Zum Inhalt der Seite

History Maker - The beginning

Viktor Nikiforovs BG-Story
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Schritte wurden immer länger für den leicht angeschlagenen zehnjährigen Viktor Nikiforov. Seine Wertsachen hatte er mitsamt seines verwundeten Hundes im Schlepptau. Immer kraftloser werdend schleppte er sich Richtung Innenstadt. Es war früh morgens, gegen halb sechs, eine Uhrzeit, in der in den Ghettos besser kein Fuß gesetzt werden sollte. Eine Uhrzeit, in der die Alkoholleichen ihren schlimmsten Zustand aufwiesen, die Drogendealer Hochsaison hatten und generell es gefährlich war, als Jüngling alleine durch die Stadt zu streifen. Ein Tierarzt würde erst um 8 öffnen. Und Viktor hatte keinen Schimmer, wo er einen auffinden sollte.
 

Der Silberhaarige hatte zudem seit Stunden nichts mehr zwischen die Zähne bekommen, was er an seiner inneren Kraftlosigkeit langsam merkte. Nezhny, sein geliebter Pudel, wurde immer kälter, je mehr Blut aus der Wunde austrat. Das Jaulen des Hundes tat Viktor in der Seele weh.
 

Viktor fühlte sich gebrochen. Leer. Verzweifelt. Kraftlos.

Am Ende seines Seins. Wenn er nun auch noch seinen Hund verlieren würde, wusste er nicht, ob er überhaupt jemals die Kraft aufbringen könnte, noch einmal aufs Eis zu gehen. Seine Gedanken, die vor wenigen Stunden noch so hoffnungsvoll waren, nachdem er diesen Herr Yakov traf, verliefen sich in düstere Bahnen.
 

Ja, auch wenn er so gerne den starken, unumstößlichen Jungen mimte. Nun war er innerlich am ende. Als hätte seine Seele ihn verlassen. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, so sehr er es versuchte. Der Treffpunkt, den er mit Yakov ausmachte, er war nicht mehr weit entfernt, es war eine Brücke in der Nähe von hier, die er kannte. Die Eishalle von damals war auch hier in der Nähe. Als kleinerer Junge war er mit seinem Großvater einige Male hier, die Weihnachtsbeleuchtung, die hier angebracht würde, sah wunderschön aus und ließ den teils zugefrorenen Fluss wunderbar erstrahlen.
 

Doch alles, auch jene Brücke erschien ihm in diesem Augenblick grau in grau. Davon abgesehen wurde ihm allmählich kalt und schwummrig. Und Nezhny… er war gefühlt auch immer kälter. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, unternahmen natürlich nichts. Ein sichtlich erschöpfter Junge mit schwer verwundetem Tier, warum sollte hier jemand Zivilcourage zeigen und helfen? Warum sollten Menschen ihm überhaupt helfen?
 

Es war doch alles wie immer. Die Kommentare Halbstarker, die seine Haare betrafen, ignorierte Viktor noch immer, aber er hatte auch keine Kraft mehr, sich darüber innerlich aufzuregen.
 

Eine Telefonzelle. Eine alte Telefonzelle, das war Viktors neues Ziel. Irgendwo wird er jemanden erreichen müssen, der seinem Tier hilft. Er selbst war so down, dass er sich selbst relativ egal war. Aber Nezhny!
 

Er warf sich in diese kleine, enge Zelle rein. Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer, der noch in ihm steckte.

Als Viktor jedoch bemerkte, dass er keine Münzen mehr dabei hatte, ließ er sich schlicht und einfach an der Wand fallen und legte seine Arme über sein Tier. Es war kalt und Nezhny, deren Bewegungen immer weniger und schwächer wurden, würde auch immer kühler. Der Junge versuchte, ihn zu wärmen, so gut es ging. Er wusste nicht mehr weiter. Aber… wenn Nezhny ging, würde er mit ihm gehen. Das einzige Wesen, welches ihm in Zeiten des Trübsals immer noch Trost spendete. Das einzige Wesen, welches ihm Zuneigung und Wärme gab, zu der seine übriggebliebene Familie nicht fähig war. Nezhny wird er nicht allein lassen. Seine Schlittschuhe waren im Müll. Und Kraft zum Eislaufen besaß er kaum noch.
 

