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shaping fate

von

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Schlaflos in Bervenia

Vetus gähnte. Ihm taten die Füße weh. Und die Augen brannten. Er hatte leichten Druck auf den Schläfen. Und ihm war warm. Und kalt. Und Hunger hatte er allmählich auch. Es war einfach ganz grundsätzlich zu spät. Zu spät, um noch durch die Gegend zu wandern. Aber natürlich hütete er sich, das zu sagen. Oder zu zeigen. Denn trotz allem hatte er Pläne.

Seit Tagen schon zogen Ahillea und er am Rande eines beeindruckend hoch gewachsenen, dichten Waldes entlang. Immer ein paar Dutzend Meter von der Baumgrenze entfernt. Er hatte sich als Späher bemüht, dann und wann – und wusste von einem hübsch hoch aufragenden, sanft  geschwungenen Hügel ganz in der Nähe. Sie konnten ihn noch erreichen, würden ihn heute noch erreichen. Wenn er doch nur nicht so viel Zeit beim Frühstück vertrödelt hätte…!

Dabei wurde es auch irgendwie immer schwerer, zu laufen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Seufzend und schnaufend bemerkte er die Umgebung kaum noch, konzentrierte sich darauf, wie bleischwer seine Beine waren, wie ungelenk sie sich anfühlten. Entsprechend zuckte er fürchterlich zusammen, als er einen Zeigefinger grausam und skrupellos in die Seite gerammt bekam. Einen halben Meter fortspringend, versuchte er seine Einkehr rasch umzustülpen, versuchte sich seiner Umgebung wieder gewahr zu werden und vernahm, wie könnte es auch anders sein, als erstes ihr helles, ansteckendes Glucksen und Kichern, das schließlich in ein leises Lachen überging.

„Unfair“, maulte er.

„Du warst schon wieder in deiner eigenen kleinen Welt. Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass diese unsere Welt hier draußen auch noch existiert – nicht, das du gleich auf der anderen Seite wieder runterläufst“, erwiderte Ahillea mit einem schelmischen Lächeln auf den hübschen Lippen und nickte zur Seite.

Vetus‘ Blick folgte ihr und er bemerkte nun auch, warum die so grausam gewesen war. Natürlich wurden die Schritte schwerer, tatsächlich wortwörtlich schwerer, wenn man bergauf ging. Sie hatten die Hügelkuppe bereits erreicht, auf der ein einzelner, seltsam gewundener Baum aufragte. Der Gedanke, wie der weit geschwungene Hügel mit diesem Baum im Zentrum, diesem andersfarbigen Fleck, wohl von oben wirken mochte, entlockte Vetus ein vollkommen erwachsenes, keineswegs peinliches Grinsen. Er war ein Genießer hübscher Landschaften, jawohl. Das war eine ernste Sache.

Vollkommen ernst.

Abermals riss ihn seine Begleitung aus den Gedanken heraus. Unlängst hatte sie mit wenigen Handgriffen das Lager aufgeschlagen. Diese Verzauberung hatte sich tatsächlich gelohnt. Eine Bettrolle, die – löste man erst die Schnallen und rollte sie schwungvoll auf – ein ganzes Camp ausspuckte. Ein fertig aufgebautes Zelt, ein mit Steinen begrenztes Lagerfeuer, ein kleiner Holzvorrat, die Flammen züngelten auch schon über das Holz… es sparte so immens viel Zeit.

Er konnte den Nutzen einsehen, natürlich. Vetus war immerhin kein Dummkopf. Er bedauerte trotzdem, die Schwertscheide zurückgelassen zu haben, die eine epische Hymne anstimmte, sobald man seine Klinge zog. Aber Ahillea hatte wohl Recht – irgendwann würde es langweilig werden, jeden Kampf mit der immer gleichen Hymne zu beginnen. Die anderen, zahlreichen Argumente dagegen, die waren… unbedeutend. Nicht wert, in die Rechnung einbezogen zu werden. Sie mochte vielleicht überzeugt sein, das es unepische Kämpfe gab oder man manchmal auch nur einschüchterte. Aber zum Einschüchtern war es so viel eindrucksvoller, wenn eine Hymne erklang! Und Kämpfe wurden nur unepisch, wenn man sich nicht darum bemühte, sie episch zu machen! Und was das Herumschleichen mit gezogenen Waffen anbelangte, nun ja… er hatte neben seinem Schwert noch einen Dolch? Wenn es denn unbedingt leise sein musste, dann käme er damit sicherlich auch zurecht…

Langsam ließ sich Vetus bei Ahillea nieder, die es sich mit dem Rücken zum Feuer auf einem Tuch bequem gemacht hatte und in den Sternenhimmel aufsah. Er musterte die feinen, grazilen Tätowierungen auf ihrem Gesicht. Verschlungene Linien, Ranken gleich, die sich über ihren schlanken Hals und ihre Schulter den Arm herab zog. Er hatte sie ihr spendiert, gewissermaßen. Als Erinnerungsstück an ihre erste Begegnung mit einer Dryade. Einer echten, von Phylia selbst berufenen, mit Tieren redenden, Pflanzen kommandierenden, Ehrfurcht gebietenden… Leute beschnüffelnden… Dryade.

Die Erinnerung ließ ihn heute noch schmunzeln. Das kam davon, wenn man in Wäldern aufwuchs. Dann wiederum: Ahilleas Gesichtsausdruck war prächtig gewesen! Vielleicht war das Tattoo auch die Entschuldigung dafür, wie sehr er damals gelacht hatte.

Die schlichten, blaugrünen Ohrringe waren ihre Wahl. Sie hatten sie nach Lichtenstein geholt. Gruseliges kleines Dorf. Angeblich ein beliebter Treffpunkt des Adels und es gab so manches seltsame Gerücht darüber, was dort vor sich gehen mochte. Jeden Abend prächtige Bälle, so hieß es. Aber Leute in der Umgebung verschwanden und den Adel schien es nicht zu kümmern. Nun einerseits mochte man meinen, dass es Adel nie kümmerte, wenn einfache Leute verschwanden. Es war der Adel. Und der Rest war Pöbel. Und Pöbel gab es genug. Aber Lichtenstein war ein Dorf. Allein die hohe Konzentration an Adel dort war schon suspekt gewesen.

Letztlich hatten sie sich selbst zu einem Maskenball eingeladen. Und siehe da – Kultisten. Es ging doch wirklich nichts über Adlige, die vor lauter Langeweile irgendwelche mordlüsternen Teufel anzubeten begannen. Und nachdem sie den zumindest ein paar der tragisch Verschwundenen zur Flucht hatten verhelfen können, galt es ja auch nur noch, mit den Mörder-Idioten fertig zu werden.

Kinderspiel, wirklich.

Vielleicht hätte sie eine aus massivem Saphir geschlagene Kutsche nehmen sollen. Alternativ zu einem hübschen paar Ohrringe.

„Weißt du, was es mit dem Wald auf sich hat?“, erkundigte sich Ahillea und durchbrach damit einmal mehr Vetus‘ sich fortwährend verselbstständigende Gedanken. Ein wirklich seltsamer Effekt, der ihn irgendwie in aller Regel in ihrer Gegenwart zu schaffen machte. Hastig zog er die Hand aus ihren Haaren. Er hatte schon wieder Locken um seine Finger gewickelt. Sie quittierte seine diesbezügliche Eile mit einem warmen Lächeln, sagte aber kein Wort. Wie immer.

Dann folgte sein Blick ihrem Fingerdeut hinaus. Der wundervolle Nachthimmel mit vereinzelten, grauen Schleierwolken war von hier oben atemberaubend schön – aber nein, sie interessierte der Gruselwald darunter. Ein seltsamer Anblick war er. Als hätte Phylia einen Pinsel genommen, sich die Leinwand der hiesigen Landschaft angeschaut und mit einem sehr düsteren Grün einmal einen Punkt dorthin gemalt. Nicht ein Strich, nicht ein zerfasertes Etwas, nein – ein perfekter, kreisrunder, übergangsloser Punkt. Es gab Wiese und Landschaft drumherum und dann gab es die Baumgrenze, die den harten Übergang in den Wald markierte. Und im Zentrum dieses Gruselwaldes stand – wie hätte es schließlich auch anders sein können – ein Schloss.

„Japp…“, erklärte er zunächst und überlegte bereits, wie er ihr deutlich machen sollte, dass sie nicht – auf gar keinen Fall! – zu dieser verdammten Burg gehen würden, nur weil sie in den Tavernen auf dem Weg hierher wieder irgendwelchen Unsinn aufgeschnappt hatte über entführte Leute, vergessene Schätze oder dergleichen. Er spürte jedoch ihren erwartungsvoll-überraschten Blick auf sich und hob daher lächelnd an, seine Rede mit lebhaftem Gestikulieren unterstützend, „Weißt du, als Wald bezeichnet man eine große Ansammlung von Bäumen, die-“ Sie boxte ihn auflachend spielerisch gegen die Schulter und er rang einen Moment um Gleichgewicht. „Nicht? Gut, dann wie wäre es damit: Das ist der verdammte Fleck auf der Landkarte, wegen dem wir zwei Wochen Umweg in Kauf nehmen müssen…?“

Zunächst nickte sie nur. Und hätte er sie nicht besser gekannt, hätte er an dieser Stelle wohl nachgefragt. Doch er kannte sie besser. Vielleicht ein klein wenig zu gut, inzwischen. Sie sammelte sich, überlegte, ordnete, bereitete vor. Er liebte ihre Geschichten…

