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shaping fate

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Manal-Khesin, vielleicht?

 „Du willst… was? Nein. Nein! Vetus, wir jagen den gefährlichsten Untoten der gesamten Welt, wir haben keine Zeit für sowas!“

Irgendwo hatte er einen Fehler begangen. Er wusste es. War ja zugegeben auch schwer zu übersehen. Vielleicht hatte es daran gelegen, das Gespräch mit „Arien, wir müssen reden“ zu beginnen. Das hatte möglicherweise bereits erste Warnglocken geläutet, erste Abwehrmaßnahmen in Position gebracht und eine zumindest unbewusste, unterschwellige Erwartungshaltung etabliert. Genau. Daran musste es liegen.

Dann wiederum hatte er auch selbst eine Erwartungshaltung, sobald es um Gespräche mit Arien ging. Erst recht, wenn er Mist gebaut hatte und ihn wider ihres überragenden Intellekts gestehen musste, weil sie nicht zufällig selbst darüber gestolpert war oder die Konsequenzen sich selbst veröffentlichten – oder, weil er etwas wollte und wünschte, das ihren Vorstellungen und Zielen widersprach. Beides waren Dinge, die häufig zu dieser Einleitung eines Gesprächs führten. Ein Warnschuss, gewissermaßen – damit sie wusste, worauf sie sich einstellen sollte.

So betrachtet, war der bisherige Gesprächsverlauf nicht ganz so überraschend wie er ihm zunächst vorgekommen war. Überraschend – aber mehr noch, frustrierend. Nun, da die Erkenntnis stand, galt es die Frage zu beantworten: Wie ging es von hier an weiter? Wie liefen diese Gespräche üblicherweise weiter?

Er rechtfertigte sich, erklärte sich und sein Vorgehen, bekam hier und da ein wenig Verständnis oder Nachsicht, wieselte sich über die deutlich vorhandene Sympathie heraus. Das war natürlich nicht immer so. Nicht einmal wirklich oft – aber heute würde er diese Route nicht gehen. Nicht gehen können. Also entschloss Vetus sich, zu tun, was er am besten konnte: Arien verwirren und ihre Verwirrung ausnutzen, um ihre Zustimmung zu erlangen. Denn das hatte ja bisher immer sooo gut geklappt…

„Es nennt sich Manal-Khesin!“, erklärte er in stolzem Brustton und bemühte sich um sein überzeugendstes Lächeln. Vielleicht wiederum war gerade dieses Lächeln das Problem gewesen…?

„Manal-Khesin?“, wiederholte Arien mit skeptisch gehobener Braue. Etwas unsicherer als zuvor bemühte sich Vetus dennoch, zu nicken und dabei die gleiche Überzeugung auszustrahlen – an Letzterem scheiterte er gnadenlos. „Papa, ich kann Drakonisch. Ich spreche es. Fließend. Auch Alt-Drakonisch!“

Ach ja… ups…?

„Und nach dem Wenigen, was du mir bisher erzählt hast, ist der Tag, an dem man Dinge weggibt einer der schlechtesten Namen, den ich je gehört habe – und scheint mir auch nicht recht zum alten, ehrwürdigen Volk der Erstgeborenen zu passen. Also?“

Also? Also was? Also… alsooo… oh – sie wartete auf eine Erklärung des Namens! Na das war doch perfekt. Das hieß, die Ablenkung hatte funktioniert. Er hatte quasi die Klaue in der Tür. Ausgezeichnet! „Also möglicherweise ist das drakonische Volk nicht immer sehr präzise. Oder sich in allem einig. Möglicherweise empfanden ein paar von uns, gerade von den Älteren, dass nicht immer alles einen Namen braucht, weil ja ohnehin selbstverständlich ist, was man meint. Und möglicherweise versuche ich seit Ewigkeiten, das zu ändern. Zugegeben, ist vielleicht nicht der beste Name, aber wenn man des Drakonischen nicht mächtig ist, dann klingt er ganz hübsch, oder nicht? Mir ist einfach noch kein Name eingefallen, der im Drakonischen eine sinnvolle Bedeutung hat, in anderen Sprachen aber nicht völlig absurd klingt.“

Das hatte aus der Bahn geworfen. Irgendwie.

Arien dachte eine ganze Weile nach, ehe sie langsam den Kopf hob und ihn musterte. „Du willst dem einen Namen geben, den auch andere kennen sollen? Du willst das zu einem Bestandteil anderer Kulturen machen?“

Vetus stockte. Wollte er? „Naja… nein… ja… weiß nicht. Es ist ein Fest. Ein großes Fest. Eines, das meiner, ich meine, unserer Kultur entspringt. Und für uns wichtig ist. Und wir sind ja angeblich für die Welt so wichtig. Ira und andere haben inzwischen mehrfach bewiesen, dass sie Verbindungen zu anderen Rassen haben. Dass sie Freunde haben, die selbst keine Drachen sind. Und schau uns an. Wir haben Familie, die nicht zum Drachenvolk gehört. Der Rest der Welt soll davon wissen. Soll es kennen. Und irgendwann, vielleicht, mit uns feiern.“

Wieder musterte sie ihn eine Weile. „Das ist ein scheußlicher Name“, lautete ihr Urteil. Jedenfalls glaubte er, dass es ein Urteil war, ein recht Finales obendrein. Dann aber lächelte sie ihm leicht zu und schaffte es, die Verwirrungstaktik umzudrehen. „Erzähl mir mehr davon.“

Was genau sie dazu bewogen hatte, ihre Meinung zu ändern, wusste er nicht. Vetus hatte sich bereits felsenfest überzeugt vom weiteren Ablauf des Gespräches darauf eingestellt, die immer gleiche Diskussion mit Arien durchgehen zu müssen, ein inzwischen altvertrauter Tanz: Sie eröffnete damit, was sie taten. Was auf dem Spiel stand. Was sie noch alles zu tun und zu erledigen, zu bewältigen und zu meistern hatten. Er hielt dagegen, dass sie und Rik Personen waren, fehlbar, nicht-maschinell, mit Persönlichkeiten. Sie brauchten Ruhephasen, Erholung. Nicht nur Schlaf, um ihre körperlichen Bedürfnisse zu erfüllen – und Essen, wenn man schon mal dabei war -, sondern auch Entspannung und zumindest dann und wann etwas Freude, um auch dem Verstand die Möglichkeit zur Regeneration einzuräumen. Sie würde in einem verzweifelten Versuch dagegenhalten, dass das aber alles Zeit kosten würde und sie sich sehr wohl entspannen könne, während sie nützliche Dinge tat – woraufhin er all die Gelegenheiten aufzählen musste, zu denen eben genau das nicht funktioniert hatte.

Eine beständig wachsende Liste, überdies, was ihm diesen ganz speziellen Diskussionsablauf mit den Tagen und Wochen immer leichter und leichter gemacht hatte. Nicht, das er darüber sonderlich erfreut war. Er zog keinerlei Genugtuung daraus, sie scheitern zu sehen oder dabeistehen zu müssen, wenn sie sich – mal wieder – in Grund und Boden spielte und ihm die Rolle zufiel, die Tage zu zählen, wie lange sie das noch durchhalten könne, ehe einmal mehr ein weiteres Beispiel auf seiner Liste landen würde.

Aber Arien tat sich unglaublich schwer, aus bestimmten ihr eigenen Verhaltensmustern herauszukommen. Die diesbezügliche, charaktergebundene Sturheit war dem drakonischen Volk sehr zu eigen und vielleicht hatte er demgemäß eine gewisse Mitschuld daran – immerhin war er ihr Vater. Und allein an dem Umstand, dass er maßlos verfressen war und, sofern man ihn ließ, träge bis zur Sündenhaftigkeit hin, den Großteil seines Tages bereitwillig verschlafend, zeigte deutlich genug, dass auch er davor nicht gefeit war.

Diesen Tanz heute nicht aufführen zu müssen war… eine angenehme Erleichterung.

„Das Fest geht über drei Tage. Der vorletzte Tag des Jahres, der letzte Tag des Jahres und schließlich der erste Tag des neuen Jahres. Ich könnte versuchen, mir eine lustige Geschichte über Herkunft und Entstehung des Festes einfallen zu lassen, über seine weitreichende Bedeutung und was sich die ersten Drachen dabei dachten, aber… ich fürchte, das gehört mit zu dem Teil, der einfach nie wirklich einer Erklärung oder Erwähnung wert war und deshalb irgendwo in der Geschichte abhandenkam. Das Fest ist einfach.“

Es war… seltsam, sich so verwundbar zu fühlen. Er hatte mit Arien ein Risiko bewusst in Kauf genommen – das hatte er wieder und wieder und wieder getan. Jedes Mal, wenn er sich als ihr Vater zu etablieren versuchte. Wenn er ihr ein Freund sein wollte. Wenn er ihr seine eigenen Probleme anvertraute. Wenn er sich ihr gegenüber irgendwie nahbarer machte. Denn nur allzu oft ging das damit einher, verletzlich zu werden.

Aber sie standen längst nicht mehr am Anfang. Sie waren weit darüber hinaus. Er war ihr Vater. Er war ihr Freund. Er war für sie da. Und sie für ihn. Dieses plötzliche Empfinden von Verwundbarkeit war eine merkwürdige Erinnerung an frühere Zeiten und machte ihm mit einem Mal sehr deutlich, wie viel ihm das hier eigentlich bedeutete.

„In den letzten Wochen und Monaten hast du dich auf meine Ideen und Vorschläge immer mal wieder eingelassen. Du hast begonnen, dein kulturelles Erbe zu akzeptieren, dich damit auseinander zu setzen. Und ich bin stolz auf dich. Sehr. Dieses Fest ist… ein weiterer Teil davon. Ein Großer. Und ehe jetzt die Frage kommt, warum du dann jetzt erst davon erfährst – vorher war es einfach nicht relevant. Es hat dieses spezifische Datum, es wird niemals an irgendeinem anderen Tag gefeiert werden und… um ehrlich zu sein, ich denke, letztes Jahr warst du noch nicht so weit, die Tragweite dessen zu begreifen. Jetzt schau nicht so! Ich beleidige nicht deinen Verstand, das solltest du besser wissen. Aber inzwischen hast du ein völlig anderes Verständnis für drakonische Kultur, für unsere Sichtweisen, unsere Lebensweise. Oder nicht?“ Eine kurze Weile überlegte sie und ihr Nicken beruhigte ihn schließlich. „Gut, fein. Ich denke nämlich, dass das Fest für uns zwei nochmals eine ganz andere Bedeutung und Wertigkeit haben kann als für den Rest unseres Volkes.“

Zufrieden setzte er sich endlich wieder zu ihr auf das Sofa und begriff da erst, wie aufgewühlt er die ganze Zeit in Ariens Wohnzimmer herumgetigert war. Seine Beine waren schwer und müde. Seine Flügel ebenfalls – hatte er wieder mit ihnen herumgestikuliert?

