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Die Wölfe 4 ~Die Rache des Paten~

Teil IV
von

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~Antonio, der schwarze Wolf~

Ständig diese Geschrei, Antonio wird noch verrückt, er will doch nur schlafen, es ist mitten in der Nacht.

„Halts Maul, Schlampe!”

„Von dir Säufer, lasse ich mir den Mund nicht verbieten!”

„Ich bring dich um!“ Wenn der Kerl es doch nur endlich tun würde. Genervt betrachtet Antonio die Wand, hinter der das Geschrei nun an Intensität zugenommen hat. Möbel ächzen, Glas zerspringt, dann folgt unheilvolle Stille. Antonio lauscht, wartet vergeblich auf ein Geräusch, nichts. Die Augen fallen ihm wieder zu. Schlafen, wenigstens noch ein, zwei Stunden, bis er aufstehen und seine Schicht am Hafen antreten muss. Kisten schleppen, Waren be- und entladen, vom Morgengrauen, bis zum am Abend. Wie er diesen Job hasst, und diese Wohnung, die Nachbarn, die beschissene Wohngegend. So viel harte Arbeit und wofür? Sie haben nicht einmal das Geld, für einen Eimer Kohlen. Seit Tagen ist der Kamin kalt und das in diesem unbarmherzigen Winter.
 

Wieder wälzt Antonio sich von einer auf die andere Seite und versucht unter der dünnen Decke, mit den zwei großen Löchern in der Mitte, einen warmen Platz zu finden.

Die Wolldecke hat er Anette und seiner Tochter überlassen. Die Beiden liegen, eingerollt und aneinander gekuschelt, neben ihm. Um ihren festen Schlaf, kann er sie nur beneiden.Seit dem Anschlag, vor vier Jahren, hat er nicht mehr durchgeschlafen.

Ganz langsam entgleiten seine Gedanken ihm, ein wohltuender Schleier legt sich über seinen erschöpften Geist.

PENG! Reifen quietschen, zwei weitere Schüsse hallen durch die Straße.

Antonio schlägt die Augen auf, sein Herz rast, all seine Muskeln spannen sich an. Automatisch wandert seiner Hand unter das Kissen, seine Finger suchen den Lauf des Revolvers. Als er das kalte Metall fühlen kann, ist es wieder still geworden. Er richtet sich auf und sieht aus dem Fenster. Die Straße ist dunkel, keine Menschenseele ist zu sehen. In dem frisch gefallenen Schnee, sind keine Fußspuren zu erkennen. Vor dem Fenster tanzen weiße Flocken und sammeln sich auf dem Rahmen um die Scheibe. Schwer wie ein Stein, lässt Antonio sich zurück ins Kissen fallen. Noch immer schlägt ihm sein Herz hart gegen die Rippen, das Blut pulsiert in seinen Adern.

Wie spät es wohl inzwischen ist? Er tastet nach dem Strick der Nachttischlampe, doch als er daran zieht, bleibt der Raum dunkel. Der Strom ist ihnen am Vortag abgestellt worden, das hat er bereits erfolgreich verdrängen können. Resigniert lässt er den Arm am Bett herab fallen. Es hat keinen Sinn, er wird auch heute Nacht nicht zur Ruhe kommen, da kann er genau so gut aufstehen. Schwerfällig kämpft er sich in die Waagerechte. Mit beiden Händen fährt er sich durchs Gesicht und über seine brennenden Augen. Das ist schon die dritte Nacht in Folge. Die Hände auf die Knie gestützt, zwingt er sich zum Aufstehen. Im Dunkeln tastet er nach eine der gespannten Wäscheleinen, über die er seine Kleidung vom Vortag gehängt hat. Bisher haben sie noch keinen Schrank für ihre Wäsche auftreiben können. Kreuz und quer führen Leinen durch ihr winziges Apartment, auf denen ihre wenigen Habseligkeiten hängen. Schwerfällig zieht Antonio sich einen Pullover über. Als der Stoff eine lange Narbe berührt, die sich quer über seinen Oberkörper erstreckt, zieht er die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. Die Fäden sind gerade erst gezogen worden, der Schmerz wird ihn noch eine ganze Weile begleiten. Da hat er einmal auf dem Heimweg nicht aufgepasst. Sein ganzer Brustkorb ist mit Blutergüsse übersät, einer dieser Schweine hat zu allem Überfluss auch noch ein Messer gezückt, aber zumindest hat keiner von diesen Gestalten, ihren feigen Überfall überlebt. Wieder drei Drachen weniger. Ein diabolisches Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. Vielleicht wäre die Jagd nach diesen Mistkerlen ein guter Zeitvertreib, um die Nacht herum zu bekommen.

Auf der Suche nach seinen Schuhen, fährt Antonio den kalten Boden mit den Füßen ab, neben dem Bett wird er fündig.

Möglichst leise, lässt er sich auf die Matratze sinken. Anette und Kira schlafen, wie er sie zurück gelassen hat. Sie sehen aus, wie zwei Engel, die etwas Besseres, als dieses Leben hier, verdient haben. Ob es tatsächlich ein gute Idee gewesen ist, den Beiden zu versprechen, sein Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen? Nur ein Auftragsmord und sie könnten endlich von hier weg. Essen, ein warmes Apartment, was anständiges zum Anziehen. Ob Aaron noch Aufträge vergibt?

Antonio schlüpft in die Schuhe und schnürt sie. Anette muss ja nicht alles wissen, er muss es nur schaffen sich heimlich aus dem Apartment zu schleichen. Wenn er sich sofort auf den Weg macht, kann er seinem alten Chef direkt einen Besuch abstatten und die Einzelheiten sofort klären. Wenn alles gut läuft, hat er schon am Morgen mehr Geld in der Tasche, als in den letzten drei Monaten.

Gedankenversunken kramt er nach der Waffe unter dem Kissen.

Kalte Finger legen sich um sein Handgelenk, erschrocken sieht er hinter sich. Anette ist aufgewacht, sie sitzt bereits aufrecht, ihre Augen mustern ihn wild.

“Wo willst du hin?”, will sie mit zitternder Stimme wissen. Fieberhaft sucht Antonio nach einer schlüssigen Antwort, als die Stimmen von Nebenan schreien:

“Du Hure, du hast zu tun, was ich dir sage!”

“Nein, aahhhhh du tust mir weh! Lass los! Du brichst mir den Arm!”

“Ich geh unsere Nachbarn erschießen!”, sagt Antonio belustigt, während sich bei dem Gedanken ein breites Lächeln auf seinen Lippen ausbreitet. Nie wieder von diesem streitenden Paar geweckt werden, das wäre doch zwei Kugeln wert.

Mahnend betrachtet Anette ihn, ihr fester Griff hält ihn noch immer eng umschlungen.

“Das war ein Witz”, versichert er ihr, auch wenn der Gedanke ihm zu gefallen beginnt.

“Wo willst du wirklich hin?”, lässt Anette nicht locker. Ihre Stimme hat an Ernsthaftigkeit zugenommen, ihr Blick ist noch verbissener.

“Ich brauch frische Luft”, lügt er emotionslos.

“Antonio! Mach keinen Scheiß! Deine Familie braucht dich, du kannst es dir nicht leisten in den Bau zu gehen.” Antonio rollt mit den Augen. Immer wieder die selbe Leier. Er ist jetzt seit seinem 10. Lebensjahr Auftragskiller und nie hat man ihn mit den Morden in Verbindung gebracht.

“Du hast mir was versprochen”, ruft sie ihn an.

“Ich will nur frische Luft schnappen, mehr nicht.”

“Wenn du noch einen Menschen umbringst, sind Kira und ich weg”, droht sie.

“Ich weiß!”, entgegnet er kühl. Diese Drohung spricht sie nun schon seit vier Jahren aus. Es ist bereits zu einem festen Ritual zwischen ihnen geworden. Lange sieht sie ihm direkt in die Augen und wartet auf eine Reaktion. Als er regungslos bleibt, meint sie schließlich: “Sei bis zum Sonnenaufgang wieder da. Du musst morgen Arbeiten.”

“Ich weiß”, damit befreit er sich aus ihrem Griff und verlässt das Apartment.
 

Auf der Straße vor dem Haus, kramt Antonio nach Feuerzeug und Zigarette. Als er sie im eisige Wind endlich angezündet bekommt und der Qualm seine Lunge füllt, fühlt er sich besser.

Er ist der einzige Mensch hier draußen, nur die umherwirbelnden Schneeflocken leisten ihm Gesellschaft.

Antonio nimmt einen weiteren Zug, dann richtet er seinen Blick in den Himmel. Der fahle Mond scheint zwischen zwei dunklen Wolken hervor. Ist es wirklich bereits vier Jahre her? Die Zeit ist so schnell verflogen. Seine Tochter ist bereits Drei. Was Enrico wohl dazu sagen würde, dass er jetzt Vater ist?

„Du und Vater? Niemals!“, säuselt der Wind, oder war das nur in seinen Gedanken. Verstohlen blickt Antonio sich nach allen Seiten um. Er ist noch immer allein hier draußen, keine Menschenseele weit und breit.

„Seit wann machst du dir was aus Frauen?“, säuselt die leise Stimme im Wind.

„Tu ich nicht, aber du bist nicht mehr da“, antwortet Antonio. Ein gequältes Lächeln ringt er sich ab, während er noch einmal in den Himmel sieht. Dunkle Wolken schieben sich vor den Mond und verschlucken sein Licht. Schritte knirschen im Schnee.

„Antonio? Ein Glück! Ich habe schon die ganze Straße nach dieser Adresse abgesucht.“ Augenblicklich fährt Antonio herum. Die Kippe lässt er fallen und greift stattdessen nach seinem Revolver. Noch bevor er den Mann erkennen kann, hat er seine Waffe schon auf dessen Kopf ausgerichtet. Abwehrend hebt der alte Herr die behandschuhten Hände. Das faltige Gesicht, die tiefen Augenringe und das schüttere Haar, Antonio kennt dieses Gesicht.

“Jester?“ Der Mann nickt und bemüht sich um ein Lächeln. Nur langsam lässt Antonio die Waffe sinken. Von dem alten Herrn, mit dem gebeugten Rücken, geht nun wirklich keine Gefahr aus.

„Was willst du hier?“ Der Butler des Paten verlässt nur für wichtige Besorgungen das Haus.

“Du machst dir keine Vorstellung davon, wie lange ich schon nach diese Adresse suche. Warum hat hier kein Haus eine Nummer?”, keucht Jester und stützt sich auf die Knie. Misstrauisch betrachtet Antonio ihn. Woher hat der Butler seine Adresse hat, ist ihm schleierhaft. Niemand weiß, wo er und seine Familie sich aufhalten. In den letzten vier Monaten, sind sie drei mal umgezogen, damit das so bleibt.

“Wieso suchst du nach mir?”

“Aaron schickt mich. Ich muss dich bitten, mich zu begleiten”, die Stimme des Butlers ist ernst und duldet keine Widerworte.

“Das trifft sich gut, ich wollte auch zu euch.“ Antonio sieht sich nach dem Wagen des Paten um und wird tatsächlich auf der anderen Straßenseite fündig. Aarons edle Limousine parkt dort.

Jesters Gesichtszüge entspannen sich. “Gut, dann solltest du dir eine Jacke anziehen, dann brechen wir auf”, schlägt der alte Mann vor.

“Ich habe keine”, erwidert Antonio belustigt und setzt sich in Bewegung. Verwirrt sieht der Butler ihm nach. Jester brauch einen Moment, bis er verstanden hat und ihm über die zugefrorene Straße folgt.

“Was will dein Chef von mir?”

“Ich habe nicht die Befugnis, dir das mitzuteilen.“

“Jetzt lass dieses hochgestochene Gequatsche, wir sind Freunde. Ich will doch nur wissen, worauf ich mich einstellen muss.“ Jester öffnet die Tür der Limousine und lässt ihn einsteigen.

“Es ist wirklich besser, wenn der Master dir das selbst sagt.“ Antonio zieht die Augenbrauen kraus. Der alte Mann schließt die Tür und geht um den Wagen herum, um zu ihm zu steigen. Immer wieder haucht er heiße Luft in die hohlen Handflächen und reibt sie aneinander. Umständlich sucht er mit dem Schlüssel das Zündschloss.

“Muss ich mir sorgen machen?”, versucht es Antonio ein letztes Mal. Der Butler grinst nur geheimnisvoll, dann startet er den Wagen und lenkt die Limousine aus der Parklücke.
 

Auf ihrer Fahrt sieht Antonio schweigend hinaus und beobachtet die vorbeiziehenden Hochhäuser.

“Wie kommt es eigentlich, dass du in einer so gottverlassenen Gegend wohnst?”, sucht Jester das Gespräch.

“Ich dachte mir, in einer Villa in der Vorstadt, könnte mir der Gestank nach Urin und Erbrochenem fehlen.” Ein Schmunzeln legt sich auf Jesters faltige Lippen.

“Jetzt mal ernsthaft!”

“Ehrliche Arbeit macht arm.“

Wieder lächelt der Butler verstehend. “Nun, wir haben mehr als genug unehrliche Arbeit im Angebot, wenn du welche suchst.“

~Die Waffe eines Toten~

Das Anwesen des Paten, weckt unzählige Erinnerungen, die Antonio längst verdrängt zu haben glaubte. Noch nie ist er ganz allein hier her gekommen, nur selten hat er direkt ein Wort mit Aaron gewechselt, stets liefen alle Gespräche über Enrico. Er war ja auch der Bandenchef, das Oberhaupt der Wölfe. Antonio hat seinen Freund lediglich als Leibwächter und Berater begleitet. Ohne ihn hier her zu kommen, fühlt sich seltsam fremd an. Dieses Mal wird sein Freund nicht voran gehen, das große Eisentor öffnen und die Wachhunde mit Streicheleinheiten verwöhnen. Er wird auch nicht die Haustür für sie aufschließen und Aaron mit einem frechen Spruch begrüßen.

Noch ganz in Gedanken versunken, sieht Antonio den weißen Kiesweg zum Anwesen hinauf. Rechts und links flankieren große Tannen den Eingangsbereich und verhindern die Sicht auf das Grundstück. Lautes Hundegebell kündigt Scotch und Brandy an, die Dobermänner kommen aufgeregt angerannt patrouillieren am Zaun entlang. Immer wieder stecken sie das gefletschte Gebiss, zwischen die Eisenstäbe hindurch. Erst als die Limousine vor dem Tor zum Stehen kommt und Jester aussteigt, beruhigen sie sich. Mit wehenden Ruten warten sie auf der Einfahrt.

Antonio braucht einen Moment länger, um sich aus seinen Erinnerungen zurückzurufen und ebenfalls auszusteigen. Jester hat inzwischen das Tor für sie geöffnet. Eilig drängen die Hunde an ihm vorbei und Antonio entgegen. Sie umrunden ihn einige Male, schnüffeln an seiner Hose und und hinein ins Wageninnere. Als sie dort nicht fündig werden, schauen sie die Straße hinab, aus der die Limousine gekommen ist. Starr verlieren sich ihre Blicke in der Ferne. Je länger Antonio ihnen dabei zusieht, um so trüber werden seine Gedanken. Er wird nicht kommen, egal wie lange die Hunde hier auch stehenbleiben und warten. Nie wieder wird Enrico sie mit Hotdogs füttert, nie mehr hinter den Ohren kraulen. Antonio seufzt und schiebt sich an den Hunden vorbei. Während er das Anwesen betritt, bleiben sie noch immer wie angewurzelt auf dem Bürgersteig stehen.

„Scotch, Brandy!“, ruft der Butler nach ihnen. Die Ohren der Dobermänner drehen sich in seine Richtung, ihre Köpfe nicht.

„Werdet ihr wohl rein kommen!“, muss er sie ermahnen. Nur widerwillig kommen die Hunde ins Grundstück. Während Jester das Tor schließt, bleiben sie nah am Zaun sitzen, den Blick noch immer auf die Straße gerichtet. Erwartungsvoll tanzen ihre Schwänze im Gras auf und ab.

„Das sie nach so vielen Jahren immer noch auf ihn warten“, beginnt Antonio ein Gespräch, während sie den Kieselsteinweg hinauf laufen. Nachdenklichen betrachtet er die Hunde.

„Sie können wohl genau so wenig vergessen, wie du.“

„Woher weißt du …?“ Überrascht sieht Antonio in das faltige Gesicht des Butlers. Jester lächelt sanft.

„Der tote Drache im Huntson, letzte Woche?“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, lügt Antonio ganz automatisch, doch mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

Endlich erreichen sie die Treppe des Anwesen. Jester geht voraus, um die Tür aufzuschließen, als diese sich schon von allein öffnet. Ein Mann Mitte dreißig kommt ihnen entgegen, sein Blick verliert sich im Inneren des Hauses. Überrascht betrachtet Antonio ihn. Für gewöhnlich lässt sich Enricos großer Bruder nicht hier blicken.

„Es geht um deine Tochter, ist dir das egal?“, spricht Raphael in den Flur.

„Du bist ihr Ehemann, es ist deine Pflicht, sie zu ernähren.“

„Es geht um ihre Praxis, nicht um unser täglich Brot!“

„Raus!“ Antonio zieht eine Augenbraue kraus und betrachtet den großen Bruder argwöhnisch. Als sich ihre Blicke treffen, schaut Raphael noch verbissener.

„Was willst du denn hier?“, will er von ihm wissen. Antonio schweigt. Raphael betrachtet ihn noch einem Moment auffordernd, dann legt er den Kopf schief.

„Wolltest du mit dem Scheiß nicht aufhören?“

„Ich tu wenigstens was für mein Geld!“ Der große Mann schluckt schwer, dann verfinstert sich seine Mine. Energisch kommt er einen Schritt näher.

„Halt mal den Ball flach. Wer lässt sich denn ständig von meiner Frau behandeln, ohne dafür zu bezahlen?“ Mit der flachen Hand schlägt Raphael ihm auf den Brustkorb, direkt auf den kaum verheilten Schnitt. Antonio zieht die Luft scharf ein, rührt sich sonst aber nicht. Stur blickt er in die blauen Augen seinen Gegenübers.

„Ich habe euch nicht um Hilfe gebeten.“

„Nein, das lässt du Anette machen.“ Antonio rollt mit den Auge und sieht zur Seite weg. Tatsächlich ist es Anette gewesen, die ihn nach dem Überfall gedrängt hat, sich von Raphaels Frau behandeln zu lassen.

„Du bist ja immer noch hier, hab ich dir nicht gesagt, dass du verschwinden sollst?“, dröhnt es vom Flur. Die Tür wird bis zum Anschlag aufgezogen. Aaron tritt in den Lichtkegel, der durch den Flur ins Freie fällt. Seine buschigen Brauen sind eng zusammen gezogen, seine Augen werden von dunklen Ringen umrahmt, tiefe Falten durchfurchen das markante Gesicht. Seit Antonio ihn das letzte Mal gesehen hat, scheint er um zehn Jahre gealtert zu sein.

Raphael wirft einen letzten kommentarlosen Blick zurück, dann stopft er die Hände in die Taschen seiner Jacke und schiebt sich an Antonio vorbei. Kopfschüttelnd verschwindet er auf dem Kiesweg.

„Antonio, na endlich! Ich dachte schon Jester würde auch Heute erfolglos zurück kommen. Dich ausfindig zu machen, ist schlimmer, als einen Geist zu jagen.“ Die dunkle Stimme des Paten ist nun weich und freundlich. Er kommt die wenigen Stufen herab, die sie beide trennen, dann legt er seinen Arm über Antonios Schultern und drängt ihn zum Eintreten.

„Kommt schon rein, bevor ihr euch hier draußen noch den Tod holt“, schlägt er vor. Misstrauisch sieht Antonio zu dem alten Herrn auf. Diese Begrüßung ist ihm neu.

Der Butler geht vor und reicht seine knochige Hand in Antonios Richtung, als wenn er ihm einen Mantel oder eine Jacke abnehmen will. Antonio betrachtet ihn belustigt, schließlich winkt Jester entschuldigend ab und entkleidet sich selbst. Den schweren Stoffmantel hängt er an die vergoldete Garderobe.

„Bist du bei dem Wetter ohne Mantel unterwegs?“, will Aaron mit einem besorgten Unterton wissen. Antonio zögert einen Moment. Dem Gespräch mit Raphael nach zu urteilen, sitzt bei Aaron der Geldbeutel nicht mehr so locker, wie früher. Wenn er nicht mal seine eigene Tochter unterstützen will, ist es sicher besser, nicht den Anschein zu erwecken, ihn ebenfalls um Geld bitten zu wollen.

„Mir ist nicht kalt“, lügt er, dann lässt er seinen Blick flüchtig durch den Flur schweifen. Die Wände sind kahl, in gleichmäßigen Abständen, deuten helle Flecken auf der Tapete die Stellen an, an denen noch vor kurzem ein Bild gehangen haben muss, auch die edle Kommode, mit den Goldaufschlägen, ist weg.