„Das ist der Wald, den keiner will. Es gibt einen hübschen elbischen Namen dafür, aber du verunstaltest ihn nur wieder und brichst dir dabei die Zunge.“ Sie schmunzelte, als er sich vorsichtig etwas näher an sie heranwagte und leicht gegen sie lehnte, während sein Blick tatsächlich am Wald und der Burg im Zentrum klebte. „Die großen Adelshäuser Bervenias – die zumindest, die Grundbesitz haben – wissen alle von diesem Wald. Und obgleich er direkt an einem Punkt liegt, dass drei Häuser sich eigentlich um seine Zugehörigkeit streiten müssten, hat keines davon Interesse daran. Die Leute meiden den Wald, gehen Meilen und Meilen drum herum. Er ist verflucht, heißt es. Geister und Untote und schreckliche Monster sollen darin hausen. Keine Tiere, keine Vögel und Insekten – es herrscht Tag und Nacht Totenstille. Die Bäume selbst sollen mit ihren Wurzeln Eindringlinge greifen und unter die Erde ziehen, wo sie sie aufspießen und den Baum von ihrem Blut ernähren. Man sagt, die Schatten dort drinnen seien lebendig, mit glühenden Augen und Krallen. Eine gute Laterne mag gegen sie helfen, sie auf Abstand bringen, vielleicht sogar verletzen – aber selbst der Wind spielt einem dort böse Streiche. Das Schloss selbst ist ein Mysterium. Es führt keine Straße dorthin. Es gibt keine Unterlagen über seinen Bau. Niemandem scheint es zu gehören. Aber ein paar Gnome, die mit Ferngläsern viele Wochen und Monate die Burg studiert haben, erzählten ängstlich, dass sie Lichter durch die Mauerspalten schleichen sahen. Jemand mit einem Kerzenhalter oder einer Lampe vielleicht. Wer immer dort lebt, hat mit dem Wald und seinen Bewohnern offenbar keinen Streit. Was nahelegt, das man diesem Herrn oder dieser Dame nicht begegnen möchte.“

Einen Moment wartete er ab, zeigte sich geduldig und nein, er schauderte nicht, ganz sicher nicht. Und wenn, dann lag das nur am kühlen Nachtwind. Der nicht aus dem Gruselwald kam. Und ihm Fingernägeln gleich den Rücken herabging. Und nein, er schaute sich ganz sicher nicht um, ob wirklich irgendwer mir Fingernägeln auf seinem Rücken herumkratzte. Und sei’s nur Ahillea selbst, die sich einen Spaß erlaubte.

Doch als sie nicht weitersprach, seufzte Vetus leise. „Du willst da hin, nicht?“

Er erinnerte sich noch deutlich zu gut an Lichtenstein. An die Vorbereitungen, insbesondere. Wie breit grinsend sie ihn auf eben diese Frage umarmte und meinte, dass sie schon geglaubt habe, er würde nie fragen. Damals hatte er sich von ihrer Nähe, ihrer Wärme, ihrer weichen Haut und ihrem verlockenden Duft betören lassen.

Würde er vermutlich noch immer. Es würde immer funktionieren… immer

Doch Ahillea schüttelte leicht den Kopf, nachdem sie selbst etwas entrückt gewirkt hatte, den Wald und seine Burg anstarrend. Etwas war hierbei anders. Sie war abenteuerlustig, neugierig, wollte die Welt sehen und war sich weder zu fein für Blut und Dreck, noch zu schüchtern bei all ihren gruseligen, boshaften und düsteren Winkeln. Aber hier zögerte sie. Sein fragender Blick brachte sie zwar zum Reden, aber das gab ihm nur wenig Antwort. „Es gibt Geschichten, die unangerührt bleiben sollten.“

Er nickte, ohne zu begreifen. Das hier war… gruselig genug gewesen. Es bedurfte eines Bruches mit der Stimmung. Er hatte diesen Hügel angesteuert. Er hatte diese Route festgelegt. Er… hatte Pläne. Die keine Schauergeschichten beinhalteten. „Wart‘ mal kurz hier, bin gleich zurück!“, meinte er grinsend und legte noch ein paar Holzscheite ins Feuer, damit es wärmer, vor allem aber heller wurde, ehe er davonschlich.

Von Süden waren sie gekommen und von Süden war der Anstieg des Hügels steiler. Kürzer, aber steiler. Auf der Nordseite lief er langsam und gemäßigt ins Land hinaus aus – und war bewachsen mit einer wundervollen Sorte magischer Blumen. Man nannte sie Nachtschatten oder so ähnlich. Am Tag waren ihre Blüten geschlossen. Bei Nacht dagegen öffneten sie sich in einem beeindruckenden, nächtlichen Blauschwarz, voller kleiner, konzentrierter Punkte von Lumineszenz. Als würde der Nachthimmel selbst aus dem Gewächs erblühen. Dazu kam ihr betörender Geruch.

Ahillea hätte ihm möglicherweise erklären können, warum dieses Grünzeug nur hier in Bervenia zu finden war. Oder warum hier auf der Nordseite dieses Hügels ein ganzer Schwung davon wuchs, aber nicht auf dem Hügel selbst oder der Westseite. Er selbst verstand davon eigentlich nur: Sie waren hübsch, sie rochen gut. Entsprechend klaubte er sich ein paar der Pflanzen zusammen, sog probehalber nochmals ihren Duft kurz ein und nickte sich selbst zu.

Mit den ersten Schritten zurück kam jedoch das Zögern. Er verweilte. Tigerte wenig später auf und ab, ging seine Rede nochmals durch. Sein Herz schlug ihm von den Knien, in die es gerutscht schien, bis zum Halse herauf. Vielleicht versuchte es seine Kehle als Startrampe für seine Flucht zu nutzen. Seine Hände waren schwitzig, seine Stirn fühlte sich heiß brennend an und schlimmer noch war es an seinen Ohren, die sicherlich inzwischen als Signallicht für einfliegende Magier dienen könnten…

Wie oft hatte er ihr jetzt schon zu sagen versucht, was er für sie empfand?

Es hatte viele Gelegenheiten gegeben. So manche davon war von ihm selbst arrangiert worden. Und Vetus bezweifelte nicht, das Ahillea es wusste. Aber sie wartete ab, überließ es ihm. Seinem Tempo. Und er wusste nicht, ob er ihr dafür grollen oder danken sollte. Heute aber, heute würde er es ihr endlich sagen. Er würde. Er musste. Musste einfach.

„Alles nicht so schwer“, sprach er sich selbst zu, „Gib ihr Blumen, sag „Ich liebe dich“, fertig. Kein Ding, wirklich.“ Nochmals sich zunickend und schwer schluckend, trat er nun doch seinen Rückweg an.

Kaum an der Hügelspitze angelangt, erstarrte er jedoch abrupt. Der Blumenstrauß fiel ins weiche Gras und ganz ohne die Untermalung einer epischen Hymne glitt die Klinge in einer rasanten Bewegung aus der Scheide, während Vetus bereits auf Ahillea und den Fremden zustürmte.

An sich gab es keinen Grund zu sofortiger Aggression. Ahillea schien nicht verletzt. Äußerlich. Doch da saß dieser sehr mit sich selbst zufrieden wirkende Elb und strich ihr über Stirn und Haare, ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet. Sie konnte – konnte – einfach nicht schlafen. Also hatte er etwas getan. Irgendwas.

Geistmagie war unter Elben extrem selten. Aber es war möglich. Und was immer sie gerade durchleiden mochte, würde mit seinem Tod enden! Er stürmte auf den Angreifer zu, wie er dort am Boden kniete, ihm zulächelte, die Hand hob, ihn… von den Füßen riss? Vetus begriff zunächst selbst kaum, was vor sich ging, als er zurückgeschleudert wurde. Mit solcher Wucht traf ihn die unsichtbare Kraft, dass alle Luft aus seinen Lungen gepresst wurde und er die Klinge fallen ließ.

„Tapfer und mutig, keine Frage“, erklang die Stimme des Elb, „Aber ich muss mich doch fragen, ob einfach ganz grundsätzlich jeder so behandelt wird, der unverhofft auftaucht.“ Vetus wartete keine Erklärung ab. Den Dolch gezogen, versuchte er es erneut und unter dem Kopfschütteln des Spitzohrs wurde er abermals von dieser seltsamen Kraft getroffen und zurückgeschleudert. Und das, obwohl er die Handgeste kommen sah, sich gegen die Kraft zu wappnen, ihr sogar auszuweichen versuchte. Abermals landete er ein paar Meter weiter hinten im Dreck, hatte den Dolch nun auch irgendwo im Flug verloren. „Wir können dieses Spiel die ganze Nacht treiben, natürlich. Aber um ehrlich zu sein, ich habe kein Interesse daran. Sollen wir also zur Sache kommen?“

„Lass sie frei!“, verlangte Vetus aufgewühlt, die Worte des Elb ignorierend.

„Nein“, erwiderte der schlicht.

Verdutzt blieb Vetus einen Moment stehen, hielt inne. Lange genug, um die früher gesprochenen Worte zu begreifen. Dieses simple „Nein“ hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Es klang nicht wie eine Drohung. Darin lag kein Trotz. Keine Herausforderung. Es war so… seltsam neutral. „Wer-“, hob er an, besah sich dann jedoch den Eindringling erstmals näher. Die Ohren waren spitz, sicherlich – doch das Gesicht war zu markant. Nicht weich genug für einen Elb. Die Schultern zu breit. Die Oberarme zu kräftig. Natürlich gab es Elben, die sich körperlich fit hielten, nur… waren die wiederum selten in schicke, auffällig gefärbte und eindeutig aus sündhaft teuren, hochwertigen Stoffen gewebte Roben gekleidet.

Ein halbelbischer Magier also? „Was seid ihr?“, korrigierte Vetus nach einem Moment, einer dumpfen Ahnung folgend.

Der Fremde schmunzelte sichtlich amüsiert. „Gut, ausgezeichnet! Leute mit Verstand. Genau, was ich brauche. Ihr wart entgegenkommend, das weiß ich natürlich zu schätzen und diese amüsante kleine Anekdote über den Wald war auch erfrischend.“ Vetus gefror ein wenig das Blut in den Adern. Wie lange war dieser Bastard schon hier und hatte sie belauscht…? Wozu das alles überhaupt?