Es vergingen bange Minuten, in denen Viktor einfach seine eigenen Grenzen aufgab und bitterlich weinte. Außer einigen empörten Blicken tat niemand etwas. Sie überließen den Jungen einfach seinem Schicksal.

Nezhny, Viktors Pudel und einziges echtes Familienmitglied…
 

Es bewegte sich nicht mehr. Blut, welches schnell trocknete, war auf der Hose des Jungen verbreitet. Hoffnung auf Rettung existierte nicht mehr. Viktor saß einfach da, verheult, innerlich leer und mit dem einzigen Wunsch, zu verschwinden…
 

„Viktor?“

Eine alte Stimme ertönte. Aber der angesprochene war wie in einer Trance. Er bekam es kaum mit.
 

„Viktor….“

Es war Yakov, der alte Mann von gestern. Er hatte Nezhny längst beiseite gelegt. Das Leben des Hundes konnte nicht gerettet werden, soviel stand fest. Aber Viktor hockte nur da, halb unterkühlt und völlig kraftlos. Yakov rütteltete ihn, versuchte, den völlig bleichen Gesichtsausdruck irgendwie zu beleben. Doch er konnte nichts tun.

Der Eiskunstlauftrainer, der seinen Posten extra für ihn verlassen hatte, hätte natürlich seine gestrige Idee einfach verwerfen können, alleine schon, weil schier alle Lebensenergie aus dem Silberhaarigen entwichen schienen. Er hätte ihn einfach hier erfrieren lassen können, wie alle anderen auch ignorant sein können.
 

Tatsächlich wollte der Mann, der Viktor im Übrigen gestern nicht das erste Mal beobachtet hatte, ihn nicht aufgeben.

„Viktor… du siehst absolut miserabel aus. Ich bringe dich sofort zu unserer Krankenpflegestation. Außerdem solltest du was essen“
 

Der Junge schüttelte leicht den Kopf. Die leeren, meerblauen Augen spiegelten seine innere Leere so gut wider. Er konnte und wollte sich nicht wehren, denn ihm war nun alles einfach so egal. Der Ältere nahm ihn mit. Er schleppte sowohl den Jungen, als auch den nicht mehr bewegenden Hund mit sich. Es ist ein Bildnis des Grauens.
 

Viktor trat während alledem langsam weg und bekam nichts mehr mit. Vielleicht war all das ja doch nur ein langer Alptraum, aus dem er gleich erwachen wird. Der Silberhaarige, dessen Rücken leicht lädiert ist, wird von dem Älteren direkt in die Krankenabteilung gebracht. Was Viktor nicht ahnte, war, dass es hier auch ein paar Experten für verwundete Tiere gab. Als sie Nezhny in Empfang nahmen, sahen die Mimiken schon nicht vielversprechend aus.

Das Leben des Pudels war dahin geschieden.
 

Es gab keine Rettung mehr für das Tier, welches sich für Viktor opferte. Zuviel Blutverlust.
 

Die meisten, die in diesem Moment anwesend waren, nahmen das mit Fassung. Yakov stand nur da und zog ein recht straffes Gesicht. Gefühle waren nicht grade die Stärke, und obwohl er Viktor erst seit gestern kannte, spürte er, dass das den Jungen erheblich treffen würde. Er dachte daran, wie man ihn fördern könnte, was man aus dem Talent des Jungen machen könnte. Ihm kam eine Idee, die ihm und seinem distanzierten Selbst nicht ganz ähnlich sahen.
 

Es vergingen Stunden, in denen Viktor verarztet wurde. Er hat keine allzu schlimmen Verletzungen, lediglich ein paar Schrammen, blaue Flecken und kleine Platzwunden. Mitten in der nächsten Nacht kam er wieder zu sich, einwenig desorientiert und noch mit leichten Schmerzen.
 

„…!“

Niemand war im Raum, aber sofort ploppte der Gedanke an Nezhny auf.