„Weswegen wolltest du mich sehen?“, will Antonio endlich wissen.

„Lass uns erst mal in den Salon gehen. Am warmen Kamin, lässt es sich besser über alles sprechen.“

„Jester holst du mir inzwischen den Schlüssel, der in der oberste Schreibtischschublade“, weißt der Pate seine Butler an. Jester nickt verstehend und verlässt sie auf ihrem Weg durch den Flur. Während der alte Mann die Treppe in den ersten Stock nimmt, führt Aaron Antonio zu einer Tür, unter der ein flackerndes Licht tanzt. Als er sie öffnet, kommt ihnen wohlige Wärme entgegen. Ein knisterndes Feuer lodert im Kamin.

Beinah ist Antonio versucht, seine Notlüge von eben zu vergessen, sich direkt vor den Kamin zu setzen und die kalten Hände aneinander zu reiben. Gerade noch so besinnt er sich eines besseren, doch einen erleichterten Seufzer, kann er sich nicht verkneifen.

„Setzt dich!“, bittet Aaron und deutet auf einen der beiden Sessel. Bereitwillig lässt Antonio sich nieder.

„Willst du einen Drink?“

„Ja, sehr gern!“

Aaron umrundet das Sofa, er öffnet den großen Globus daneben und nimmt sich eine Glaskaraffe heraus. Zwei Gläser füllt er, großzügig bis weit über die Hälfte, eines reicht er Antonio, mit dem anderen lässt er sich in dem Sessel, direkt vor dem Kamin nieder. Betont langsam trinkt der Pate einen Schluck und richtet dann seinen Blick aus der Verandatür, hinaus in den Garten. Dicke weiße Flocken fallen gegen die Scheibe und überziehen den Vorgarten mit einer weiteren Schicht Schnee. Allmählich bedecken sie die Spuren der Dobermänner, die ihre Pfotenabdrücke im ganzen Gelände verteilt haben. Bei dem Gedanken an die Hunde, trübt sich Antonios Stimmung. Betreten schaut er auf die braune Flüssigkeit in seinem Glas. Scotch, das ist immer Enricos Lieblingsgetränk gewesen und das erste, dass er sich hier holte. Manchmal machte er sich nicht mal die Mühe, um Erlaubnis zu fragen. Ein bestürztes Lächeln schleicht sich in Antonios Gesicht, dass er mit einem kräftigen Schluck aus dem Glas, zu verstecken versucht.

„Der Winter ist dieses Jahr extrem hart und lang“, bricht Aaron das Schweigen. Seine Worte klingen mehr nach einer Metapher, als einer Feststellung. Der Blick des ergrauten Mannes gleitet noch immer durch den Garten. Antonio will gerade etwas erwidern, als Aaron wissen will: „Sitzen Scotch und Brandy wieder am Tor?“ Antonio nickt.

„Dass tun sie in letzter Zeit häufig“, murmelt der Pate und schwenkt gedankenverloren den Scotch in seinem Glas. Die düstere Stimmung schnürt Antonio ganz allmählich die Kehle zu. Mit Blick in sein Getränk, meint er schließlich: „Aaron, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber wozu hast du mich herbestellt?“ Der Pate ringt sich ein wehmütiges Schmunzeln ab, schließlich dreht er sich zu ihm, als er entgegnet: „Verzeih einem rührseligen, alten Mann seine Gefühlsduselei. Du hast dir sicher schon die ganze Fahrt über den Kopf zerbrochen, dann will ich dich nicht weiter auf die Folter spannen. Ich brauche dich!“

„Wofür?“ Bevor Aaron zu einer Antwort kommt, öffnet sich die Tür des Salons. Der Butler kommt herein, kommentarlos tritt er an den Sessel seines Herrn. Er überreicht ihm das Mitgebrachte und verschwindet so leise, wie er gekommen ist. Fragend betrachtet Antonio den Ring mit dem Schlüssel, den der Pate in der Hand wiegt.

„So weit ich mich entsinnen kann, bist du doch mal ein ganz passabler Dieb gewesen.“ Antonios Blick wird fragend.

„Schau nicht so skeptisch, du bist der Einzige, der dort lebend rein und wieder raus kommt!“

„Dort?“

Auf dem faltigen Gesicht des Paten bildet sich ein verschwörerisches Lächeln. Er wirft Antonio den Schlüssel über den Tisch zu.

„Das ist der Schlüssel für den Aufzug im Hochhaus der Drachen!“ Antonios Augen weiten sich. Mit diesem Schlüssel ist es möglich, bis ins oberste Stockwerk des Feindes einzudringen. Damit kommt er ins Büro des Schweins, das seinen Freund auf dem Gewissen hat. Diabolische Freude schleicht sich in sein Herz. So nah ist er dem Chef der Red Dragons in den letzten vier Jahren nicht mehr gekommen. Obwohl Antonio sich in ihrem Hauptquartier bestens auskennt, immerhin ist er selbst einmal ein Drache gewesen, ist er stets an dieser Barriere gescheitert.

„Ich bin es so leid Michaels fieses Grinsen ertragen zu müssen, wenn wir an der Vitrine vorbei kommen, um übers Geschäft zu sprechen“, fährt der Pate fort.

„Vitrine?“ Aaron holt Luft für eine Antwort, doch Antonio fällt ihm ins Wort: „Moment mal, Geschäft? Du arbeitest mit diesem Schwein zusammen?“ Fassungslos sieht er in das faltige Gesicht, seine Hände ballt er zu Fäusten.

„Das lässt sich nicht vermeiden“, entgegnet Aaron mit mahnendem Blick. Antonio steht keine Kritik an ihm zu, doch dieses Mal gelingt es ihm nicht, still zu bleiben.

„Der Dreckskerl hat Enrico und die Hälfte unserer Leute auf dem Gewissen!“, schreit er.

„Glaubst du das weiß ich nicht? Glaubst du ich würde ihn nicht ebenfalls umlegen wollen, wenn mir nicht die Hände gebunden wären?“

„Mit was sollte er dich schon erpressen? Du bist der Pate der italienischen Mafia!“, bricht es aus Antonio heraus. Kraftvoll schlägt er auf die Platte des Marmortisches.

„Setz dich!“, fordert Aaron streng.

„Mit was erpresst er dich?“, will Antonio wissen und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Das braucht dich nicht zu interessieren.“

„Ich soll dir doch helfen oder nicht?“

„Aber nicht dabei!“ Antonio wendet sich vom Sessel des Paten ab. Immer wieder muss er tief durch atmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Wie kannst du nur mit dem Schwein … ich fasse es nicht“, murmelt er in sich hinein. Die Gang, die für Aaron die Drecksarbeit erledigt hat, die einzige Familie, die Antonio je hatte, ist von den Drachen ausgelöscht worden.

„Ich weiß dass das ein Schock für dich sein würde, aber ich brauche dich jetzt. Michael vertraut drauf, dass er mich in der Hand hat, nutzen wir das für uns.“

„Willst du das ich ein Attentat auf den Chef der Red Dragons verübe?“

„Nein! Wenn du Michael erschießt, nimmt jemand anderes seinen Platz ein, von dem wir nicht wissen, wie er tickt.“

„Du erwartest also von mir, dass ich bei den Drachen einsteige und dir etwas besorge und den Scheißkerl am Leben lasse? Bist du verrückt geworden?“

„Du wirst deine Chance auf Rache noch bekommen, wenn die Zeit reif ist und ich es dir sage!“ Drohend erhebt Aaron sich, sein Glas stellt er klangvoll auf den Tisch ab.

„Und wenn ich nicht so lange warten kann?“

„Dann bekommen wir ein Problem miteinander!“, durchdringend sieht der Pate ihn an, „Antonio!“ Antonio seufzt und wendet seinen Blick ab. Wenn er jetzt nicht nach gibt, dann findet Aaron einen Weg ihn aufzuhalten, notfalls lässt er ihn einfach erschießen. Er kann nicht riskiere das Wohlwollen des Paten zu verlieren. Ohne Antonio, kann Anette die Miete nicht zahlen, die Tochter nicht durchbringen. Seine Rache wird warten müssen. Seufzend verlangt Antonio zu wissen: „Was soll ich dir beschaffen?“ Die eisigen Gesichtszüge des Paten, tauen allmählich wieder auf.

„Stehle die Pistole des Anführers der Wölfe!“

„Der Dreckskerl hat Enricos Waffe?“

„Ja, er stellt sie wie eine Trophäe, in einer Vitrine, in seinem Büro aus.“ Überrascht sieht Antonio vor sich hin. Er hat angenommen, dass sie mit allem anderen in der Lagerhalle verbannt ist. Die Waffe zurückzubekommen, überhaupt mal wieder etwas in Händen zu halten, dass seinem toten Freund gehört hat, klingt reizvoll und trotzdem: „Was willst du mit dem alten Ding?“

„Du sollst sie nehmen.“ Antonios Augen weiten sich.

„Aaron … nein! Ich … ich kann nicht … ich“

„Doch, du trommelst den alten Clan zusammen. Du weist wohin sie sich alle zerstreut haben, zu dir halten sie Kontakt. Dir werden sie folgen.“

„Nein! Nein! Nein!“, protestiert Antonio, „Aaron bitte, tu mir das nicht an! Ich habe eine dreijährige Tochter. Die Drachen jagen uns jetzt schon von einem Unterschlupf zum Nächsten. Ich schlafe mit der Pistole unterm Kopfkissen, wenn ich überhaupt mal ein Auge zu mache. Bitte, ich mach alles andere. Plan mich wieder für Auftragsmorde ein, meinetwegen für Botengänge, oder sonst was, aber lass mich da raus!“ Verzweifelt, einem Tier im Käfig gleich, wandert Antonio im Salon auf und ab. Aaron beobachtet ihn wortlos, sein Blick verliert an Ernsthaftigkeit und wird zunehmend sanfter.

„Du hast ne harte Zeit hinter dir, was?“ Ungläubig sieht Antonio den alten Mann an. Der Pate betrachtet ihn mit fürsorglichem Blick. Hinter einem der Sessel hält Antonio an und stemmt sich erschöpft auf die Rückenlehne.

„Du machst dir kein Bild“, klagt er. All die Momente, die sie nach dem Brand in der Lagerhalle, kein Dach mehr über dem Kopf hatten, als er und Anett sich in finsteren Gassen herumtrieben. Die ständige Furcht in ihrem Schatten, könnte sich einer dieser Drachen aufhalten und ihm oder seiner Familie auflauern. Er hat schon aufgehört zu zählen, wie oft sie versucht haben, sein Kind zu entführen. Das alles lässt sich nur irgendwie aushalten, in dem er selbst auf die Jagd geht und den Spieß umdreht.

Aarons Schritte nähren sich ihm, seine schaufelartige Hand, legt er Antonio auf die Schulter.

„Es war kein Befehl Antonio, sondern eine Bitte! Denke darüber nach. Du bist der einzige Mann, in meinen Reihen, dem ich das Erbe meines Schwiegersohns, guten Gewissens, anvertrauen kann.“ Antonio seufzt schwer.

„Ich besorge dir die Waffe, ich ruf auch noch das Rudel zusammen, wenn es sein muss, aber zwing mich nicht, in Enricos Fußstapfen zu treten. Ich kann ihn nicht ersetzen. Ich bin nicht, wie er.“

„Stell dein Licht nicht immer so unter den Scheffel, du bist mindestens genau so viel Wert, wie er. Mein Angebot steht auch weiterhin. Denk einfach noch mal in Ruhe darüber nach.“

~Enrico, der weiße Wolf~

„Toni, nein!!!“ Schweißgebadet blicke ich in einen dunklen Raum. Die Hitze des Feuers hüllt mich noch immer ein und frisst sich durch meine Waden. Ich ziehe die Beine eng an den Körper und umschlinge sie mit den Armen. Selbst durch die Decke und den Schlafanzug hindurch, spüre ich die vernarbte Haut.

„Es war nur ein Traum!“, versuche ich mir einzureden und wiege mich selbst vor und zurück. Völlig außer Atem, ringe ich nach Luft, als wen der heiße Qualm noch in meinen Lungen brennen würde.

Eine Hand tastet nach mir, sie berührt mich am Oberschenkel und lässt mich erschaudern.

„Schon gut … alles gut!“, nuschelt meine Frau im Halbschlaf. Die Konturen ihres Gesichtes und ihre langen Haare, heben sich von dem weißen Kissen ab. Sie hat noch nicht einmal die Augen geöffnet. Es ist schon das dritte Mal diese Nacht, dass ich so aus dem Schlaf hochschrecke. Noch einmal drückt sie sacht gegen mein Bein, dann gleitet ihre Hand von meinem Schenkel. Ihr gleichmäßiger Atem füllt unser Schlafzimmer, sonst ist da nichts. Kein Licht, nur Dunkelheit, die mich allmählich zu verschlucken beginnt. Ich muss hier raus. Schwerfällig kämpfe ich mich an den Rand des Bettes. Die Haut an meinen Beinen spannt, die Muskeln darunter gehorchen mir nicht. Genervt schaue ich an mir hinab. Ich will nicht mehr in diesen verdammten Stuhl. Abschätzig richte ich meine Aufmerksamkeit auf ein Schatten mit Rädern, auf der anderen Seite des Raumes. Es ging die letzten Tage doch auch ohne das Ding. Dieser verdammte Körper hat zu tun, was ich ihm sage. Komm schon!

Endlich rührt sich mein rechtes Bein, ich kann es vom Rand des Bettes schieben. Die selbe Geduld bringe ich für das Linke nicht auf, ich schiebe es mit der Hand nach. Als meine Zehen den kalten Boden berühren, beginnen meine Waden zu zucken. Das taube Gefühl in meinen Muskeln löst sich, wird von Stichen, wie durch tausend Nadeln, ersetzt. Ich ziehe die Luft scharf ein und beiße die Zähne fest aufeinander. Wenn ich jetzt schreie, wird Robin wach werden und mich zurück ins Bett zerren. Dann komm ich hier nie weg. Ich zwinge mich zum Aus- und Einatmen. Der Schmerz wird erträglicher, ich wage den Versuch und drücke mich vom Bettrand. Keine helfenden Hände, keine mitleidigem Blicke, ich habe es ganz allein geschafft. Zufrieden richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Tür. Ich will loslaufen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Diese verdammte Lähmunh. Tagsüber funktioniert das deutlich besser. Am besten ich lege mich nie wieder hin. Ich brauch meine ganze Konzentration, um endlich einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch mit jedem Schritt, wird es leichter. Als ich die Tür endliche erreiche, fühle ich mich sicher genug, auch den restlichen Weg allein zu bewältigen. So leise, wie möglich, öffne ich die Tür und spähe in den Flur. Auch hier ist alles dunkel, keiner ist mehr wach. Ich schleiche durch die Wohnstube, bis zur Verandatür, einen letzten Blick werfe ich zurück. Keine schnellen Schritte eilen mir nach, kein Lichtschein unter den Türen der Gästezimmer.
 

Ein eisiger Wind empfängt mich, als ich die Tür öffne, er schlägt mir ins Gesicht und beißt sich in meine Wangen. Endlich mal keine überheizten Räume und ganz besonders, weit und breit kein Bett oder Rollstuhl. Ich taste mich mit blanken Füßen durch nasses Gras. Die Halme kitzeln zwischen meinen Zehen. Wer hätte gedacht, dass ich das jemals wieder fühlen kann. Zufrieden taste ich mich durch die Nacht. Ich taumle von einem Bein auf das andere und brauch immer wieder eine kurze Pause, um die Kraft für den nächsten Schritt zu finden. Stur halte ich meinen Blick nach vorn gerichtet. Ich will wenigstens bis zum Rand der Klippe kommen, um endlich wieder das Meer zu sehen. Das Rauschen der Wellen lockt mich weiter, bis ich es endlich sehen kann. Spitze Felsen ragen hervor, der tosende Wind peitscht hohe Wellen gegen die Klippe. Wasser spritzt hinauf und ist doch so weit da unten, dass mich kein Tropfen erreicht. Bei dem Blick in die Tiefe, überkommt mich Schwindel. Der fehlende Halt auf meinen Beinen, verstärkt den Effekt. Ich lasse mich ins Gras sacken. Mein Puls schlägt mir bis an den Hals, mein Atem kratzt rau durch die Lunge, Schweiß tropft mir von der Stirn, doch die Anstrengung hat sich gelohnt. Ich genieße den kalten Wind, der sich durch den dünnen Stoff meines Schlafanzuges frisst. Er nimmt die Hitze des Feuers meines Traums mit sich, nicht aber die Erinnerung. Warum träume ich nur immer zu davon? Gibt es denn nichts anderes, aus meinem alten Leben, das es wert wäre, sich zu erinnern? Um mich von den schrecklichen Bildern abzulenken, schaue ich die Klippe hinab.

Irgendwo habe ich das schon mal gesehen, Wellen die gegen Steine schlagen, das schäumende Meer, aber es war nicht so weit weg, man konnte viel näher heran. Da war ein Haus, ein Haus auf einer Insel. Irgendwer wohnte dort, ein Schatten ohne Namen. Ein heftiger Schmerz zuckt durch meinen Kopf und sticht sich in meine Schläfen. Ich packe mir in die Haare und presse meine Hände gegen die Stirn.

„Verdammt!“ Ich kann mich nicht erinnern, alles ist verschwommen. Keiner dieser Schatten aus meiner Vergangenheit hat klare Umrisse. Nur dieses eine Gesicht, hat sich offenbar so tief in meinen Geist eingebrannt, dass es der Amnesie trotzen kann.

„Toni, wer bist du?“, hauche ich in den kalten Wind. Ständig schwirrt mir dieser Name durch den Kopf. Mehr nicht, keine Geschichte, keine weiteren Bilder nur ein seltsam, nagendes Gefühl. Gibt es denn nur diese Erinnerung an Feuer in mir, an schreiende Menschen, die ermordet werden. Auch sie sind nur Schatten ohne Namen, ohne Geschichte. Ich kann mich nicht mal an meine Frau erinnern, oder die beiden Männer, die bei uns wohnen. Wenn sie mir nicht so oft von sich erzählt hätten, ich wüsste heute noch nicht, wer sie sind. Warum nur ist es ein einziger Name, an den ich mich erinnern kann, der Einzige an dem mir irgendetwas liegt? Oder lag? Bei uns ist kein Toni und in meinen Träumen stirbt dieser Mann immer. Sicher ist er tot, der einzige Anhaltspunkt, den ich habe, ist einfach tot. Ich seufze und ziehe die Beine eng an den Körper, den Kopf bette ich auf meinen Knien und schließe die Augen. Neben dieser völligen Leere in mir, muss es doch noch etwas anderes geben.
 

“Schatz? Was machst du hier? Wie bist du denn bis hier her gekommen?”, tönte eine Frauenstimme hinter mir. Ich fahre zusammen.

Sie kniet sich hinter mich, ihrer Arme legt sie um mich, ihr warmer Busen drängt sich mir in den Rücken. Wie ein zu schwerer Mantel, hüllt sie mich ein.

“Du bist eiskalt!”, haucht sie mir ins Ohr. Ich reagiere nicht. Mir ist nicht kalt. Ich genieße die frische Luft.

“Komm wieder mit rein. Ich bitte dich!”, ruft sie mich wieder und wieder an. Ich bleibe stumm. Ihre Arme zittern, ihre Zähne beginnen zu klappern, die Haare an ihrem Unterarm stellen sich auf.

“Bitte”, flüstert sie wieder. Robin wird nicht gehen, bis ich mit ihr komme, aber ich rühre mich nicht. Ich spüre nichts bei dem Gedanken, dass sie meinetwegen friert, sich um mich sorgt. So sehr ich mich auch bemühe, sie bedeutet mir nichts. Wie ich sie habe heiraten können, ist mir schleierhaft. Dabei bemüht sie sich wirklich um mich, liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Warum nur bekomme ich kein Gefühl für sie, wo wir doch angeblich schon so lange verheiratet sind?

Der Sturm wird stärker, Wolken verdecken die aufgehende Sonne. Die See wirft sich gegen die Klippen, das Getöse wird lauter.

“Liebling, bitte! Steh doch auf! Du machst mir Angst, wenn du so leer vor dich hinstarrst.” Robins Stimme ist lauter geworden, ihre Worte verschwimmen, heiße Tränen fallen mir auf die Schulter.

Kann sie nicht endlich aufhören, mich zu lieben und sich um mich zu sorgen? Dann müsste ich nicht mehr so ein schlechtes Gewissen haben, so gar nichts zu fühlen, wenn ich sie ansehe.

Schritte kommen auf uns zu. Ich erkenne Jan schon an seinem leichtfüßigen Gang, noch bevor ich seine Stimme hören kann: “Robin, lass gut sein! Mit ihm zu reden ist Zeitverschwendung. Lass mich das machen!”