Die Fragen wurden sehr zu seinem Unbehagen kurz darauf beantwortet, als der Halbelb sich ein wenig gerader aufsetzte und dann… einen Teil der Illusion fallen ließ. Haut blätterte von seinem Gesicht. Was noch an Haut blieb, wurde aschfahl. Seine Augen fielen ein, seine Haare verfärbten sich von ihrem Dunkelbraun in ein fahles Weiß. Nur für kurze Zeit, wenige Sekunden, erhaschte Vetus einen Blick auf die vom Verfall gezeichnete Fratze des Untoten. Er hoffte inständig, dass es sich um einen Nekromanten im Endstadium handelte – denn die Robe ließ, falls das nicht zutraf, nur eine einzige andere Option zu… die deutlich unangenehmer und weit gefährlicher wäre: Ein Lich.

„Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ihr dürft mich Ithildalin nennen. Erlaubt mir weiterhin, ein paar Fragen vorwegzunehmen. Nein, eure Angebetete hier ist nicht tot – noch nicht. Ja, sie steht aktuell unter einem Schlafzauber. Ja, ich sagte ‚noch‘. Sie ist von mir vergiftet worden. Das Gift ist magischer Natur und wird sie binnen einer Woche dahinraffen. Im Anschluss wird sie als eine der Unseren wiederauferstehen. Vielleicht mache ich sie ja zu meiner Konkubine? Mal sehen.“ Unweigerlich wanderte Vetus Blick umher, auf der Suche nach den Waffen. Natürlich könnte er sich auch einfach verwandeln. Könnte seine wahre Form annehmen und dieses Monster angreifen.

Aber er war ein Lich. Und die waren mächtig. Unterschiedlich mächtig, gewiss, aber mächtig allesamt. Selbst in seiner wahren Gestalt hätte er ihm vermutlich nicht viel entgegen zu setzen. Dann jedoch wusste sein Gegner, womit er es zu tun hatte und konnte ihn, schlimmstenfalls, einfangen. Das durfte nicht geschehen. Aber er konnte auch Ahillea nicht zurücklassen. Zerrissen zwischen dem Widerspruch harrte er aus. „Es gibt natürlich einen Grund, warum sie noch lebt. Genauso, wie es einen Grund für die äußerst spezifische Art ihres Dahinsiechens gibt. Es dauert einige Tage, den Wald zu durchqueren und ich rechne innerhalb des Hains mit gehörigem Widerstand. Ich habe euch also sogar, freundlich und zuvorkommend, wie ich bin, einen großzügigen Puffer eingerechnet. Ihr werdet euch zu diesem Schloss begeben und mir ein Buch beschaffen.“

Fassungslos starrte Vetus ihn an. Er fing sich jedoch rasch. Er hatte keine Zeit zu vertrödeln. Nur mit Mühe konnte er seinen Blick von Ahillea losreißen und ließ ihn abermals über den Wald schweifen. Kein Grusel, keine Gänsehaut. Diesmal nur Pragmatismus. Kühle Berechnung. Marschgeschwindigkeit, Entfernung abschätzen, Widerstand einkalkulieren. „In einer Woche schaffen wir es rein – aber ehe wir wieder draußen sind, wäre sie tot.“ Untot, korrigierte er in Gedanken und verzog das Gesicht.

„Oh aber keineswegs. Sobald ihr das Buch beschafft habt, werde ich uns wieder hinaus teleportieren“, gab der Lich gut gelaunt zurück.

„Wenn ihr das könnt, warum dann dieses Schauspiel? Warum nicht einfach hinein teleportieren?“, schoss Vetus sofort zurück.

„Glaubt ihr, dass ich das nicht längst getan hätte, wenn es so einfach wäre?“ Es gab also Grenzen. Irgendwelche Grenzen, unbekannte, nicht näher definierte Grenzen, aber es gab sie. Das war ein Anfang.

„Dann sollen wir euch ins Schloss bringen?“, widmete sich Vetus zunächst wieder der naheliegenden Zielsetzung.

„Nein. Ich kann das liebreizende Gemäuer nicht betreten. Ich begleite euch zum Schloss. Dort warte ich darauf, dass ihr mir das Buch heraus bringt. Dann bringe ich uns hierher zurück und alles wird gut für euch zwei Turteltauben.“ Diese Zufriedenheit, die Selbstgefälligkeit, das herzliche Lächeln, Vetus wurde aggressiv davon allein, ihn nur anzuschauen, ihm zuzuhören.

Grimmiger als zuvor nickte er. „Woran erkennen wir das Buch?“

„Es hat einen Einband und Seiten. Also wirklich, stellt euch nicht so an! Glaubt ihr, ich würde unpräzise von einem Buch sprechen, wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gäbe, das ihr mir stattdessen aus Versehen das Kochbuch anschleppt?“

Der Spott reizte ihn weiter, doch Vetus beherrschte sich. Hielt sich mit Blick auf Ahillea vor Augen, worum es hierbei tatsächlich ging. In diesem ganzen, beeindruckenden Gemäuer gab es also genau ein Buch. Ein einziges. Ithildalin schien bemerkenswert gut über das Bauwerk informiert zu sein, dafür, dass er nicht einfach hineinteleportieren oder es offenbar überhaupt auch nur betreten konnte…

„Mit was müssen wir im Schloss rechnen? Und im Wald?“ Die Fragen waren naheliegend, nicht? Er schien sich sehr gut auszukennen. Also wusste er höchstwahrscheinlich weit mehr, als er sagte und es war Vetus‘ Aufgabe, die richtigen Fragen zu stellen…

„Im Schloss selbst sollten sich eigentlich nur Wilhelm und Mor’nan aufhalten“, rätselte der Lich zunächst und seufzte auf Vetus‘ drängenden Blick hin, „Ein anderer Lich und sein Wiedergänger.“

Das wiederum… verwirrte Vetus. Über Untote war wenig bekannt, sehr wenig. Und je höher man in der Hierarchie kletterte, desto weniger wusste die Welt darüber. Wiedergänger waren Geister, gebunden an Rüstungen. Ein Lich war ein mächtiger, untoter Zauberer. Aber… „Ein Lich bestiehlt den anderen? Ist das… normal?“ Vielleicht gab es deshalb immer wieder zum Scheitern verdammtes Aufbegehren der Untoten? Vielleicht war König Xaraks Regentschaft gar nicht so unangefochten und einheitlich, wie man glaubte?

„Ich stehle nicht“, beharrte Ithildalin plötzlich etwas erbost, „Ich leihe es mir aus.“

„Und dann?“, hakte Vetus sofort nach.

„Dann ist dein Mädchen tot, weil du es für eine brillante Idee gehalten hast, unser aller Zeit mit überflüssigen Fragen zu verschwenden! Wenn du dann soweit wärst, lasse ich sie aufwachen.“ Da… hatte er offenbar einen Nerv getroffen. Vetus nickte langsam. Egal, was geschah – er würde Ahillea nicht in Gefahr bringen. Nicht noch mehr, verstand sich. Oh hätte er den Gerüchten und diesen verflixten Wald doch nur mehr Beachtung geschenkt…! Sie hätten nie in die Nähe kommen sollen.

Ithildalin beruhigte sich wieder und sprach eine Zauberformel, ehe er Ahillea über das Gesicht strich. Er bettete ihren Kopf auf dem Grund, erhob sich und trat einige Schritte zurück. Vetus… nickte ihm dankbar zu. Er hasste und verachtete diese Kreatur aus tiefstem Herzen, er wollte ihn in Stücke reißen, er wollte seinesgleichen von der Welt tilgen, aber… dennoch besaß er genug Manieren, zu erkennen, das Ithildalin gerade etwas getan hatte, dass er nicht hätte tun müssen.

Hastig stürzte er zu Ahillea, die sich langsam unter einem Ächzen wandte und aufzurichten begann. „Vorsichtig. Mach langsam“, wies er sie zurecht. Der besorgte Tonfall in seiner Stimme, der Ernst in seinem Gesicht – das musste es sein, was sie zunächst die Umgebung ignorierend ihn sehr eindringlich mustern ließ. Erst auf die Frage hin, was geschehen sei, erst auf sein Nicken in Richtung des Lichs hin, schien sie ihre Umgebung auch wieder zu registrieren.

Es dauerte nicht lange, ihr zu erklären, was vorgefallen war. „Er war hier, wissen die Götter wie lange schon. Er hat uns belauscht und entschieden, dass wir gut genug für seinen kleinen Botengang sind. Also hat er dich per Magie eingeschläfert und vergiftet. Er ist ein Lich. Und du wirst binnen einiger Tage-“

„Exakt sieben Tage“, warf Ithildalin mahnend ein. Vetus nickte.

„-binnen sieben Tagen ebenfalls zu einer Untoten. Es sei denn, wir schaffen es durch den Wald. Auf der Strecke begleitet er uns. Dann zum Schloss, wo er warten wird. Wir gehen hinein, müssen uns vermutlich mit einem anderen Lich und einem Wiedergänger anlegen und ihnen ein Buch abjagen. Das bringen wir zu ihm raus. Er teleportiert uns hierher zurück und hebt das Gift auf. Und keine Macht dieser oder anderer Welten wird ihn retten können, wenn er das nicht tut“, mahnte Vetus wenig subtil in Ithildalins Richtung starrend, brennenden Blickes. Der zuckte lediglich unbekümmert mit den Schultern und ließ die Drohung an sich abprallen.