„Der erste Tag ist der Vergangenheit gewidmet. Dabei spielt es keine Rolle, ob man von letztem Jahr spricht oder von vor fünftausend Jahren. Gefeiert wird das Gemeisterte und das, woran man scheiterte. Denn jeder Moment, der zurückliegt, formte den Weg, den man ging – und einen selbst. Es ist ein Tag der Besinnung. Am zweiten Tag feiert man die Gegenwart, das Vorhandene, die Herausforderungen, denen man gegenübersteht – weil sie die Möglichkeit bieten, daran zu wachsen. Und am dritten Tag dann das Zukünftige. Für Drachen ist das Fest so wichtig, weil wir einen völlig anderen Bezug zur Zeit haben, zu unseren Ursprüngen und dem Weltgeschehen. Es ist ein Mahnmal, eine Entscheidungshilfe, eine Gedächtnisstütze und eine Gelegenheit. Wie du schon festgestellt hast: Wir kommen selten genug zusammen. Das Fest wird aber auch nicht jährlich begangen, falls du jetzt darauf hoffst. Tatsächlich ist das ziemlich… unregelmäßig. Immer zur selben Zeit, ja, aber nicht jedes Jahr. Oder, schon, aber… warte – von vorne. Drachen sind so ganz grundsätzlich zeitlos, das weißt du schon. Sie altern und wachsen, aber sie sterben niemals nur am Verstreichen der Zeit. Junge Drachen sind häufig ziemlich… enthusiastisch, gerade aus Sicht der Älteren. Voller Tatendrang und so schrecklich ungeduldig. Sie wollen die Welt retten und Monster besiegen und Gutes tun – kommt dir vielleicht vage bekannt vor.“ Unter seinem breiten Grinsen und Zwinkern wurde sie zumindest ein klein wenig rot. Das funktionierte nach wie vor. „Junge Drachen legen auch einen Hort an, aber was sie horten, das wechselt häufig. Und meist fangen sie klein an. Münzen, Edelsteine, gewöhnliche Steine, Spielzeug, Kleidung, uhm… Hüte. Nein, kein Scherz – ich kannte mal einen Wasserdrachen, der Hüte sammelte! Oder werde kennen? Na jedenfalls: Wasserdrache. Federn und tolle Stoffe und alles ständig nass. Muss frustrierend gewesen sein, die sauber zu halten. All die Algen und was immer da unten noch wächst… äh, Fokus! Zum Fest wird am zweiten Tag üblicherweise demonstriert, dass man Drache ist, mit Stolz, sich aber der damit einhergehenden Schwächen durchaus bewusst ist und nicht nur fähig, sondern auch willens ist, sich mit ihnen auseinander zu setzen, sie zu konfrontieren – und sie, letztlich, zu überkommen. Das macht man, indem man ein Stück aus seinem Hort aufgibt und es dem Hort eines anderen Festteilnehmers anvertraut. Mit diesem Teil des Hortes gibt man ein Stück von sich selbst auf – und im Gegenzug akzeptiert man etwas von jemandem. Das ist alles sehr… persönlich.“

Das wiederum hatte sie sehr schnell begriffen, wie ihm klar wurde. Arien wirkte sehr… unbegeistert. Ihr Hort war die Nadel. Oder vielmehr: Die Leute darin. Aber wie so viele junge Drachen wechselte das, was sie hortete häufig und sie hortete nicht nur eine Sache. Glücklicherweise. Leute als Besitztümer zu überreichen hätte… schwierig werden können. Abbas mit einem hübschen roten Schleifchen am Oberarm, wie er von Arien langsam in Elesils Richtung geschoben wurde und sich stocksteif dagegen aufzulehnen versuchte. Ein amüsantes Bild in seinem Kopf, aber Vetus konzentrierte sich rasch wieder auf das Notwendige.

„Du sammelst nicht nur Familie. Vergiss das nicht“, mahnte er entsprechend zügig. Sie wirkte verdutzt, irritiert, entspannte dann jedoch merklich – nur, um sich sofort wieder ein Stück weit anzuspannen. Nun, zumindest war es nicht so schlimm wie zuvor. Denn obgleich nicht so schlimm wie das Verschenken einer Person, war für einen Drachen doch jeglicher Verlust aus seinem Hort spürbar und schmerzhaft. Und sei es nur ein paar Ohrringe, ein Armreif oder ein Fußkettchen.

„Junge Drachen feiern das Fest aufgrund ihrer ungeduldigen Natur und ihres meist größeren Hortes, der aus vielen kleinen Einzelteilen besteht und dessen Bestandteile oft wechseln, häufiger. Sie kämpfen aber auch stärker mit ihrer Natur und haben damit mehr Probleme, sich im Griff zu halten. Je älter ein Drache wird, umso stärker ist sein Wille. Umso besser kennt er sich aus. Ist mehr im Einklang mit sich, seinem Sein und seinen Instinkten. Was aber vielleicht auch nicht ganz unwichtig ist: Der Hort eines älteren Drachen wird entgegen der großen Legenden von überragenden Schätzen und vollkommen ausgehöhlten Bergen voller Gold tatsächlich eher kleiner als größer. Also, meist zumindest. Diese wenigen, überschaubareren Stücke sind dann aber meist phänomenal kostbar. Oder mächtig. Deshalb feiern Drachen das Fest meist auch in ihrer gleichen Altersgruppe. Für einen alten Drachen ist die bloße Vorstellung grausig, er würde im Rahmen des Festes eine Sphäre der Vernichtung verschenken – an einen jungen Drachen, der entweder genug Willen hat, sich gegen sie durchzusetzen und sie tatsächlich einzusetzen, oder eben nicht – und mit dem Versuch, sie einzusetzen, sich selbst umbringt. Ältere Drachen horten zudem auch Dinge, die sich mitunter einfach wirklich schwierig verschenken lassen. Ich kannte mal diesen Astraldrachen… oder werde kennen… der sammelt Taschendimensionen. Klar, so einen bodenlosen Beutel kannst du problemlos jemandem in die Klauen drücken. Oder Hände. Ein tragbares Loch geht auch noch. Aber ein Demiplane? Und wie schon gesagt: Der Hort eines älteren Drachen wird meist kleiner, überschaubarer, aber häufig wertvoller und mächtiger. Ich bezweifle, dass der sowas wie bodenlose Beutel und tragbare Löcher überhaupt noch hatte.“

Breit grinsend saß Vetus einen Moment stillschweigend dort, hing seinen Gedanken nach. Fetzen von Erinnerungen aus einem anderen Leben. Seinem, schon – aber es ließ sich, wie so oft, schwer sagen, ob es ein früheres, späteres oder grundsätzlich anders verlaufenes Leben war. Er genoss schlicht die Vertrautheit einer engen Freundschaft, die er darin sah. Genoss Erinnerungen an ein gefeiertes Fest, bei dem ihm unter stundenlanger Predigt zum sicheren Umgang damit eine Taschendimension übergeben worden war. Wo die wohl gerade herumschwirrte? Ob sie auch mit ihm einen Zeitsprung gemacht hatte? Ob es sie irgendwo gab und er nur nicht mehr wusste, wo und wie man sie betrat?

Erst nach einer ganzen Weile fand er ins Hier und Jetzt zurück. Arien wirkte nachdenklich. Wussten die Götter, worüber sie sich den Kopf zerbrach – er empfand es nicht als störend, ihr hinein zu quatschen und wusste inzwischen aus Erfahrung, dass sie klug genug war, damit zurechtzukommen. „Wir sind jung. Wir haben viel. Und jetzt… da du soweit bist… würde ich gerne unser erstes gemeinsames Fest feiern. Du und ich – und der Rest der Chaoten hier.“

Offenbar hatte er einen Punkt erraten, der gegenwärtig in ihrem Kopf diskutiert wurde. Überrascht blickte Arien auf und lächelte nach einem Moment. Oh sie hatte doch nicht etwa wirklich geglaubt, dass das ein Zwei-Personen-Fest werden würde?!

„Ist es denn in Ordnung? Wenn der Rest davon erfährt? So wichtig, wie es ist, wirst du sie nicht einfach mitfeiern lassen, ohne ihnen zu erklären, was sie eigentlich feiern, oder?“, hakte Arien etwas unsicher nach.

Vetus dagegen grinste breit. „Manal-Khesin“, gab er lediglich zurück.

Sie nickte, deutlich das Gesicht verziehend. „Die Grammatik ist schrecklich“, erklärte sie. Aber zumindest hatte er deutlich machen können, was er hatte deutlich machen wollen: Das Fest war ein Fest der Drachen, eine Tradition ihres Volkes. Das hieß nicht, dass man es nicht anderen Völkern nahe bringen konnte.

Oder eben vielleicht sogar sollte.

Denn wer konnte wirklich bestreiten, dass es da draußen nicht mehr Raum für Verbesserung gab? Wer konnte sagen, das nicht genug Menschen, Elben, Zwerge, Tieflinge, Aasimare, Halblinge und wie sie noch alle hießen, unter Gier litten, unter Geiz, unter Egoismus und Missgunst? Das Fest war ein Fest des Gebens. Des Besinnens, Wertschätzens, Hoffens. Nicht zuletzt war es ein Fest der Liebe: Man überreichte, was einem wert und teuer war. Und das tat man ganz gewiss nicht einfach an irgendwen. Man feierte im Kreis der Familie. Vielleicht sogar der Freunde. Was man gab, wollte man sicher wissen, gut behütet und wertgeschätzt, wohlwissend, dass die Wertschätzung des neuen Besitzers niemals an die Eigene heranreichen würde – aber deshalb nahm man ja auch etwas von jemand anderem in Obhut.

„Das heißt, du bist dabei?“, hakte Vetus nach einer Weile vorsichtig nach.

Eher geistesabwesend nickte Arien. „Ja, natürlich… wir müssen nur…“ Sie nuschelte, leise, den Blick weit schweifen lassend. Er durchdrang das Textil des Stuhls, das Holz des Tisches, den Stein des Bodens und vermutlich auch die Existenzebene, in der sich dieser Raum befand.

Seufzend tippte Vetus sie gegen die Schulter und wartete, bis sie sich vom unweigerlichen Zusammenzucken erholt hatte und ihn entrückt anstarrte. „Wir müssen gar nichts. Ich muss. Du dagegen hast grünes Licht gegeben und ich kann jetzt anfangen. Und um ehrlich zu sein: Das habe ich sogar längst. Die anderen wissen bereits, was das Fest ist, wann es ist und was es dazu bedarf. Viele haben sich bereit erklärt, zu helfen. Auch wenn es nicht wirklich viel zu erledigen gibt.“

Grünes Licht… seltsam, wie schnell sich die Redewendung eingeprägt hatte…

„Vasilla fand den Namen übrigens sehr wohlklingend!“

Abermals verzog Arien das Gesicht. „Sie spricht kein Alt-Drakonisch, oder?“

„Nicht, das ich wüsste.“

„Dann versteht sie nicht, was du der Sprache antust. Das zählt nicht. Hast du Rik gefragt?“

„Natürlich. Er zierte sich wieder ziemlich, aber nach der sechsundsiebzigsten Frage in einer Stunde sagte er seine Beteiligung zu“, erklärte Vetus stolz. Er hatte Rik überzeugt, an einem sozialen Ereignis teilzuhaben. Im Kreise aller. Mit vielen Leuten. Und Gesprächen. In denen er teilnehmen würde. Dabei ließ er gekonnt unter den Tisch fallen, das er in dieser einen Stunde nur sechsundsiebzig Mal gefragt hatte – Thilia dagegen geschätzt doppelt so oft. Fünfmal so oft, falls man ihre mentale Brücke zu Rik mit einbezog.