“Komm schon! Steh auf!”, wendet er sich schroff an mich. Ich reagiere nicht, auch nicht, als er vor mir stehen bleibt. Er beugt sich zu mir herab, seine Hand packt meinen Unterarm, fest drückt er zu und zieht mich mit einem Ruck auf die Beine. Hasserfüllt betrachte ich ihn. Wenn er nicht augenblicklich loslässt, dann …

Jan hält meinem finsteren Blick stand, er blinzelt nicht einmal. Ohne ein Wort, zieht er mich mit sich. Mehr schlecht als recht, stolpere ich ihm hinter. Robin folgt uns langsamen Schrittes und zieht ihren Morgenmantel enger um sich. Die letzten Wochen haben sie verändert. Ihre seidigen Haare sind stumpf geworden, ihre Augen glanzlos. Ob ich daran schuld bin? Ich schüttle diesen Gedanken ab, während ich Jan ins Haus folgte. Niemand zwingt sie, ihn und Lui bei mir zu bleiben. Mir wäre sowieso lieber, sie würden alle verschwinden und ich müsste nicht mehr so tun, als wenn ich mich an eine Vergangenheit mit ihnen erinnern kann.
 

Als wir das Haus betreten, schlägt mir die warme Luft, wie eine Wand entgegen und nimmt mir den Atem. Im Kamin knistert ein Feuer. Augenblicklich sehne ich mich nach dem eisigen Wind und sehe zu den Klippen zurück, doch Jan schleift mich erbarmungslos weiter. Er schubst mich in einen der Sessel und lässt mich wortlos zurück. Mit beiden Armen versuche ich mich wieder hoch zu drücken, doch es geht nicht. In meinem ausgekühlter Körper, habe ich keine Kraft mehr.

Robin schließt die Verandatür, ihr Lächeln ist aufgesetzt und wirkt quälend. Ich rolle mit den Augen. Mit langsamen Schritten kommt sie auf mich zu, ihr Lächeln wird sanfter. Vom Sofa nimmt sie eine flauschige rote Decke. Warnend beobachte ich sie.

Robin breitet die Decke vor mir aus und wickelt sie um mich, dann geht sie in die Knie und legt mir ihre Hände in den Schoss.

“Ich mach dir einen heißen Tee, ja? Dann wird dir schnell wieder warm.” Sie wartet einen Moment auf eine Reaktion von mir. Ich bemühe mich an ihr vorbei zu sehen. Wer bin ich eigentlich inzwischen für sie? Ihr Kind? Ich brauche keinen Tee und keine Decke. Hier drin ist es heiß genug. Das Leben kommt bereits in meine Gliedmaßen zurück. Die Wärme beißt sich mit scharfen Zähnen in meine Haut, meine Finger beginnen zu kribbeln, dann brennen sie wie in flüssiges Eisen getaucht. Ich beiße mir fest auf die Zähne, um nicht schreien zu müssen. Robin erhebt sich hastig.

“Ich weiß schon, deine Beine. Ich hol dir deine Medikamente.” Nichts weiß sie! Die Schmerzen meines Körpers sind mir egal, mit denen kann ich leben. Ich lege den Kopf zurück und schließe die Augen, einige Male atme ich tief durch. Das Stechen in meinen Gliedern wird erträglicher, ganz ohne Schmerzmittel.

Die Bilder, die ich Nachts sehe, sind es, die mir zu schaffen machen. All diese gesichtslosen Toten, ich höre ihre Schreie auch jetzt in meinem Kopf widerhallen. Warum müssen es, von all den Erinnerungen an mein altes Leben, ausgerechnet diese sein, die ich wiedererlanget habe. Hab ich denn gar nichts schönes erlebt?
 

Robin kommt zurück, sie drückt mir eine Tasse Tee und eine Tablette in die Hand. Ich sehe auf die braungrüne Flüssigkeit und atme den minzigen Geruch. Augenblicklich wird mir schlecht. Immer bringt sie genau diesen Tee an, dabei mag ich gar keine Pfefferminze.

“Bitte versuche ihn! Wenigstens die halbe Tasse!”, bittet sie, als ich nicht trinke. Wortlos betrachte ich die Tasse.

“Na gut, dann eben später”, redet sie mit ihrer Engelsgeduld auf mich ein. Woher nimmt sie die überhaupt? Ich an ihrer Stelle, hätte sie längst verlassen. Wieder überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Bin ich wirklich so kalt? War ich schon immer so, oder ist das erst seit der Amnesie der Fall? Als Robin in der Küche verschwindet und wie jeden Morgen das Frühstück für uns zubereitet, sehe ich ihr nicht nach.
 

Die Haustür wird aufgeschlossen.

“Ich bin wieder da!”, schalt es aus dem Flur. Gedankenverloren nehme ich einen Schluck aus der Tasse. Der bittere Geschmack lässt mich den Kopf schütteln. Nein, das Zeug kann ich nicht gemocht haben.

“Robin, schau dir das mal an!” Lui kommt mit einem Päckchen unter den Arm zu uns, als er das klapper von Geschirr hört, verschwindet er in der Küche.

“Ohhhr, wie Süß!”

“Glaubst du der ist was, für unseren Griesgram?” Ich rolle mit den Augen. Was erwarteten sie eigentlich? Das ich, nach allem was passiert ist, fröhlich durch die Zimmer springe? Sie haben mich angelogen. Es war kein Unfall, der meine Beine so entstellt hat. Meine Träume sind der beste Beweis. Inzwischen haben sie es sogar zugegeben. Trotzdem wollen sie mir über die Einzelheiten keine Auskunft geben. Ich soll erst richtig gesund werden, heißt es dann. Dieses verlogene Pack. Wie kann ich mir sicher sein, dass überhaupt irgendetwas von dem stimmt, was sie mir erzählt haben?

“Sicher! Scotch und Brandy hat er doch auch gemocht.“ Alkohol? Das klingt gut. Auf jeden Fall besser als das Gesöff hier. Ich schwenke den Tee in der Tasse und rümpfe die Nase. Ein Glas Scotch wäre wirklich mal eine willkommene Abwechslung. Bei dem bin ich mir auch ganz sicher, dass ich ihn mag.
 

Aus dem Nichts erscheint vor mir ein brauner Karton, mit Löchern im Deckel. Ich schrecke aus meinen Gedanken und sehe an dem Karton vorbei zu Lui auf.

“Hier! Das lag vor unserer Tür”, erklärt er und lässt das Paket in meinen Schoss fallen. Es ist schwer und irgendetwas bewegt sich darin. Suchend sehe ich an dem Karton vorbei. Wo ist die Flasche Scotch und der Brandy? Misstrauisch richte ich meinen Blick auf Lui. Das hat nie und nimmer vor unserer Tür gelegen. Wer soll es hier abgelegt haben? Im Umkreis von zwanzig Kilometern, wohnen nur wir Vier. Was immer das ist, Lui hat es mit voller Absicht besorgt und hier her gebracht.

Lui betrachtet mich erwartungsvoll. Ich zwinge mir ein gespieltes Lächeln ins Gesicht und hebe den Karton von meinem Schoss, die Arme strecke ich weit aus, gewillt ihn vor mir auf den Boden fallen zu lassen, also auf einmal der Deckel abhebt. Zwei blaue Knopfaugen starren mich an, eine rote Zunge hängt weit aus dem Maul heraus. Speichel läuft in einem langen Faden an ihr herab. Ich hebe eine Augenbraue, während der Deckel vom Kopf des Tieres fällt. Spitze Ohren kommen zum Vorschein, ein graues Fell bedeckt das rundliche Gesicht und zeichnet es, wie eine Maske. Große Pfoten lehnten sich auf den Rand des Kartons, eine kalte Nase berührt meine Wange.

Ein stinkender Hund! Hätte es nicht wenigstens eine Katze sein können? Ich halte den Karton weite von mir weg und lasse ihn fallen. Unsanft landet das Paket samt Köter auf dem Boden. Der Welpe purzelt heraus und verschwindet irgendwo unter der Couch. Ich stemme mich mit den Armen aus dem Sessel und stehe auf, die Decke gleitet an mir herab. Entsetztet schauen mich meine Freunde an. Ich bin nicht der, für den sie mich halten und ich bin es leid, mir einreden zu lassen, wer ich sein soll. Ohne ein Wort lasse ich sie stehen und verschwinde ins Schlafzimmer, lautstark werfe ich die Tür nach mir zu.

~Mitternacht~

Gedankenverloren sitzt Antonio am Rand seines Bettes und betrachtet die kahle Wand. Anette ist gerade aufgestanden, um ihm einen Tee zu machen. Er hat sich für heute Krank gemeldet und ihr eine Grippe vorgespielt. Als sie auf dem Herd einen Topf Wasser aufsetzt, zieht Antonio einen Briefumschlag aus der Hosentasche. Er öffnet ihn und betrachtet die Geldscheine darin.

Anette hat so lange dafür gekämpft, dass er den Ausstieg aus dem organisierten Verbrechen schafft und er ist dabei, das alles mit Füßen zu treten.

Sein Blick wandert zu seiner Tochter. Kira spielte auf dem Boden mit ihrer Puppe. Er hat ihr mit einfachen Brettern ein Puppenhaus gezimmert und etliche Möbel dazu geschnitzt. Eigentlich wollte er es längst gestrichen und ihr eine neue Puppe gekauft haben. Dieser fehlen die Haare, das Kleid ist alt und löchrig. Kira hatte sie schon, seid sie auf der Welt ist. Das Mädchen führt die Puppe über einen roten Teppich, aus einem alten Stofffetzen und versteckte sie dann unter dem Bett. Streng weist sie sie an: “Da musst du jetzt bleiben, und ganz still sein!” Den Finger legt sie sich auf die Lippen.

„Pissht!“, pustet sie.

Antonio erkannt sich selbst in ihr. Seit Kira laufen kann, hat er diese Anweisung viel zu oft geben müssen. Unzählige Male sind sie in ihrem eigenen Apartment überfallen worden. Viel zu oft musste er sich und seine Familie in dunklen Gasen und Hinterhöfen verstecken. Das alles muss ein Ende habe, ein für alle mal. Wenn er schon selbst nicht für ausreichend Sicherheit sorgen kann, dann muss das eben der Pate für ihn übernehmen. Aaron hat ihm versprochen, für Kira und Anette zu sorgen, sollte ihm etwas zustoßen. Der Briefumschlag ist ihre Absicherung. Auch wenn er dafür ins Hauptquartier des Feindes muss, auch wenn er dafür wieder als Auftragskiller oder gar als Chef der Wölfe agieren muss, er hat sich entschieden. Nie wieder soll seine Familie frieren oder Hunger leiden müssen. Anette braucht dringen mehr Ruhe. Die Doppelschichten im Krankenhaus haben aus ihr ein dürres Gerippe, mit strohigem Haar gemacht. Aus Sorge, dem Kind könnte es an etwas fehlen, isst sie oft selbst nichts und überlässt ihre spärlichen Mahlzeit der Tochter.

Antonio steht auf, einen letzten Blick wirft er in die Küche. Anettes Augen sind rot und fallen ihr immer wieder zu, sie gähnt herzhaft. Eindringlich hat er sie gebeten, heute mal nicht die Nachtschicht auf ihrer Station anzutreten, doch sie hat nur versöhnlich gelächelt und ihm versichert, dass es ihr gut gehe. Antonio wirft ihr einen letzten besorgten Blick zu, dann tritt er an das Puppenhaus seiner Tochter. Den Umschlag legt er auf das flache Dach. Fragend schaut Kira zu ihm auf. Antonio zwingt sich zu einem Lächeln.

“Gib den deiner Mutter, wenn sie aus der Küche kommt!”, trägt er ihr auf. Kira nickt, ohne Fragen zu stellen. Sie ist mit Abstand das Beste, dass er je zu Stande gebracht hat. Sanft streicht er ihr über den Kopf und gibt ihr einen Kuss auf die goldenen Locken, dann verlässt er wortlos das Apartment.
 

Antonio muss die U-Bahn nehmen, um in den Stadtteil der Drachen zu gelangen. Der Feierabend, füllt die Bahn mit Menschenmassen. Als er die Haltestelle erreicht, sind die Straßen ebenfalls überfüllt. Menschen hassten an ihm vorbei, keiner nimmt Notiz von ihm. Bald schon kann Antonio das Hochhaus in der Ferne sehen, doch anstatt direkt darauf zuzuhalten, biegt er einen Block vorher ab. Durch die Dunkelheit von Hinterhöfe, vorbei an Mülltonen und vergessenen Holzkisten, führt ihn sein Umweg in eine enge Gasse. Hierher verirrt sich für gewöhnlich niemand. Schon als Kind ist er auf diesem Weg, keiner Menschenseele begegnet. Hoffentlich passt er noch durch das Loch im Zaun. Als er den Bretterverschlag erreicht, sieht er sich noch einmal nach allen Seiten um. Die finstere Gase ist leer, es sind keine Schritte zu hören, nur ein Hund bellt irgendwo in der Ferne.

In einer Dose, zwei Schritte entfernt, bewegt sich etwas. Sie rollt bis an den Bretterzaun. Aus ihrem Inneren springt eine fette Ratte. Sie rennt ihm über die Schuhe und verschwindet in der Dunkelheit. Antonio greift sich ans Herz. Heftig pulsiert das Blut in seinen Venen. Er braucht einen Moment, um weiter gehen zu können.

Es fehlt noch immer eine Latte im Bretterverschlag. Die Lücke erscheint ihm Heute viel kleiner, als in seiner Erinnerung. Ein Glück hat er selbst in den letzten Wochen nur wenig gegessen, um zu gewährleisten, dass Kira satt wird. Sein Körper ist abgemagert genug, um sich gerade so hindurchzuzwängen.
 

Das Fenster, auf das er es abgesehen hat, ist auch heute wieder offen. Fred, der Küchenchef, arbeitet offensichtlich immer noch hier. Vielleicht hat er jetzt einen neuen Schützling, dem er ein paar Reste in der Spüle übrig lässt. Dieser gutherzige, alte Mann. Sehr oft hat er Antonio etwas zugesteckt, wenn er mal wieder zu spät von einem Auftrag zurück war und zur Straffe nicht zu essen bekam.
 

Antonio tritt mit dem rechten Bein voran durch das offene Fenster.

“Was machst du Idiot da?” Er fährt herum. Im Zwielicht der schwachen Straßenbeleuchtung, kann er die Umriss einer Gestalt erahnen. Sie ist durchscheinend und verschwimmt beim Näherkommen.

Antonio blinzelt. Die Gestalt löst sich auf, nur ihre Worte klingen in seinem Kopf nach. Verdammt, er muss wirklich mal wieder eine Nacht durchschlafen. Seufzend lässt er sich in den finsteren Raum hinab. Es riecht nach geräuchertem Fisch und Käse. An Hacken hängen Würste von der Decke, Regale sind mit Gläsern voll unterschiedlichster Zutaten gefüllt.

“Nicht schlecht. Schau dir das an! Edelsalami und Fleur de sel. Die lassen es sich wirklich gutgehen.” Antonio sieht sich nach allen Seiten um. Schon wieder diese Stimme. Ein neblige Schatten, hält eine der Würste in der Hand und schaut in seine Richtung. Ein breites Grinsen ziert die verschwommen Mundwinkel, als die Erscheinung vorschlägt: “Vielleicht sollten wir uns den Bauch vollschlagen, bevor wir uns erschießen lassen. Du siehst so aus, als wenn du es brauchen könntest.” Antonio reibt sich über die Augen, doch dieses mal verschwinden die Umrisse seines Freundes nicht.

“Was schaust du so ungläubig? Glaubst du ich lass mir dieses Himmelfahrtskommando entgehen? Bis in den Tod und wieder zurück! Schon vergessen?” Antonio hat das Versprechen ihrer Kindheit nicht vergessen, aber das hier, ist verrückt.

Die Salami beginnt zu pendeln, der schemenhafte Umriss verschwindet. Antonio läuft zum Hacken. Noch immer schwingt die Wurst vor und zurück. Als er sieh berührt, fühlt sie sich warm an. Er schüttelt sich die Verwirrung aus dem Kopf. Noch eine schlaflose Nacht und er kann sich in ein Irrenhaus einweisen lassen.

Krampfhaft bemüht er sich darum, seine Konzentration zurückzugewinnen, um sich der Küchentür zu nähern. Vorsichtshalber zieht er seine Waffe und entsicherte sie. Er legte seine Hand auf die Klinke.

“Die kannst du wieder wegstecken, da ist niemand vor der Tür”, spricht jemand direkt in seinen Ohr. Antonio ist sich sicher, den warmen Hauch eines Atemzuges, gespürt zu haben. Ein eisiger Schauer rinnt ihm den Rücken hinab.

“Verdammt noch mal! Lass das gefälligst!”, verlangt er.

„Soll ich dir nun helfen oder nicht?“

„Du bist tot, du bist keine Hilfe.“

„Ach wirklich? Gut zu wissen.“

Wenn ihn Enricos Geist schon begleiten muss, kann er dann nicht wenigsten still sein? Antonio atmete tief durch. Hoffentlich ist er der Einzige, der die Stimme seine Freundes hören kann, sonst erreicht er das Büro des Chefs nie lebend.
 

Vorsichtig öffnet Antonio die Tür. Mit vorgehaltener Pistole sieht er sich in dem finsteren Raum um. Niemand ist hier, nur ein paar Tische und hochgestellte Stühle.

Auf leisen Sohlen schleicht er bis zur nächsten Tür. In ihr ist eine runde Glasscheibe eingelassen, durch die man den Flur, auf der anderen Seite, einsehen kann. Antonio hat sie fast erreicht, als die Gestalt Enricos erneut vor ihm erschien. Er hat den Zeigefinger an die Lippen gelegt.

Antonio stutzt und hält inne. Schritte bewegen sich im angrenzenden Flur, sie kommen immer näher. Ein Lichtkegel tanzt durch die Scheibe, zu ihm in den Raum. Antonio weicht zur Seite aus und drückt sich eng gegen die Wand neben der Tür. Er hält den Atem an.

Enrico ist wieder verschwunden, dafür blickt der Umriss eines asiatischen Gesichts durch die Scheibe. Ein finsteres Augenpaar schaut sich suchend um. Antonio umklammern den Griff des Revolvers, sein Zeigefinger liegt locker auf dem Abzug. Die Klinke bewegt sich, die Tür wird einen Spalt weit aufgeschoben.

Ein blechernes Geräusch durchdringt die Stille, der Wachmann hält inne. Das Licht der Taschenlampe verliert sich, die Schritte des Mannes entfernen sich.

„Hallo, ist hier jemand?“, ruft er in die Dunkelheit. Stille.

„Seltsam“, fügt der Wachmann an.

Vorsichtig spät Antonio durch die Scheibe. Der Mann bückt sich nach etwas und richtet es auf. Der Kegel seiner Taschenlampe tastet den Flur ab. Niemand ist bei ihm. Während er einen Servierwagen ausleuchtet, kratzt sich der Wachmann am Kopf, schließlich setzt er sich wieder in Bewegung. Langsamen Schrittes verschwindet er auf dem Flur. Der Schein seiner Taschenlampe, verliert sich in der Ferne. Antonio lehnt den Kopf gegen die Wand und atmet durch.

„Willst du hier Wurzeln schlagen?“ Antonio verschluckt seinen Atemzug. Schon wider, ist ihm diese vertraute Stimme, so nah. Verflucht noch mal! Dieser elende Mistkerl, scheint es auch noch zu genießen, ihn zu erschrecken. Endlich gelingt es Antonio, sich von der Wand zu löse und durch die Tür den Flur zu betreten. Leichtfüßig schleicht er bis zum Servierwagen.

“Als Poltergeist mach ich mich gar nicht mal so schlecht, was?”, lacht Enrico, ohne das Antonio seine Gestalt irgendwo ausmachen kann.

„Du bist das gewesen?“, murmelt er in die Dunkelheit, doch es kommt keine Antwort zurück. Nichts, keine schemenhafter Umriss, kein Geräusch.

Alles nur Einbildung, er Halluziniert, ganz sicher. Zu wenig Schlaf, zu wenig gegessen, das muss es sein. Sollte Antonio diesen Auftrag überleben, wird er umgehend ins Bett verschwinden, nimmt er sich fest vor.

Totenstille begleitet ihn, auf seinem Weg, durch den leeren Flur. Etliche Türen gehen rechts und links von ihm ab, doch hinter keiner ist ein Geräusch zu hören.

“Gespenstig, was?” Antonio zuckt zusammen, scharf entweicht die Luft seiner Lunge.

“Du bist hier das einzig Gespenstige!”, mault er.

Antonio erreicht den Fahrstuhl und schiebt vorsichtig das Gitter auf. Das Metall knarrt. Verstohlen blickt er sich um. Keine Schritte, alles bleibt still. Er wagt es das Gitter ganz zu öffnen und einzusteigen. Das Licht, im Inneren der Kabine, blendet ihn, er muss immer wieder blinzeln. Nur schemenhaft, kann er das Schlüsselloch unter der Tastatur ausmachen. Er brauch mehrere Anläufe, bis sein Schlüssel den richtigen Weg findet. Neunundzwanzig, wo ist der verdammte Knopf mit der Neunundzwanzig? Nachdem er ihn endlich gefunden und gedrückt hat, schließt er das Gitter. Der Fahrstuhl zieht an, ein Ruck geht durch die Kabine.
 