Aufgeregt wuselte er durch den kleinen Raum, löste sich von den Krankenklamotten. Er war es nicht gewohnt, so gepflegt zu werden. Doch, viel wichtiger war, wie erging es seinem Pudel?

Er schlich sich aus dem Raum, und sah sich um. Alles war verdunkelt. Niemand war hier. Die Sorge in dem Jungen wuchs. Er kannte sich hier nicht aus. Eine leichte Panik in ihm stieg auf, auch bedingt durch die körperlichen Schmerzen, die er spürte.
 

„Viktor?“

Die Stimme kam vom Gang um die Ecke, sie klang nach Yakov. Der einzige Mensch, der hier einigermaßen wenig Nervosität auslöste in dem Jungen. Und er wird wissen, was mit seinem Pudel geschehen ist.
 

Als der Mann den langhaarigen Jungen entdeckte, ging er nur wortlos auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter. Es war zu erkennen, dass er sich mehr als schwer tat, irgendwelche passenden Emotionen zu zeigen. Viktor erkannte sich darin wieder, für gewöhnlich fiel ihm das – trotz seiner jungen Jahre - auch schwer. Anders als den anderen Kindern in seinem Alter. Nicht aber in den letzten Stunden, die genau jetzt in ihm sich wieder wie ein Film abspielten.
 

Dennoch bemerkte der Silberhaarige, dass der Ältere nicht fröhlich gestimmt war. Eigentlich war dies Aussage genug.

„N…Nezhny…?“ brachte er nur piepsend hervor. „Sieh zu, dass du dich ausruhst. Morgen wird dein erster Tag hier sein. Und du bist noch nicht fit“ sagte der Mann nur trocken und lenkte vom Thema ab. Wie sollte er einem zehnjährigen den Tod dessen geliebten Hundes erklären?
 

„Aber… wo… was ist mit Nezhny?“
 

Viktor bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf. Es kam öfter vor, dass der Hund sich des Nachts in sein Bett geschlichen hat und mit ihm gekuschelt hat. Er spürte, dass er diese Wärme grade brauchte. „Alles gut“ Yakov wählte eine Notlüge. „Er braucht Ruhe. Morgen gehen wir ihn besuchen.“
 

Der Junge gab sich nicht wirklich zufrieden damit. Aber es half nichts. Natürlich ahnte er, was passiert war, denn gestern sah es ja nicht mehr gut aus für sein Tier.

Den Rest der Nacht saß er hellwach noch in dem Krankenbett und starrte nach draußen. Es schneite. Ein schöner Anblick. Ungewöhnlich schön. Ob das ein Zeichen ist?
 

Nezhny, du bist da draußen, das weiß ich.
 

Werde ich jetzt wirklich Eiskunstläufer? Kann ich… kann ich hier etwas reißen? Ich bin noch nie wirklich vor den Augen anderer Menschen gefahren…

Die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Sie sprangen hin und her zwischen Aufregung und Trübsal. Er hatte das Gefühl, die Pubertät hätte ihn schon eingeholt. Vor ein-zwei Jahren hatte er solche Gedankengänge noch nicht, da war alles noch so unbeschwert. Aufs Eis ist er dennoch gerne gegangen, aber er hatte sich eben noch nicht über alles solche Gedanken gemacht. Es war einfach so wie es war mit seiner Familie. Aber nun…?
 

Vielleicht sind das erste Anzeichen von Pubertät. Die sollte aber eigentlich erst später kommen.
 

Am nächsten Morgen wurde er von einer Ärztin besucht und durchgecheckt. Er war nicht besonders konzentriert, aber immerhin waren die Schmerzen nun weg. Er bekam ein paar Schmerzmittel verschrieben, und ihm wurde geraten, es nicht mit dem Training zu übertreiben. Wie erwartet ging es hier nur um körperliche Beschwerden, nicht um die angeknackste Psyche des Jungen, der in den letzten Stunden eine Menge durchgemacht hatte.
 

Aber er wird damit sicher schon zurechtkommen. Er ist ja immerhin fast elf, da kann man das schon erwarten.