Was daraufhin ein wenig dauerte war, bis Ahillea die neue Situation begriffen hatte. Vetus hätte gerne bei ihr gesessen. Hätte sie im Arm gehalten, beruhigend auf sie einwirken wollen. Als sie tatsächlich zu weinen begann – still, doch das Beben ihrer Schultern verriet sie dennoch -, war er bei ihr. Hielt sie, so lange er konnte, so fest er konnte. Ithildalin rollte mit den Augen und Vetus ignorierte die Geste bestmöglich. Er hatte, bis zu diesem Punkt, stattdessen das Lager abgebrochen.

Und bereute mehr denn je, in den letzten Nächten immer wieder die nächsten paar Meilen ausgespäht zu haben, im Flug hoch über dem Boden, während Ahillea schlief und er… eigentlich auch hätte schlafen sollen. Dadurch waren seine Nächte die letzte Zeit ohnehin schon deutlich kürzer gewesen und nun musste er wohl oder übel eine ganze Weile komplett darauf verzichten. Im Wald zu rasten kam gar nicht in Frage. Nicht, wenn es dort tatsächlich vor Untoten wimmelte. Ithildalin musste nicht schlafen, doch was hieß das schon? Würde der Lich sie wirklich im Angriffsfall warnen? Untote hatten Zeit. Starben sie, würde er eben auf die nächsten Lakaien warten, die er anwerben konnte. Zumal weder er noch Ahillea sich auf seine Hilfe tatsächlich verlassen würden.

Eine Woche ohne Schlaf. War das überhaupt möglich?

Nachdem Ahillea sich beruhigt hatte, half er ihr auf. Redete auf sie ein. Erklärte ihr Unsinnigkeiten. Dass das Lager abgebrochen war. Dass sie noch ihre Sachen einsammeln musste. Redete einfach immer weiter, damit sie seine Stimme hörte. Und bemühte sich, ihre Gedanken auf die Aufgabe zu konzentrieren. Er ahnte, wohin sie schweifen würden, sollte er ihr genug Zeit und Gelegenheit dafür geben. Und so waren nicht einmal zwei Stunden vergangen, vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an der Hügelspitze an bis zu ihrer Abreise zu dritt.

 

Vor der Baumgrenze stehend, starrten sie in die Dunkelheit unterhalb der Kronen. Ithildalin hielt sich zurück, sagte nichts, lief ein Stück hinter ihnen. Sie waren beide dankbar dafür, wenngleich keiner das äußerte. Ihren Mut zusammenkratzend, traten sie ein und… wurden nicht sofort gefressen.

Lange dauerte es jedoch auch nicht, ehe man genau das versuchte.

Die Orientierung im Wald zu behalten war schwierig genug, aber für so etwas gab es den Kompass in ihrem Gepäck und Vetus war dankbar für so allerhand magisch verzauberten Schnickschnack, den sie hatten – die endlosen Wasserflaschen, beispielsweise. Denn obgleich Ithildalin kurz nach Eintritt in den Wald erklärte, das er Wasser herbeizaubern könne, das seinem Ehrenwort nach sauber und genießbar war, waren doch weder Ahillea noch er selbst geneigt, irgendetwas auf sein Wort zu geben. Nur den Proviant würden sie sich sehr knapp einteilen müssen. Eigentlich hatte er mit einem Gasthaus nach zwei weiteren Tagesreisen gerechnet…

Die Baumgrenze und das freie Land dahinter waren außer Sicht geraten, die Schatten um sie herum wurden scheinbar dunkler, lebendiger – vermutlich eine Täuschung, Einbildung aufgrund der Geschichte – als tatsächlich ein Angriff erfolgte. Ganz wie man es von den meisten Untoten erwartete, konnte man ihn gut kommen sehen. Kadaver, die in ihre Richtung wankten. Eine Weile gelang es Vetus und Ahillea, sie schlicht zu umgehen, ihnen auszuweichen. Manche der verrotteten Leichname trug noch immer Teile von Rüstungen oder verkommene Waffen und Schilde. Die Mehrheit wirkte alt, sehr alt. Doch ein paar wenige waren sehr viel frischer, als Vetus zu bedenken lieb war.

Sie wirkten wie Abenteurer.

Wie lange trieb Ithildalin dieses Spiel schon? Wie viele hatte er schon hier hinein begleitet? Ging es wirklich um die Beschaffung eines Buches oder… war das nur seine Version, seine Legionen mit neuen Kadavern zu bestärken?

Doch Vetus bemühte sich, sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen. Konzentrierte sich stattdessen darauf, Ahillea gut im Auge zu behalten. Sie wirkte… desorientiert? Tief in Gedanken und unaufmerksam. Ungewöhnlich still für sie. Angesichts der Umstände vermochte er ihr das schwerlich vorzuwerfen. Als jedoch der Kreis der Leichen sich um sie herum zu eng zog, zeigte sich auf schmerzliche und erschreckende Weise, was für ihn in diesem Wald die tatsächlich schwierigste Herausforderung werden würde: Ahillea am Leben zu halten.

Ohne Rücksicht auf das eigene Wohl warf sie sich mit ihren Dolchen dem Feind entgegen.

„Ah, das würde ich lassen“, merkte Ithildalin im Hintergrund an, als Vetus seine Klinge zog und seiner Liebsten zur Seite eilte. Es zeigte sich rasch, worin der Ratschlag begründet lag. Die Untoten machten keinerlei Anstalten, zuzuschlagen. Sie hoben die Arme, sicherlich, und diese Arme waren gelegentlich mit Waffen bestückt. Aber im Grunde mimten sie nur Angriffsverhalten. Die wahre Gefahr bestand darin, seinerseits sie zu attackieren.

Die dünne, fast schon pergamentartig wirkende Haut stand unter Druck. Erst als Vetus den ersten Streich führte, als etwas aufplatzte und unzählige Spritzer ihn an Hand und Arm trafen, wie Feuer brannten und seine Haut versehrten, wurde es ihm klar und er wagte einen genaueren Blick auf den Gegner. Das waren keine gewöhnlichen Untoten, keine herumwankenden Kadaver wie man sie aus den Geschichten kannte.

Ihre Leiber waren über und über mit Taschen verstehen, knapp unter der Haut, umhüllt von verrottendem, fauligem Fleisch, das offenkundig irgendwie magisch sein musste. Anders ließ sich nicht erklären, warum die in diesen Taschen gespeicherte Säure ihre eigenen Körper nicht zerfraß. Doch jeder Schlag auf die Leiber ließ mehrere der unter Druck stehenden Taschen aufplatzen. Nicht nur er bekam das zu spüren – Ahillea kämpfte mit Dolchen. Die eine sehr viel kürzere Reichweite hatten. Hastig zog er ihre Hand fort, sie gleich mit, und gab ihr während der Flucht um einige Schritte einen der letzten Heiltränke, die sie noch hatten.

Der Trank hätte die Verätzungen an ihrer Hand vollständig schließen sollen. Stattdessen schien das Gewebe lediglich zu vernarben. Als wäre es eine alte Wunde, keine Frische. Seine Klinge hatte Vetus indes fallen gelassen und angesichts der stetig und langsam nachrückenden Legionen war sie inzwischen auch schlicht  verloren, lag irgendwo unter den achtlos darüber hinwegtretenden Füßen. „Was sind die?!“, verlangte Vetus zu wissen, während er sich mit Ahillea weiter flüchtete.

„Eine Neukreation“, kam es aus einer anderen Richtung. Vetus blickte sich nach deren Quelle um und sah, sehr zu seiner maßlosen Frustration, Ithildalin seelenruhig – oder wohl eher seelenlos – zwischen den Untoten herumspazieren. „Der gewöhnliche Kadaver, wie ihr ihn nennt, ist nicht sehr effektiv, nicht? Aber stell dir nur vor, man würde ihn mit etwas Effektiverem kombinieren. Beides sieht identisch aus. Simple, nahezu geistlose Kreaturen, die daher schlurfen und beide machen ja auch Anstalten, anzugreifen, nicht? Also lieber schnell zuschlagen und schon hat man das Gesicht voller Säure.“

Vetus war schlichtweg angeekelt. Von den Untoten ein wenig, sicherlich – der Geruch, der von ihnen ausging, förderte seinen Brechreiz in einem schwer zu ertragenden Maß. Doch mehr noch von Ithildalins sichtlicher, hörbarer Begeisterung ob dieser Weiterentwicklung. „Wie schön für euch!“, spuckte Vetus erbost aus, „Wie wäre es aber, wenn ihr uns helft?! Ihr wollt doch dieses dämliche Buch, oder nicht?!“

Ithildalin schloss zu ihnen auf, nach wie vor ohne auch nur von den anderen Untoten beachtet worden zu sein. „Oh ich fürchte, das kann ich nicht. Meine Kräfte hier im Wald sind ein klein wenig eingeschränkter als zuvor und selbst wenn ich im Vollbesitz meiner Mächte wäre, so kann ich nicht willentlich die Hand gegen einen anderen Untoten heben. Naja allemal nicht gegen die, die nicht unter meinem Kommando stehen. Hat was mit der Hierarchie zu tun.“

Vetus nickte verstimmt, verbuchte es einmal mehr unter der Sparte für interessante Details über Untote – und zumindest vorläufig unter unnütz. „Hättet ihr uns nicht vorwarnen können, das ihr nicht einen Finger krümmen werdet?!“

„Hätte ich vermutlich, ja…“, erwog der Halbelb, zuckte dann jedoch mit den Schultern, „Hab ich vergessen.“

Selbst ohne die ohnehin katastrophalen Umstände, selbst ohne sein Dasein als Lich, selbst ohne den Wald und die Vergiftung und all das hätte Vetus ihm an dieser Stelle nur zu gern die Hände um den Hals gelegt und ihn zumindest ein klitzeklein wenig erwürgen wollen…

Er hielt Ahilleas Hand noch immer fest umschlossen, lief mit ihr Seite an Seite unter ‚angreifenden‘ Untoten hinwegduckend, während Ithildalin sich offenkundig nicht dazu überwinden konnte, zu rennen. Da er jedoch einen sehr viel direkteren Weg einfach laufen konnte, war generell für ihn kaum ein Problem, nicht zu weit zurückzufallen. Dann jedoch blieb Vetus abrupt stehen. Etwas stimmte nicht. Etwas mit dem Boden ein paar Dutzend Meter vor ihnen stimmte nicht…

„Warum-… was ist das?“, verlangte Vetus zu wissen.