Ganz langsam gewöhnen sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse. Im Spiegel, der ihn von allen Seiten umgibt, kann Antonio sich selbst sehen. Neben ihm bildet sich der verschwommen Umriss seines Freundes. Er betrachtet nachdenklich die Kabinentür. Antonio schaut neben sich, doch der Platz ist leer. Lediglich im Spiegel zeigt sich die Gestalt Enricos.

“Hast du eigentlich schon einen Plan, wie wir hier wieder raus kommen?”, will er wissen. Antonio hebt eine Augenbraue. Enrico ist ein Geist, er braucht nur durch die Wand schwebe, um zu verschwinden, oder nicht? Als er keine Antwort gibt, starren ihn die eisblauen Augen des Freundes mahnend an.

„Du hast aber nicht vor Michael umzulegen, oder?“

„Wenn er mir über den Wegläuft“, entgegnet Antonio trocken und prüft die Kugeln in der Trommel des Revolvers. Auch wenn Aaron ihm ein deutliches Verbot ausgesprochen hat, wird er sich sicher nicht zurückhalten können, wenn er diesem Schwein begegnet.

“Meinst du nicht, dass das meine Aufgabe wäre?”

“Du bist Tod!”, entgegnete Antonio ihm energisch.

“Ach ja? Sicher? Ich fühle mich gar nicht so.” Natürlich ist Antonio sich sicher. Er ist bei der Beerdigung dabei gewesen. Ob Enrico noch nicht mal mitbekommen hat, dass er inzwischen ein Geist ist? Zu ihm passen würde es ja.

„Ach verdammt, dieser blöder Köter!“ Die Gestalt im Spiegel reibt sich übers Gesicht, ganz allmählich beginnt sie, zu verblasst. Die Konturen weichen auf, verschwimmen, dann ist er weg.

“Enrico?” Antonio sieht neben sich, dann wieder in den Spiegel. Nichts. Von einem Moment auf den anderen, kommt er sich verloren vor. Weg das Gefühl der Zweisamkeit, einfach so. Sein Herz zieht sich krampfhaft zusammen, Tränen drängen sich in sein Blickfeld.

“Enrico?”, ruft er noch einmal, wieder vergebens. Ein fetter Kloß presst sich in seine Kehle und lässt ihn schwer schlucken.

Ein lautes Bing schrill, er ist da.

„Reiß dich gefälligst zusammen!“, mahnt er sich selbst und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Er ist die ganze Zeit allein zurecht gekommen, er braucht keinen Geist an seiner Seite.

~Rache~

Auch im Neunundzwanzigsten Stock ist alles ruhig, kein Lichtschein unter den Türen, keine Schritte oder Stimmen. Antonio tritt vorsichtig aus dem Fahrstuhl, er sieht sich nach rechts und links um. Nichts.
 

Das alles hier ist ihm so vertraut. Er kann sich noch gut an den Tag erinnern, als Butch ihn zum ersten Mal hier her gebracht hat. Nur die ranghöchsten Auftragskiller und der Spitze des Clans, ist das Betreten hier erlaubt. Antonio war erst Vierzehn, als Denijel ihn auswählte und zum obersten Auftragskiller ausbilden ließ. Butch wurde sein Mentor und für wenige Monate ist Antonios Leben hier tatsächlich angenehm gewesen. Er hatte ein luxuriöses Apartment, nur für sich allein und konnte sich in der Kantine, wann immer ihm danach war, den Bauch vollschlagen. Wenn er Enrico nicht begegnet und bei der Arbeit keinen Fehler gemacht hätte, wäre er noch immer hier und würde seine Aufträge von den Drachen entgegennehmen.
 

Antonio schüttelte die Bilder seiner Vergangenheit ab und öffnet die Tür zu Michaels Büro. Auch hier ist alles still. Es hat sich nichts verändert. Der Schreibtisch steht noch immer vor dem Regal mit den Aktenordnern. Nur die Vitrine, von der Aaron gesprochen hat, ist dazu gekommen. Sie steht direkt neben dem Schreibtisch. Die Pistole Enricos, liegt auf der obersten Glasplatte. Von dem Anblick gefesselt, geht Antonio durch den Raum, bis er direkt vor ihr steht. Dieses Schwein hat sie tatsächlich gestohlen und wie eine Trophäe ausgestellt. In dem blankpolierten Lauf, spiegeln sich die Lichter der Stadt, die durch die beiden Fenster hereinfallen. Der Elfenbeingriff ist mit einem Wolfsrudel verziert, an einer Kette ist ein Anhänger an ihm befestigt, der Kopf eines heulendem Wolfes baumelt dran.
 

Enrico hat die Waffe zu seinem achtzehnten Geburtstag von Aaron bekommen, an dem Tag, als er auch offiziell zum Chef der Wölfe ernannt wurde. Er hat sie wie ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt, seine Augen haben geleuchtet, wie bei einem Kind. Unzählige Kämpfe hat er damit ausgefochten. Enricos Hände haben diese Waffen hundertfach gehalten und abgefeuert.
 

Antonio sieht sich die Vitrine genauer an. Es führt kein Kabel von ihr zu einer Steckdose, die sie mit Strom versorgt, er findet auch keinen batteriebetriebenen Kasten oder etwas ähnliches. Es gibt nicht mal ein Schloss, nur einen kleinen Knauf zum öffnen der Glastür. Michael muss sich wirklich sicher sein, dass es niemand wagt, ihn zu bestehlen, denn neben der Pistole Enricos, liegen etliche wertvolle Waffen in der Vitrine: Aufwendig verzierte Dolche, alte und neue Revolver.

Vorsichtig schiebt Antonio die Glastür auf und greift ins Innere. Geräuschlos nimmt er die Pistole seines Freundes an sich. Sie ist sehr leicht. Als er das Magazin entfernt, ist es bis auf zwei Patronen leer. Ob die noch aus Enricos letztem Gefecht stammen? Hätte Michael seinem Freund die Waffe nicht aus der Hand geschlagen, hätte Enrico also noch zwei Schuss zur Verteidigung gehabt? Vielleicht sollte Antonio diese zwei Kugeln nutzen und sie dem Chef der Drachen ins Herz schießen. Der Plan nimmt immer konkretere Züge in seinem Kopf an. Aarons Drohung hat er längst vergessen. Sein hasserfüllten Blick, richtet er auf die Tür. Michael hat auf dieser Etage sein Apartment, das er nie abschließt. Es ist mitten in der Nacht, wenn Antonio Glück hat, liegt der Scheißkerl seelenruhig in seinem Bett. Er könnte ihn mit der Pistole an der Schläfe aufwecken, ihm noch einen schönen Gruß von Enrico ausrichten, bevor er den Abzug betätigt.

Entschlossen verlässt Antonio das Büro und schleicht sich auf den Flur, bis zum Apartment des verhassten Feindes. Als er die Klinke herabdrückt, lässt sich die Tür tatsächlich ohne weiteres öffnen. Vor ihm breitet sich ein großer Raum mit einem Sofa, etlichen Bücherregalen und einem großen Radio aus. Der Boden ist mit einem weichen Teppich ausgeschlagen, der alle Schrittgeräusche verschluckt. Ohne sich anstrengen zu müssen, tastet sich Antonio lautlos durch den Raum, bis zu einer weiteren Tür, die nur angelehnt ist. Vorsichtig legt er den Lauf der Waffe gegen das Holz und schiebt sie auf. Das leise Knarren der Scharniere, lässt ihn zusammen zucken. Antonio bleibt hinter der Wand neben der Tür stehen und wirft einen flüchtigen Blick, durch den offenen Spalt. Auf dem großen Ehebett liegt eine zierliche Gestalt, weibliche Kurven heben sich unter der Decke ab. Das ist nicht der Chef der Drachen. Der linke Teil des Bettes ist unordentlich. Das Kissen und die zweite Decke liegen zur Hälfte auf dem Boden. Kein Mann hält sich hier auf. Wie ärgerlich. Auf Michaels Prostituierte hat Antonio es nicht abgesehen. Oder hat der Kerl inzwischen eine Frau? Ach, was kümmert es ihn? Alles was zählt ist, dass Michael wohl noch vor kurzem hier gewesen sein muss.

Antonio beschließt, die übrigen Zimmer zu prüfen und kehrt lautlos in den Flur zurück. Nach und nach arbeitet er sich von einer Tür zur nächsten, doch sie sind alle abgeschlossen.

Ob sich Michael und sein Leibwächter auf dem Dach des Hochhauses aufhalten?

Als Kind hat Antonio dort oben oft mit ihnen gesessen, da haben sie ihm das Schießen beigebracht und ihn mit irgendwelchen Fusel betrunken gemacht. Wenn er Glück hat, besaufen sich die Beiden auch jetzt gerade dort. Es wäre nicht mal ein Umweg, er wollte sowieso über das Dach verschwinden.

Antonio kehrt zum Fahrstuhl zurück, von dort folgt er dem Gang, bis zu einer Tür, die ins Treppenhaus mündet. Es gibt nur eine einzige Treppe nach oben, keine hinab. Mit der Pistole voraus, folgt Antonio den Stufen, bis er die letzte erklommen hat. Eine Eisentür versperrt ihm nun den Weg. So oft er es auch versucht hat, von außen hat sie sich nicht öffnen lassen. Von innen ist es nur ein einfacher Dreh am Türknauf. Wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, kann er nicht mehr zurück, ohne das ganze Hochhaus erneut durchqueren zu müssen. Antonio sieht noch einmal in den Flur zurück. Alles ist ruhig, dort unten wird er nicht fündig werden, also legt er sein Ohr an die Tür, aufmerksam lauscht er. Nichts, keine Schritte, keine Gespräche oder das Klirren von Glasflaschen. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Enttäuscht atmet er durch und öffnet die Eisentür. Kalte Nachtluft schlägt ihm entgegen. Der Mond steht voll am Himmel und erhellt das ganze Dach. Hier oben gibt es nichts, dass lange seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als er ins Freie tritt, wird die Tür vom Wind erfasst, und schlägt nach ihm ins Schloss. So viel zu seinem Rachefeldzug. Michael hat mehr Glück als Verstand, ausgerechnet heute nicht hier zu sein. Antonio steuert die Feuerleiter an. Was für ein Reinfall. Nachdem er die ersten Stufen hinabgestiegen ist, lässt er sich auf dem Metallgitter nieder. Die Waffe des Freundes legt er sich in den Schoss und betrachtet sie im fahlen Licht des Vollmondes. Das ist so ungerecht, dass er jetzt hier sitzen und über Rache nachdenkt kann und Enrico sich einfach hat umbringen lassen.

„Du blöder Idiot! Du fehlst mir“, haucht er in die Dunkelheit, doch es kommt keine Antwort zurück. Den ganzen Weg hier rauf, erschreckt ihn dieser Mistkerl und jetzt, wo er ihn so gern um sich hätte, bleibt der Geist des Freundes einfach stumm. Seit dem Moment im Fahrstuhl, kein einziges Wort mehr, nirgendwo eine verschwommene Gestalt. Antonio fährt sich über die brennenden Augen. Vom kalten Wind gereizt, trübt sich immer wieder seine Sicht. Wahrscheinlich war alles wirklich nur Einbildung. Er ist einfach zu müde. Immer wieder fallen ihm die Augen zu, ständig kippt ihm der Kopf nach vorn. Er sollte heim gehen, sich auf dem Rückweg noch einen Eimer Kohlen kaufen, das Apartment ordentlich einheizen und dann endlich einmal eine Nacht durchschlafen. Wenn es nur nicht so schwere wäre, aufzustehen und sich noch einmal durch die Dunkelheit und Kälte zu kämpfen. Antonio gähnt herzhaft.

„Der alte Sack geht mir gehörig auf die Nerven.“ Erschrocken richtet er seinen Blick an dem Mauerwerk hinauf, bis zum Rand des Daches.

„Wundert dich das wirklich?“ Butch? Die Stimme seines Mentors erkennt Antonio unter tausenden wieder. Augenblicklich weicht die Müdigkeit aus seinen Knochen. So lautlos wie möglich, richtet er sich auf.

„Er wagt es uns zu beklauen. Wir sollten den Alten einfach umlegen und gut!“ Antonio schleicht die wenigen Stufen hinauf und lugt vorsichtig über den Rand des Daches. Zwei breitschultrige Gestalten, heben sich deutlich vor dem Vollmond ab. Der Größere von Beiden, trägt einen langen schwarzen Mantel und zündet sich gerade eine Zigarette an.

„Michael“, flüstert Antonio in vorfreudiger Erwartung. Neben ihm steht ein dunkelhäutiger Hüne, in einem weißen Stoffmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reicht. Er hat die Arme verschränkt und betrachtet seinen Chef kritisch.

„Das würde Krieg mit den Italienern bedeuten“, ermahnt er Michael und tritt vor ihn.

„Butch, geh zur Seite“, murrt Antonio in sich hinein.

„Ach ich bitte dich. Wer sollte Aaron denn Nachfolgen, um uns gefährlich zu werden?“

„Aaron ist lebend mehr wert.“

„Er ist ne tickende Zeitbombe!“ Einen Moment lang schweige Beide. Während Butch sich nicht rührt, tritt Michael von einem Bein auf das andere.

„Na schön, du hast ja recht. Hin und wieder ist er ganz nützlich. Sieh nur zu, dass du seine Enkel im Auge behältst. Wenn Aaron weiter so aufmuckt, dann schickst du den Plagen mal einen unserer speziellen Freunde. Dann kapiert der alte Sack hoffentlich, dass ich mich nicht verarschen lasse.“ Jetzt will sich der Dreckskerl auch noch an Enricos Kinder vergreifen? Okay jetzt reicht es! Um besser zielen zu können, klettert Antonio über den Rand des Daches. Er tritt einige Schritte zur Seite, um an Butch vorbei zielen zu können und drückt ab. Ein lauter Knall durchschlägt die Stille. Der schwarze Mann bemerkt ihn im Augenwinkel, er stößt seinen Chef bei Seite. Die Kugel trifft den Arm Butchs. Der dunkelhäutige Hüne verzieht keine Mine, stattdessen greift er in seinen Mantel und zieht eine Pistole. Michael tut es ihm gleich. Zielsicher richten sie ihre Waffen auf ihn.

„Du! Du warst das also? Du wagst es mich zu beklauen?“

„Ich wage es auch dich zu erschießen. Meine nächste Kugel wird nicht daneben gehen. Mit freundlichen Grüßen von Enrico River!“, erwidert Antonio. Ungerührt blickt er in die Waffen der beiden Männer, während sich ihre Zeigefinger krümmen. Hier und heute wird es enden. Dieses Mal nimmt er den Teufel mit in die Hölle. Antonio legt den Zeigefinger um den Abzug.
 

„Nein!“ Die eisblauen Augen seines Freundes leuchten auf einmal vor ihm auf. Erschrocken verreißt Antonio den Arm. Drei Schüsse knallen über das Dach. Etwas trifft ihn hart am Oberkörper und stößt ihn in die Tief. Rücklings fällt er die Eisenstufen hinab. Auf einer der Überführungen bleibt er liegen. Benommen sieht Antonio die Leiter hinauf. Auf der obersten Stufe bilden sich die geisterhaften Umrisse Enricos.

„Lauf!“, schreit er ihn an. Als Antonio nicht reagiert, wird er lauter.

„Idiot! Jetzt lauf schon!“ Eindringlich starren ihn die eisblauen Augen an.

„Ach verdammt! Du elende Nervensäge!“ Schritte eilen über das Dach. Schüsse knallen in seine Richtung. Mühsam kämpft Antonio sich auf die Beine und ergreift die Flucht.

~Ein Job für Enrico~

Herzhaft Gähnend schaue ich von meinem Buch auf. Die ersten Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die Wolken, es regnet in Strömen. Klägliches Hundegewinsel ist von draußen zu hören. Zufrieden sehe ich dem Welpen dabei zu, wie er vergeblich versucht, sich durch die Scheibe nach innen zu kratzen. Das hat der Köter nun davon, dass er mich die ganze Nacht wach gehalten hat. Ständig hing mir seine Schlabberzunge im Gesicht. Nun ist er da, wo ein Hund hin gehört, außerhalb des Hauses. Je eher er sich daran gewöhnt, um so besser. Ich nehme einen kräftigen Schluck des Kaffees und stelle die Tasse auf dem Tisch ab, dann blättere ich die Seite meines Buches um.

„Guten Morgen“, gähnt meine Frau und betritt dass Zimmer. Ohne Umwege hält sie direkt auf die Küche zu.

„Oh du hast ja schon Kaffee gemacht“, freut sie sich. Mit einer dampfenden Tasse in der Hand, kommt sie zurück. Ihre Finger umklammern die heiße Keramik. Den Kamin habe ich gerade erst angefeuert, noch ist es eiskalt hier drin. Ich habe mich in die weichen Wolldecke eingehüllt, die immer auf dem Sofa liegt, doch Robin hat nur ihren Morgenmantel an.

„Schmeckt dir der Kaffee denn ohne alles?“, wundert sie sich.

„Würde ich ihn sonst trinken?“, entgegne ich, ohne von meinem Buch aufzusehen.

„Aber du magst doch gar keinen ...“

Genervt richte ich meine Aufmerksamkeit auf sie.

„Schon gut, ich habe ja nichts gesagt“, winkt sie ab, dann wandert ihr Blick zur Verandatür. Einen Moment lang betrachtet sie den durchnässten Köter, dann schaut sie mich ärgerlich an.

„Enrico, was soll das? Du kannst das arme Tier doch nicht bei dem Wetter aussperren.“ Doch kann ich, wie sie sieht. Hastig stellt Robin ihre Tasse auf den Tisch ab. Sie eilt ins Badezimmer und kommt mit einem großen Handtuch zurück. Kaum hat sie die Tür geöffnet, tapst ihr der Welpe steifbeinig entgegen. Sofort wickelt sie ihn in das Handtuch und reibt sein Fell trocken.

„Ach du Armer, du bist ja komplett durchgefroren.“ Ihr finsterer Blick streift mich. „Wie lange sitzt er denn schon da draußen?“

Ich schaue an die Standuhr. „Gute zwei Stunden.“

„Wie kannst du nur so gemein sein? Er ist noch ein Welpe.“

Ich zucke mit den Achseln und blättere weiter. Ich habe um dieses Tier nicht gebeten. Wenn er unbedingt bleiben soll, dann draußen, wo er mich nicht stören kann.

„Du bist echt unmöglich!“, mault Robin und wickelt das Tier aus dem Handtuch. Der Welpe schüttelt sich, dann rennt er in großen Sprüngen davon. Ich werfe ihm einen flüchtigen Blick nach und denke krampfhaft über eine neue Möglichkeit nach, das Tier loszuwerden. Der Hund verschwindet laut kläffend im Flur, die Haustür wird aufgeschlossen.

„Man, was für ein Sauwetter“, dringt Jans Stimme bis zu uns. Das Hundegekläff wird lauter.

„Ja mein Junge, schon gut. Hey, warum bist du denn so nass?“

Robin geht Jan entgegen. „Enrico hat ihn ausgesperrt“, beschwert sie sich. Eine der Zimmertüren wird geöffnet, Lui gesellt sich zu den Beiden. Ihr Gespräch plätschert für mich im Hintergrund:

„Wo bist du gewesen? Ich hab mir schon Sorge gemacht“, will Lui wissen.

„Ich war in der Stadt, hab mit Eros gesprochen. Er ist einverstanden.“

„Willst du das wirklich durchziehen?“, zweifelt Lui.

„Ja, es wird Zeit, dass er auch etwas beisteuert. Ich nehme ihn jetzt gleich mit, bevor ich auf Streife gehe.“

„Aber er kann doch kaum laufen“, wirft Robin besorgt ein.

„Er kann wohl, wenn er will. Bis zur Klippe ist er doch auch gekommen“, hält Jan dagegen.

„Aber er hat schon drei Tabletten genommen, ich glaube nicht, dass er heute irgendwo hin geht.“

„Mit den Schmerzen wird er nun mal leben müssen. Hör auf ihn immerzu zu bemuttern.“

„Aber...“

„Kein aber! Er hat sich lange genug auf unser aller Rücken ausgeruht. Seine Medikamente sind schweine-teuer und du gluckst als Hausfrau die ganze Zeit um ihn herum. Unsere Ersparnisse gehen zur Neige und Lui und ich können nicht für uns alle aufkommen. Er kann stehen, er kann laufen, er kann arbeiten!“

„Na dann viel Spaß dabei, ihm das klar zu machen“, wirft Lui belustigt ein.