„Lasst mich um ihn kümmern“ sagt Yakov, der Eiskunstlauftrainer, der wegen Viktor wieder eine Theoriestunde ausfallen ließ. „Aber“- protestierte die Ärztin, die den Mann so scheinbar nicht kannte. „In ihm sehe ich die Zukunft des russischen Eiskunstlaufs“ erzählte er bestimmt. „Das muss gefördert werden. Ich weiß, normalerweise durchlaufen die jungen Läufer in jüngerem Alter mehrere Aufnahmeprüfungen und viel Papierkram, bis sie genommen werden“ Viktor stand daneben und hörte nur zu. Es faszinierte ihn. Er glaubte nicht an diese Worte. Warum sollte er an dem bisschen von gestern schon festlegen können, dass er ein besonderes Talent hat?
 

Der Silberhaarige wurde mitgenommen. Ohne Worte verließen er und sein Zukünftiger Trainer das Gelände. Yakovs Hund kam mit. Viktor fragte sich, warum sie spazieren gehen, sagte aber nichts. Sie liefen durch den Park hinter dem Gelände, durch die ca. 5 cm Schnee, die gestern gefallen waren. Schön sah es hier schon aus. Sie trafen ein paar Menschen, die den Jungen nur schroff ansahen. Natürlich lag es an seinen unnatürlich aussehenden Haaren. Yakov erzählte jedem, dass er sein neuer Schüler sei, völlig ohne Misstrauen und Umschweife. Ein bisschen gruselig ist das schon. Und es wirkte als ob die Menschen ihn förmlich musterten, um sich sein Gesicht genau einzuprägen.
 

Anschließend kamen sie zu einer etwas abgelegeneren Stelle. Hier wirkte es, als hätte jemand kürzlich erst umgegraben, vielleicht vor ein paar Stunden erst. Denn hier lag weniger Schnee, Fußspuren waren noch da. Und der Haufen Erde generell sah noch so frisch aus.

Als Viktor das kleine Kreuz aus Ästen sah, realisierte er langsam.
 

„Mein Junge…

…wir sind da. Wir sind bei Nezhny“
 

Die Stimme wirkte gespielt betroffen. Aber das interessierte Viktor in diesen Sekunden nicht, als es langsam in ihm ankam.

Der Tod seines Hundes, der hier kürzlich begraben wurde. Nicht dass er sich rationalerweise wunderte, wie das alles so schnell von Statten ging, einfach das Tier an dieser Stelle zu beerdigen. Soweit denken konnte er nicht. Es war die Leere, die sich bereits gestern gezeigt hatte. Diese Leere fühlte sich nun an, wie in Stein gemeißelt.
 

Er spürte die Tränen wieder in seine Augen steigen. Er schaffte es nicht, dagegen anzukämpfen. Sein Herz brannte. Es schmolz komplett dahin. Das zweite Mal überhaupt nach dem Tod seines Großvaters.
 

„Nezhny…“ krächzte der Junge, ging in die Knie, hörte innerlich das erfreute Bellen des Tieres, welches er nun nie wieder hören wird. Es schmerzte innerlich so sehr. Er war das einzige neben Eiskunstlauf, was ihn wirklich Freude bereiten konnte. Es war, als wäre ein Teil von ihm von der Welt geschieden.
 

Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber noch einmal prasselten all die Gefühle, die Viktor sonst so oft versteckte, mit einem Mal aus ihm heraus. Er konnte es nicht zurückhalten und nicht kontrollieren. All die Erlebnisse mit dem Hund ploppten in seinem Gedächtnis aus. Er hatte so viel Spaß, nicht selten begleitete ihn das Tier zum Eislaufen, gab ihm Wärme, wenn er sonst keine bekam und spendete Trost. Er fragte sich, während weitere Tränen aus seinen Augen quollen und er ein leichtes Schulterklopfen vernahm, wie er ohne diese Wärme zurechtkommen sollte.

Er war nun an einer Eiskunstlaufschule… eigentlich etwas, wovon er immer träumte. Und doch fühlte er sich in diesem Moment nicht imstande, dort zu bestehen.
 