Ithildalin hingegen stieß zu ihnen auf und besah sich, wie der gesamte Boden scheinbar in Bewegung zu sein schien. „Hm. Gute Frage“, lautete zunächst seine Antwort, während die seltsame Bewegung immer näher und näher zu kommen schien. Erst als sie bis auf wenige Meter heran war und Vetus abermals begonnen hatte, zurückzuweichen und mit Ahillea einen Umweg zu suchen – dabei war die Front der Bewegung viele Meter breit -, schien sich der Lich zu entsinnen. „Ah natürlich! Das werden dann vermutlich die Madenschwärme sein.“

„Die… die was?!“, brachte Vetus ungläubig hervor. Ithildalin trat vorsichtig zwischen das Gewusel und schien abermals ignoriert zu werden, während Vetus mit Ahillea einen großen Umweg gehen musste. Schon wieder. Dabei schien das Gewusel ihnen folgen zu wollen – wie auch die Kadaver um sie herum und… wussten die Götter, was noch alles. Allmählich wurde es enger und schwieriger, Auswege und Fluchtpfade zu finden.

„Nun, wir beziehen viele unserer untersten Truppen aus Leichen, die schon ganz grundsätzlich nicht mehr so wirklich… frisch sind. Maden sind da sehr weit verbreitet. Also dachte ich mir: Warum sie nicht nutzbar machen, hm? Ich habe ein wenig mit Schwarmintelligenzen herumgespielt und versucht, herauszufinden, ob man Maden eigentlich untot machen kann. Ich kann dir sagen: Es war eine verflixt kleinliche Arbeit. Jedes dieser kleinen Biester einzeln umdrehen… da wird man wahnsinnig. Glücklicherweise sind mir ein paar Gnome mit Ferngläsern in die Arme gerannt, gewissermaßen. Die Linsen waren ihr Gewicht in Diamant wert! Man weiß gar nicht, wie sehr so kleine, feine Arbeiten auf die Augen gehen, bevor sie einem tränen… würden… schätze ich.“

Die Vorstellung, wie Ithildalin mit Lupen an einem Arbeitstisch saß, einen gewaltigen Korb voller sich windender Maden neben sich stehend, während er mit der Pinzette eine heraus pickte, damit was-auch-immer tat und sie in einen noch fast leeren Korb auf der anderen Seite fallen ließ, war… absurd. Absurd und verwirrend und lächerlich. Aber von alledem gewiss nicht genug, um über ein Detail hinwegzutäuschen.

Du hast diese Dinger gebaut?!“, fauchte Vetus der Raserei näher als ihm lieb war.

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich von bauen sprechen wollen würde, aber sie sind meine Kreationen“, erwiderte Ithildalin mit einem gewissen, selbstzufriedenen Stolz in der Stimme. Er wich überdies mühelos dem Dolch aus, den Ahillea nach ihm warf und schien ihr das nicht einmal weiter übelzunehmen – immerhin ging er mit keiner Silbe oder auch nur irgendeiner Geste darauf ein.

„Sonst noch etwas, wovon wir wissen sollten?“, fluchte Vetus, während er seinen Fuß aus dem Gewimmel zog. Die Maden waren untot oder auch nicht, das spielte letztlich kaum eine Rolle. Verfressen waren sie. Sie brachen in großer Zahl aus der Schicht toter Blätter und anderen Unrates hervor, die dünn den Waldboden bedeckte und türmten sich rasch zu beeindruckenden Größen auf. Sie hatten versucht, ihn zu fressen – hunderte winzigster Bissspuren am Leder seines Schuhs konnten das bezeugen. Doch im Moment hatte Vetus dafür keinen Nerv übrig, eilte stattdessen weiter und hoffte, betete insgeheim, das Ithildalin einfach sagen würde: Nein, nein – das war’s, mehr gibt es hier nicht.

Stattdessen jedoch…

„Nun, da du es erwähnst…“

Was?“, fauchte Vetus herrisch.

„Deine Herzallerliebste hat doch dieses Messerchen nach mir geworfen. Das ist da drüben in der Baumrinde gelandet. Und besagter Baum ist jetzt sauer“, erwiderte der Lich unter einem heiteren Glucksen und lief einfach weiter. Vetus dagegen starrte in die gewiesene Richtung und sah tatsächlich, wie der Baum seine Wurzeln aus dem Erdreich riss und begann, sich kriechend langsam in ihre Richtung zu bewegen.

„Was ist das?!“ Er begann diese Frage zu hassen. Vor allem, weil ihm allmählich ahnte, dass er sie nicht zum letzten Mal stellen würde.

„Ich nenne sie Henkersbäume. Schlingpflanzen haben ganz bemerkenswerte parasitäre Eigenschaften. Sie können Bäume regelrecht erdrosseln, sich in sie hineinwachsen lassen. Entgegen dem, was man glauben mag, sind Henkersbäume keine untoten Bäume, nein – viel zu trivial. Ich habe Schlingpflanzen in unsere Truppen einbringen können, die die Bäume erdrosseln und übernehmen. Und sich dann von den Ästen hängen lassen. Siehst du die da?“ Ithildalin wies auf die Leichen hin, die von manchem Ast baumelten. Mit Schlingpflanzen um den Hals, als hätte man sie aufgeknüpft. „Das sind Zombies. Zugegeben keine sonderlich hochwertige Schöpfung. Nein, eher entbehrlich und primitiv. Aber jeder Henkersbaum kann im Grunde so viele Zombies herumschleppen, wie er starke Äste und ausreichend Schlingpflanzen hat. Und solange sie am Baum hängen, hängen sie zwar auch an der Leine und haben begrenzte Reichweite, aaaber sie regenerieren auch ihre Wunden! Stell dir nur all die Möglichkeiten vor! Nahe des Dorfes den tatsächlichen, echten Henkersbaum ersetzen – und kostenlosen Vorrat bekommen, weil das Dorf seine Mörder aufknüpfen möchte. Oder das Liebespaar am See wegfangen. So viele amüsante Optionen…!“

Vetus war, einmal mehr in erstaunlich kurzer Zeit, angewidert. Von der schieren Begeisterung, die Ithildalin seinen Projekten entgegen brachte. Vom Eifer, der in seiner Stimme mitschwang, als er über die Möglichkeiten sprach. Und Vetus konnte sich obendrein nicht einer Gänsehaut erwehren, als er andeutete, Paare zu überraschen. Dieser Lich war auf eine der grässlichsten nur vorstellbaren Arten kreativ und es war beängstigend, was seine Schöpfungen vermochten. Doch warum waren diese Kreaturen nicht so weit verbreitet? Warum waren sie nur hier zu treffen? Warum gab es keine Geschichten über die platzenden Kadaver und die Leute erdrosselnden Bäume?

Mehrere Stunden flohen sie. Vetus zog es vor, kein Wort mehr zu verlieren, damit er den Lich nicht doch noch anfallen würde. Ahillea brauchte ihn. Sie mussten es rechtzeitig zum Schloss und wieder heraus schaffen. Doch obgleich er in dieser Zeit die Elbe mit allerhand Geschichten und Rekapitulationen eigener Erlebnisse bei Laune und abgelenkt zu halten versuchte, gelang es ihm nicht, seine eigenen Gedanken zu fokussieren. Immer wieder sann er über dieses Rätsel nach – bis ihm die Erkenntnis kam, als er just eine Geschichte anstimmte, die ihnen vor einigen Wochen passiert war.

Keine große Sache, wirklich. Ein Zwerg und ein Gnom hatten einen Straßenzug in Weißburg in ein Schlachtfeld verwandelt. Sie wohnten auf gegenüberliegender Seite und bewarfen und befeuerten sich mit Granaten und Musketen und allerhand anderem Zeug – was die Straße sehr gefährlich machte. Ahillea hatte, nach einigem hin und her, mit beiden reden und einen Waffenstillstand aushandeln können. Sie brachten beide an einen Tisch und räumten deren Differenzen aus. Es war nicht Vetus‘ liebste Art von Abenteuer, aber ein Abenteuer war es nichtsdestotrotz gewesen.

Was ihn stocken ließ, war die Erinnerung an die Wohnung des Zwergs. Einer der Oberflächler. Krusi oder Kruxi oder so ähnlich nannte man dergleichen wohl. Er hatte einen Arbeitstisch voller Skizzen und Zeichenutensilien gehabt, eine Werkbank  voller Späne aus Holz und Metall, mit einem Schraubstock daran und einer Lötlampe daneben – wobei Vetus nach wie vor nicht wusste, was eine Lötlampe überhaupt war.

Er hatte große Schiefertafeln gehabt, beschrieben in Kreide mit seltsamen Formeln. Kleine, halbfertige Apparaturen standen überall herum, surrten, klickten, klirrten. Es war die Werkstatt eines Erfinders gewesen, eines Schöpfers.

Ithildalin war Erfinder.

Er erfand neue Untote.

Dieser Wald war voller neuer, fremdartiger Untoter – seiner Untoter.

Was sagte das über das Schloss im Zentrum aus? War es seins? Und das Buch? Sofern er nicht gelogen hatte, besaß er keine Macht, Untote anzugreifen, die ihm nicht unterstellt waren. Wieso aber unterstanden ihm seine eigenen Schöpfungen nicht? Oder nicht mehr? Vielleicht war das Buch der Schlüssel, um die Kontrolle über sie zu erlangen?