„Ich trete ihm schon in den Arsch, nur keine Sorge. Darauf freue ich mich schon den ganzen Morgen.“ Jan kommt leichtfüßigen Schrittes ins Wohnzimmer, er bleibt direkt vor mir stehen und wirft eine Jacke über mein Buch. Irritiert schaue ich zu ihm auf.

„Aufstehen! Anziehen! Mitkommen!“, bellt er im Befehlston.

Unbeeindruckt hebe ich die Jacke vom Buch und lasse sie auf den leeren Platz neben mir fallen. Für heute habe ich mir einen ruhigen Tag vor dem Kamin, mit zwei, drei guten Büchern vorgenommen. „Geh deinen Lover knallen und lass mich zufrieden!“, entgegne ich und lese weiter. Jan macht einen Schritt auf mich zu, im Augenwinkel kann ich gerade noch so eine Bewegung wahrnehmen, bevor mich ein heftiger Faustschlag vom Sofa fegt. Ich krache gegen den Couchtisch und schiebe ihn quer durch das Zimmer. In der freigewordenen Lücke bleibe ich liegen. Entsetzt greife ich mir an die pulsierende Wange und sehe zu dem Asiaten auf.

„Deine dummen Sprüche, wegen Lui und mir, gehen mir so was von auf die Nerven.“ Jan geht vor mir in die Hocke, er öffnet und schließt seine Faust und betrachtet mich von oben herab. „Schlimm genug, dass die ganze Welt auf uns herum hackt, aber von einem wie dir, der selbst seinen Arsch für einen ganz bestimmten Typ Mann hinhält, brauch ich mir nun wirklich nicht dumm kommen lassen.“

„Erzähl keinen Scheiß! Ich bin verheiratet, mit einer Frau“, halte ich dagegen und strecke ihm meinen Ehering entgegen.

„Jan!“

„Nein, Robin, ich hab es satt. Deine heile Welt ist mir egal. Er ist keinen Dreck besser, als wir! Wird Zeit, dass er das auch merkt.“ Sein Blick richtet sich wieder auf mich. Er nimmt mein Kinn in die Hand und starrt mir direkt in die Augen.

„Du denkst wirklich, dass du treu bist und nur auf Frauen stehst? Dann lass dir von mir gesagt sein, dass die Ehe für dich noch nie ein Hindernis war und das es sehr wohl einen Mann gab, für den du mit dem Arsch gewackelt hast. Und jetzt steh auf und zieh dich an! Wenn du nicht in fünf Minuten in meinem Wagen sitzt, hau ich dir noch eine rein“, damit erhebt Jan sich. Er greift die Jacke vom Sofa und wirft sie mir ins Gesicht, dann trabt er davon. Kurz darauf knallt die Haustür nach ihm zu. Von wegen mit dem Arsch gewackelt, dass ist doch nur wieder eine seiner Lügengeschichten, damit ich wegen ihm und Lui still bin. Ich bin nicht wie er!

„Enrico, alles okay?“ Robin tritt zu mir, sie reicht mir ihre Hand, doch ich schlage sie weg. Ich kann allein aufstehen. Mühsam ziehe ich mich selbst am Tisch nach oben, bis ich wieder auf beiden Beinen stehe, dann ziehe ich mir die Jacke an und folge Jan vor die Tür.
 

Er sitzt bereits im Wagen, mit den Zeigefingern tippt er ungeduldig auf dem Lenkrad herum. Als er mich kommen sieht, schaut er noch immer finster. Ich reibe mir über die getroffene Wange. So heftig hat er noch nie reagiert. Wenn er mal zugeschlagen hat, dann nicht mit voller Kraft. Als ich nach meiner Lippe taste, ist sie bereits angeschwollen, meine Fingerkuppen sind feucht, Blut klebt an ihnen. Vielleicht habe ich es wirklich übertrieben. Eigentlich geht es mich auch gar nichts an, was er und Lui miteinander treiben. Wenn sie nur nicht immer so laut dabei wären.
 

Kommentarlos steige ich zu ihm in den Wagen und ziehe die Tür nach mir zu. Er startet den Motor, der Wagen rollt los. Gut zwei Kilometer fahren wir schweigend, bis Jan schließlich mault: „Du bist echt zum Kotzen, weißt du das?“

Ich gebe ihm keine Antwort. Wieder schleicht sich unerträgliches Schweigen zwischen uns. Wieso er sich wohl ausgerechnet für seinen Kollegen entschieden hat? Ist ihm denn nie eine attraktive Frau begegnet? Um die unangenehme Stille zu beenden, wage ich schließlich zu fragen: „Hast du es eigentlich je mit einer Frau probiert?“

Jan wendet sich mit ärgerlicher Mine mir zu, doch als ich in fest und fragend ansehe, seufzt er ergeben. „Du verstehst das wirklich nicht, oder?“

„Nein!“, gebe ich ehrlich zu. Jan drosselt seine Fahrt, die menschenleere Gegend, rollt nur noch gemächlich an uns vorbei.

„Ich habe auch genug Frauen gehabt“, antwortet er schließlich.

„War da keine Schöne dabei?“

„Verliebst du dich denn nur in das Geschlecht eines Menschen?“

Darüber muss ich nachdenken. „Keine Ahnung. Kann mich an niemanden erinnern, den ich geliebt habe“, eröffne ich ihm. Jans ernste Gesichtszüge weichen auf.

„Ehrlich nicht? Was ist mit Robin?“

Ich zögere einen Moment, bevor ich ihm antworte: „Ich empfinde nichts, wenn ich sie ansehe.“

„Das ist hart!“

„Ich weiß, aber so ist es nun mal. Nur sag ihr das bitte nicht. Es würde ihr das Herz brechen.“

Jan zieht eine Augenbraue kraus. „Du scherst dich doch sonst auch nicht, um die Gefühle von Anderen?“

„Jetzt schau nicht so überheblich“, murre ich und wende mich von ihm ab, „Du hast ja keine Ahnung, wie unerträglich es ist, so zu tun, als wenn ich euch alle kennen würde.“

„Enrico, wir kümmern uns jetzt gute vier Jahre um dich. Inzwischen solltest du uns kennen.“

„Ich kenne euch erst zwei Jahre!", berichtige ich ihn, "Davon lag ich im Koma und davon mal abgesehen, redet ihr die ganze Zeit von Damals. Von dem, was ich alles mag oder nicht mag, wer ich war und wer ich sein soll. Falls ihr es noch nicht mitbekommen habt, ich bin nicht mehr der Selbe.“

„Ach nur keine Sorge, du bist immer noch so ein arroganter Arsch, wie damals.“

Ich rolle mit den Augen. „Du machst es schon wieder. Genau das meine ich. Ständig damals, damals, damals ...“

„Erinnerst du dich denn an überhaupt nichts?“, fällt Jan mir ins Wort.

Ich atme durch. Da ist nicht viel, was ich ihm aufzählen kann: „Eigentlich nur an den Brand in dieser Lagerhalle und an die Schießerei davor. Ansonsten sind da nur unbekannte Orte und Menschen ohne Gesicht. Hin und wieder mal ein Geruch oder ein Gefühl, aber dabei ist nichts, aus dem ich wirklich schlau werde.“

„Und die Dinge, von denen wir dir erzählt haben?“

Ich schmunzle hilflos. „Die machen das Chaos erst richtig perfekt.“

„Wie meinst du das?“

„Naja, ich weiß nie, was ich von euch habe, oder woran ich mich tatsächlich erinnern kann.“

„Macht das denn so einen großen Unterschied?“

„Ja!“

Jan betrachtet mich weiter fragen.

„Wie erkläre ich dir das am besten?“ Ich brauche einen Moment, bis mir ein bildhaftes Beispiel eingefallen ist. „Stell dir vor, du liest ein Buch. Dabei entstehen in deinem Kopf ja auch Bilder, Landschaften und Menschen, ohne dass du sie vor dem Lesen gekannt haben musst. So geht es mir mit euren Erzählungen. Ihr könnt mir jeden Scheiß erzählen, irgend ein Bild, wird sich meine Fantasie dazu schon ausdenken, aber es ist nicht das echte Album, der Fotos, die ich in meinem Leben geschossen habe. Ich verbinde nichts mit den Namen, oder Orten, von denen ihr sprecht. Da ist kein Gefühl, kein Geruch oder Geräusch. Für mich ist das irgend ein anderer Enrico, von dem ihr da sprecht.“

„Klingt bitter!“

Ich seufze lediglich und schaue wieder aus dem Fenster. Wir fahren einen guten Kilometer schweigend, bis ich schließlich wissen will: „Was wird eigentlich, wenn ich mich nie erinnere?“

Jan schweigt, selbst als ich ihn eindringlich ansehe, braucht er eine gefühlte Ewigkeit, bis er schließlich verhalten sagt: „Vielleicht ist es sogar besser, wenn du dich nicht erinnerst.“

„War unser Leben in New York, denn so heftig?“

Wieder schweigt Jan. In der Ferne bilden sich die ersten Umrisse von Häusern. Das verschlafene Städtchen, ist nicht mehr weit. Als der Schotterweg endlich von einer befestigten Straße abgelöst wird, meint Jan schließlich: „Hier ist es gar nicht so übel. Niemand der uns ans Leben will. Ich muss nicht ständig irgendwelche Scheiße decken, die du wieder gebaut hast. Wenn wir jetzt noch nen Job für dich finden, könnte ich mich daran gewöhnen, hier zu bleiben. Ob du dich erinnerst oder nicht, spielt hier doch keine Rolle.“

~Blutrot im Schnee~

Dieser verdammte Mistkerl, was muss er auch dazwischen gehen? Der Chef der Drachen könnte längst tot sein und Antonios kümmerliches Dasein hätte endlich ein sinnvolles Ende genommen. Nun muss er sich wieder vor jedem Schatten fürchten, den die Bäume um ihn herum werfen. Obwohl er sich sicher ist, Michael und Butch abgehängt zu haben, glaubt er sie noch immer in jedem Rascheln des Windes zu hören. Der Weg vor ihm verschwimmt immer wieder, seine Beine wollen sein Gewischt kaum tragen. Vereinzelt fallen rote Tropfen in den weißen Schnee und begleiten seine Fußabdrücke. Wenn sie nicht dumm sind, werden Michael und Butch diesen Spuren folgen. Antonio hat zwar die U-Bahn genommen, um möglichst schnell, viel Abstand zwischen sich und seine Verfolger zu bringen, aber kann er sich wirklich sicher sein, dass sie nicht in die selbe Bahn gestiegen sind? So kann er auf keinen Fall zurück nach Hause. Um den Unterschlupf seiner Familie nicht zu verraten, hat er längst einen anderen Weg eingeschlagen.

„Dreck, verdammter!“, murrt er in die Dunkelheit, und presst seine Hand auf die schmerzende Schulter. Warmes Blut sickert aus dem Loch in seinem Pullover und rinnt seine Finger hinab. Die Kälte frisst sich immer tiefer in seine Gelenke und macht sie steif und unbeweglich. Ständig knicken ihm die Beine weg. Zum Glück ist sein Ziel nicht mehr weit. Er kann den weißen Marmorobelisken schon sehen, der sich deutlich von allen anderen Gräbern hier abhebt. Im Mondlicht schimmert er blau. Ringsum ist er von kleinen Hecken umgeben, die nach vorn hin eine Öffnung bilden. Alles ist mit einer unberührten Schneedecke überzogen.

Antonio ist schon etliche Wochen nicht mehr hier gewesen, trotzdem finde seine Beine zielsicher den Weg, obwohl der trübe Schleier vor seinen Augen immer dichter wird. Als er den Obelisken endlich erreicht, kann er nicht mal mehr die Inschrift entziffern. Mit den Fingern tastet er nach den eingravierten Buchstaben, die er einst für seinen Freund ausgewählt hat:

~Bis in den Tod, doch du kommst nie mehr zurück~

Er beginnt zu schmunzeln.

„Von wegen!“ Kraftlos lässt er sich in den weichen Schnee sinken, mit dem Rücken lehnt er sich gegen den kalten Marmor und legt den Kopf zurück. Ganz allmählich fällt die Anspannung von ihm ab. Mit zitternden Fingern, kramt er in seiner Hosentasche nach seinem Feuerzeug und der Zigarettenschachtel. Sein Arm streift einen langen Riss im Stoff seines Pullovers, der sich quer über seine Hüfte zieht. Antonio zieht die Luft scharf ein. Er versucht die Stelle zu meiden, doch bei der Suche in seiner Hosentasche, lässt sich der Schmerz nicht umgehen. Seine erfroren Finger gehorchen ihm kaum, er braucht eine gefühlte Ewigkeit, um Feuerzeug und Zigaretten aus seiner Hose zu befreien, doch schließlich erfüllt angenehmer Qualm seine Lunge. In einer große Wolke, stößt er ihn wieder hervor und sieht ihm, bei seinem Weg in dem Himmel zu. Eine unnatürliche Stille hüllt ihn ein, nicht einmal der Wind fegt mehr durchs Geäst, dafür fallen lautlos, dicke, weiße Flocken vom Himmel.

Antonio führt die zitternden Finger zum Mund, er nimmt noch einen Zug und schließt die Augen.

„Wo steckst du jetzt eigentlich? Die ganze Zeit gehst du mir auf die Nerven und jetzt, wo ich hier krepiere, kommst du mich nicht mal abholen“, beschwert er sich. Nichts, keine gefühlte Zweisamkeit, nicht mal ein Knacken in den Baumwipfeln. Antonio zieht die gestohlene Pistole aus seinem Hosenbund und leg sie neben sich in den Schnee. Mit tauben Fingern fährt er den geschnitzten Elfenbeingriff ab und betrachtet die einzelnen Wölfe.

„Warum musstest du auch dazwischen gehen? Ich hätte … ich hätte … den Scheißkerl so gern mit.... mitgenommen.“ Seine Stimme wird immer undeutlich, seine bebenden Lippen wollen einfach keine Worte mehr formen. Müde lässt er beide Arme sinken und schließt die Augen. „Sei bitte nicht … nicht sauer, dass ich's nicht … nicht geschafft ha ...“, murmelt er in die Stille. Die Kälte betäubt alle Schmerzen, die letzten Worte kommen ihm nicht mehr über die Lippen. Sein Kopf fällt ihm auf die Schulter.
 

Leise knirscht der Schnee, unter den Schritten schwerer Stiefel, das Geräusch kommt immer näher. Antonios Finger umschließen ganz automatisch den Griff der Pistole. Nur mühsam schleppt sich der Gedanke in seinen Geist, dass in der Waffe keine Kugeln mehr sind. Auch der Versuch seinen Arm zu heben, scheitert.

„Wenn man dich finden will, brauch man nur deiner Blutspur zum Grab meines Bruders folgen.“ Diese Stimme, dass ist nicht Michael und auch nicht Butch.

„Will ich wissen, was du wieder getrieben hast?“ Antonio dreht murrend den Kopf von einer auf die andere Seite. Jede Anstrengung ist ihm zu viel, selbst eine Antwort zu geben.

„Willst du etwa da liegen bleiben?“ Ja, genau hier, hier soll es zu Ende gehen, ein für alle mal.

„Los steh auf!“ Ein harter Schlag trifft seine Schuhsole, Antonio zuckt zusammen und blinzelt. Ein schemenhafter Schatten hockt vor ihm, blaue Augen starren ihn auffordernd an.

„Enrico?“, kommt ihm leise über die Lippen. Der Schatten schüttelt den Kopf.

„Man, wie viel Blut hast du eigentlich schon verloren, wenn du mich nicht mal mehr erkennst?“ Eine warme Hand umschließt Antonios Handgelenk, seinen Arm legt der Schatten sich über die Schulter.

„Los steht auf!“, befiehlt er, doch Antonio fühlt sich zu keiner Reaktion fähig. Trotzdem hebt sich sein Körper unaufhörlich. Er spürt den Boden unter den Füßen. Die Pistole Enricos gleitet ihm aus den eisigen Fingern und fällt vor ihm in den Schnee.

„Wo hast du die her?“, will der Schatten wissen.

„Ge ...geklaut“, kommt Antonio über die zitternden Lippen. Der Ansatz eines Lächelns bildet sich in seinen Mundwinkeln.

„Dir ist echt nicht mehr zu helfen!“ Der Schatten schüttelt mit dem Kopf und setzt sich in Bewegung. Er macht keine Anstalten, sich nach der Waffe zu bücken.

„Mitnehmen will“, fordert Antonio und deutet auf die Pistole. Der Schatten seufzt, sie bücken sich gemeinsam, doch noch bevor Antonios Finger den Griff erreichen können, schwindet die Welt um ihn herum. Ein dunkler Schleier verhüllt all seine Gedanken und nimmt jedes Gefühl mit sich.
 

Hitze arbeitet sich in seinen Körper, sie frisst sich in seine Zehen und Finger und beißt sich seine Gliedmaßen hinauf. Antonio stöhnt gequält und wirft den Kopf zur Seite. Etwas weiches drückt sich gegen seine Wange, etwas nasses kühlt seine Stirn. Sein ganzer Körper ist in Wärme eingehüllt. Hart pulsiert seine Blut in seiner Schulter, etwas brennt über seiner Hüfte. Michael und Butch, schießen ihm die Namen seiner Verfolger durch den Kopf. Sind sie noch immer hinter ihm her? Augenblicklich reißt Antonio die Augen auf und versucht sich aufzurichten.

„Liegenbleiben!“, weißt ihn eine strenge Stimme an. Sacht aber bestimmt, drückt ihn eine große Hand zurück ins Kissen.

Antonios Blick hasstet umher. Ein Kronleuchter hängt von der Decke, die Lehne eines weißes Sofas versperrt ihm die Sicht nach links. Rechts von ihm steht ein Couchtisch und daneben ein Sessel. Ein großer Mann mit blonden Haaren sitzt darin. Er hält eine Tasse in der Hand und führt sie gerade zum Mund. Sein Blick verliert sich auf einer Zeitung, die auf dem Tisch ausgebreitet liegt. Er sieht ihn nicht an, nur seine Hand ruht weiterhin auf seiner Schulter. Antonio brauch einen Moment, den Bruder Enricos zu erkennen und zu verstehen, dass er nicht mehr auf dem Friedhof, sondern im Haus Raphaels ist. Als der große Bruder ihn auch weiterhin am Aufrichten hindert, gibt Antonio schließlich sein Bemühen auf. Es gibt keinen Grund aufzustehen und sich zu verteidigen. Mit dem lodernden Feuer im Kamin, kann ihm nicht einmal mehr die Kälte gefährlich werden. So behaglich, hat er sich lange nicht gefühlt. Die Arme steckt er wieder unter die Decke, um das wärmende Gefühl zu genießen, als sie etwas seltsames an seinem Oberkörper berühren. Verwundert schiebt er die Decke von sich, um sich zu betrachten. Der zerrissene Pullover ist verschwunden. Lediglich Mullbinden bedecken seinen Oberkörper. Etliche sind um seine Schulter gebunden, während ein großes, rechteckiges Pflaster, den Streifschuss über seiner Hüfte bedeckt.

„Das wird teuer, das ist dir hoffentlich klar“, meint Raphael, während ihm ein schelmisches Lächeln übers Gesicht huscht. Antonio erwidert nichts, er rollt sich lediglich wieder in der Decke ein und schließt die Augen.

„Ist es okay, wenn ich mich hier ein wenig ausruhe, nur einen Moment?“, will er wissen, doch noch bevor ihm Raphael antworten kann, ist er bereits wieder eingeschlafen.

~Alles was Räder hat~

Jan steuert den Wagen in einen Hinterhof. Etliche Fahrzeuge stehen verstreut im Gelände, eine große Garage, mit offenem Tor, bildet die Mitte des Grundstücks. Wir sind das erste mal hier, Jan hat auch noch nie von einem Ort, wie diesem, berichtet. Als er aussteigt, tue ich es ihm gleich. Etwas schwerfällig kämpfe ich mich in die Waagerechte und schlage die Wagentür nach mir zu. Während Jan voran geht, verstaue ich meine Hände in den Taschen meiner Jacke und trotte ihm hinterher. Wir kommen an einem Traktor vorbei, dem der hintere linke Reifen fehlt. Die Motorhaube des Automobils daneben steht offen. Auf einem kleinen Hocker stehend, hängt ein Junge, von kaum elf Jahren, vorn über gebeugt, über dem Motor. Er hantiert mit einem Schraubenzier umständlich daran herum. Immer wieder schnappt er von einer Schraube ab und trifft schließlich seinen Daumen.

„Au!“, murrt er und steckt die wunde Stelle in den Mund. Ich schmunzeln und bemerke den großen Mann, der uns entgegen kommt erst, als er bereits vor uns steht. Erschrocken blicke ich zu ihm auf und hallte abrupt inne. Seine buschigen Augenbrauen wachsen in der Mitte zusammen, die hellblauen Augen schauen freundlich. Unter seinen Achseln klemmen zwei Krücken, sein linkes Bein ist bis zum Oberschenkel in Gips gehüllt.