Es vergingen einige Minuten, in denen Viktor von seiner Trauer überwältigt weinte und keinen rationalen Gedanken fassen konnte.
 

„Wir sollten gehen. Bedenke, Viktor… was würde dieses Tier tun, wenn er dich so weinen sieht?“
 

Die Frage ging wie ein Pfeil ganz butterweich durchs Herz und ließ es noch mehr bluten. Er konnte nicht antworten, nur schluchzen. „Man merkt, wie viel dir an ihm lag. Erfolgreiche Eiskunstläufer haben ein Herz aus Glas, und das ist auch ganz gut so. Merke dir das, es wird dir noch viel bringen in deiner späteren Laufbahn“
 

Dass er ein Glasherz besäße, war Viktor neu, aber… nein, im Grunde konnte er das grade nicht leugnen. Er verstand nicht, worauf er hinauswollte, aber vielleicht wird er das, wenn er älter und reifer ist. Vielleicht… hat er dann auch seine Gefühle unter Kontrolle. Vielleicht schafft er es dann, standhaft zu sein.
 

Vielleicht muss das so. Er muss durch die Hölle gehen um den Himmel zu finden.
 

Sie verließen den Platz, Gedankenverloren trabte Viktor zurück zu seinem neuen Heim. Etwas in ihm war nun entgültig tot.

„Die nächsten Tage werde ich dich noch ein bisschen schonen, mein Junge. Du wirst dem Theorieunterricht beiwohnen, ehe die ersten Fitnesstests gemacht werden. Und vorher werde ich dich einem Kollegen vorstellen“
 

Yakov blieb seiner Linie treu. Er ritt gar nicht mehr länger auf den Gefühlen des Jungen herum. Trocken definierte er den Fortgang des Trainings. Etwas, an das Viktor sich noch gewöhnen muss – und wird. Zurück genoss der Junge erstmal eine Dusche, ein warmes Essen und ihm wurden Trainingsklamotten gewährt. Von den anderen Schülern wurde er bewusst ferngehalten. Anschließend stand das Gespräch mit dem psychologischen Betreuer und einem Partner von Yakov an. Ein grauhaariger, Bärtiger Mann namens Igor, der ein stückweit älter aussah als Yakov, aber ein bisschen freundlicher im Gesichtsausdruck wirkte.
 

Wundersamerweise besaßen sie an diesem Internat doch einen psychologischen Aufseher. Igor musterte den Jungen, der seine silbernen Haare hinter seine Ohren schob, damit sie etwas ordentlicher lagen und seine innerliche Gebrochenheit weniger zur Geltung kam.
 

„Interessant. Du bist also Viktor Nikiforov“ sagte er, und klang, als hätte er ihn schon jahrelang erwartet. Er nickte nur und versuchte gar nicht erst zu hinterfragen. „Und du möchtest Eiskunstläufer werden“ Von dem Jüngeren kam als Antwort nur ein verlegener Blick, als wüsste er schon, dass der Mann nicht viel von ihm hielt. „Erzähl. Was möchtest du erreichen? Yakov hat dich nicht umsonst hier her gebracht. Und ich denke nicht, dass es nur dein Name ist, der dich herführte“
 

Minuten vergingen, in denen Viktor den sterilen Raum absuchte und sich zeitweilen so vorkam, als hätte man ihn in inhaftiert. Inhaftiert dafür, dass er seine eigene Mutter quasi völlig allein dem Schicksal überlassen hat. Inhaftiert dafür, dass er nicht schnell genug Hilfe holen konnte, um seinen geliebten Pudel zu retten.
 