„Ich-… was? Nein, warte. Ich meine wegen des Namens“, korrigierte Arien zunächst etwas verwirrt.

„Was? Ach so. Uh… nö?“ Zugegeben, das kam etwas kleinlauter heraus, als es beabsichtigt gewesen war.

„Dachte ich mir irgendwie“, schoss Arien sofort auf die offengelegte Schwäche los. Rik beherrschte Alt-Drakonisch und verstand damit umso besser, was der Name bedeutete. Aber verstand sie denn nicht, das Rik nunmal Rik war und Rik-Dinge tat und dachte und sagte? Das war kein fairer Maßstab für einen normalen Verstand! Rik war immer so… penibel, wenn es um Sprachen ging…!

„Was… muss ich dann jetzt eigentlich machen?“, erkundigte sich Arien nach einem Moment wieder, deutlich unsicherer als eben.

Vetus dagegen zuckte mit den Schultern. „Nichts wirklich. Wobei – du könntest dir schon mal Gedanken darum machen, wovon du dich trennen würdest.“ Wieder spannte sie sich etwas an, nickte jedoch. Die Frage dagegen, wer denn ihr Stück bekäme, irritierte ihn und zeigte nur zu deutlich auf, dass er zu tief in der Sache drin steckte, um immer alle Details vor Augen zu haben. „Oh, uhm, das weißt du nicht. Das weiß niemand vorher. Es ist kein personalisiertes Geschenk, nicht auf den Empfänger zugeschnitten. Dreh den Spieß stattdessen um: Was bedeutet dir wie viel und wovon wärst du bereit, dich zu trennen? Wer was bekommt, das wird ausgelost. Aber jedes Stück hat eine Geschichte. In der oft deutlich wird, warum es einem so viel bedeutet. Du hast viel Schmuck – aber mancher davon ist dir mehr wert als anderer. Denk dran: Es geht um Überwindung. Klar, du könntest dich vom kleinsten Stück trennen, das wegzugeben dir am einfachsten fällt. Aber was hättest du damit wirklich demonstriert? Eine Fähigkeit, dich selbst im Zaum zu halten, oder letztlich doch nur, wie sehr Geiz dich führt und leitet? Du solltest aber auch nicht ins andere Extrem umschwenken und deinen kostbarsten Besitz herausrücken – denn das ist, äh, naja… dein kostbarster Besitz eben. Du bekommst ihn nicht zurück. Die anderen werden vermutlich Schwierigkeiten haben, deine Geschichte zu verstehen, wie viel wirklich für dich dran hängt. Hm dann wiederum, in letzter Zeit haben sie oft genug erlebt, wie es dir geht, wenn dein Hort bedroht wird – vielleicht verstehen sie’s ja doch. Werden wir dann wohl sehen.“

Vetus wusste sehr wohl, dass das nicht sonderlich hilfreich gewesen war. Sie sollte nicht das Stück nehmen, von dem sie sich am leichtesten trennen konnte, weil es die Botschaft des Festes untergraben würde. Aber auch nicht, was am kostbarsten wäre – weil es ein tatsächlicher Verlust wäre. Das Zweitkostbarste also? Warum hatte er nicht einfach auf ein paar Ohrringe deuten und „die da“ sagen können? Sie hätte sich damit abfinden müssen, sich überwinden müssen. Aber es wäre klar und eindeutig gewesen. Warum hätte sie nicht vorher wissen können, für wen es war? Dann hätte sich möglicherweise etwas finden lassen, das dem Empfänger auch Freude bereitete. Etwas bedeutete. Mehr war als Tand, der auf einem Regal verstaubte.

Aber darum ging es nicht. Es ging nicht um den Gegenstand – oder den nassen Hut oder die Taschendimension -, sondern um den ideellen Wert. Um die Geschichte. Darum, was es dem Vorbesitzer bedeutet hatte. Es ging darum, sich der Vergänglichkeit aller Habe bewusst zu werden. Sich damit zu konfrontieren. Und im Angesicht dessen zu überdauern. Sich nicht von falscher Vorsicht im Genuss des Vorhandenen beeinträchtigen zu lassen, sich nicht an alles zu klammern oder davor zurückzuschrecken. Es war eine Lektion in Mäßigung. Etwas, dass das Drachenvolk – jedes einzelne Mitglied – dann und wann gut gebrauchen konnte.

Arien stand eine interessante und teils schwierige zweite Monatshälfte bevor, ehe die Stille zu ihrem Ausklang kommen und das Fest tatsächlich stattfinden würde…

 

„Oh gute Götter…“, seufzte Lisa zutiefst selig. Vasilla trug entsprechend das stolzeste Lächeln zur Schau, das sie mustern konnte, während Elesil zu kichern begann und Scherze darüber riss, dass das nicht unbedingt nach dem klang, was tatsächlich vor sich ging. Aus dem Zusammenhang gerissen, hätte man ganz andere Dinge annehmen können und nicht, das Lisa soeben etwas so simples genoss wie einen Vanillepudding.

Der kleine Löffel verweilte zwischen ihren Lippen, bis auch das letzte Bisschen der Süßspeise zur Gänze in ihrem Mund zerschmolzen war. „Das ist so unverschämt gut…“, seufzte sie abermals leise, ehe sie den Löffel, frisch befreit, in die Schale zurückgleiten ließ, um das nächste Bisschen heraufzuholen.

Arthur dagegen lachte herzlich auf. Immerhin hieß das, dass seine Tipps und Tricks sich gelohnt und ausgezahlt hatten. Vasilla mochte vor Stolz gleich platzen, immerhin hatte sie den Pudding gemacht, aber letztlich hatten unzählige Hände ihr bei der Zubereitung geholfen. Denn es bedurfte einiges an Zutaten und Küchenfinesse, war das doch kein gewöhnlicher Vanillepudding und einige Ideen zur Verarbeitung kamen von Arthur.

„Das erste Mal gegessen habe ich den vor… uff, ich weiß nicht mal mehr, wie lange das her ist. Es war die erste wirkliche Süßspeise, die ich kennenlernte. In meiner ersten Inkarnation. Scheint mir eine Ewigkeit her – ist’s vielleicht sogar auch“, erklärte Lisa mit einem verträumten Lächeln, ehe sie den zweiten Löffel zwischen ihre Lippen schob und einmal mehr jenseits der hiesigen Existenz war.

Der erste Tag des Festes war der Vergangenheit gewidmet.

Worauf Vetus Arien nicht vorbereitet hatte, war das Essen und Erzählen. Die zwei zentralen Hauptbestandteile jedes einzelnen Tages. Vielleicht hatte das auch irgendwie seine Gründe gehabt, angesichts ihrer wirklich lausigen Angewohnheit, mit maximal einer bis zwei Mahlzeiten am Tag zurechtkommen zu wollen. Gerade bei ihrem Stoffwechsel als Verwandler. Und Drache.

Zur Wertschätzung der Vergangenheit gehörte mehr als nur das Erzählen von Anekdoten aus alten Tagen – wobei auch dieser Teil wahrlich nicht zu kurz kam. Die gesamte Nadelgemeinschaft, oder inzwischen wohl vielmehr besser als Nadelfamilie bezeichnet, hatte sich im Gasthaus eingefunden. Die zwei großen Tafeln waren zusammengerückt worden und generell hatte der Raum doch deutlich sein Gesicht verändert. Einer der Kamine fungierte vorübergehend als Herdstelle, diverse Töpfe, Pfannen und Schälchen rotierten, Mehl und Zucker bedeckte an einer Ecke in einer dünnen Schicht die dunkelrote Holzplatte. Gearbeitet wurde heute nicht in der Küche – die war zu klein. Und obgleich Lisa sich zweifellos gerne erbarmt hätte, all die zahllosen Rezepte zuzubereiten, galt es nicht einfach nur, Leibspeisen aus Kinder- und Jugendtagen zu essen. Es ging um die Gemeinschaft. Um das Beisammensein. Und das Teilen.

Also packten alle mit an, jeder auf seine Weise. Um Lisas Vanillepudding genau richtig hinzubekommen.

Um Arthur einen Lammbraten zu machen.

Oder Elesil einen Hummer zuzubereiten.

Elesil mochte Hummer nicht. Dieser Tage zumindest nicht mehr, weshalb sie zwar bei der Zubereitung fleißig half und sich auch ein kleines Stück nahm – immerhin ging es ja genau darum -, den Großteil aber der Gemeinschaft überließ. Nicht jeder mochte, was er damals mochte. Dinge änderten sich, ganz zwangsläufig. Arthur aß dieser Tage so gut wie kein Lamm mehr. Er konnte selbst nicht recht erklären, warum eigentlich. Es war kein sonderlich exotisches Gericht. Es war nicht selten oder schwer zu bekommen, nicht übermäßig teuer oder schwer zuzubereiten. Aber er aß es einfach so gut wie gar nicht mehr.

Diesen Lammbraten jedoch wusste er zu schätzen. Sehr. Und beging den Fehler, den viele begingen – und über den sich Vetus gnadenlos amüsierte, zumindest innerlich: Er aß. Viel.

Die Nadelgemeinschaft war jedoch groß. Und an diesem Tag sollte jeder eine Geschichte erzählen. Jeder sich in seine frühen oder früheren Tage zurückversetzen. Jeder ein wenig in Nostalgie schwelgen. Eresthenes bastelte mit Hilfe der anderen einen Marmorkuchen. Obwohl er ihn als Kind bereits gehasst hatte. Und er fand ihn noch immer absolut widerlich. Der Rest genoss ihn, natürlich – begleitet von seiner Geschichte, wie er erstmals in ein Dorf laufend das Erstbeste sich hatte aufschwatzen lassen, das ihm als ein wahrer Genuss und ein Meisterwerk menschlicher Zivilisation angedreht worden war.

Andere, wie Artemis und Lady Rasska, ergänzten das Mahl mit entsprechenden Getränken. Lady Rasska war verantwortlich für die drei großen Karaffen aus Kristall, in denen sich im Grunde einfach nur Wasser befand. Doch selbstverständlich war es nicht irgendein Wasser. Es war Wasser aus der Quelle im Heiligtum von Eumenes.

So gut wie niemand wusste, dass es im Heiligtum überhaupt eine Quelle gab. Rasska bezweifelte sogar, ob Eumenes selbst das wusste. Wie lange mochte es her sein, dass jemand in den Vorratsräumen all die Kisten geleert, die Truhen bei Seite geschoben, die Körbe fortgehoben haben mochte? In jener Kammer existierte ein Brunnen, auch wenn die Konstruktion nicht wirklich mit dem Steinzylinder vergleichbar war, den man an der Oberfläche kennen mochte.

Sie erinnerte sich noch sehr gut und lebhaft an ihre ersten Tage im Heiligtum. An ihre Priesterschaft und wie schrecklich überfordert sie sich gefühlt hatte. Vor so vielen hochrangigen Vertretern ihres Volkes offen und frei reden zu müssen, stolz das Kinn gehoben zu halten, während so mancher Blick Bände davon sprach, wo man sie wirklich sah und glaubte. Sie hatte einen schwierigen Start gehabt, hatte sich in diese Dinge einleben müssen. Es fand sich alles, nach und nach. Heute war es schwierig, sich an diese Zeiten überhaupt noch zu erinnern. Das Wasser… half dabei. Es war sehr kühl und schien grundsätzlich eine etwas niedrigere Temperatur zu haben als die Umgebung, egal wie lange man es im Raum stehen ließ. Es schmeckte mineralisch, wie aus einer Bergquelle, mit einer leichten, säuerlichen Note. Es war rundherum erfrischend. Belebend sogar, eine Wohltat nach schwerer Arbeit oder einem erschöpfenden Tag.