„Buongiorno“, begrüßen Jan ihn. Ich nicke lediglich zur Begrüßung, dann wandert meine Aufmerksamkeit wieder zum Jungen. Noch immer hantiert der Knirps mit dem Schraubenzier herum, seine Zunge hat er dabei weit aus dem Mund geschoben und kaut angespannt darauf herum.

„Danke, dass du es so schnell einrichten konntest. Wie geht es deinem Bein?“, beginnt Jan das Gespräch. Der große Mann lächelt bitter.

„Es wird wohl steif bleiben, deswegen bin ich ganz froh darüber, dass du jemanden für den Job wusstest. Ich kann hier wirklich Hilfe brauchen.“

„Das geht nicht! Die alte Karre ist Schrott!“, klagt der Knabe und schaut zu uns herüber. Der Werkstattchef sieht an uns vorbei.

„Versuchs noch mal! Ich komme gleich und schaue es mir an“, ruft er ihm zu. Der Kinderkopf verschwindet wieder unter der Motorhaube. Sein vergebliches Bemühen wird von lautstarken Flüchen begleitet. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Je länger ich ihm dabei zu sehe, um so deutlicher erkenne ich mich selbst in ihm. Habe ich mich als Kind auch am Reparieren von Fahrzeugen versucht? Völlig in Gedanken versunken, spüre ich den Blick des Werkstattchefs nur beiläufig auf mir, auch seine Worte gehen ungehört an mir vorrüber: „So und du bist also der junge Mechaniker, der mir ab heute zur Hand gehen will?“ Ohne zu antworten, lasse ich Jan und ihn stehen. Irgendetwas an dem Tun des Knaben, zieht mich wie magisch an.

„Er ist etwas eigen“, seufzt Jan entschuldigend, „Ich bin mir nicht sicher, ob er dir wirklich eine Hilfe sein wird. Danke, dass du es überhaupt mit ihm versuchen willst.“

„Nun, eine wirkliche Wahl habe ich nicht. Es gibt hier im Umkreis von etlichen Kilometer niemanden, der sich mit Motoren und Kraftfahrzeugen auskennt.“

„Ich habe aber keinerlei Papiere für ihn, er hat nie eine Ausbildung gemacht.“

„Wer sollte das hier, am Ende der Welt schon kontrollieren? Wenn die Fahrzeuge am Ende des Tages wieder laufen und er mit den vorhandenen Materialien improvisieren kann, reicht mir das.“

„Das er unter Amnesie leidet, habe ich dir schon erzählt, oder?“

„Ja, aber schließt das auch sein handwerkliches Geschick ein?“

„Ich habe keine Ahnung“, seufzt Jan und zuckt mit den Schultern, „Früher konnte er alles wieder zum Laufen bringen, was Räder hat.“
 

Als ich den Jungen erreiche, sehe ich ihm über die Schulter. Ein Gewirr aus Drähten und Schläuchen umgibt ihn. Einige der Isolierungen sind gebrochen und notdürftig mit Klebband umwickelt. Etliche der Metallbauteile sind verrostet. Das sieht alles sehr provisorisch aus. Der Knabe zieht eine Schraube fest, deren Kopf schon abgewetzt und ausgefranst ist. Als ich dem verlauf der Kabel folge, die er miteinander verbunden hat, erscheint mir das alles falsch. Müsste nicht das eine Ende da hinten und das andere da vorn liegen?

„So fertig!“, triumphiert er und knallt den Schraubenzier auf den Stoßdämpfer. Als er den Kopf aus dem Motorraum hebt, sieht er erschrocken an mir hinauf. Mit fragender Mine betrachtet er mich, als ich nichts sage, schüttelt er nur mit dem Kopf und hüpft vom Hocker. Er läuft um mich herum zum Fahrersitz des Wagens und setzt sich hinein. Seine kleinen Finger drehen den Schlüssel im Zündschloss, einmal, zweimal, doch auch beim dritten Versuch tut sich nichts. Enttäuscht rutscht er aus dem Fahrzeug.

„Ich sag doch, das Ding ist Schrott!“, schimpft er resigniert und läuft seinem Großvater entgegen.

Kein Wunder, bei dem ganzen Durcheinander, kann das ja nicht funktionieren. Der Schlauch gehört da definitiv nicht hin und das Kabel muss dort auch weg. Ohne dass es mir wirklich bewusst wird, nehme ich mir den Schraubzier und richte die Kabel und Schläuche entlang des Schaltplans, der wie von allein vor meinem inneren Auge auftaucht. Die Handgriffe sind so vertraut, dass sie automatisch ablaufen. Die Werkzeuge, aus der Kiste, neben dem Hocker, finden von allein ihren Weg in meine Hände. Trotzdem habe ich ständig das Gefühl, gleich eine Schelle auf den Hinterkopf zu kassieren und bissige Kommentar zu hören. Da gab es jemand, der sehr oft neben mir stand, der mein Tun mit prüfendem Blick kontrolliert hat, jemand der mir sehr nah stand. Je länger ich über dem Motor hänge, um so stärker wird dieses vertraute Gefühl. Irgendjemand muss mir das hier beigebracht haben. Obwohl ich mir sicher bin, noch nie unter die Motorhaube eines Automobils geschaut zu haben, glaube ich zu wissen, wie es hier drin aussehen muss. Ich richte alles so gut es geht, schließlich scheint mir das Chaos geordnet genug. Ich lasse die Werkzeuge in die Kiste fallen und gehe um das Automobil herum, um auf dem Fahrersitz platz zu nehmen. Aufgeregt drehe ich den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor gluckst kurz, dann ist wieder ruhe. So viel zu dieser scheinbaren Erinnerung. Offensichtlich war der Plan in meinem Kopf, doch nur eine fixe Idee. Ich seufze und schaue durch die Frontscheibe auf die offene Motorhaube. Für einen Moment meine ich dort einen Mann zu sehen, der prüfend das Innere betrachtet.

„Das sieht gut aus, versuch es noch mal!“, klingen seine Worte in meinem Kopf. Sie erscheinen mir so vertraut, als wenn ich sie bereits hunderte Male gehört habe. Mir ist, als wenn ich diese Erinnerung förmlich greifen könnte. Ein passender Name, liegt mir bereits auf der Zunge. Ich drehe den Schlüssel noch einmal. Der Innenraum des Wagens beginnt zu vibrieren, der Motor brummt laut. Lange macht es die Kiste wirklich nicht mehr, aber für den Moment läuft sie. Zufrieden schaue ich hinaus, will gerade nach dem Mann in meiner Erinnerung rufen, erwarte jeden Moment ein herablassendes Lob von ihm, doch alles was neben mir erscheint ist Jans schmächtige Gestalt.

„Ich sehe schon, du bist hier gut aufgehoben“, meint er und strahlt mich an. Irritiert betrachte ich den Asiaten. Ich brauche einen Moment, bis ich aus der Welt meiner Gedanken zurück finde.

„Ich hole dich nach meiner Schicht wieder ab. Wenn vorher was sein sollte, ich bin zwei Häuser weiter, da vorn in der Polizeiwache.“ Mit ausgestrecktem Arm deutet er auf ein helles Haus, die Straße hinab. Ich nicke lediglich. Noch immer spukt das Gesehene in meine Geist herum, doch die Erinnerung ist längst zu flüchtig, um sie fassen zu können. Seufzend lege ich die Stirn ans Lenkrad.

„Alles okay?“, will Jan wissen.

„Ich dachte ich hätte mich an was erinnert, aber es ist schon wieder weg.“ Aufmunternd schlägt er mir auf die Schulter.

„Das ist doch gut. Vielleicht hilft dir das hier ja. Zumindest weist du noch, wie man Automobile repariert. Das ist ein Anfang. Aber ich muss wirklich los. Ich bin schon jetzt zu spät dran.“

„Ja, hau ab!“, murre ich, ohne aufzusehen. Jan verschwendet keine Zeit für einen Abschied, er geht einfach.

Ob er recht hat? Weiß ich wirklich, wie man Fahrzeuge repariert? Ich habe über mein Tun nicht mal nachdenken müssen. Das Wissen ist einfach da gewesen. Also bin ich mal ein Mechaniker gewesen? Jan hat recht, diese Wissen wäre wirklich mal ein Anfang.

Gemeinsam mit seinem Enkel, kommt der große Werkstattchef zum Wagen, beide werfen einen Blick in den Motorraum.

„Ah, das musste da hin!“, ruft der Knabe aus und fummelt an den Verkabelungen herum.

„Das sieht ganz ordentlich aus. Dafür dass dein Freund meinte, du hättest alles vergessen, scheinst du hier zu wissen, was du tust.“ Der Werkstattchef klappt die Motorhaube zu, dann kommt er um den Wagen herum.

„Ich bin übrigens Eros.“ Er reicht mir die Hand. Ich schlage in seinen festen Händedruck ein.

„Ich bin Enrico, wird zumindest behauptet.“

„Ja, ist eine wirklich blöde Sache mit deinem Unfall, tut mir leid.“ Unfall? Hat Jan etwa schon wieder diese Lügengeschichte verbreitet?

„Das war kein Unfall! Man hat versucht mich umzubringen“, entgegne ich trocken und steige aus. Eros sieht mich entsetzt an, der Mund bleibt ihm offenen stehen. Ein Mordversuch scheint hier, in dieser abgeschiedenen Gegend, nicht all zu oft vorzukommen. Um keine weiteren Fragen in der Richtung zu riskieren, die ich ohnehin nicht beantworten kann, winke ich ab.

„Schon gut, nicht so wichtig.“ Mit Blick auf das Bein des Mannes, versuche ich das Thema zu wechseln, „Was ist mit ihrem Bein passiert?“ Eros fängt sich wieder. Er setzt ein bitteres Lächeln auf, als er zu berichten beginnt: „Die alte Hebebühne ist schon lange kaputt gewesen. Ich habe sie längst reparieren wollen, aber wie das immer so ist, man schiebt es auf, flickt es notdürftig. Es geht schon noch irgendwie. Vor einem Monat kam sie samt eines Traktors runter, blöd nur, dass ich da gerade untendrunter lag.“

Ich schaue mitfühlend.

„Dein Freund war zufällig gerade auf Streife und hat mich um Hilfe rufen gehört. Er hat mich befreit und erste Hilfe geleistet.“

„Und es wird nie wieder richtig verheilen?“ Meinen Blick kann ich nicht von dem Gips lassen.

„Nein. Der Knochen war mehrfach zersplittert. Das wird nichts richtiges mehr. Deswegen brauche ich hier auch einen tüchtigen Mechaniker, der mir zur Hand geht. Mein Sohn und seine Frau wohnen weit weg in der Stadt, sie haben mir nur ihren Sohn da gelassen. Frederic gibt sich zwar die größte Mühe, aber bis er mal die Werkstatt übernehmen kann, werden noch einige Jahre ins Land gehen.“ Eros bleibt neben seinem Enkel stehen, er streichelt ihm über den Kopf und bringt seinen Frisur durcheinander.

„Opa, lass das!“, schimpft der Junge. Ich muss über die Beiden schmunzeln. Wieder glaube ich mich selbst sehen zu können. Direkt vor einem Fremden so zerzaust zu werden, hätte mir als Kind sicher auch nicht gefallen. Ein wehmütiges Gefühl beschleicht mich. Ob ich wohl auch irgendwo noch Familie habe? Vater, Mutter, Opa, irgendjemanden? Mal von Robin, Jan und Lui abgesehen, hat sich nie jemand bei uns gemeldet. Selbst als wir die USA verlassen haben, kam nie ein Brief oder ein Telegramm an. Wenn da noch jemand ist, hat er wohl kein besonderes Interesse an mir. Dieser Gedanke wird immer erdrückender und nimmt mir schließlich das Schmunzeln von den Lippen. Um mich davon abzulenken, schaue ich mich im Gelände um.

„Gibt es noch mehr Fahrzeuge, die repariert werden müssen?“, will ich wissen.

„Dein Tatendrang gefällt mir“, lacht Eros warmherzig, „Alles was du hier siehst, ist zur Reparatur da. Du kannst dich also nach belieben austoben.“ Das werde ich. Alles ist besser, als daheim zu sitzen und zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben.

~Der Brief~

Grelles Tageslicht scheint ihm ins Gesicht, das Rauschen von Wellen ist zu hören. Es ist so schön warm, dass Antonio sich lange weigert, die Augen zu öffnen und wach zu werden. Erst als eine Tür zuschlägt, und sich Schritte im Raum bewegen, sieht er sich um. Raphael wischt sich seine öligen Hände mit einem Tuch ab. Seine Latzhose ist mit Flecken überseht, selbst im Gesicht und den Haaren klebt ihm Öl.

„Sieh einer an, ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“ Verschlafen reibt Antonio sich über die Augen, schwerfällig richtet er sich auf. Ein brennender Schmerz breitet sich in seiner Schulter aus. Er tastet nach der Wunde, doch alles was seine Finger finden, ist ein dicker Mullverband. Nur langsam kommt die Erinnerung an den Schusswechsel mit Michael und Butch in sein Gedächtnis zurück. Raphael hat ihn auf dem Friedhof gefunden. Wie viel Zeit mag seit dem vergangen sein? Die Wanduhr über dem Kamin steht auf kurz nach Neun.

„Wie lange habe ich geschlafen?“

„Etwas mehr als zwei Tage!“

„Was?!“ Antonio richtet sich ganz auf, er wirft die Decke von sich und sucht mit den Füßen nach dem Boden. Wie kann er nur so lange am Stück schlafen? Anette weiß nicht wo er steckt und Aaron hat er auch nicht über den Ausgang seiner Mission berichtet. Die Beiden werden ihn lynchen. Er muss den Paten anrufen und danach sofort nach Hause. Bei dem Versuch aufzustehen, knicken Antonio die Beine weg, augenblicklich wird im schwarz vor Augen. Das Schwindelgefühl zwingt ihn dazu, sich wieder zu setzten. Ein entsetzliches Stechen frisst sich durch seinen Magen und wird von lautem Knurren begleitet. Er greift sich an den schmerzenden Bauch.

Raphaels Schritte verlieren sich in der Küche, wenig später kommt er mit einem Teller und einer Tasse zurück. Den Teller drückt er Antonio in die Hand, die Tasse stellt er auf den Couchtisch ab.

Ein betörender Duft steigt von dem Eintopf auf, in dem bereits ein Löffel liegt. So viele verschiedene Gemüsesorten und Fleisch hat Antonio schon seit Wochen nicht mehr gesehen und er darf den ganzen Teller für sich allein haben? Fragend sieht er an Raphael hinauf.

„Iss und schlinge nicht wieder so!“, weist dieser ihn streng an. Das lässt Antonio sich nicht zwei mal sagen. Obwohl es ihm unendlich schwer fällt, gibt er sich alle Mühe, gesittet einen Löffel nach dem anderen zum Mund zu führen. Der Schmerz in seinem Magen wird erträglicher, nur das Knurren ist noch immer laut und deutlich zu hören.

Raphael umrundet den Tisch, er setzt sich in den Sessel und beobachtet Antonio aufmerksam.

„Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“, will er wissen. Antonio bemüht sich den letzten großen Fleischbrocken zu bewältigen, dann antwortet er: „So was Gutes, schon ewig nicht mehr.“ Von Raphael wandert seine Aufmerksamkeit zu der Tasse, die der große Bruder ihm mitgebracht hat. Aus ihr duftet es nach Kakao. Ein Lächeln schleicht sich in sein Gesicht.

„Warum machst du eigentlich immer Kakao, wenn ich hier bin?“

„Weil es das Einzige ist, was dich mal lächeln lässt.“ Tatsächlich kann Antonio nicht anders, als zu lächeln, bis ihm der Pate wieder ins Gedächtnis kommt. Er stellt den Teller auf den Tisch.

„Darf ich dein Telefon benutzen?“ Raphael nickt.

„Du weißt ja wo es steht.“

Mit der warmen Mahlzeit im Bauch, fällt es Antonio jetzt leichter aufzustehen. Obwohl ihm seine Beine noch immer unendlich schwer vorkommen, hat er nun die Kraft, bis in den Flur, zum Telefonapparat zu laufen. Die Nummer kennt er auswendig und wählt sie über die Scheibe an. Es knackt im Hörer und tutet einige Male, schließlich ist es Jester, der sich meldet: „Bei Longhard!“

„Hallo Jester, Antonio hier. Kannst du mir Aaron geben?“

„Sicher! Einen Moment bitte.“ Im Hörer rauscht es unerträglich, Antonio muss ihn vom Ohr nehmen. Die Schritte des Butlers entfernen sich, dann folgt Stille. Während er wartet, fällt ihm die Waffe Enricos auf. Sie liegt vor einem vergilbtes Foto, neben dem Telefon. Antonio fährt über den gravierten Griff, dann wandert seine Aufmerksamkeit zum Foto im silbernen Rahmen. Es zeigt ihn, Raphael und Enrico. Während Raphael seinen kleinen Bruder im Schwitzkasten hält, stützt sich Antonio mit dem Arm auf Enricos Schulter. Sie lächeln Beide in die Kamera, währen Enrico sich vergeblich zu befreien versucht und finster drein schaut. Sie haben ihn so oft zusammen aufgezogen und sich dann über seine Versuche, sich zur Wehr zu setzen, lustig gemacht. Die Zeit erscheint ihm so unendlich lange her zu sein. Hat es diese unbekümmerten Momente je gegeben?

Antonio nimmt das Bild an sich, als sich die dunkle Stimme Aarons meldet: „Antonio, du lebst also noch? Ich hatte schon Bedenken.“

„Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich bin nicht ganz unbeschadet davon gekommen. Aber ich habe, was du wolltest.“

„Hast du dir mein Angebot überlegt?“

Antonio seufzt, dann zwingt er sich zu sagen: „Ich habe meine Meinung nicht geändert.“

„Dann brauche ich wohl ein besseres Angebot!“

„Mal was anderes“, versucht Antonio das Thema zu wechseln, „ Ich habe ein Gespräch zwischen Michael und Butch belauscht. Sie spielen mit dem Gedanken, dich aus dem Weg zu räumen und sich an deinen Enkeln zu vergreifen.“ Es wird still in der Leitung.

„Danke für die Warnung, aber das ist nichts neues für mich. Was glaubst du warum ich nach einem brauchbaren Nachfolger für mich suche.“

„Verzeiht mir Master, aber ihr habt Besuch“, mischt sich Jester in das Telefonat.

„Schon gut, ich komme. Antonio, wir sprechen uns ein anderes mal.“ Das Telefonat wird unterbrochen. Antonio betrachtet noch einen Moment lang den Hörer, schließlich legt er ihn auf die Gabel zurück. Was bei Aaron hinter den Kulissen abgeht, will er gar nicht so genau wissen. Die Suche des Paten, nach einem Nachfolger, hat er gekonnt überhört. Seine Gedanken kreisen lägst wieder um ein anderes Thema. Mit dem Bild in der Hand, schlurft er durch den Flur zurück ins Wohnzimmer. Den Blick kann er nicht von dem Foto lassen, selbst dann nicht, als er sich auf das Sofa fallen lässt. Raphaels Blick ruht besorgt auf ihm, doch er bleibt stumm.

„Glaubst du, dass er noch irgendwo um uns ist?“, will Antonio wissen und fährt die Konturen des Freundes auf dem Bild ab.

„Meinst du als Geist, oder so?“

Antonio nickt und fügt an: „Ja. Ich höre ihn ständig, manchmal sehe ich ihn sogar. Er hat mich vom Dach gestoßen, als mich Michael und Butch erschießen wollten.“ Raphael schaut skeptisch. Er erhebt sich und geht in den Flur.

„Er ist Tot Antonio! Belassen wir es dabei!“, sagt er lediglich.

„Ich weiß!“ Mit beiden Händen fährt Antonio sich übers Gesicht und durch die Haare. Seine Aufmerksamkeit wandert hinaus auf das Meer. Der Rand der kleine Insel, auf der Raphaels Haus gebaut ist, wird in regelmäßigen Abständen von Wellen überspült. Wann immer sie hier waren, um Raphael zu besuchen, fast immer hat Enrico dort draußen gestanden und das Rauschen der Wellen genossen. Das Bild, wie er sich zu ihnen dreht, sie anlächelt und dann wieder ins Haus kommt, ist Antonio so präsent und doch beginnt es allmählich zu verblassen.
 

Raphael kommt zurück, in der Hand hält er einen abgewetzten Briefumschlag.

„Ich habe hier was für dich. Den habe ich schon eine ganze Weile. Er kam in einem größeren Umschlag bei mir an, aber da ich nicht wusste, wo du steckst, konnte ich ihn dir nicht geben.“

Antonio legt das Foto neben sich aufs Sofa, dann nimmt er den Brief entgegen. Ungläubig betrachtet er den vergilbten Umschlag. Ihm schreibt nie jemand einen Brief und doch steht sein Name auf der Vorderseite. Dafür gibt es keinen Absender, keinen anderer Hinweis, auf den Verfasser. Argwöhnisch öffnet Antonio den Umschlag. Neben einem gefalteten Brief, liegt ein Ticket darin. Es ist für eine Überfahrt nach Italien bestimmt. Das Abreisedatum ist in einer Woche. Verwirrt legt Antonio den Umschlag mit dem Ticket auf den Tisch und faltet den Brief auseinander.
 