„Dieses Buch“, hob Vetus einer Überlegung folgend an, „Es ist deins, nicht wahr?“

„Kluges Köpfchen.“ Und das war’s. Mehr kam nicht. Keine Erklärungen, keine schnippischen Kommentare, keine Selbstverherrlichung. Er hatte also ins Schwarze getroffen. Und zumindest für den Moment war Vetus nicht geneigt, sein Glück und Ithildalins Geduld weiter zu strapazieren. Er konnte die Grenzen des Lichs nicht ansatzweise gut genug einschätzen. Und egal, wie neugierig er war, egal, wie wichtig diese Informationen für die Welt dort draußen und ihren ewigen Kampf gegen den Untod sein konnten – hier ging es um Ahillea. Darum, ihr Leben zu retten. Selbst wenn er dafür diesem Bastard helfen musste, einen Hausbesetzer rauszuwerfen und seine Spielwiese zurückzubekommen…

 

Vier Tage. Der Wald kostete sie vier endlos scheinende Tage.

Irgendwann wurde jeder Schritt schwerer. Wurde es nahezu unmöglich, die Augen offen zu halten. Ahillea taumelte, strauchelte, stolperte. Er ebenso. Meist fingen sie einander ab. Warfen sich müde Entschuldigungen zu, wie einen Ball – hin und her und wieder zurück. Lehnten aneinander. Fanden die notwendige Kraft, weiterzugehen, nur in der Präsenz des anderen. Ihre Muskeln lahmten, ihre Geister zerfaserten. Alles, was sie aufrecht und im Gehen hielt, war der Gedanke, was andernfalls drohen würde.

Sie durften nicht aufgeben. Sie konnten es einfach nicht. Ahillea hatte ab und an kleinere Zusammenbrüche. Sie schluchzte nicht, sie schrie nicht, sie riss sich nicht dramatisch los oder brüllte Ithildalin und den Wald zusammen. Aber er spürte das Zittern in ihrem Körper, sah die Tränen haltlos über ihre Wangen laufen und jedes einzelne Mal brach es ihm das Herz, warf er sich mit neu belebter Intensität vor, nicht genug getan zu haben. Er hatte nicht genug auf sie aufgepasst. War nicht schnell genug gewesen. Hatte sie nicht genug abgelenkt. Nicht genug, nicht genug, nicht genug!

Doch er verbiss sich Kommentare. Schluckte sein Selbstmitleid herunter. Kämpfte um seine Konzentration, seinen Fokus. Darum, wach zu bleiben und sich in jeder Minute mit jedem Herzschlag vor Augen zu halten: Es ging um sie. Er würde sie verlieren, wenn er aufgab. Die ganze Welt würde sie verlieren. Und es wäre ein Verlust. Irgendwie, auf instinktiver Basis, spürte er es. Spürte, dass es ein bedeutsamer Verlust für die Welt wäre… nicht nur für ihn allein. Obwohl das, so kurios es ihm dann und wann vorkam, für ihn sehr viel bedeutsamer war.

Die Welt war die Welt. Groß und weit und unvorstellbar. Er hingegen war hier, nah, greifbar und hatte… Probleme. Spürbare Probleme mit emotionalen Konsequenzen. In manchen Tagträumen, während sie dicht beisammen dahin stolperten, glaubte er sich anders zu fühlen. Als wäre er noch immer Vetus, aber ein anderer Vetus. Ein weit entfernter Vetus. Der kaum noch Begrifflichkeiten für so etwas wie Wut hatte. Oder Ekel. Der kaum noch Verständnis für Liebe oder die Verlockung eines angenehmen Blumenduftes hatte. Und jedes Mal, wenn er aus diesen Tagträumen aufschreckte, fand er sich mit genug Kraft für ein paar resolut gesetzte Schritte, für ein paar entschlossene, tapfere, kraftvolle Minuten, ehe er wieder im Leerlauf dahinstolperte. Denn diese Tagträume waren Horrorvisionen einer Facette seiner selbst, die er nicht werden wollte, um der Götter willen bloß niemals werden wollte!

Er brauchte Ahillea.

Sie durfte nicht sterben.

 

Als sie am fünften Tag das Schloss erreichten, war es… befremdlich. Das hoch aufragende Gemäuer war irgendwann zwischen den vereinzelten Löchern in den Baumkronen sichtbar geworden, natürlich – aber es hatte sich nicht angefühlt, als kämen sie ihm näher. Und wie schon bei Betreten des Waldes setzten sie irgendwann einfach einen Fuß aus der Baumgrenze heraus und plötzlich stand es dort.

„Nun, das war eine wirklich liebreizende Reisegesellschaft. Ich mochte insbesondere den Teil, an dem ihr einander Trost zuzusprechen versucht habt. War alles wirklich sehr dramatisch. Dennoch: So sehr ich eure Gesellschaft auch geschätzt habe und schätze, so muss ich doch von euch scheiden. Husch, husch, ins Körbchen – und viel Erfolg.“ Ithildalin scheuchte sie in Richtung des Burgtores und tatsächlich widersprachen weder Ahillea, noch er selbst. Stattdessen wandte sich Vetus schlicht von dem Lich ab und trat mit der Elbe in das deutlich kühlere Gemäuer ein.

Er glaubte irgendwo in dem riesigen Bauwerk einen Alarm zu hören. Vielleicht war das nur wieder Teil der Einbildungen, die ihn seit vorgestern plagten. Vielleicht klingelte tatsächlich irgendwo eine Warnung und sie würden bald Gesellschaft haben. Es fiel ihm… zunehmend schwerer, sich darum zu sorgen. All seine Gedanken kreisten um Ahillea. Darum, dass sie ein verdammtes Buch brauchte, um weiterzuleben.

Er spürte, wie ihm seine Gedanken immer häufiger entglitten. Wie sich Löcher in seiner Erinnerung auftaten, in denen man dieses Schloss hätte versenken können. Er spürte auch seine mangelnde Wachsamkeit, seine generelle Unaufmerksamkeit. Sie sagte etwas, er nickte – ohne es gehört oder verstanden zu haben.

Ahillea übernahm die Führung. Die verstand vom Herumschleichen sehr viel mehr als er und nach dem Desaster am Lagerplatz und im Wald… nun, sie waren schlicht darauf angewiesen, zu schleichen. Sie waren inzwischen beide unbewaffnet und so talentiert Ahillea im Umgang mit ihrer Magie auch war – in ihrem gegenwärtigen Zustand vermochte sie nicht einmal die primitivsten und simpelsten Zauber zustande zu bringen. Nicht mit jenen rasenden Kopfschmerzen, nicht mit jenem völlig unnütz zerstreuten Fokus.

Also waren sie wehrlos.

Und stolperten in die Höhle eines Lich, der von einem Wiedergänger bewacht wurde. Und hatten prompt den Eingangsalarm ausgelöst. Denn dass das keineswegs Teil einer Einbildung war, wurde spätestens klar, als ein fahles Leuchten die finsteren Gänge erhellte. Ahillea taumelte zu einem der Bücherregale und zog Vetus mit sich, presste ihn dicht an die Wand und sich selbst gegen das Holz des Regals. Keine zwei Meter entfernt schwebte die Geisterrüstung vorbei, ein wirklich eindrucksvoll großes Schwert im gepanzerten Handschuh, der Helm von Stacheln und Hörnern besetzt – ebenso wie die Schulterstücke und Panzerstiefel.

Einige Sekunden zögerte sie, ehe sie Vetus am Kragen seines Hemdes griff und mit sich aus dem Versteck zog. Nur um einige Meter weiter vorne in einen offenen Türrahmen zu schlüpfen, obwohl keiner von ihnen wusste, was jenseits wartete. Der Raum entpuppte sich als ehemalige Küche, nunmehr unbeachtet und verwaist. Dennoch war sie in bemerkenswert gutem Zustand, schien gepflegt… vielleicht sogar gelegentlich benutzt?

Der Grund für das erneute Versteckspiel erschloss sich Vetus erst, als ein maulender, fluchender Lich den Gang herabkam. Er verstand kein Wort des Gesagten, doch die Sprache allein ging durch und durch. Wie ein gespenstisches Wispern, das einem die Knochen zu Eis erstarren ließ.

Auch Ahillea schüttelte sich, rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Unterarmen. Nachdem der Lich vorbei war, lösten sie sich abermals und folgten dem Pfad, den die Gegner gekommen waren. Wenn es in dieser ganzen Burg tatsächlich nur dieses eine Buch gäbe… dann würde es höchstwahrscheinlich dort sein, wo der Lich arbeitete – oder nicht? Zumindest erschien ihnen das gegenwärtig die vernünftigste Vermutung unter all dem Kauderwelsch und Wirrwarr, welches ihre Köpfe anfüllte.

Sie fanden dadurch immerhin den Treppenaufgang in die höheren Stockwerke – doch dort angelangt, mussten sie abermals rätseln und raten. Letztlich spielten sie Katz und Maus mit dem Lich und seinem Lakai und das über Stunden hinweg. Schlichen von einem Raum in den nächsten. Duckten sich unter ihren Blicken hindurch, krochen unter Tischen entlang, versteckten sich in alten Schränken und unter Bettgerippen. Es hätte lächerlich anmuten müssen. Zwei der mächtigsten untoten Kreaturen, magisch versiert und physisch imposant, unanrührbar, unbezwingbar… und sie krochen ihnen vor der Nase unter Tischen davon.

Dabei war es nicht einmal die Angst, die sie trieb oder das Wissen um die tatsächliche Realität, die ihnen das Amüsement vergällte. Es war der simple Umstand, das sich über irgendetwas zu amüsieren Energie erforderte, die keiner von ihnen mehr hatte. Jede Form von Mimik war der Anstrengung zu viel.