Nichtsdestotrotz war es einfach nur Wasser.

Und kein Gericht, dass die Nadelgemeinde zuzubereiten fähig gewesen wäre, hätte ihr besser helfen können, sich in die Vergangenheit einzufinden und in früheren Begebenheiten zu schwelgen.

Die Priesterin der Mutter hatte schon einige Monate gedient, ehe sie in ihr Amt berufen worden war. Was sich zunächst als merkwürdige Mentor-Schüler-Verbindung etablierte, war – natürlich – der Beginn von mehr. Auch wenn das unerwähnt blieb. Und bis zum heutigen Tage hatte Rasska nicht ein Wort bezüglich der Quelle verloren, zu niemandem. Sie hatte sie jedoch auch selbst in all der Zeit nicht mehr aufgesucht, seit sie aus dem Exil zurückgekehrt war.

Artemis dagegen mischte alchemische Reagenzien. Mit Riks Hilfe, da dessen Blick voller Horror Bände gesprochen hatte. Jetzt war er zu konzentriert auf die Vorgänge, darauf, die Effekte und Mischungen zu verstehen, um sich über mögliche Explosionen im Gasthaus Gedanken machen zu können. Eresthenes hatte zwar seine Hilfe angeboten, aber die wurde großzügig abgelehnt – er verstand nicht, wieso.

Was Artemis mit Hilfe zusammenmischte, war ein Geschmackstest. Die Reagenz hatte keinen wirklichen Namen und wirkte giftig – weshalb alle zuvor ein Antidot tranken und Rik mit einem Zauber genau im Blick behielt, wer das Gebräu nicht so gut verkraftete. Einer seiner früheren Meister, ein früherer Nadelmeister damit, hatte sich völlig in seiner Paranoia verrannt und war zu der Überzeugung gelangt, dass man ihn bereits vergiftet haben müsse – nur so ließ sich erklären, warum niemand ihn angriff: Sie warteten einfach darauf, dass das Gift ihnen die Arbeit abnahm. Also mischte er dieses Zeug zusammen und gab es seinem Konstrukt zu trinken. Zunächst, ohne zu begreifen, dass es keinen Effekt hatte. Nicht haben konnte.

Also brachte er Monate damit zu, Artemis‘ Kernfunktionen zu erweitern, bis er ihn wieder in Betrieb nahm. Um die Fähigkeit erweitert, zu schmecken. Glaubte er jedenfalls.

Der Nadelmeister indes war sehr viel blasser geworden, dürrer, schwächer. Dass konnte nur daran liegen, dass das Gift, mit dem seine zahllosen namen- und gesichtslosen Feinde ihn niederzustrecken versuchten, langsam Wirkung zeigte. Entgegen Artemis‘ Hinweis, dass Gifte höchst selten so extrem langsam funktionierten und für den Fall, dass sie es täten, schrecklich ineffektiv wären, ließ sich der Paranoide davon nicht abbringen. Er vertraute offenbar obendrein nicht auf konventionelle Heilmagie. Er war selbst nicht fähig, Heilzauber zu wirken und hätte sich lieber einen Aderlass angetan, als irgendwen sonst an sich heranzulassen, um präventiv einen Entgiftungszauber zu wirken.

Nach dem Neustart gab er Artemis abermals die Kreation zu trinken. Der Geschmackstest war das Resultat der Überlegung, dass eine Vergiftung zur Veränderung seiner Körperchemie geführt haben müsse. Folglich müsse er Dinge nun anders schmecken – denn Geruch, Gehör, Tast- und Sehsinn waren nicht beeinträchtigt. Es gab also wirklich keine andere Möglichkeit! Artemis sollte ihm aufzeigen, auf welche Weise sich sein Geschmack verändert hatte, damit er Rückschlüsse auf das verwendete Gift ziehen und ein Gegengift mischen konnte.

Allerdings waren die Veränderungen an Artemis nicht ganz so perfekt verlaufen, wie er sich erhofft hatte. Oder etwas besser als erhofft – je nach Sichtweise. Obwohl das Konstrukt nun zwar nach grundlegenden Geschmacksrichtungen unterscheiden konnte, war es auch befähigt worden, eine chemische Analyse der Substanz vorzunehmen.

Ja, es schmeckte beim ersten Trinken süß, dann sauer, dann leicht salzig und endete auf einer bitteren Note. Aber Artemis warnte seinen Schöpfer vielmehr davor, dass das Getränk giftig war – zumindest für seine Physiologie. Es mochte ein seltsamer Moment der Klarheit oder Erkenntnis gewesen sein, als jener Nadelmeister den vollen Umfang seiner Taten begriff. Über die Monate, in denen er an Artemis gebaut hatte, hatte er kontinuierlich die Rezeptur zu verfeinern und zu verbessern versucht. Blindlings, zwangsläufig, da seinen Geschmackssinnen ja offenkundig nicht zu trauen gewesen war. Dennoch hatte er immer wieder davon getrunken – um sicherzustellen, dass sich nicht doch irgendwie etwas auch ohne die Hilfe des Konstruktes herausfinden ließe.

Er hatte sich wochenlang selbst vergiftet.

Und mit so viel der verantwortlichen Substanz im Körper halfen auch die panisch zusammengeworfenen Gegengifte nicht mehr. Es waren drei weitere Tage, mehrheitlich bettlägerig, ehe er an den Folgen der eigenen Paranoia verstarb.

Artemis hatte jedoch keineswegs vor, die Geschichte auf einer derartig niederschmetternden Note enden zu lassen – also führte er nahtlos dazu über, welche Merkwürdigkeiten im Namen der Sicherheit der Nadel veranstaltet worden waren. Welche Fallen und Geniestreiche sein damaliger Meister sich überlegt hatte. Wen er alles als Feind sah. Es war viel dabei, das zum Schmunzeln, Lächeln und Lachen einlud. Viel auch zur Selbstreflektion – denn wovor hatten sie alle nicht auch schon Angst gehabt, worum sich gesorgt? Allein der Gedanke, die Steinwyvern könnten davonfliegen und die Nadel damit plötzlich, irgendwie, offenlegen. Oder die selbst hereingeholten Verbündeten könnten sich gegen den Meister wenden, der sie geholt hatte.

Der gesamte Tag strich auf jene Weise dahin – wie es auch die anderen letztlich würden. Sie hatten sich zum Frühstück getroffen und im Verlauf des Tages flossen Geschichten und Mahlzeiten ineinander. Vieles war von der Zubereitung her aufwendig, kostete schlicht seine Zeit. Also erzählte man derweil. Aß einen Bissen, erzählte weiter. Reihum war jeder irgendwann einmal dran, einen kleinen Schwank aus seiner Jugend preiszugeben und keiner zierte sich.

Als die Gemeinschaft sich an jenem Abend langsam aufzulösen begann, taten sie das mit einem Lächeln. Viele schwelgten noch auf dem Weg zu ihren Betten in Erinnerungen. Mancher stellte sich Fragen, bequem und unbequem. Was war wohl aus jedem alten Jugendfreund geworden? Wie war es wohl diesem damaligen Rivalen ergangen? Ob es jene Fischerhütte wohl noch gab? Der Tag hatte die Vergangenheit beschworen und das mehr als erfolgreich. Sie lebte wieder, atmete, wenngleich nur für ein paar wenige Stunden, ehe sie mit dem Einschlafen derer, die sie gerufen hatten, sich selbst auch wieder zur Ruhe begab.

Arien wurde von Vetus auf ihr Zimmer begleitet.

„Kekse“, stichelte er. Wie erwartet, ächzte und seufzte seine Tochter schwer. Schokoladenkekse mit einem flüssigen Schokoladenkern und bestreut mit Schokoladenkrümeln und –raspeln. Sie hätte es vielleicht bei einem belassen sollen. Einem Teller, allemal. Aber zusammen mit Lamm, Hummer, Pudding und all dem anderen? Doch sie hatte nicht wirklich darauf geachtet, was sie aß oder wieviel davon. Es waren alle da gewesen. Alle waren sie da gewesen, beisammen, gemeinsam. Und es war ihr so verdammt leicht gefallen, sich in dieser Stimmung zu verlieren, darin treiben zu lassen. Darin aufzugehen. Teilzuhaben.

„Du bist grausam“, warf sie nach einem Moment zurück.

„Ich bin dein Vater. Ich dachte, das stand in der Beschreibung? Groß und fett?“ Als sie nur den Kopf schüttelte, erlaubte er sich ein Lächeln. Sie wirkte sehr viel gelöster und entspannter als noch zu Tagesbeginn, als sie sich – zweifellos – wieder den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob alles gut laufen würde, ob sie nicht noch etwas tun, etwas vorbereiten, etwas absichern könnte. „Du hast dich gut geschlagen, weißt du? Diese ganzen Geschichten über Coru und dich beim Keksdiebstahl… ich muss zugeben, ich vermute, es wird mir eine ganze Weile schwer fallen, Besen mit den gleichen Augen zu sehen. Oh und… du hast definitiv Spitzhacken-Verbot, aber sowas von!“

Schmunzelnd öffnete sie die Tür, trat ein und schloss sie hinter ihm wieder. Der Gang bis ins Bad schien plötzlich so elend lang zu sein, aber gemeinsam ließ er sich besser bewältigen. „Es war schön, etwas mehr über Mamas und deine Abenteuer zu hören. Du erzählst immer noch ziemlich selten davon“, meinte sie leise. Doch obgleich seine Geschichten sich eben darum gedreht hatten – um ein potenziell heikles und stimmungsbrechendes Thema -, hatte er es irgendwie vollbracht, ihren Geist nicht herabzuziehen. Irgendwie. Er hinterfragte es nicht und war einfach nur zutiefst dankbar dafür.

„Nun, ich hebe mir das Beste für später auf. Wenn sie dabei ist und ich sie gnadenlos mit all den Peinlichkeiten aufziehen kann“, erwiderte er vorsichtig lächelnd.

Eine Geste, die ebenso behutsam erwidert wurde. „Das wäre schön.“

„Nein – wird schön.“

Einen Moment liefen sie schweigend einher, ehe Arien amüsiert grinste. „Soweit ich mich allerdings erinnere, warst du es, der in den meisten deiner Geschichten nicht sonderlich gut weg kam. Sicher, dass du damit warten willst, bis Mama dabei ist?“

Falle – schnappt zu! Grinsend richtete sich Vetus auf. „Oh ja, allerdings – denn wenn ich jetzt schon die ganzen Geschichten aus dem Weg räume und wegerzähle, die mich blöd dastehen lassen, dann rate mal, was da noch übrig bleibt!“

Für einen kurzen Moment musterte Arien ihn amüsiert, ehe sie kopfschüttelnd widersprach. „Ich würde sie um diese Gelegenheit nicht bringen wollen und ich habe ein wirklich ziemlich gutes Gedächtnis, weißt du?“

„Man droht seinem Vater nicht, das ist wirklich nicht nett!“, schnappte er eschauffiert, ehe beide sich grinsend auf einen Waffenstillstand einigten und ihren Weg zum Ende führten. Arien verschwand kurz in der Dusche, während Vetus sich mit Wonne in die Wanne fallen ließ. Wenig später, frisch abgetrocknet, lagen beide im Bett Seite an Seite. In altgewohnter Manier hatte Vetus die Flügel beinahe schon kokonartig um seine Tochter geschlossen.