Dear Antonio,
 

ich weiß wir haben lange nichts von einander gehört. Da ich keine aktuelle Adresse von dir finden konnte, hoffe ich, dass dich der Brief auf diesem Umweg dennoch erreicht. Verstehe das beigelegte Ticket als eine Einladung und eine Bitte. Ich kann dir keine Einzelheiten zu den Gründen dieser Reise nennen, da uns das beide in Gefahr bringen könnte. Nur so viel, wir haben hier jemanden bei uns, der dringend deine Hilfe braucht. Deinen skeptischen Blick kannst du dir unterdessen schon mal sparen. So weit ich mich erinnere, habe ich noch etwas gut bei dir, immerhin habe ich deinen kriminellen Arsch mehr als einmal vor dem Henker bewahrt. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich zu revanchieren. Da wir schon mehr als einmal Opfer eines Anschlags geworden sind, kann ich dir nur dieses Ticket mitschicken und keine Adresse nennen. Alle Details erkläre ich dir hier vor Ort.
 

Solltest du dich dazu entschließen, meiner Einladung folge zu leisten, werde ich am Hafen auf dich warten.
 

PS. Für Kost und Logi ist ebenfalls gesorgt.
 

Lui Jian
 

Lui? Antonio muss den Namen zwei mal lesen, bis ihm ein Gesicht dazu einfällt. War das nicht dieser Polizist, mit dem Enrico sich angefreundet hat? Seit dem Überfall hat Antonio nichts mehr von ihm gehört. Bisher ist er davon ausgegangen, er sei getötet worden, oder irgendwo untergetaucht.

„Darf ich?“, verlangt Raphael. Antonio reicht ihm den Brief. Aufmerksam studiert er das Geschriebene.

„Was soll ich bitte in Italien?“, will Antonio ratsuchend wissen.

„Klingt verdammt merkwürdig. Zeig mal das Ticket!“ Antonio reicht Raphael den Briefumschlag mit dem Ticket.

„Das ist ja schon nächste Woche. Wie gut das du gerade jetzt hier aufgetaucht bist, sonst wäre es verfallen. Wirst du fahren?“ Antonio überlegt einen Moment, schließlich schüttelt er mit dem Kopf.

„Was soll ich da? Allein die Reise würde Wochen dauern. So lange kann ich Kira und Anette hier nicht allein lassen. Wirf den Brief weg.“ Antonio winkt ab, und widmet sich der Tasse. Der Kakao darin ist inzwischen kühl genug, um ihn trinken zu können.

„Wie du meinst, aber schade ist es schon, um das teure Ticket.“
 

Die Haustür wird aufgeschlossen, das Stimmengewirr zweier Frauen ist zu hören. Als sich die Tür öffnet, verstummen beide. Anette kommt mit Kira an der Hand herein, nach ihnen betritt Susen das Wohnzimmer. Reflexartig schiebt Antonio das Bild des Freundes unter das Kissen. Als sich sein Blick mit dem Anettes trifft, hält sie inne. Nur Kira macht einen Schritt in seine Richtung.

„Papa, du bist wach!“, freut sie sich, doch als sie ihm entgegen stürmen will, hält sie der feste Griff der Mutter zurück. Verstört sieht das Kind zu ihr auf. Antonio schluckt schwer. Die Mutter, richtet sich an Susen, sie schiebt die Tochter zu ihr und bittet sie: „Nimmst du Kira bitte mit. Ich muss allein mit ihm reden.“ Ihr Blick wandert von Susen zu Raphael. Stumm bittet sie auch ihn, den Raum zu verlassen. Beide nicken. Während Raphael den leeren Teller vom Tisch holt und damit in der Küche verschwindet, nimmt Susen das Mädchen auf den Arm. Kira stemmt sich gegen ihre Brust.

„Ich will aber zu Papa!“, protestiert sie heftig. Kommentarlos wird sie von Susen über die Wendeltreppe in den erste Stock getragen. Antonio sieht den Beiden nach, bis sich Anette in sein Blickfeld schiebt. Ihre finstere Mine lässt nichts gutes ahnen, als sie sich in einen der Sessel zu ihm setzt. Sie legt sich ihre Umhängetasche auf den Schoss und kramt darin herum, schließlich zieht sie einen Briefumschlag daraus hervor und wirft ihn auf den Tisch.

„Hier!“ Einige der Geldscheine im Inneren, rutschen auf die Tischplatte.

„Ich will dein Blutgeld nicht!“, fügt sie streng an.

„Ich habe niemanden dafür getötet!“, versichert Antonio ihr, doch sie unterbricht ihn sofort.

„Dafür wurdest du fast getötet!“ Ihr Blick wandert über den Verband um seinen Oberkörper und streift das Pflaster über seiner Hüfte. Antonio verdreht die Augen und sieht unter ihrem strengen Blick hinweg.

„Ich habe es satt Antonio. Ständig muss ich Angst haben, dass du irgendwo liegst und verblutest. Hätte ich Raphael und Susen nicht gebeten, mir bei der Suche nach dir zu helfen, wärst du jetzt tot. Glaubst du ernsthaft, ich weiß nicht, dass du dich Nacht für Nacht herumtreibst, nur weil ich nie was gesagt habe? Du schaffst es nicht mal für mich und deine Tochter diese ganze Scheiße hinter dir zu lassen.“ Anettes Aufmerksamkeit wandert auf das Kissen. „Und das Bild von Enrico brauchst du gar nicht so zu verstecken. Denkst du ich merke nicht, dass du mit den Gedanken ständig bei ihm bist?“ Ein fetter Kloß presst sich Antonio in die Kehle. Er wagt nicht mehr aufzusehen und lässt die Schultern hängen. Selbst der Appetit auf Kakao, ist ihm jetzt vergangen.

„Ich will so nicht mehr weiter machen!" Nur zögerlich wagt er ihr ins Gesicht zu sehen.

„Ich ziehe aus!“ Sie seufzt hörbar, dann fährt sie fort, „Eigentlich bin ich schon ausgezogen. Susen hat mir angeboten mit Kira erst mal zu ihr zu ziehen. Wenn ich ihr unentgeltlich in der Praxis helfe, darf ich hier umsonst wohnen, bis ich was eigenes gefunden habe.“ Seine Kehle schnürt sich immer weiter zu. Antonio bekommt den Kloß mit noch so viel Mühe, nicht geschluckt. Schweigend nimmt er das Gesagte hin. Wie erstarrt, unfähig etwas dabei zu empfinden, betrachtet er den Boden.

„Antonio, willst du denn gar nichts dazu sagen? Ich ziehe mit Kira aus! Ist dir das egal?“, Anette wird immer ärgerlicher, doch je lauter sie wird, um so kälter wird es in Antonios Herzen. Als er seinen Blick erhebt, und sie ansieht, meint er kühl: „Ich habe dich schon verstanden. Du verlässt mich!“

„Ja! Ich will dass du darüber nachdenkst, was dir im Leben wichtig ist!“ Langsam erhebt Antonio sich. Die Tasse stellt er klangvoll auf dem Tisch ab. Ein heißes Gefühl brennt sich durch seinen Magen, unbändige Wut steigt in ihm auf.

„Ich habe das alles nur für euch getan!“ Mit aller Mühe hindert er sich daran zu schreien, trotzdem wird seine Stimme mit jedem gesprochenen Wort lauter: „Ich habe mir an den Docks für einen Hungerlohn den Buckel krumm geschuftet, habe gefroren, damit ihr es warm habt, habe gehungert damit das Kind etwas essen konnte. Ich habe euch immer beschützt und nächtelang deswegen nicht geschlafen. Wenn du bei all dem nicht weißt, was mir wichtig ist, dann hast du mich nie gekannt!“ Antonio greift sich den Umschlag mit dem Geld.

„Dafür wäre ich fast drauf gegangen. Ich wollte uns und unser Tochter ein besseres Leben bieten, als in der Gosse zu verrotten. Wenn du es nicht willst, fein. Dann verbrenne es doch!“

Aufgebracht wirft er den Umschlag in Anettes Schoß. Die Scheine lösen sich und verteilen sich auf dem Boden und im Sessel. Mit weit aufgerissen Augen betrachtet Anette ihn. Tränen sammeln sich in ihnen, doch sie schluckt sie hinunter.

„Geh einfach!“ Mit ausgestrecktem Arm deutet sie auf die Tür.

„Gern!“, entgegnet Antonio trotzig und verlässt sie, die Haustür wirft er nach sich zu. Mit den Händen in den Hosentaschen, verlässt er die Insel über den Steg.
 

Eilige Schritte kommen ihm nach. Als Antonio sich umdreht, ist es Raphael, der ihm nacheilt.

„Antonio, warte!“ Unter dem Arm trägt er eine Jacke.

„Nimm wenigstens die mit!“ Antonio seufzt ergeben.

„Hast du uns etwa belauscht?“, will er wissen und schlingt die Arme um den frierenden Körper. Hier draußen ist es wirklich eiskalt und er hat nicht mal einen Pullover an. Als Raphael ihn erreicht, nimmt er die Jacke dankbar entgegen.

„Ihr wart ja nicht zu überhören. Das mit Anette tut mir leid, aber vielleicht tut euch eine Auszeit wirklich gut!“ Antonio seufzt und stößt einen Stein von sich weg. Über ein Leben ohne Anette und Kira, hat er nie nachgedacht und trotzdem fühlt es sich so an, als wenn er schon immer gewusst hat, dass es mal so weit kommt.

„Das wird schon wieder.“ Antonio erwidert nichts. Er kann einfach nicht aus seiner Haut, dieses Leben in der Mafia, ist alles was er kennt. Außerdem hängt ihm Aaron mit seiner Bitte noch immer im Nacken. Vielleicht ist es ja sogar besser so, so kann er aus der Ferne für seine Familie sorgen.

„Nimm du das Geld und steck es den Beiden irgendwie zu. Pass für mich, auf sie auf. Ich versuch irgendwie alles andere zu regeln.“

„Kannst du denn das Apartment allein halten?“

„Nein, zumindest nicht mit meinem Job am Hafen, aber ich wohne auch nicht das erste Mal auf der Straße, wie du weißt. Ich komme schon zurecht.“

Antonio verstaut die Hände in den Taschen der Jacke und schickt sich an zu gehen, doch Raphael hält ihn an der Schulter zurück. Er umrundet ihn und steckt ihm das Bootsticket in die Brusttasche.

„Nimm Luis Angebot an. Sieh es als Urlaub, um mal von allem Weg zu kommen. Du hast dir auch mal ein paar freie Tage verdient! Wir kümmern uns so lange um Anette und die Kleine und wenn du wieder kommst, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Anette hängt an dir, sie wird sich schon wieder beruhigen.“

„Ich weiß nicht.“

„Denk wenigstens mal darüber nach. Kost und Logi sind frei, und das Wetter soll in Italien auch angenehmer sein.“ Raphael klopft Antonio mit der flachen Hand gegen die Brusttasche, dann macht er kehrt und verschwindet im Haus.

Antonio lässt seinen Blick über das Meer in die Ferne schweifen. Italien, was für eine blöde Idee. Er kann weder die Sprache, noch kennt er dort jemanden. Trotzdem kramt er das Ticket aus der Brusttasche, einige Geldscheine fallen ihm dabei entgegen. Als Antonio sie aufhebt und durchzählt, ist es genug, um sich auf der langen Überfahrt zu versorgen. Mal weg von allem. Er sieht auf und in die ferne Weite hinterm Horizont.

~Blutige Hände~

Kleiner, so hat er mich immer genannt, das hat mich jedes Mal tierisch aufgeregt. Dabei ist der Spitzname doch ganz normal, wenn er wirklich mein großer Bruder war. Raphael, der Name sagt mir noch immer nichts, dabei versuche ich jetzt schon seit Wochen, die neuen Puzzleteile zusammenzufügen. Doch immer, wenn ich anfange, ein Gesicht zu sehen, oder die Worte aus vergangenen Tagen zu hören, platzt jemand dazwischen.

Auch jetzt kann ich festes Schuhwerk auf dem Boden hören und zwei paar Beine zwischen den Reifen herumlaufen sehen. Ich stoße mich mit dem Fuß ab, um mit meinem Brett unter das Automobil zu rollen, bis ich nicht mehr gesehen werden kann. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, wo ich mit meinem Gedankenkarussell stehen geblieben bin. Irgendwas mit meinem Spitznamen.

„Bist du dir sicher, dass er noch hier ist?“

„Ja! Er werkelt hier schon seit heute Morgen. Er hat sogar die Aufträge für nächste Woche fertig gemacht. Versteh mich nicht falsch, als Werkstattbesitzer kommt mir so viel Fleiß ja gelegen, aber er reagiert überhaupt nicht mehr, wenn man ihn anspricht.“ Ja, ich will einfach nur mal in Ruhe meinen Erinnerungen nach hängen, um endlich ein richtiges Bild von meinem Bruder zu bekommen. Ob er überhaupt noch am Leben ist und wenn ja, warum habe ich in den letzten vier Jahren nichts von ihm gehört? Haben wir so ein schlechtes Verhältnis, dass ich ihm egal bin?

„Sein Verhalten macht mir echt Sorgen. Hast du nicht behauptet er darf vom Arzt aus nur vier Stunden arbeiten? Er ist jetzt aber mindestens schon zehn Stunden hier.“

„Das ist echt seltsam. Lui sollte ihn längst abgeholt haben. Ich versteh das nicht.“

„Ehrlich? Mir hat er gesagt du holst ihn heute ab. Deswegen bin ich jetzt ja auch zur Wache gekommen.“

„Aber ich arbeite heute bis zehn, das habe ich ihm auch gesagt.“

„Sehr merkwürdig. Meinst du mit seinem Gedächtnis steht es jetzt schlimmer als zuvor?“ Von wegen! Ich habe Jan und Lui lediglich gegeneinander ausgespielt. Was sind schon lächerliche vier Stunden arbeiten? Dabei finde ich kaum ein neues Puzzleteil für meine Erinnerungslücken. Ich wollte doch nur einmal ungestört meinen Gedanken nachhängen.

„Sieh mal unter dem Wagen da hinten nach! An dem hat er zuletzt geschraubt“, schlägt Eros vor. Kurz darauf kann ich Jans Füße zwischen den Hinterreifen erkennen. Er packt mich an meinen Knöcheln und zieht mich daran aus meinem Versteck. Als wir uns in die Augen sehen können, schimpft er ärgerlich: „Sag mal, was soll der Mist? Weißt du jetzt nicht mal mehr, was noch vor ein paar Stunden war? Ich hab dir mindestens zwei mal gesagt, dass dich heute Lui abholt.“ Ich setze ein schelmisches Grinsen auf. Jans Aufmerksamkeit wandert an mir herab, sein Gesichtsausdruck wird leidend. Er nimmt mir den Schraubenschlüssel weg und betrachtet meine Hände besorgt.

„Enrico, verdammt! Was hast du gemacht?“, will er entsetzt wissen. Ich verstehe nicht, was er meint und betrachte ebenfalls meine Hände. Etliche Blasen und Schwielen ziehen sich über meine Fingerkuppen und die Handflächen. Viele von ihnen sind bereits aufgeplatzt und das blanke Fleisch liegt frei. Bei dem Anblick frisst sich unbarmherzig ein heftiges Brennen durch meine Finger, meine Hände beginnen zu zittern.

„Au...!“, murmle ich, während mich der Schmerz endgültig aus der Welt meiner Gedanken reißt.

„Eros, hast du Lappen oder ein Handtuch oder so was?“

„Ja, warte!“ Eros humpelt auf seinen Krücken davon. Als er mit einem weißen Handtuch zurück kommt, und Jan meine Hände von dem Öl und Dreck notdürftig zu reinigen beginnt, sehe ich ihm ungläubig dabei zu. So sahen meine Hände nicht aus, als ich mit der Arbeit angefangen habe. Das Tuch brennt in den Wunden. Ich ziehe immer wieder scharf die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Schließlich zieht Jan mich auf die Beine. Er drängt mich zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Eisiges Wasser strömt mir über die Hände. Vergeblich versuche ich sie zurück zu ziehen. Unbarmherzig hält Jan sie fest und reibt den Schmutz aus den Wunden. Blut und Dreck verlieren sich im Abfluss. Ich atme schnell und hastig gegen den Schmerz an.

„Hast du nicht mitbekommen, dass deine Hände so aussehen?“, will Jan vorwurfsvoll wissen.

„Nein“, presse ich gequält heraus. Ich war so in Gedanken und in meiner Arbeit vertieft, wahrscheinlich hätte mich eines der Automobile zerquetschen können, ich hätte es nicht bemerkt.

„Ich habe versucht ihm die Werkzeuge wegzunehmen, aber er ist ein verdammt sturer Hund.“ Eros kommt mit einigen Mullbinden zu uns. Als er sie mir um die Hände wickelt, lässt das Brennen nach, dafür wird das Zittern unerträglich.

„Du bist so ein verdammter Idiot, weißt du das?“, schimpft Jan, „Jetzt muss ich meinem Chef auch noch erklären, dass ich dich erst mal heim fahren muss und das, wo wir sowieso schon unterbesetzt sind, weil zwei Mann krank geworden sind.“ Jan schlägt mir auf den Hinterkopf.

„Au!“

„Kannst du mir mal sagen, was du dir dabei gedacht hast?“ Ich seufze und sehe stumm unter seinem strengen Blick hinweg.

„Ehrlich, nichts als Ärger hat man mit dir. Du rührst dich nicht vom Fleck! Ich gebe auf der Wache Bescheid, dann fahr ich dich heim“, mit diesen Worten und etlichen gemurmelten Flüchen, stiefelt Jan davon. Seufzend sehe ich ihm nach und betrachte dann meine eingebundenen Hände. Bin ich wirklich so sehr in Gedanken versunken gewesen? Die Zehn Stunden, von denen Eros gesprochen hat, sind mir wie zwei vorgekommen, dabei wird es bereits dunkel draußen.

„Warum hast du denn heute, die Zeit so vergessen?“, will Eros in sanftem Ton wissen. Er stellt seine Krücken an die Werkbank und lehnt sich gegen die Fahrertür des Wagens. Ich tue es ihm gleich.

„Ich wollte mich doch nur erinnern.“ Eros zieht die buschigen Brauen kraus.

„Jedes mal, wenn ich bei dir arbeite, sehe ich verschwommene Bilder aus meiner Vergangenheit, aber immer, wenn sie sich aufklaren, kommt ein Kunde, oder ich werde von Jan oder Lui abgeholt. Ich war heute so nah dran, dass Gesicht meines Bruder zu sehen, ich wollte nicht weg.“ Eros legt mir seine Hand auf die Schulter, aufmunternd sieht er mich an. „Setz dich nicht so unter Druck.“

„Es nervt aber einfach. Zwei Jahre und ich weiß noch immer nicht, wer ich bin.“

„Du bist ein guter Mensch und ein exzellenter Mechaniker. Reicht dir das nicht?“

„Ich weiß ja nicht mal genau, ob das stimmt ...“, seufze ich.
 

„Enrico, komm, beweg dich?“, ruft Jan mir zu. Er hat seinen Wagen vor der Werkstatt geparkt. Ich stoße mich von der Fahrertür ab.

„Bis morgen dann!“, verabschiede ich mich von Eros. Der Werkstattchef schau ernst.

„Nein! Bis deine Hände nicht geheilt sind, will ich dich hier nicht mehr sehen“, meint er bestimmt, aber mit Sorge in der Stimme.

„Aber wer soll dann …“, versuche ich dagegen zu halten, doch er fällt mir ins Wort.

„Du hast doch schon alle Aufträge für diese Woche fertig gemacht. Den Rest schaffen Frederic und ich auch allein.“

„Na gut!“, gebe ich nach.
 

Ich steige zu Jan in den Wagen. Während er das Automobile auf die Straße lenkt und die Stadt auf direktem Wege verlässt, betrachte ich schweigend meine Hände. Der Verband färbt sich allmählich rot, selbst auf meinen Oberschenkel ruhend, schaffe ich es nicht, meine Finger ruhig zu halten. Ich habe es wirklich übertrieben.