Er fühlte sich wie ein Versager und das sorgte nicht dafür, dass er imstande war, große Reden zu schwingen. „Ich… ich möchte… Freiheit“ murmelte er. Igor zog die eine Augenbraue hoch, während Viktor in seinem Inneren bessere, vielleicht positiv wirkendere Worte suchte. „Wie süß, Nikiforov. Was meinst du denn mit Freiheit?“
 

„Na.. Eislaufen eben… immer wenn ich auf dem Eis bin, fühle ich mich wohl und frei von… schlechten Gedanken“ erzählt der Junge zögerlich. Der bärtige Mann lächelte verschmitzt. „Du bist schon ein naiver und süßer Junge. Hätte ich nicht erwartet. Aber nun denn. Vielleicht sage ich es dir direkt, aber wenn du wirklich groß werden willst, dann benötigst du nicht nur eine Affinität zu Eislaufen, sondern erst einmal ein gutes Selbstwertgefühl. Das sehe ich bei dir nicht unbedingt“
 

Na, reib es mir unter die Nase. Dachte sich Viktor leicht genervt. Er fühlte sich innerlich einsam, leer, gekränkt, wo bitte sollte irgendein Selbstwertgefühl herkommen?
 

„Erzähle mir etwas über dein Leben daheim. Ich bin sehr gespannt“
 

Wieder vergingen lange, zähe Minuten.
 

„Meine Mutter wollte mich vom Eislaufen abhalten. Sie wollte, dass ich Geschäftsmann werde. Und … naja, also, ich bekam halt keine Unterstützung von ihr“ antwortete der Junge kurz und knapp.
 

Igor schien weiter bohren zu wollen, doch fürs erste ließ er die familiären Fragen sein, denn sicher merkte er das unruhige Rumoren in Viktor. „Gut. Ich glaube, ich kann dich schon ein stückweit besser einordnen. Dennoch sieht man dir an, dass du etwas auf dem Herzen hast. Und dabei geht es nicht um deine Familie“
 

Was versucht dieser Typ? Will der meine Gedanken lesen? Fragte sich Viktor innerlich mehr genervt. Noch genervter ist er davon, dass er indirekt verneint, dass Nezhny nicht seine Familie ist. Viktor sagte nichts, er schnaubte lediglich etwas.

Igor ließ ab von dem Jungen, als er erkannte, dass er nun nur noch schweigen wird über alles. Sein Blick wirkte so, als wolle er es schaffen, sein ganzes Leben aus dem Jungen herauszukitzeln. Wieder einer dieser Menschen, auf die Viktor verzichten könnte – davon gab es ja wahrlich nicht wenige. Der Junge seufzte. Und wenn er an seine künftigen Klassenkameraden dachte, motivierte es ihn nicht sonderlich.
 

Er wünschte sich ja am liebsten Einzelunterricht von einem der aktuell erfolgreichen Eiskunstläufer. Aber das erschien ihm nicht möglich. Undenkbar. Warum sollte ihm so etwas widerfahren?
 

Es war Nachmittag, als Yakov Viktor das erste Mal zur nächstgelegenen Eishalle begleitete. Der Junge war aufgeregt, sollte er doch heute das erste Mal theoretischen Einblick auf das Training haben. Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder eine Eishalle zu betreten. Es war ein wohliger, kühler Geruch, der den jungen Russen schnell überfiel. Ein paar Jungen drehten ihre Kreise auf der Eisfläche. Fast wie von selbst bewegte sich Viktor an den Rand und sah hinüber weg. Diese Farbe. Dieser Geruch. Diese Kühle, die vom Boden ausging. Dieses Geräusch, welches die Kufen auf dem Eis hinterließen. Es ist Balsam für Viktors geschundene Seele. Er ignorierte Yakov hinter ihm, der ein Pläuschchen mit dem Mann an der Kasse hielt.

Der Silberhaarige fühlte sich prombt heim.
 

Einer der blonden Jungs bemerkte ihn.

