gebracht zu haben und er ließ von ihr ab. „Du weißt gar nichts...“ sprach Liv die Worte aus, die Victor zeitgleich dachte.
 

Nach einer halben Ewigkeit des unangenehmen Schweigens trafen sich die Blicke der beiden wieder. Ihrer beider Wut schien vorerst verraucht zu sein. Schließlich traute sich Victor zuerst, das Wort zu erheben. „Ich weiß das von Clara.“ entgegnete er der Jüngeren ruhig, doch eine Beileidsbekundung brachte er nicht über die Lippen. Diese ganze Situation wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Und Victor tat das, was er am besten konnte: sich aus der Affäre ziehen und davonlaufen. Mit einem Mal hatte er sich abgewendet und war bereits in den Flur zurückgegangen. Liv war wie erstarrt, nachdem dieser Kerl es gewagt hatte, Claras Namen in den Mund zu nehmen und doch setzte sie sofort an, ihm zu folgen. Victor hingegen machte keinen Halt. Zu unangenehm war dieser eigentliche Drohbesuch für ihn geworden. Die Ähnlichkeit zwischen ihren doch recht unterschiedlichen Schicksalen beunruhigte nun auch ihn. Letztlich schien er nicht mehr gedacht zu haben, dass Liv ihm die Nachricht geschickt hatte, aber es musste eine außenstehende Person gegeben haben, die ihn denken hatte lassen, es wäre der Geek. Liv hingegen hatte Victors Situation nicht begriffen. Wollte sie das überhaupt noch? Zu sehr hatte er sie gerade verletzt. Er war die unmöglichste Person, die ihr jemals untergekommen war und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Was hatte dieser 'Unknown' bezwecken wollen?
 

Liv sah ihn das letzte Mal in der Eingangstür, bevor er auf sein umgemodeltes, schwarz-orange farbenes Motocross-Bike stieg und ohne ein weiteres Wort wieder aus ihrem Leben verschwand. Der nachmittägliche Himmel war grau und es sah wie üblich nach Regen aus, doch als Liv genauer hinsah, konnte sie einen schmalen, hellen Streifen entdecken. Das Licht in all dem Grau. Clara.
 

Die Motorengeräusche schreckten den jungen Rotfuchs kurz auf, während er die letzte Kirsche vom Fensterbrett stibitzte und dem Motorrad nachsah.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Saiki
2017-03-12T11:21:16+00:00 12.03.2017 12:21
Sehr interessant. Mich hätte jetzt ja mal interessiert, ob Victor in den zwei Wochen weitere Nachrichten bekommen hat. Aufgrund seiner Reaktion gehe ich jetzt mal davon aus, denn sonst wäre er sicher nach zwei Wochen Stille nicht bei ihr aufgetaucht. ;)
Ich bin sehr gespannt, in welchem Verhältnis er vielleicht zu Clara gestanden haben könnte. Ich vermute sehr stark, dass sie die Verbindung zwischen den dreien, Victor - Liv - Kaspar, ist. ^^


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