„Das war ein schöner Tag. Ich glaube, ich mag dieses Fest.“

„Manal-Khesin“, warf er grinsend ein.

„Das tut immer noch weh“, widersprach Arien prompt, lächelte jedoch. „Ich sollte nur wirklich weniger essen. Mir war nicht klar, wie viel es geben würde. Und ich befürchte allmählich, dass am Ende der drei Tage meine Stimme weg sein wird.“

Grinsend schloss Vetus seinen Flügelkokon noch etwas enger. „Das kann sein, ja. Aber wenn du am Ende nicht überzeugt davon bist, dass es das völlig wert war, dann hast du Manal-Khesin falsch gefeiert!“

„Papa, lass das… es klingt scheußlich…!“, klagte Arien leise, wenngleich auch ohne wirkliches Feuer dahinter.

„Ssschhht, meine Kleine, spare deine Kräfte – morgen gibt es viel zu essen!“, neckte Vetus entsprechend und verfolgte grinsend, wie sie das Gesicht verzog und sich noch ein wenig einrollte. Sein Blick wanderte zu ihrem Amulett, vorsorglich gestern Abend schon auf dem Nachttisch gelandet war. Drei Nächte Schlaf würden ihr gut tun. Tat Schlafen immer, wie er aus eigener Erfahrung bestätigen konnte.

 

Der zweite Tag des Festes begann zunächst die der Erste auch: Nachdem Arien mit neun Stunden Schlaf später aufwachte, als sie sich selbst üblicherweise zugestand, geriet sie zunächst völlig in Panik ob der ganzen verpassten, ungenutzten, unnütz vertrödelten Zeit – bis  Vetus sie daran erinnern konnte, was für ein Tag es war, warum sie überhaupt schlief und das es völlig in Ordnung war, auch ab und an mal auszuschlafen, statt die innere Uhr auf Schlag acht Stunden und keine Sekunde später zu stellen.

… woraufhin sie ihn natürlich nur darauf hinwies, dass es für sie inzwischen nicht einmal mehr acht Stunden waren, sondern vier. Weil das offenbar irgendwas besser machen sollte…?

„Nur weil du weißt, wie man weniger schläft – nur weil du es kannst -, heißt das nicht, dass du es auch solltest!“, rief er ihr nach, während sie im Bad verschwand.

Als sie sich kurze Zeit später zum Frühstück unten im Gastraum einfanden, grinste Vetus breit – und sehr zufrieden. Ein paar waren noch gar nicht eingetrudelt und die, die da waren, ließen es langsam angehen. „Siehst du! Von wegen ‚zu spät‘, vertrau ab und an deinem alten Herrn! Lass mich raten – der Rest klemmt noch zwischen Bett und Bad?“ Sie antwortete nicht. Natürlich tat sie das nicht. Aber sie war immerhin großzügig genug, ihm die Zunge herauszustrecken. „Dachte ich mir“, quittierte er die Reaktion grinsend und nahm ebenfalls an der Tafel Platz.

Die Vorbereitungen für das Frühstück zogen sich langwierig dahin und niemand hatte wirkliche Eile. Immerhin erinnerten sich alle noch gut genug an das Gelage vom Vortag und wussten, dass es heute mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anders ablaufen würde. Aufgetafelt wurde entsprechend langsam, aber einmal mehr reichlich. Vor allem auch diesmal wieder: Zutaten, allem voran. Wer belegte Brote wollte, der bekam sie auch – und wer Milchreis mit Apfelmus wollte, der bekam Milch, Reis und Äpfel. Natürlich gingen auch hierbei diesmal wieder alle zur Hand. Das zweite Gelage des Festes war ein Gemeinschaftsprojekt wie die anderen beiden auch. Man arbeitete zusammen, half sich gegenseitig aus.

Und nach und nach bekam jeder, was er wollte. Ein klein wenig Wunschbedienung war schließlich auch nicht verkehrt, es war immerhin ein Fest, keine Zeit der Entbehrung.

Nur Arien und Rik bekamen nicht, was sie wollten – das lag aber auch schlicht daran, dass niemand ‚nichts‘ als Antwort akzeptierte.

Mit Beginn des Frühstücks wurden auch erste Vorbereitungen getroffen. Vetus ließ sich von Rik Papier, Tinte und Feder bringen, riss das Pergament in diverse Stückchen und kritzelte die Namen auf jedes Stück. Sehr zu Riks neuerlichem Horror, wie der Drache vermutete, aber er hatte keine gute Gelegenheit, dessen ansichtig zu werden. Stattdessen stopfte er die Zettel zu kleinen Kügelchen zerknüllt in eine Dose, schloss sie und schüttelte den Inhalt kräftig durch.

Nach jeder Ziehung wurde pausiert. Damit das Hort-Stück übergeben werden konnte. Und alle lauschten den Geschichten, die dabei zustande kamen, egal wie spannend oder seltsam, kurz oder lang sie auch sein mochten. Die Losung und Übergabe mitsamt der Geschichten nahm letztlich den gesamten Tag ein.

Rasska überreichte Arthur einen Armreif aus aufgefädelten Korallen und berichtete davon, wie sie vor Jahrzehnten ihren Eltern davonjagte, um das Schiffswrack an einer Schlucht zu untersuchen. Das Schiff war von Brandspuren gezeichnet, von Einschlägen beschädigt. Die Leichen trieben schon viel zu lange im Wasser und waren kaum mehr als Knochen. Fasziniert hatte sie aber der kleine Altar zu Ehren Eumenes in der Kabine des Kapitäns, der bis zuletzt sauber und frei blieb von jeglichen Schäden, jedweder Verschmutzung oder irgendeiner Spur von Bewuchs. Es war so unglaublich subtil und doch auffällig gewesen. Stundenlang hatte sie dort verweilt, den Unterschied zwischen dem Schrein und dem gesamten, restlichen Raum gemustert. Noch heute war sie sich nicht sicher, ob das für sie ein religiöser Moment gewesen sein mochte oder nicht. Nur, dass jenes Armband sie fast das Leben gekostet hatte – als das Wrack aus ihr unerfindlichen Gründen Halt verlor und in die Tiefsee abzugleiten begann, jagte sie geschickt, flink und wendig davon. Bis sie mit ihrer Hand an diesem verdammten Ding hängen blieb. Kostbare Sekunden brachte sie damit zu, sich zu befreien, ohne zu begreifen, wie sie überhaupt erst hatte hängen bleiben können. Ein Rätsel, das bis heute ungelüftet war. Die Wertschätzung dem Schmuckstück gegenüber war jedoch ähnlicher Natur wie ihre Wertschätzung jenes Quellwassers: Es erinnerte sie an Geschehnisse aus alten Tagen.

Im Gegenzug bekam sie von Brutus eine kleine, handwerklich anspruchsvoll geschnitzte Figur.

Sie sagte kein Wort dazu. Er sagte kein Wort dazu.

Sie nickte. Er nickte.

Keiner sprach ein Wort darüber.

Für Vetus war es wundervoll. Egal, ob sie nun Kniefall voreinander taten oder sich nur wortlos zunickten – es bedeutete ihm die Welt. Denn diese Leute waren keine Drachen, sie entstammten keiner Blutlinie mit Verbindung zu seinem oder Ariens Erbe und dennoch saßen sie hier alle beisammen, feierten, aßen, erzählten Geschichten… tauschten Geschenke aus. Und es waren nicht einfach nur Geschenke. Sie alle, jeder einzelne hier, hatten es begriffen.

Sie gaben etwas von sich. Jemand anders nahm es in Verwahrung. Sie teilten ein Stück ihrer Selbst miteinander. Sie würden damit einander noch besser verstehen, noch näher kommen, noch enger als Gemeinschaft-

„Huh.“

„Was?“

„Ich bin dran“, erklärte der Drache überrascht, als er auf seinen eigenen Namen starrte. Kurz zuckte er mit den Schultern, grinste und kramte einen ausgebleicht-gelben, völlig ausgeleierten Pullover hervor. Er spähte vorsichtig in Ariens Richtung und wie erwartet, konnte man ihr das Hey, das ist meiner! an der Stirn ablesen – doch sie sagte nichts. Schüttelte nur lächelnd den Kopf und, nach einem Moment Bedenkzeit, nickte.

Und er war stolz, einmal mehr.

Für sie war das ein Kleidungsstück, etwas das ihr gehörte. Etwas, das sie bekommen hatte, auf die eine oder andere Weise. Vielleicht hingen sogar Erinnerungen daran – er hatte nie gefragt. Für ihn aber war es ein Stück seines Hortes. Sie hatte lange damit gehadert, es zwar verstanden, aber nicht wirklich begriffen, nicht mit dem Herzen, es nicht nachvollziehen können. Sie hatte sich dagegen gewehrt, gegen die Implikationen, die Tragweite.

Und jetzt war es ein Stück seines Hortes. Eines, das er freimütig herausgeben durfte. Weil sie es akzeptierte. Und zuließ.

„Meine Geschichte dazu ist… nicht die Beste, Längste oder Größte. Ich bin ein Zeitdrache. Ich bin eigentlich sehr viel älter und größer und mächtiger und weiser und habe eigentlich viel mehr erlebt. Aber ich erinnere mich an vieles davon nicht wirklich gut. Weil ich eine Zeitreise machte. Und bevor wir darüber weiter reden, den Fehler machen und damit anfangen, Fragen zu stellen und heute alle mit wirklich grässlichen Kopfschmerzen schlafen gehen: Ist einfach so, belassen wir’s dabei. Ich bin geschrumpft. Jünger geworden. Sehr viel jünger, also wirklich… seeehr viel jünger. Das war, glaube ich, so nicht ganz geplant. Ich bin so verdammt jung geworden, dass ich mich nicht mal mehr um mich selbst kümmern konnte. Die meisten erinnern sich nicht mal daran, wie das war. So jung zu sein. Arthur wird’s in ein paar Monaten vielleicht wissen – angeblich nehmen sich das historische Alter und die bescheidene Jugend ja nicht viel.“ Geschickt wich Vetus dem Löffel aus. Das Apfelstück, das hinterhergeflogen kam, fing er stattdessen auf und ließ es sich schmecken. Er grinste dabei – natürlich – demonstrativ in Arthurs Richtung, der ihm mit wenigen Gesten andeutete, dass er diesen Kommentar irgendwann, irgendwie, noch sehr bereuen würde. Und Vetus freute sich darauf.