„Wer bist du denn?“ fragte der blonde, der ein bisschen älter als Viktor aussah. Dieser Blick in dessen Augen verriet wieder viel Entrüstung ob der silbernen Haare des Jüngeren. „Ist das Natur?“ warf er direkt hinterher und Viktor fühlte sich bestätigt. Er seufzte. „Ja…“
 

„Das ist Viktor, er wird ab morgen mit euch trainieren und in einer Klasse sitzen“ rief Yakov aus dem Hintergrund. Das Erstaunen des Blonden ist nicht zu übersehen. „Aber..“ – „Es ist alles abgesprochen. Außerdem hat er viel Talent“
 

Dass der alte Mann kein Mann von Empathie war, das hat Viktor schnell gemerkt, aber es wunderte ihn eben auch kaum, dass der junge Athlet eine Schnute zog. „Duuu“ er deutete auf Viktor, der seine Haare hinter die Ohren klemmte. Entzürnt starrten sich beide an. „Ich bin Andrej, und ich bin so gut wie bei der Junioren-Nationalmannschaft dabei. Ich respektiere dich, wenn du mit mir mithältst“ sagte er mit erhobenem Haupt. Yakov lachte, er scheint Gefallen an dieser herausfordernden Art zu haben.

Viktor sagte nichts, nickte nur und nahm die Herausforderung an. Er konnte nicht die ganze Zeit Trübsal blasen, und die Tatsache, dass er nun seinem Lieblingssport nachgehen konnte, erweckte doch einen kleinen, totgeglaubten Lebensgeist in ihm.

Von menschlicher Zusammenkunft hielt er eh nicht viel, aber für ihn ist es ein Ansporn, einen möglichen Juniorenmeister herauszufordern.
 

So wurde Viktor zunächst an die Seite gestellt, er sollte von außen dem Training beiwohnen. Es war nicht nur Yakov vor Ort, der trainerte, es waren mehrere. Jeder der autoritären Personen hatte eine Gruppe Schüler, je nach Fortschritt aufgeteilt. Die weitesten der Schüler, die Viktor zwischen sieben und zwölf schätzte, wurden bereits in den Sprüngen trainiert. Der Junge war, jetzt wo er dies mit faszinierten Augen begutachtete, noch immer sehr ahnungslos, was den Sport anging. Im Sinne von… er konnte keines der Kunststücke benennen, die Bewertungsskala, die Regeln, die ganzen Hintergrundinformationen waren ihm noch fremd. Bisher hatte er immer nach Bauchgefühl einfach das nachgeahmt, was er von den damaligen Auftritten gesehen hat, oder er hat sich einfach von seinem Instinkt leiten lassen.
 

Ein paar der Schüler bekamen harsche Worte an den Kopf, auch von Yakov, zimperlich gingen sie nicht mit ihnen um. Etwas, was Viktor jetzt schon etwas wurmte. Er mochte es eben gar nicht, wenn er sich an irgendwelche überstrikten Regeln halten musste.

Andrej zum Beispiel schien übermütig, als er, entgegen der Haltung seines Trainers, einen Dreifachsprung vollführte und dabei etwas unsanft mit den Knien aufkam. Der Junge ärgerte sich und kassierte direkt die rote Karte, was ihm vom weiteren Training ausschloss – zumindest für ein paar Minuten.
 

Viktor war nicht scharf darauf, die Aggressionen des Jungen abzubekommen. Er war viel schärfer darauf, selber auf die Eisfläche zu gehen. Aber er hatte ja nach wie vor kaum irgendwas Eigenes. Er versuchte, zwanghaft den Trümmerhaufen, den sein jüngstes Leben ihm hinterließ, innerlich zu kehren. Doch hielt ihn all das auch nicht davon ab, einen Versuch zu starten, hier irgendwo Schuhe und Trainingsklamotten aufzutreiben. Sein Herz raste bei dem Gedanken, nachher auch dort auf dem Eis stehen zu können.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2017-10-22T11:42:50+00:00 22.10.2017 13:42
warum musste das Hundchen schon gehen ;_;

gut geschrieben
es geht alles schön langsam weiter, aber es wird einen nie langweilig beim lesen ^^

bin schon auf das Training gespannt

Von:  00Ucy-18
2017-04-19T17:04:29+00:00 19.04.2017 19:04
Das kapi ist echt traurig.
Mal schauen wie es Victors ersten Eislaufstunden ergeht.
Ich hoffe du schreibst bald weiter :)
Von: Hinata_Shouyou
2017-02-26T12:05:09+00:00 26.02.2017 13:05
schnief rotz und wasser heul :'(
so traurig , ich liebe dir ff von dir
mach weiter so :3


Zurück