Erst am Ende des Tages, viele Stunden später, fanden sie endlich in das scheinbare Studierzimmer des Lichs. Das Problem war nur… hier gab es keinen Schrank zum Verstecken. Kein Bett, um flink darunter zu kriechen. Hier gab es einen Arbeitstisch, der nicht ansatzweise tief genug war, um sich erfolgreich darunter verbergen zu können. Und einen Stuhl, den man bestenfalls seiner Beine berauben und als Knüppelspender hätte umfunktionieren können. Der Raum war so eindrucksvoll karg und leer, das Vetus einen Moment brauchte, um die Fatalität der Situation zu realisieren.

Ja, dort lag ein Buch auf dem Tisch. Vermutlich, wahrscheinlich, hoffentlich, das Buch. Aber ihre zwei Gegner waren im Flur direkt vor dem Zimmer. Die Tür hierher lag am Flurende und sie würden unmöglich rauslaufen und in eine andere Tür schlüpfen können, ohne bemerkt zu werden. Dass er die Stimme hören konnte, hieß ohnehin, das der Lich bereits nah war – und auf dem Weg hierher. Es gab zwei Mauerspalte, sicherlich. Aber die waren eben genau das. Spalten im Stein. Sie ließen Licht und Luft ein, waren aber bei weitem zu schmal, um auch nur im Ansatz als Fluchtoption bedacht zu werden. Es gab auch keine weiteren Türen.

Sie saßen schlicht und ergreifend in der Falle.

Mit zunehmender Panik sah sich Vetus um. Es gab keine Waffen. Ohnehin wäre ein Kampf sinnlos gewesen. Es gab keine Flucht. Es gab nichts, sie waren erledigt, es war vorbei. Dann jedoch… blieb sein Blick an Ahillea hängen. Nicht nur stürzte das Mantra abermals auf ihn ein, das er in der einen oder anderen Form seit Tagen im Kopf hatte, sich ständig wiederholend, um ihn irgendwie am Laufen zu halten, auf den Beinen zu halten, wachsam genug zu halten, das die Gegner sie nicht einkreisen konnten, dass sie Ahillea nicht in die Finger bekamen. Nein, sein Blick erfasste die Szene in einer Klarheit, die angesichts seines geistigen Zustandes beängstigend war. Sie stand dort, seine hübsche Geschichtenerzählerin, begeistert von der großen weiten Welt und all ihren Wundern und Schrecken. Mit ihren hübschen roten Haaren, leicht strähnig von der Vernachlässigung der letzten Tage, mit dem einen oder anderen Blatt oder Zweig darin. Sie wirkte erschöpft. Tief eingegrabene Augenringe. Ihr Lächeln war verblasst, fort, geflohen. Ihre Schultern hingen herab. Ihre Kleidung war an manchen Stellen von Säure versehrt, an anderer Stelle vom Unterwuchs des Waldes aufgerissen. Ihre Hand war vernarbt.

Doch mit der Kraft eines Bären umklammerte sie dieses gottverdammte Buch.

Sie drückte es an sich, als gäbe es kein Morgen. Der Gedanke, dem Lich damit zu drohen, man würde es über die Kerzenflamme halten und anzünden, war verlockend. Aber riskant – und Risiko konnten sie nicht gebrauchen. Nicht, wenn es noch eine Option gab. Ein letztes Ass im Ärmel.

Hastig trat er zu ihr heran, griff ihre Schultern und zwang ihren Blick, den seinen zu treffen. „Vertraust du mir?“, spielte er die hässlichste, unfairste Karte aus, die es in sozialer Interaktion jedweder Art geben mochte. Sie zögerte nicht, weil sie nachdenken musste. Sie zögerte, weil das Verstehen der Worte schwer geworden war. Ihr Kopf selbst zäh, träge, schwer. Als sie nickte, fuhr er fort. „Wir werden hier herauskommen, hörst du? Ich bringe dich hier raus. Aber du musst mir vertrauen. Du musst genau tun, was ich sage! Ich habe noch einen letzten Trumpf und dann… dann ist dieser Wahnsinn hier vorbei. Wir suchen uns irgendwo ein hübsches, ruhiges Gasthaus und… und essen und trinken und schlafen so lange und viel, wie wir wollen, ja?“

Tränen perlten abermals über ihre Wangen. Es brach ihm, wie schon zuvor jedes einzelne Mal, das Herz. Sie nickte mit solcher Verbissenheit, dass ihre Kopfschmerzen vermutlich gerade explodieren mochten. Verdenken konnte er es ihr nicht. Diese Rede, die er schwang, musste nach Abschied klingen. Sich wie Abschied anfühlen. Und selbst Vetus wusste nicht ganz zu sagen, ob es nicht möglicherweise sogar ein Abschied war… nur für den Fall der Fälle…

Kurz erwog er, es ihr zu sagen. Das, was er damals, vor dieser gefühlten Ewigkeit, an jenem weit, weit entfernten Hügel vorbereitet hatte. Diese paar kleinen, einfachen Worte. Aber er widerstand dem Drang. Schluckte jenen Impuls herunter. Wenn er hier nicht mehr heraus kam, sie aber schon – warum es ihr dann noch schwerer machen? Sie wusste es ohnehin, musste es wissen. Und falls sie es doch beide herausschafften… nun, dann… würde es sicherlich bessere Gelegenheiten geben als das hier.

„Wenn ich dich rufe, läufst du. Du rennst so schnell du nur kannst zum Ausgang, klar? Sieh nicht zurück, schau dich nicht um, renn!“ Der Tränenschleier in ihren Augen wurde schlimmer, dichter, die feuchten Striemen auf ihren Wangen unübersehbar. Feinste Tropfen perlten von ihrem Kinn, zerschellten am Boden des kargen Zimmers. So gerne wollte er sie trösten. Ihr sagen, dass alles gut werden würde. Dass er direkt hinter ihr wäre. Aber er brachte es nicht übers Herz, sie anzulügen. Die Chancen standen dagegen, dass er hinter ihr wäre…

Als sie abermals nickte, zögerlich, die Arme noch fester um das Buch schlang, erwiderte er die Geste. Um sich selbst Mut zuzusprechen. Ehe er sie losließ. Vetus kannte keine Worte dafür, wie schwer es ihm fiel. Wie schwer es war, einfach nur die Hände von ihren Schultern zu nehmen. Sie nicht zu küssen. Ihr keine letzten, liebevollen Worte angedeihen zu lassen.

Stattdessen wandte er sich um. Die Stimme des Lichs war inzwischen nah, sehr nah.

Er trat neben die Tür, presste sich mit dem Rücken an die Wand, versuchte, den Abstand zu schätzen.

Nah…

Näher…

Jetzt!

Mit einem Schlag wirbelte er herum, trat mit einem großen Satz aus Ahilleas Sichtbereich hinaus, dem Feind entgegen. Der Lich erstarrte überrascht in der Bewegung, der Wiedergänger direkt an seiner Seite. Perfekt. Vetus riss den Mund auf, soweit er konnte und ein Strahl erfasste einen kleinen Teil des Ganges. Eine sichtbare Verzerrung aus Licht und Farben, die den Lich und den Wiedergänger traf. Als der Effekt abklang, schmerzte ihm der Kiefer fürchterlich. Vom Lich aber fehlte jede Spur. Natürlich würde das nur wenige Sekunden anhalten und was noch schlimmer war, der verdammte Wiedergänger war immer noch da.

„Ahillea, jetzt!“, rief er dennoch. Sie würden keine bessere Chance bekommen und konnten es sich nicht leisten, Zeit zu verschwenden.

Wie angewiesen, kam die Elbe aus dem Raum geschossen. Sie sah den Wiedergänger, der – für einen Geist – merkwürdig benommen strauchelte. Er schwang sein Großschwert, als sie angerannt kam, doch die Elbe duckte sich halbwegs geschickt unter dem Streich hinfort. Vetus folgte dichtauf und sah tatsächlich erstmals die Wahrscheinlichkeit in die Höhe schnellen, das er vielleicht doch direkt hinter ihr sein würde…

Zumindest, bis sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss gestürzt kamen und Ahillea eher zufällig stolpernd abermals unter einem Schwertstreich hinfort duckte. Der Lich stand direkt neben ihr und hielt offenbar irgendeinen Zauber vorbereitet. Die beiden hatten sich also ein Stück vorausteleportiert, ihre Route abschätzend. „Renn, renn weiter!“, wies Vetus scharf an und wandte sich abermals den zwei Untoten zu. Ein zweites Mal spie er sie mit einem Strom purer, chaotisch wirbelnder Zeit an und diesmal vermochte keiner von beiden, dem Effekt zu widerstehen. Doch das würde abermals nur wenige Sekunden anhalten. Wie lange, bis ihm die Puste ausging? Jedes einzelne Mal erschöpfte ihn merklich mehr und mehr – und er war auf dem Zahnfleisch kriechend überhaupt erst hier hineingeraten.

Doch tatsächlich schafften sie es bis zur Eingangshalle, das Tor in Sicht. Seite an Seite hielten sie hastig darauf zu. Ahilleas Beine schwächelten, sie stolperte immer mehr. Also griff er sie, stützte sie und zog sie mit aller Kraft weiter. Viel hatte er nicht mehr übrig, aber jedes Quäntchen davon schenkte er ihr.

Und dann tauchten die zwei wieder vor ihnen auf. Unvermittelt. Keine großen Lichteffekte, nichts. Sie waren plötzlich einfach da.

Es war purer Reflex, der ihn erneut speien ließ. Er hatte sich bemüht, Ahillea nichts sehen zu lassen, nichts wissen zu lassen. Sie durfte seine wahre Natur nicht kennen, schon allein um ihrer eigenen Sicherheit willen. Aber in diesem Moment? In diesem Moment war das Tor so nahe und sie standen so kurz davor. Er stand so kurz davor, sie lebend dort raus zu bringen…

Also spie er. Und sie sah es.