„Jedenfalls… Arien hat sich um mich gekümmert. Die Tochter, für die ich da sein wollte. Für die ich hätte da sein müssen. Hat sich um mich gekümmert. Ich weiß nicht, was ich in ihren Augen mehr war – ein Haustier oder ein Kind? Heute spielt das glücklicherweise auch keine Rolle mehr, denn diese Zeiten liegen hinter uns. Aber es fällt mir schwer, das zu vergessen. Denn ich war gewohnt, in gewaltigen Zeiträumen zu denken und die paar Monate jetzt? Ein Wimpernschlag! Ich erinnere mich also noch sehr gut und sehr lebhaft daran, wie sie versuchte, mich zum Schlafen zu bringen. Ich erinnere mich an ihre Gesangsversuche. Und das Kraulen. Und an dieses Ding. Es roch nach ihr. Und ich mochte das. Außerdem war’s weich. Und Gelb. Ich weiß nicht, warum Gelb wichtig war. Aber es hat funktioniert. Und jedes Mal, wenn ich in meinen Schrank krieche und mich schlafen lege, dann liege ich direkt über diesem Ding. Weil es mich daran erinnert, wie es mir beim Einschlafen half. Und weil’s das immer noch macht. Ich werde ohne ihn nicht schlechter schlafen oder weniger – ihr wisst alle, wie ich bin. Ich könnte im Fliegen einschlafen, jederzeit, überall. Aber es ist ein Stück aus unserer Anfangszeit. Und hat dadurch symbolischen Wert.“

Nachdem einige Leute genickt hatten, trat Vetus an Rik heran – und hielt ihm das Kleidungsstück entgegen. Der war natürlich über alle Maßen begeistert. Erst recht, als Thilia neben ihm euphorisch zu vibrieren begann, Vetus ihr jedoch rasch klar machte, dass das Riks Geschenk sei – und sie ihr eigenes bekäme. Was im Grunde für Rik bedeutete, dass er es nicht einfach auf Thilia abschieben konnte, während Thilia sich nunmehr ohnehin viel mehr darauf konzentrierte, was sie wohl bekommen mochte.

Die nächste Ziehung betraf Arien. Schweren Herzens erhob sie sich und begann Vetus‘ Beispiel folgend zunächst ihre Geschichte zu erzählen. Oder vielmehr: Die Geschichte eines wirklich hübschen Paares an Ohrringen. Sie hatte sie sich von ihrem Taschengeld gekauft, zusammen mit und auf Anraten von Illyana. Es war eine schwierige Zeit gewesen. Ihrer Mutter ging es schlecht – schlechter als sonst. Und Illyana hatte oft genug darunter zu leiden gehabt. Sie war nicht Ariens Mutter, nicht ihre Ersatzmutter. So sehr sich die Haushälterin auch bemühte – Arien war in einer schwierigen Phase gewesen, voller Kummer und Zorn und wusste nicht, wohin damit. Die Ohrringe hatten die Kehrwende bedeutet. Ein gemeinsamer Ausflug in die Stadt, nur sie beide. Das Aufdecken verbindender Interessen. Die Möglichkeit, aufeinander zuzugehen. Miteinander Spaß zu haben.

Etwas, das ihr heute natürlich nichts und niemand mehr nehmen konnte. Die Ohrringe hatte sie nur wenige Male getragen. Aber dann und wann holte sie sie hervor, einfach nur, um sie anzuschauen und sich zu erinnern. Nur dass es für sie inzwischen viele solcher Erinnerungsstücke gab. Sie mochte dieses Paar. Sie waren hübsch. Nicht wertvoll und nicht einmal sonderlich gut verarbeitet, aber hübsch auf eine schlichte Weise.

Und der Umstand, dass sie sie an Thilia weitergab bedeutete allem voran, dass die ihrerseits Rik sofort mental und verbal belagerte – sie brauchte Ohren. Jetzt sofort!

Diese Diskussion wurde von Arthur und Elesil ein bisschen angefacht und diente rasch dem Amüsement einiger. Wissend jedoch, wie Rik auf solcherlei Aufmerksamkeit reagierte und unwillens, die Stimmung des Festes irgendwie oder von irgendwem ruinieren lassen zu wollen, zog Vetus abermals – und das Problem löste sich in Wohlgefallen auf, weil Elesil an der Reihe war.

Einmal angesprochen, brach sie ihre Versuche, Thilia bei ihrem dringenden Anliegen zu unterstützen, auch prompt ab und erhob sich breit grinsend. „Ich habe eine Box!“ Sie zog eine Box hervor. Alle nickten. Man konnte die Box gut sehen. „Natürlich ist die Box nicht das Geschenk, sondern der Inhalt. Der hat mir lange treue Dienste geleistet, mich durch viele dunkle Nächte begleitet. Er war da, wenn ich Kummer hatte oder mich an etwas erfreuen wollte. Wenn ich sowieso schon euphorisch war und darin schwelgen wollte. Eigentlich zu so gut wie jeder Gelegenheit. Und es bedeutet mir was. Es war das Erste, was ich hatte. Ich meine, inzwischen habe ich mehr. Viel mehr. Man lernt ja dazu.“

„Kryptischer… ging’s nicht, oder?“, belustigte sich Arthur kopfschüttelnd.

„Ich bin schockiert – du weißt, was ‚kryptisch‘ bedeutet und kannst es korrekt aussprechen?“, stichelte Elesil prompt zurück.

„Was ist denn nun eigentlich drin?“, mischte sich Artemis verwirrt ein.

Ihn ignorierend – und Arthur gleich mit -, schob Elesil die Box Arien zu. Die daraufhin überrascht drein schaute, sie jedoch entgegennahm und den Deckel öffnete. „Lasst dem Mädchen doch mal ein bisschen Raum!“, rügte Elesil diverse Köpfe, deren Hälse immer länger wurden in dem letztlich zum Scheitern verdammten Versuch, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Kurz griff Arien hinein, hob etwas an. Das Geräusch von Metall auf Metall war zu hören, Stoff, eine leichte Ledernote in der Luft – dann schloss sie hektisch die Box wieder und klammerte sich hochroten Kopfes daran fest, als könne die Welt untergehen, sollte der Inhalt jemals ins Freie ausbrechen können.

„Freut mich, dass es dir gefällt. Pass gut drauf auf“, meinte Elesil breit grinsend. Arien hatte sichtliche Schwierigkeiten, sich zu beherrschen, nickte jedoch nach einem Augenblick schwach. „Vetus – Ziehung!“

Seufzend gab der Drache auf, irgendetwas über den Inhalt der Box erfahren zu wollen. Vielleicht würde sie es ihm ja später verraten. Zunächst zog er den nächsten Namen. „Vasilla, du bist dran.“

Die Bibliothekarin erhob sich von ihrem Platz. „Ich mache kein großes Geheimnis daraus, keine Sorge. Es ist ein Buch. Ich schätze, das überrascht auch niemanden wirklich. Glimmbrandt und Wasserlilie, eine dramatische Romanze zwischen einem Ifrit und einer Undine. Sie versuchen, den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen, die die elementare Seite ihrer Eltern ihnen aufbürdet und sich in die menschliche Gesellschaft zu integrieren, den anderen Teil ihrer Abstammung, der ihnen so viel mehr Freiheiten erlauben würde – gerade miteinander. Aber die entgegengesetzten Elemente rufen immer wieder Probleme hervor und von Menschen akzeptiert zu werden ist schwierig mit solch einer Blutlinie und so viel Schadenspotenzial. Erst recht, wenn sich dann noch der Zirkel einmischt. Ich… mag das Buch. Es ist nichts wirklich Besonderes. Eine interessante Idee für die Rahmenhandlung, aber letztlich nicht einmal sonderlich originell. In der einen oder anderen Form gab es das alles schon, jedes einzelne Element. Aber dieses Buch bedeutet mir dennoch sehr viel. Sehr, sehr viel. Nicht nur, weil ich wenige Besitztümer habe. Sondern wegen der Seiten zweihundertsiebzehn und zweihundertachtzehn. Ihr alle wisst, wie lange ich schon ein Geist bin. Ihr alle wisst, dass ich mal jemand anders war. Und die meisten von euch wussten vorher schon, dass ich Vasilla wurde, die, die ich heute bin, weil ich in vielen Dekaden und Generationen immer mehr und mehr meines alten Lebens vergaß. Aber das ist nicht alles. Ich wäre da oben, völlig allein, mit nicht mehr als Buchrücken zum Lesen, meiner Fantasie und vierundzwanzig Stunden am Tag, jeden Tag, fast wahnsinnig geworden. Und ich meine es, wie ich es sage. An vielen Tagen konnte ich meinen Verstand spüren, wie er mir zwischen den Fingern entglitt. Teile davon bekam ich nie zurück. Es waren diese zwei Seiten in diesem Buch, die mich gerettet haben. Es war eine tägliche Übung, Folter regelrecht. Die immer gleichen zwei Seiten zu lesen. Jedes Wort davon in meinen Verstand zu brennen. Den Satz. Die Musterung des Papiers. Jede Imperfektion des Drucks mir einzuprägen. Verwischte Tinte, egal wie klein die Spur war. Die Bögen und Rundungen der Buchstaben und Zahlen. Ihr mögt jetzt lange Gesichter haben, niedergeschlagen sein. Die Geschichte ist keine erfreuliche, zugegeben – nicht, wenn sie für sich allein steht. Aber das tut sie nicht. So wenig wie ich es heute tue. Ich bin hier. Bei euch. Ich habe… ich habe Freunde. Eine Familie. Ein Leben. Ich kann die Welt wieder sehen. Geschichten hören. Lieder schreiben. Tanzen. Ich kann lieben. Berühren. Nichts davon wäre möglich gewesen, hätte ich den Verstand verloren. Ich wäre eine weitere Gefahr in der Nadel gewesen, die bei eurem Einzug hätte beseitigt werden müssen. Ich wäre nie so weit gekommen, wie ich es bin. Hier heute bei euch zu sein, verdanke ich diesem Buch. Diesen zwei Seiten. Das macht es nicht zu meinem wertvollsten Besitz – aber einem wertvollen, allemal.“

Mit jenen Worten überreichte sie das Buch an Artemis. Gewichtig nahm er es entgegen, als wäre es ein Schatz, ein uraltes Relikt, etwas Fragiles, das Respekt verdiente. Und traf zumindest Letzteres nicht auch zu? „Danke“, antwortete er leise, „Ich werde… eine Vitrine dafür bauen. Damit die zwei Seiten aufgeschlagen bleiben.“

„Danke“, erwiderte Vasilla. Sie war tot. Untot, vielmehr. Ein Geist. Sie konnte nicht weinen, besaß den dazu notwendigen Körper nicht. Aber ihre Stimme war leicht, brüchig, zittrig. Als sie sich wieder senkte, lächelten manche hier und da. Vasillas Geschichte war eine Traurige, sicherlich. Aber sie klang nicht auf einer solchen Note aus. Genau genommen… hatte sie noch gar kein Ende gefunden. Dank eines Buches.

Eine Weile speisten sie wieder, redeten einfach nur, genossen die Gesellschaft der anderen. Geschichten solchen Kalibers brauchten etwas Zeit, um zu sinken. Damit man sie verarbeiten, verdauen konnte. Dann erst zog Vetus den nächsten. Und diesmal traf es Artemis selbst.

Lächelnd erhob er sich und zog ein dünnes Buch hervor. Inzwischen wussten alle darum. Artemis‘ zahlreiche Skizzenbücher. „Ich schätze, es bedarf keiner großen Erklärungen, was das hier ist. Ich zeichne gerne. Ich zeichne viel. Und in der Regel zeichne ich auch sehr schnell. Ich hielt hierin meine Eindrücke fest. Meine Vorstellungen. Anatomische Studien. Skizzen von Dingen, die ich gesehen, gehört, erlebt habe. Aber auch von Dingen, die ich mir vorstelle oder noch erhoffe.“

Er sprach zu Arien. Er sprach zu ihr, wandte sich ihr immer mehr zu. Sie wurde leicht rot, zunehmend röter.