Und beide Untoten widerstanden dem Zeitmahlstrom. Dennoch, sie waren benommen und das erlaubte ihnen wie schon zuvor eine kleine Lücke. Gerade genug. Ahillea entkam, von ihm getragen, gezogen, gedrückt, gestoßen – während seine eigenen Beine nun, völlig entkräftet, aufgaben. Sie taumelte, stürzte, rollte unter ächzen und Schmerzlaufen die Treppenstufen der Burg herab, das Buch noch immer fest umklammert und vor die Brust gepresst.

Vetus hingegen lag auf der Torschwelle. Er versuchte, den Kopf zu heben. Sie zu sehen. Aber Ahillea war fort.

Stattdessen spürte er den Stiefel des Wiedergängers, der sich auf seinen Rücken setzte. Gleich käme das Schwert und würde ihn aufspießen, er ahnte es – und wer konnte sagen, was dann erst noch alles auf ihn zukäme?

 

Am Treppenabsatz dagegen trat Ithildalin an Ahillea vorbei. Kurz nur besah er sich das Buch. „Ausgezeichnet“, meinte er und schritt zunächst die Stufen weiter herauf. Vetus sah den Lich in sein Sichtfeld treten, wie er aus den Treppen herauszuwachsen schien, mit jedem ruckartigen Schritt. Er trat bis vor das Tor, aber nicht ein. „Festhalten bitte“, ermahnte der Halbelb mit einem freundlichen Lächeln. Vetus packte blindlings in die Robe hinein, umschloss dessen Knöchel – und plötzlich waren sie einige Meter weiter, grub sich der Stein der Treppenstufen unangenehm in seinen Magen, seine Brust, seine Beine, war seine ganze Perspektive seltsam verändert, wurde ihm speiübel von der Verschiebung. Der Lich hingegen griff nach Ahillea…

… und kaum einen Wimpernschlag später waren sie auf der Hügelspitze.

Ithildalin löste sich aus Vetus‘ Griff und zog am Buch, bis Ahillea es widerwillig freigab. Vorsichtig und sorgfältig öffnete er es und blätterte in den Seiten, ehe er eine kleine Phiole herauszog, offenbar mit Blut gefüllt. „Schlampig, mein Freund, wirklich schlampig…“, seufzte der Halbelb den Kopf leicht schüttelnd.

Er sah sich auf der Hügelkuppe um, zog das verzauberte Fertigcamp aus Vetus‘ Gepäck und öffnete ein neues Lager. Dann zog er Vetus‘ Schwert unter seiner Robe hervor. Einfach so. Und so sehr er es gewollt hätte, Vetus vermochte sich weder darüber zu wundern, woher er es hatte, noch konnte er wirklich die nötige Kraft und Energie aufbringen, um wütend zu sein.

Ahillea war hier. Lag direkt neben ihm.

Er zog sie dicht an sich, spürte ihren Körper beben. Wusste nicht, ob er sie schluchzen oder lachen hörte. Vielleicht beides. Sie hatten es geschafft. Hatten es hinaus geschafft. Waren noch am Leben. Beide. Noch immer vereint. Und es fiel ihm von Atemzug zu Atemzug schwerer, wach zu bleiben. Gerade jetzt und hier, da ihre Nähe ihn einlullte, ihre Wärme ihn so sehr besänftigte. Er würde-

„Ah, ah, ah. Noch nicht“, mahnte der Lich und trat Vetus gegen dessen Gesäß, „Eine letzte Aufgabe. Aber ich denke, die wird deine Zustimmung finden.“ Er zog Vetus am Hemdkragen ein Stück von Ahillea fort und drückte ihm stattdessen sein Schwert in die Hände. Er zerrte ihn sogar auf die Füße und half ihm, zu stehen, nachdem seine Beine sofort wieder nachgeben wollten.

„Was… was denn nur noch?!“, hakte Vetus nach. Nicht aus wirklichem Interesse. Er konnte sich einfach nicht mehr interessieren. Aber es war wichtig, zu wissen, was von ihm erwartet wurde – nicht wahr? Immerhin galt noch immer: Es ging um Ahillea. Sie war gerettet, aber sie war noch nicht… gerettet.

„Sobald ich sein Phylakterion ins Feuer werfe, wird ein von meinem guten alten Freund Moru’nan leichtfertig daraufgelegter Zauber getriggert und er wird zur Position seines Phylakterions teleportiert. Sobald er hier ankommt, wirst du ihn töten. Ich empfehle, den Kopf abzuschlagen. Der dürfte sich ungefähr auf dieser Höhe befinden.“ Ithildalin wies ihn an, demonstrierte, deutete. Vetus begriff nur die Hälfte und nickte dennoch.

Er sollte sein Schwert schwingen. In einer Horizontalen. Mit so viel Kraft, wie möglich. Um Ahillea zu retten.

Das würde er sicherlich noch irgendwie können.

Und als der Halbelb die Phiole ins Feuer warf und der Lich tatsächlich auf die Hügelspitze teleportiert wurde, da funktionierte Vetus nur noch. Mechanisch und steif und ohne nachzudenken. Er holte in einer weiten Drehung aus, während der Lich schockiert Ithildalin anstarrte, der ihm – genüsslich grinsend – zuwinkte. Und dann schlug er ihm den Schädel ab. Was sein Schwert schon immer so… rasiermesserscharf gewesen?

„Vielen Dank“, erklärte Ithildalin höflich, nachdem er sichergestellt hatte, dass das Phylakterion tatsächlich zerstört war und Moru’nan nicht zurückkehren würde. Nie wieder.

Der Halbelb trat daraufhin zu Ahillea herab und zauberte erneut etwas. Vetus besaß genug Geistesgegenwart, zuzuhören und erkannte es tatsächlich als irgendeine seltsam abgewandelte Form der Zauber, die Jebiskleriker üblicherweise zum Neutralisieren von Giften verwendeten – offenbar vermischt mit einer Formel, die normalerweise zum Brechen von Flüchen angewandt wurde.

„Wenn ihr das nächste Mal durch schreckliche, schreckliche Dinge hindurchstolpert“, begann der Lich, während er sich wieder aufrichtete, „dann erzählt einander vielleicht hiervon, hm? Wie ihr euch stolpernd und Geschichten erzählend durch den Wald gerettet habt und der böse, fiese Lich euch irreführte und wie ihr ihn am Ende geköpft habt. Schmückt es ein wenig aus, ja? Keiner mag glanzlose Geschichten.“ Vetus nickte langsam. Ja… ja, dieser Lich musste wahnsinnig sein. Ithildalin war vermutlich aufgrund seiner Existenzform und der Ewigkeit, die ihm blühte, schlicht wahnsinnig geworden. Ja. Er nickte. „Gut, schön. Nachdem das geklärt ist, wünsche ich euch zwei Turteltauben noch viel Vergnügen. Und sei versichert, Vetus – deine Tochter und ich, wir werden mal die besten Freunde werden. Oh wie viel Spaß und Abenteuer wir haben werden…! Also wirklich kein Grund, nachtragend zu sein, eh? Dann habt noch einen schönen Abend.“

„… was?“

Natürlich kam die Nachfrage zu spät. Genau genommen, fast anderthalb Minuten, nachdem Ithildalin sich bereits davon teleportiert hatte. Ahillea war indes auf die Beine gekommen und wankte noch immer am Rande des Zusammenbruchs tänzelnd zu ihm herüber. Sie… zog ihn zunächst schlicht mit ins Zelt. Wo sie aufgab.

Vor ihrem Zelt lagen die Reste eines zerstörten Phylakterions im Feuer. Ein geköpfter Lich lag direkt neben ihrem Lager. Sein Kopf war irgendwo den Hügel heruntergerollt. Und Ithildalin, für den sie diesen ganzen Wahnsinn hatten erledigen müssen, hatte ihm… ja was eigentlich? Gedroht?

Kurzum: Vetus konnte nicht schlafen. Sein Körper schrie und kreischte, aber er war schlicht unfähig, dem nachzugeben. Ahillea verlor kein Wort dazu. Am nächsten Morgen war sie alles andere als wach, weit davon entfernt, sich erholt zu haben. Vetus dagegen lag die Nacht wach. Dachte nach. Wälzte Horrorszenario nach Horrorszenario. Seine Tochter… er würde eine Tochter haben? Woher wusste dieser Bastard sowas? Und was hatte er mit ihr zu schaffen? Spielte er mit ihm? Wusste er überhaupt etwas? Rätselte er? Aber was, wenn er doch etwas wusste? Woher konnte er so etwas wissen? Seine Gedanken waren zäh, langsam, drehten sich immer wieder im Kreis – aber die schiere Angst, die sie heraufbeschworen, hielt ihn davon ab, von seiner Erschöpfung übermannt zu werden.

Also packten sie am Morgen ihr Lager ein. Ignorierten alles um sie herum. Ließen den grässlichen Hügel hinter sich. Und liefen. Langsam und stolpernd und aneinander gelehnt. Sie legten kaum ein Drittel dessen zurück, was sie sonst schafften. Eine weitere Nacht im Lager, eine weitere Nacht Wache. Ahillea hatte noch nicht vermocht, ein Wort zu sagen. Zu sehr hatte auch sie mit den Geschehnissen zu kämpfen.

Doch als sie am Ende des siebten Tages ein Gasthaus erreichten, hatte sich zumindest die Elbe weit genug gefangen. Sie orderte ein Zimmer für sie beide. Sie orderte Essen, Trinken, ein Bad. Sie bezahlte. Sie steckte ihn in den Zuber, wusch sie beide gründlich durch. Sie zog ihn in ihr Bett, obwohl es derer zwei gab. Sie schlug die Decke über sie beide. Drückte sich dicht an seinen Rücken. Und sie sang ihm leise ins Ohr.

Und Vetus… schlief ein.



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