Und dann gab er das Buch Lisa.

Ausgerechnet Lisa.

„Uh! Danke!“, meinte die sofort freudig.

„Ich habe das Muttermal übrigens korrigiert“, erwähnte Artemis noch immer an Arien gewandt. Mit einem Ausdruck blanken Horrors im Gesicht starrte sie von ihm zum Skizzenbuch und tat, was das einzig Vernünftige war: Sie teleportierte direkt hinter Lisa und versuchte, ihr das Buch wegzunehmen. Glücklicherweise entstand kein allzu großes Chaos angesichts des Umstandes, dass sie vor Entsetzen und Verarbeitungsschwierigkeiten ein wenig zu lange gezögert hatte und Lisa, eifrig nach diesen Ausführungen, das Buch entsprechend schnell geöffnet hatte.

Von welchem Muttermal also die Rede war, würde Elesil nie erfahren, die als Einzige noch zugehört hatte – während der Rest sich bereits ebenfalls um Lisa sammelte, um hinein zu blicken. Es waren tatsächlich Artemis‘ Vorstellungen. Eresthenes in einem feinen Anzug, beispielsweise. Es waren auch anatomische Studien. Lisa in verschiedenen Posen, die sie beim Kochen einnahm. Es waren Skizzen von Erlebtem – wie beispielsweise seine Strandspaziergänge mit Arien, Sonnenuntergänge über dem See und Flüge hoch in den Wolken oberhalb des Immergrün-Waldes. Und Dinge, die er sich erhoffte. Wie beispielsweise eine schrittweise Zeichnung Vasillas, die einen Körper bekam. Oder sich vorstellte – wie Rik, mit verwegenem, mutigem Gesicht, der fest das Steuer seines Schiffes haltend, einem von Eumenes‘ Stürmen trotzte.

„Ich hasse dich“, seufzte Arien, als sie rügenden Blickes zu Artemis aufschaute.

„Nein, tust du nicht“, gab der lediglich lächelnd zurück.

„Nein, tue ich nicht“, gestand sie ebenfalls ein, schüttelte lächelnd den Kopf und senkte den Blick wieder, als Lisa weiterblätterte, „Du bist trotzdem ein Idiot“, meinte sie leise.

Damit wiederum konnte er leben…

 

Als Vetus Arien an diesem Abend aufs Zimmer begleitete, waren sie einmal mehr völlig überfressen. Der Gang zum Bad war einmal mehr viel zu lang und allein zu atmen wirkte seltsam anstrengend. Als sie jedoch Seite an Seite im Bett lagen, angeschmiegt und eigentlich bereit, den Tag ausklingen zu lassen, hob Vetus unter Aufbietung nicht unerheblicher Willenskraft nochmals die bleischweren Lider.

„Was war eigentlich in der Box?“, hakte er neugierig nach.

„… nichts“, kam bemüht zurück, nach verdächtiger Bedenkzeit obendrein.

„Elesil schenkt dir also eine leere Box.“

„Mhm.“

„Wird Artemis erfahren, was drin ist?“

„Mhm.“

„Gut, dann will ich’s gar nicht wissen“, beschloss Vetus rasch, schauderte kurz und schloss die Augen wieder. Elesil. Es war Elesil. Was wollte man da schon erwarten? Was hatte er eigentlich erwartet?!

Während der Schlaf sich allmählich seiner bemächtigte, lag ein breites, zufriedenes Lächeln auf Vetus‘ Schnauze. Manal-Khesin, Tag zwei – voller Erfolg!

 

„Papa, so kann ich nicht lesen.“

Träge blinzelnd öffnete Vetus die Augen. Es war früh, gefühlt viel-zu-früh. Arien saß im Bett, ein Buch auf seiner Schulter abgestützt. Überhaupt waren Arien, Thalion und er gegenwärtig ein seltsames Bündel aus Fell, Schuppen und Gliedmaßen. Das konnte nicht bequem sein… fühlte sich aber eigentlich seltsam bequem an.

„Wie lange sitzt du da schon?“, hakte er träge nach.

Sie zuckte mit den Schultern, runzelte die Stirn. „Zwei, drei Stunden?“

Sofort läuteten sämtliche Alarmglocken. Sie würde doch nicht etwa-

Hastig schob er den Einband höher, um seine Verdächtigungen zu prüfen und… sie las Magnus der Monsterjäger – Die Rache der Monster. Er zog das Buch wieder herab, um den Text zu prüfen. Vielleicht hatte sie ja einfach nur den Einband ausgetauscht, um ihn zu-… aber nein. Magnus. Mehrfach. Mehr konnte er kopfüber nicht wirklich gut lesen, aber der Name war recht prägnant.

„Zufrieden?“, meinte sie schmunzelnd.

Nun, vielleicht hatte sie geahnt, dass er bald aufwachen würde und vorher hastig die Bücher ausgetauscht, um-

Stopp!, gebot er sich selbst. Er war nicht Rik. Er war nicht der Paranoide, der ständig mit Verdächtigungen und klammheimlichen Anschuldigungen um sich warf. Sie las. Und sie las keine ‚nützliche‘ Literatur. Vielleicht hatte sie nicht länger schlafen können oder wollen, es spielte eigentlich keine Rolle. Sie war hier, nicht in der Werkstatt. Zufrieden schmiegte er sich noch einen Moment an. „Ja. Sehr.“

„Gut“, kam leise zurück. Sie positionierte ihr Buch neu und kraulte ihn leicht am Hals, während sie weiterlas.

„Sag Bescheid, wenn das Kapitel zu Ende ist“, nuschelte er bereits wieder im Dämmerzustand.

Und das tat sie auch. Seite an Seite brachen sie nach der Bad-Runde wieder auf, als die Ersten der anderen sich ebenfalls einfanden. Zum Frühstück des dritten und letzten Tages und großen Gelages. Auch diesmal stand wieder ein Plan dahinter. Statt der prägendsten Speisen der eigenen Jugend oder der aktuellen Leibspeisen war heute ein Tag des Experimentierens. Arien hatte in ihrem Leben schon so einiges probiert – aber eben längst nicht alles. Und auf die eine oder andere Weise galt das für jeden in der Nadelgemeinschaft.

Heute war der erste Tag des neuen Jahres. Der Tag war der Zukunft geweiht, dem Hoffen, dem Ausblick auf das Kommende. Und das begann, offenbar, mitunter mit etwas so simplem wie gerösteten Nüssen. Zumindest für Eresthenes. Elesil wiederum hatte noch nie Schnecken probiert – nicht zuletzt, weil sie den Gedanken völlig widerlich fand -, wagte sich aber genau daran. Was natürlich hieß, dass der Rest sich überlegen musste, ob er ihr beim Vernichten der ‚Speise‘ half oder nicht, denn obgleich Elesil anmerkte, dass sie nicht wirklich schlecht schmecken würden, war das Gefühl auf der Zunge und der damit verbundene Gedanke an Schnecken einfach nach wie vor absolut widerwärtig. Willkommener war da wiederum Lady Rasska, die Zeit ihres Lebens noch nie Erdbeertorte gegessen hatte. Ein sträflicher Missstand, wie die meisten befanden, der rasch und umfassend behoben wurde – auch wenn Rasska selbst dem letztlich nicht allzu viel abgewinnen konnte.

Und während auch an diesem Tag wieder reichlich und reichhaltig gegessen wurde – sehr zu Ariens und Riks Verdruss, abermals -, wurde auch wieder viel erzählt. Der Tradition des Festes folgend nun von all den Dingen, die man sich erhoffte und wünschte, für die nahe oder ferne Zukunft.

Für manchen waren die Wünsche verhältnismäßig bescheiden. Lady Rasska war an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, den sie sehr mochte. Sie wusste ihre Rolle zu schätzen, ihre Position, ihren Stand im Leben, sich selbst wie sie aktuell war – sie war rundherum zufrieden und wünschte sich damit letztlich nur, dass sie diesen Punkt eine Weile würde behalten können.

Arthur hingegen hoffte darauf, die Meister der Nadel in ihrem Vorhaben triumphieren zu sehen. Er war alt, wusste das selbst nur zu gut. Für einen Menschen hatte er bereits ohnehin ein geradezu unverschämtes, erstaunlich hohes Alter erreicht. Im Grunde konnte es jeden Tag soweit sein – auch wenn er das natürlich nicht aussprach. Aber obgleich er keinen Schritt bereute, den er gesetzt hatte, keine Entscheidung, die er getroffen hatte und keine Unterstützung, die er gegeben hatte… so hegte er doch den Wunsch, wenigstens einen kurzen Blick auf das Danach erhaschen zu können, auch wenn es ihm persönlich nicht vergönnt wäre. Er fand Frieden in dem Wissen, folgenden Generationen eine bessere, sicherere, heilere Welt überreichen zu können. Er fand sogar grenzenlosen Stolz darin, dabei geholfen zu haben, dass sie in diesen Zustand geriet. Nur wenigstens kurz sehen würde er sie gerne…

Brutus‘ Wünsche waren ähnlich bescheiden wie Rasskas und ähnelten Vasillas doch sehr: Beide wollten sie die Welt sehen, irgendwann einmal. Die Nadel bot dafür zweifellos die besten Voraussetzungen. Mit dem Spiegel gelangten sie in kürzester Zeit an jeden Ort der Welt, solange sie ihn vorher nur ausspähen konnten. Aber die Nadel war das Nest – wie lange würde er wirklich bleiben können? Vasilla bezeichnete es als flügge werden, auch wenn das in ihrer beider Fällen irgendwie kaum zuzutreffen schien.

Eines Tages, so erklärte die frühere Bardin, würde sie gerne dort hinausgehen, mit Lisa an ihrer Seite. Die Welt erforschen. Seine Völker neu kennenlernen. Ihre Geschichten hören und verbreiten. Ein paar Neue hinzufügen. Vielleicht sogar von einer ungewöhnlichen Bande, die irgendwo auf einem fernen Kontinent in einer Höhle tief im Wald hockend die Welt verändert hatten.

Eresthenes und Elesil dagegen hielten es so, wie man es wohl von ihnen erwartet hatte. Elesil war das Chaos in Person, das ewige Blatt im Wind. Sie trieb und ließ sich treiben. Sie ging, wohin der Wind sie führte und tat, wonach ihr der Sinn stand. Sie lebte Lenikkis Lehren besser aus als jeder andere, der der Mehrheit der Anwesenden je untergekommen war. Während Eresthenes dagegen nach wie vor ein großes Mysterium war und blieb – seine Wünsche für das Zukünftige schienen in direktem Zusammenhang gekoppelt an die Nadel und den Erfolg oder die weiteren Ziele der Meister. Zumindest, wenn man die feinen Nuancen nicht kannte.

Denn es war weniger die Nadel. Sie war eine Operationsbasis. Ein gutes Versteck. Eine schwer befestigte Anlage. Aber letztlich für ihn doch nicht mehr als das. Während Arien inzwischen hier Heim und Wurzeln fand, war Eresthenes schlicht jemand, der Wurzeln zu schlagen einfach gänzlich unfähig war. Unfähig und unwillens.

Und es waren auch nicht die ominösen, gelegentlich wechselnden Meister der Nadel, die ihn interessierten – es waren diese Nadelmeister. Aufgrund seiner Freundschaft zu Arien und des gelegentlich angespannteren Verhältnisses zu Rik, von den Eskapaden mit Ithildalin ganz zu schweigen, natürlich stärker auf sie fokussiert als auf die anderen beiden. Doch Eresthenes ließ sich nicht in die Karten schauen. Seine Wünsche gaben nichts über ihn preis.

Und niemanden wunderte das wirklich.

Dann jedoch wanderten Blicke zu Artemis und der Stahlkoloss schmunzelte einmal mehr in Ariens Richtung, wirkte sogar etwas… verträumt dabei? Sie schlug natürlich den Blick nieder, doch das hinderte Artemis nicht daran, nun selbst zu erzählen.

„Ich habe in sehr kurzer Zeit sehr viel erreicht. Was umso bemerkenswerter für mich ist, weil ich davor in sehr langer Zeit so gut wie gar nichts erreichte. Viele der Nadelmeister, die vor euch kamen, hatten Angst vor mir. Angst davor, was es bedeuten könnte, mir mehr Intelligenz zu geben. Einen tatsächlichen Verstand zu geben. Mir Persönlichkeit und Eigenständigkeit zuzugestehen. Das stumpf befehlen unterschiedlicher Komplexität folgende Konstrukt war angenehmer, bequemer. Folgsam, loyal, dienstbar. Ihr aber gabt mir eine Chance zum Wachstum. Ich selbst zu werden. Herauszufinden, wer ‚ich‘ eigentlich bin. Dank euch konnte ich meine Funktion ausfüllen und darüber hinauswachsen. Ich habe das Spektrum von Emotionen kennengelernt. Ich war zornig, frustriert, euphorisch. Aber wenn ich in der Zeit bisher etwas gelernt habe, dann ist es das: Es spielt keinerlei Rolle, wie gut oder schnell man denkt. Emotionale Reife braucht ihre Zeit. Tatsächliche Zeit. Nicht Zeit in Überlegung – denn die hätte ich abkürzen können. Ich bin zügig mit Dingen konfrontiert worden, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Eifersucht, beispielsweise. Und meine Aufgabe erlaubte mir, davor zu flüchten. Und aus der Sicherheit einer vertrauten Umgebung heraus damit umzugehen, den Umgang damit zu erlernen. Ich denke, dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Es gibt noch so vieles, das ich erkunden und erfahren möchte. So vieles, das ich erleben möchte. Mit dem Wissen, dass das Alter allein mir nicht viel anhaben wird, kommt auch die Ruhe, nichts überstürzen zu müssen.“

Alle hatten sie zugehört. Bei einem Stück Erdbeertorte, in den meisten Fällen. Alle nickten sie, lächelnd, gewichtig, angetan, nachdenklich, in unterschiedlichsten Zuständen und emotionalen Ausdrücken. Alle befanden sie, dass das eine wirklich schöne Rede war.

Alle außer Elesil natürlich.

„Das ist wirklich toll für dich, Großer, aber… was genau heißt das jetzt? Komm schon, spuck’s aus. Sag: Ich wünsche mir… und dann führst du den Satz fort. Ich? Ich wünsche mir gerade noch mehr Erdbeertorte. Wir haben noch Erdbeeren da, oder?“

„Ja, denke schon…“, erwiderte Lisa irritiert.

„Gut. Siehst du – Wunsch erfüllt. Konkreter Wunsch, konkrete Erfüllung. Ich will dir ja nicht dein großes, breites, emotionales alles erleben wollen absprechen – aber was genau willst du erleben? Verliebt hast du dich. Eifersüchtig warst du. Zornig auch. Zugegeben, da gibt es verdammt viele Facetten von. Auch wenn ich wirklich hoffe, dir nicht zu begegnen, wenn du die zahllosen Ausprägungen von Wut erforschst… also – was ist da noch so?“

Lächelnd blickte Artemis nach einem Moment der Überlegung wieder kurz in Ariens Richtung… mied ihren Blick dann jedoch von sich aus. „Nun, irgendwann, schätze ich, würde ich gerne wissen, wie es ist, eine Familie zu haben“, erklärte er – für Artemis‘ Verhältnisse – bemerkenswert leise.

„Sind wir das nicht schon?“, schmunzelte Vasilla.

„Schon, nur-“, hob Artemis an, wurde jedoch jäh von Elesil unterbrochen, die breit grinsend sich zufrieden zurücklehnte.

„Er will was Eigenes. Kleine Halbkonstrukte, die mit schuppigen Drachenschwingen herumtollen, nicht?“

Da wiederum sah Arien auf. Sehr abrupt. Sehr rot. Und zwischen Wie kannst du nur?! an Elesil gerichtet und einem Wirklich? an Artemis gewandt wechselnd.

„Geht sowas überhaupt?“, rätselte Arthur dagegen sehr viel pragmatischer. Und während Elesil nunmehr mit den Schultern zuckte, runzelte Eresthenes die Stirn. Wenn überhaupt irgendwer das möglich machen konnte, dann war er das – wie so ziemlich jeder am Tisch wusste. Was auch erklären mochte, warum plötzlich so viele Blicke zu ihm wanderten, derer er sich jedoch nicht bewusst wurde. Wie auch? Er hatte eine interessante Herausforderung vor die Nase gesetzt bekommen, ob gewollt oder nicht.

„Genetische Sequenzen sind eine Form biologischer Informationsspeicherung. Naniten können Informationsspeicherung ebenfalls vornehmen. Mit ein paar Abwandlungen können sie sie sogar in organischer Form speichern oder replizieren. Eine Verbindung von organischem und anorganischem Gewebe sollte eigentlich nicht so schwer sein, wenn man das jeweilige Immunsystem ein wenig anpasst. Die Technik hat damit sowieso höchstens ein Kompatibilitätsproblem und das ist ja nun wirklich am simpelsten zu lösen. Es müssen natürlich ausreichend Rohstoffe zur Verfügung gestellt werden und bei der durchschnittlichen Unverträglichkeit organischer für diverse Metalle ist es fraglich, wie sich das vertragen würde. Dann wiederum: Wozu überhaupt ganze Metallteile nehmen? Die Naniten brauchen nur die Werkstoffe. Sie dürfen lediglich nicht als Schadstoff ausgefiltert werden. Oder man müsste die Naniten so programmieren, dass sie die vom Organismus ausgefilterten Schadstoffe absorbieren und als Rohmaterialien zum Bauplatz bringen. So könnte man den Organismus vor Schäden bewahren und die Bausequenz ermöglichen. Das würde allerdings zu einer extremen Durchsatzstärke an Naniten führen, muss es, sonst nimmt der Wirtskörper Schaden. Dann wiederum heißt das auch eigentlich nur, dass man sehr viel mehr davon braucht, es wird zu einer reinen Ressourcenfrage – und davon haben wir hier eigentlich genug. Mehr als genug. Immer schon gehabt.“

Nach seinem reichlich verwirrenden Gebrabbel sah Eresthenes zufrieden auf. „Machbar.“

Diverse verwirrte Gesichter nickten langsam aufhellend. Lediglich Elesil beugte sich stirnrunzelnd zu Arthur herüber. „Hat er gerade eine Mutter als Wirtskörper bezeichnet?“

„Fragst du mich das gerade wirklich…?“, gab der schulterzuckend zurück.

Artemis hingegen… strahlte. Nicht wortwörtlich, glücklicherweise, aber allein zu wissen, dass es möglich wäre, eröffnete eine völlig neue Perspektive, neue Möglichkeiten… machte aus vagen Hoffnungen greifbare Wünsche. Für… irgendwann einmal, natürlich. Nichtsdestotrotz blickte er zu Arien und so ziemlich jeder am Tisch, egal wie gut sie im Durchschauen von Leuten waren, hatte seine Schwierigkeiten, nachzuverfolgen, was in jenem Blickwechsel zwischen den beiden vor sich ging.

Arien… lächelte. Sehr leicht, aber sie lächelte. Das war immerhin etwas Gutes, also konnte das alles nur etwas Gutes sein – nicht?

 

„Wow, was für ein Tag!“, rief Vetus jubelnd aus, als er Arien an diesem Abend nach oben begleitete. Er war völlig überfressen, natürlich war er das. Aber es hatte sich gelohnt. Jeder Bissen davon. Seine Kehle war trocken und kratzig und seine Stimme leicht heiser aber auch das hatte sich gelohnt, jeder Pfiff, jeder Ton, jedes Wort.

Vetus fummelte ein wenig an der Tür herum, zu euphorisch für sein eigenes Geschick, als Artemis ebenfalls auf ihrer Ebene ankam. Er bekam den Blickwechsel der Beiden nicht mit – bemerkte dann nur, als er die Tür endlich geöffnet hatte und sich zu Arien umdrehte, wie sie zögerlich dort stand, lächelnd, aber zögerlich, während Artemis ebenfalls die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hielt. Er begriff schnell, worauf das hinauslaufen sollte und obgleich es seine Stimmung ein klein wenig dämpfte… war es doch nichts Schlimmes. Denn Manal-Khesin mochte damit vielleicht zum Ende kommen – aber morgen war auch ein Tag. Und sie waren in der Nadel. Als eine, große, schräge Familie.

„Wir sollten reden“, meinte Arien leise als völlig unnötige Erklärung.

„Ich weiß“, erwiderte Vetus grinsend, „Ist in Ordnung. Mach dir keinen Kopf – ich habe ein Thalion und eine Luine und ein verwaschenes, ausgeleiertes, hellgrünes Oberteil aus Wolle.“ Als er die Flügel und Arme ausbreitete, zögerte sie nicht lange. Die Umarmung war herzlich und er schloss die Flügel einen Moment kokonartig um sie.

„Das war ein schöner Tag, an dem man Dinge weggibt, Papa!“, flüsterte sie ihm leise zu, „Fröhliches Manal-Khesin!“

Ein breites Grinsen machte sich auf seiner Schnauze breit, während er sein kleines Mädchen noch etwas fester an sich drückte. Irgendwann in vielen Jahren, wenn sie dieses Fest sehr oft begangen hatten, würde sie vielleicht mit ihm ausziehen und dabei helfen, diesen drei Tagen in ihrem Volk endlich einen Namen zu geben. Er musste nicht perfekt sein. Er musste nicht grammatikalisch korrekt sein. Aber es schadete nicht, wenn er hübsch klang und das Fest anderen Völkern nahe brachte.

Denn wer profitierte nicht von ein wenig Liebe?

 

„Fröhliches Manal-Khesin. Und jetzt ab mit dir, geht reden!“

„Papa!“

„Und pass du mir ja gut auf sie auf, Artemis! Ich will sie auf keinen Fall vor elf zurückhaben!“

Papa!

Kichernd wie ein Grünschnabel drehte er Arien an den Schultern um, schob sie zwei Schritte in Artemis‘ Richtung und verschwand in ihrem Wohnzimmer, die Tür mit einem ominösen „Viel Erfolg…! Beim Reden…!“ schließend.

Zumindest musste er ihr jetzt nicht mehr erklären, warum er sich ein Luftschiff wünschte…



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