„Tut mir leid“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen. Jan seufzt, er lässt den Blick auf die dunkle Schotterpiste gerichtet, als er sagt: „Ehrlich mal Enrico. Du bist doch kein Kind mehr, auf das man ständig aufpassen muss. Was sollte das heute, dass du Lui weg schickst und so tust, als wenn ich dich fahre?“

„Ich wollte nicht nach Hause. Wenn ich Sachen repariere, bin ich meinen Erinnerungen wenigstens ein Stück näher. Außerdem schaffe ich in vier Stunden doch kaum was, geschweige denn, dass ich in den paar Stunden genug verdiene, um uns zu helfen.“

„Eros bezahlt dir doch schon mehr, als er müsste und außerdem hat der Arzt die Stundenzahl nicht umsonst festgelegt. Was bringt es dir, wenn du dich übernimmst und morgen nicht aus dem Bett kommst? Du siehst jetzt schon leichenblass aus und zitterst am ganzen Körper.“

„Ich weiß“, seufze ich. Je mehr ich zur Ruhe komme, um so heftiger reagiert mein Körper. Selbst meine Beine zittern inzwischen so stark, das meine Knie immer wieder gegen die Armaturen des Wagens stoßen. Heiße und kalte Schauer durchströmen mich abwechselnd. Ich lehne den Kopf gegen den Sitz und betrachte die dunkle Landschaft, die an uns vorbeizieht.
 

Als wir das Sommerhaus erreichen und Jan den Wagen parkt, hat das Zittern in meinen Beinen nachgelassen. Dafür rinnt mir der Schweiß aus allen Poren. Ein starker Kopfschmerz hämmert in meinen Schläfen. Ich bin so müde, dass mir immer wieder die Augen zufallen.

Jan betrachtet mich auffordernd.

„Steig aus und leg dich hin“, schlägt er vor. Ich öffne die Tür und will aussteigen, doch meine Beine sind taub und unbeweglich.

„Nun mach schon! Ich muss wieder zurück“, drängelt Jan. Ich versuche mich zu bewegen, doch es geht nicht. Panisch betrachte ich meine Beine und drücke mit den Händen dagegen, doch ich spüre die Berührung nicht.

„Ich kann nicht!“, rufe ich verzweifelt.

„Hör auf mit dem Mist, ich hab wirklich keine Zeit dafür!“

„Ich mach keine Witze man, ich spüre meine Beine nicht.“

„Na toll!“, murrt er und schlägt die Tür auf. Er steigt aus und umrundet den Wagen. Vor mir geht er in die Hocke und hilft, meine Beine aus dem Automobil zu hieven.

„Das du es auch immer übertreiben musst!“, schimpft er.

„Hör auf mich auch noch an zu meckern und mach lieber was!“, schnautze ich mit nassem Blick.

Ich will nicht wieder gelähmt im Rollstuhl sitzen. Das alles kann doch nur ein schlechter Traum sein. So sehr ich mich auch anstrenge, ich spüre weder meine Zehen, noch die Waden oder Oberschenkel. Nur mit Jans Hilfe, schaffe ich es überhaupt aus dem Wagen. Er legt sich meinen Arm um den Hals und schleppt mich bis zur Haustür. Lautes Hundegebell ist hinter der Tür zu hören, Schritte bewegen sich auf dem Flur.

Lui öffnet uns die Tür. Der Welpe springt uns entgegen, doch dieses mal schenkt ihm keiner Beachtung. Luis entsetzter Blick gilt mir, von oben bis unten sieht er mich an.

„Was ist passiert?“, will er wissen.

„Frag nicht! Hilf mir lieber, ihn rein zu tragen!“, weist Jan ihn an. Lui legt sich meinen anderen Arm über die Schulter. Gemeinsam tragen sie mich bis ins Schlafzimmer und legen mich dort aufs Bett. Lui betrachtet mich noch einmal von oben bis unten, dann nimmt er meine verbundenen Hände.

„Was ist denn passiert?“, will er wissen.

„Er hat jetzt gute zehn Stunden am Stück bei Eros gearbeitet“, erklärt Jan.

„Was? Aber ich dachte Robin hätte ihn erst heute Mittag in die Werkstatt gefahren.“ Ärgerlich sehen Lui und Jan mich an. Ich verdrehe die Augen.

„Ja, ich habe gelogen! Mein Körper bestraft mich gerade genug dafür, also spart euch eure Sprüche“, murre ich. Das taube Gefühl in meinen Beinen weicht einem entsetzlichen Krampf. Von den Waden, bis in die Oberschenkel, verspannen sich meine Muskeln. Ich werfe den Kopf im Kissen zurück und schreie: „Ahhhrgg!“

„Was ist denn hier los?“ Robin betritt das Zimmer. Sie bleibt im Türrahmen stehen, doch als sie meinen Zustand sieht, kommt sie die wenigen Schritte zum Bett gelaufen. Besorgt wirft sie sich neben mir auf die Knie und stützt sich mit den Ellenbogen in die Matratze. Ihre Hände suchen nach meinen, doch als sie die Verbände bemerkt, zögert sie, sie zu ergreifen.

„Was habt ihr denn mit ihm gemacht?“, wendet sie sich schuld suchend an Jan und Lui.

„Wir? Er ist es doch, der uns gegeneinander ausspielt, nur um bis zum Umfallen arbeiten zu können“, schimpft Jan.

„Wer wollte denn unbedingt, dass er arbeiten geht?“, hält sie dagegen.

„Ja vier Stunden, keine Zehn!“

„Er kommt doch schon nach den vier Stunden am nächsten Tag kaum aus dem Bett.“

„Ach, was! Dafür springt er jeden Morgen wie ein junges Reh durchs Haus.“

„Ja, nachdem er drei Schmerztabletten intus hat. Ich habe euch gesagt, es ist zu früh dafür.“

„Schluss jetzt! Ahhhgr!“, schreie ich, doch mein Protest geht in einem neuen Aufschrei unter. Immer heftiger ziehen sich die Muskeln in meinen Beinen zusammen. Der Schmerz raubt mir die Sinne, immer wieder wird mir schwarz vor Augen.

Ihr Streitgespräch endet abrupt, ich kann ihre besorgten Blicke auf mir spüren, eine kalte Hand berührt mich an der Stirn.

„Er ist ganz heiß!“, stellt Lui fest, „Wir müssen den Arzt holen!“

„Seht mich nicht so an, ich muss zurück zur Wache.“

„Aber du bist der schnellste und beste Fahrer von uns dreien“, hält Lui dagegen. Jan seufzt resigniert.

„Na schön!“ Seine Schritte verlieren sich auf dem Flur. Kurz darauf knallt die Haustür zu.

„Ich hole Wasser und Waschlappen“, schlägt Robin routiniert vor und verschwindet ebenfalls.

Die Krämpfe lassen einfach nicht nach, egal wie fest ich die Zähne auch aufeinander presse, ich kann nicht anders, als immer wieder zu schreien. Tränen pressen sich mir in die Augen und rollen mir die Wangen hinab.

„Schneide sie ab“, flehe ich Lui an. Alles ist besser als dieser Schmerz. Er lächelt nur sanft.

„Das geht vorbei.“

„Nein, wird es nicht. Hack sie einfach ab!“, maule ich, während neue Krämpfe durch meine Oberschenkel schießen. Ich drehe den Kopf zur Seite, um ins Kissen zu beißen und halte den Atem an. Das ist einfach nicht auszuhalten. Wenn Lui es nicht gleich tut, reiß ich sie mir selbst ab.

Etwas kaltes berührt mich an der Stirn, ein eisiger Schauer rinnt mir den Rücken hinab.

„Enrico, hey weiter atmen! Sieh mich an! Tief durchatmen!“, rät Robin mir. Ich blinzle den trüben Schleier weg. Ihr Gesicht ist mir ganz nah, ich spüre ihren warmen Atem im Gesicht, die haselnussbraunen Augen sind voller Sorge.

„Geh...“, presse ich gequält hervor. Ich will nicht, dass sie mich so sieht. Sie kann doch sowieso nichts dagegen tun. Ihren leidenden Blicke ertrage ich nicht auch noch.

„Was?“ Verständnislos sieht sie mich an.

„Geh raus!“, wiederhole ich kraftvoller.

„Aber …“

„Bitte, lasst mich allein! Ahhhgr!“ Ich presse die Augenlider zusammen, neue Tränen rollen mir die Wange hinab. Das ganze Kissen ist schon nass.

„Ich kann dich doch so nicht allein lassen“, protestiert sie. Ich habe keine Luft mehr, sie weg zu schicken. Ein neuer Krampf fordert all meine Aufmerksamkeit.

Lui erhebt sich, er umrundet das Bett und nimmt Robin am Arm.

„Komm!“, fordert er sie auf.

„Aber...“

„Wir können sowieso nichts machen, als auf den Arzt zu warten.“ Nur widerwillig lässt Robin sich aus dem Zimmer schieben. Ich werfe Lui einen dankbaren Blick hinter, bis mich die Krämpfe wieder zusammenzucken lassen. Ach verdammt, was muss ich Idiot es auch immer gleich übertreiben? Wenigstens einmal, hätte ich auf den Arzt hören sollen. Aber bisher habe ich all seine Diagnosen widerlegt. Wer kann denn ahnen, dass es dieses mal recht hat?
 

Eine gefühlte Ewigkeit später, stapft ein braungebrannter Mann, mit einem schwarzen Arztkoffer ins Zimmer. Während er näher kommt, schüttelt er immer wieder mit dem Kopf und verdreht die Augen. Er sagt nichts, setzt sich lediglich auf den Rand des Bettes und zieht einen Stuhl zu sich. Seinen Koffer stellt er darauf ab und klappt ihn auf. Er kramt eine Weile darin herum und zieht dann eine Spritze auf. Kommentarlos spritzt er mir die farblose Flüssigkeit in die Vene meiner Armbeuge. Eine zweite und dritte jagt er mir rechts und links in die Oberschenkel. Die unerträglichen Krämpfe werden schwächer, ich atme erleichtert auf.

„Zehn Stunden, ja? Dir ist schon bewusst, dass ich den vier Stunden nur mit Zähneknirschen zugestimmt habe, oder?“ Ich schaue den jungen Mann, mit der dicken Brille auf der Nase, leidend an. Mir fehlt die Kraft für Wiederworte, also schweige ich.

„Und ihr!“ Sein Blick geht von Lui auf Jan und Robin. „Wieso lasst ihr das zu? Ihr kennt ihn doch. Selbsteinschätzung ist nicht seine Stärke.“

„Ich hab's euch ja gesagt!“, schimpft Robin.

„Was können wir denn dafür, wenn er uns anlügt. Er ist doch kein Kind mehr und ich bin nicht sein Vater“, mault Jan.

„Könnt ihr nicht leise sein?“, murmle ich, doch meine Stimme ist so schwach, dass keiner davon Notiz nimmt.

„Er wird sich jetzt ausruhen müssen. Fünf Tage Bettruhe, mindestens.“ Das soll wohl ein schlechter Scherz sein? Ich halte es ja kaum eine Nacht in diesem Raum aus. Andererseits, klingt liegen bleiben und nicht mehr aufstehen müssen, gar nicht so schlecht. Nun wo die Schmerzen endlich nach lassen, werde ich unendlich müde. Ich schaffe es nicht mal mehr dem Gespräch des Doktors zu folgen, auch das er seinen Koffer zusammen packt und den Raum verlässt, bekomme ich nur beiläufig mit.

Ich bin schon fast eingeschlafen, als ich von Händen gepackt und von starken Armen aufgerichtet werde. Jemand zieht mir die verschwitzten Sachen vom Leib und frische wieder an. Während auch das Bett neu bezogen wird, schlafe ich ein.
 

Als ich aufwache ist das Zimmer in dämmriges Licht getaucht. Durch das Fenster sind orangene Streifen am Firmament zu sehen. Geht die Sonne auf oder unter? Wie lange habe ich geschlafen?

Im Raum ist es ruhig, der Platz neben mir ist verwaist. Verwirrt sehe ich mich um, doch von Robin fehlt jede Spur. Die Türen unseres Kleiderschrankes stehen offen, etliche Kleidungsstücke meiner Frau fehlen, dafür liegt ein großer Koffer auf einem Stuhl davor. Erschrocken schlage ich die Decke zurück. Schwerfällig versuche ich mich aufzurichten. Von den Armen bis in die Zehenspitzen habe ich Muskelkater. Besonders meine Beine schmerzen, als wenn sie jeden Moment ein neuer Krampf durchzucken würde. Nur mit zusammengebissenen Zähnen schaffe ich es, sie aus dem Bett zu schieben. Ich brauche zwei Anläufe, um aufzustehen. Unendlich mühsam erscheint mir der Weg bis zur Tür und durch den Flur. Immer wieder muss ich stehen bleiben, um mich an der Wand oder an einem Möbelstück abzustützen.

Im Wohnzimmer sind Schritte zu hören, Licht fällt durch die Tür in den Flur. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich im Türrahmen stehe und Robin beim Kaffeekochen beobachten kann. Als sie mich kommen hört, dreht sie sich um.

„Du sollst doch im Bett bleiben!“

„Ziehst du aus?“, will ich entsetzt wissen.

Robin schmunzelt. „Wieso? Würdest du mich auf einmal vermissen?“

„Das ist nicht lustig!“, protestiere ich.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu meiner Cousine fahre.“ Stimmt, davon hatte sie mir vor meinen Zusammenbruch mal erzählt, aber ich habe wie immer nur halbherzig zugehört. Die Erklärung beruhigt mich fürs erste. Ich humple ins Wohnzimmer und steuere das Sofa an. Ich kann keinen Moment länger stehen, also lasse ich mich auf die Sitzfläche fallen.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, will ich wissen

„Einen ganzen Tage“, erklärt sie und trägt zwei Tassen Kaffee zum Tisch. Eine gibt sie mir, die andere trinkt sie selbst.

Einen ganzen Tag also, so lang hat es sich gar nicht angefühlt. Ich bin noch immer hundemüde und gähne herzhaft. Meinen Blick richte ich an die Standuhr. Es ist gerade mal kurz nach Sechs.

„Wieso bist du schon so früh auf?“

„Meine Cussine hat schon heute Nacht ihre Zwillinge bekommen. Ich soll ihr im Haus zur Hand gehen, bis der Kaiserschnitt verheilt ist und sie allein zurecht kommt. Eigentlich sollten die Zwillinge ja erst nächste Woche kommen, deswegen muss ich jetzt etwas früher los.“ Ich nicke lediglich und nehme einen Schluck aus der Tasse.

„Kann ich dich denn allein lassen, ohne dass du wieder irgendwelchen Blödsinn machst?“

„Wie lange wirst du denn weg sein?“

„Zwei bis drei Wochen auf jeden Fall.“ Zwei bis drei Wochen allein mit den beiden Schwuchteln, das kann was werden. Wer soll uns eigentlich essen kochen? Wir werden verhungern und in einem Berg Dreckwäsche ersticken. Bei der Vorstellung, wie es bei Robins Rückkehr hier aussehen wird, muss ich schmunzeln.

„Was ist jetzt, kann ich guten Gewissens fahren?“

„Keine Sorge, ich hab schon früher nur mit Jungs zusammen gewohnt. Wir kommen schon zurecht.“ Moment, habe ich? Woher kommt auf einmal diese Gewissheit?

„Daran erinnerst du dich?“

„Keine Ahnung. Stimmt es denn?“

„Robin, kommst du?“ Lui kommt zu uns, er trägt den Koffer aus dem Schlafzimmer unter dem Arm. Robin wird uns also wirklich verlassen. Obwohl mich ihre Fürsorge bisher immer erdrückt hat, ist es eine seltsame Vorstellung, dass sie nun ganze drei Wochen nicht um mich sein wird.

„Ja, komme sofort!“ Robin kommt noch einmal zu mir. Sie gibt mir einen Kuss und sieht mich streng an.

„Mach keinen Unsinn und hilf den anderen Beiden bei der Hausarbeit. Ich will nicht in Arbeit ersticken, wenn ich wieder komme.“

„Kann ich nicht versprechen“, lache ich sie an. Sie straft mich mit einem mahnenden Blick, dann geht sie zu Lui.

„Danke das du mich extra fährst, wo du doch gerade erst aus der Nachtschicht heim gekommen bist.“

„Ach was, ich muss sowieso zum Hafen.“

„Zum Hafen?“

„Ja, ich muss da jemanden abholen.“ Luis Blick streift mich. Ein verschwörerisches Lächeln bildet sich in seinen Mundwinkeln. Ich ziehe eine Augenbraue fragend hinauf. Er wird doch nicht noch einen Hund anschleppen, oder?

~Wiedersehen~

Das Festland ist schon zu sehen. So viele Wochen auf hoher See und nun ist das Ende seiner Reise endlich in Sicht. Die wenigen Habseligkeiten, die er mitgenommen hat, hat er bereits zusammen gepackt. Die Gitarre trägt er auf dem Rücken, sein Koffer steht zu seinen Füßen. Mit den Armen auf die Reling gebeugt, betrachtet er die Küste. Nur vereinzelte Häuser flankieren den Berg und die flache Bucht davor. Hier und da laufen Menschen auf dem Steg auf und ab. Sie helfen das Schiff einzuweisen und zu vertauen. Was für eine trostlose Gegend. Es scheint nur eine einzige Straße zu geben, die durch das verschlafene Dorf hinein und wieder hinaus führt. Ein ungutes Gefühl beschleicht Antonio, als er den Hafen vergeblich nach einem vertrauten Gesicht absucht. Er hat kein Geld mehr, um ein Ticket in die Heimat zu kaufen und könnte nicht einmal ein Hotelzimmer bezahlen. Einmal zieht er an der Zigarette zwischen seinen Fingern.

Das Schiff kommt in der Bucht zum Liegen, die ersten Passagiere steigen aus. Antonio gibt sich einen Ruck und stößt sich von der Reling ab. An Bord zu bleiben, ist erst mal keine Option, doch sollte Lui nicht auftauchen, wird ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, sich als blinder Passagier die Heimfahrt zu sichern. Noch mal etliche Wochen auf hoher See, hoffentlich bleibt ihm das erspart.

Antonio schnippt die Kippe ins Meer, dann folgt er den anderen Passagieren über eine Rampe auf den Pier. Mit dem Koffer in der einen und der anderen Hand in der Hosentasche, sieht er sich nach allen Seiten um. Einige Hafenarbeiter eilen an ihm vorbei, um das Schiff zu entladen. Er sieht ihnen dabei zu und stellt seinen Koffer neben sich ab. Ein Glück bleibt ihm dieser Knochenjob heute erspart. Der derbe Geruch von Fisch steigt ihm in die Nase. An etlichen Ständen, rund um den Pier, preisen Fischer ihre frisch gefangene Ware an. Auch unter ihnen und ihrer Kundschaft befindet sich kein bekanntes Gesicht. Seufzend kramt Antonio in seinen Taschen nach Feuerzeug und Zigarette. Es ist seine Letzte Schachtel, er wird dringend neue besorgen müssen. Während er sich nach einem passenden Geschäft dafür umsieht, nähern sich ihm eilige Schritte.

„Antonio, gut ich dachte schon, ich hätte dich verpasst.“ Ein junger Asiat nähert sich ihm. Er ist außer Atem, seine schwarzen Haare stehen ihm zerzaust vom Kopf. Tiefe Augenringe zeugen von wenig Schlaf, in der vergangenen Nacht. Antonio zündet sich in Ruhe seine Zigarette an und wartet darauf, dass Lui ihn erreicht.

„Tut mir leid, dass ich etwas spät dran bin, ich musste noch einen anderen Weg erledigen.“

„Bin selbst gerade erst angekommen.“ Lui bleibt vor ihm stehen, zur Begrüßung reicht er ihm die Hand, doch Antonio ignoriert diese Geste und zieht stattdessen an seiner Zigarette. Misstrauisch betrachtet er den Polizisten, bis Lui die Hand sinken lässt.

„Immer noch der alte Eisklotz, wie ich sehe.“ Antonio überhört die Worte kommentarlos und will stattdessen ernst wissen: „Weswegen bin ich hier Lui?“ Diese Frage hat ihn die ganze Fahrt über beschäftigt und bevor er keine Antwort darauf hat, wird er den Hafen nicht verlassen. Luis Blick geht an ihm vorbei. Misstrauisch betrachtet er die anderen Passagiere, die noch immer das Schiff verlassen.

„Nicht hier! Außerdem glaubst du mir das eh erst, wenn du ihn siehst.“ Lui setzt sich in Bewegung.

„Ihn?“ Als Lui den Pier verlässt, ohne zurück zu schauen, bleibt Antonio nichts anderes übrig, als seinen Koffer zu nehmen und ihm zu folgen.

„Lui, ich habe echt keinen Nerv für diese Spielchen. Sag endlich was Sache ist, oder ich nehme das nächste Schiff zurück.“ An der Schulter hält er den Asiat fest, um ihn dazu zu bringen, endlich stehen zu bleiben. Der junge Mann dreht sich unbeeindruckt zu ihm um, seine Hände verstaut er in den Taschen seiner Stoffhose. Wieder wandert sein Blick an Antonio vorbei, auf die anderen Passagiere, die an ihnen vorbei kommen.

„Ich habe dir doch schon geschrieben, dass wir uns erst unterhalten können, wenn wir ungestört sind.“ Lui streckt den Arm aus und deutet auf ein Fahrzeug, dass auf halbem Wege zur Straße geparkt steht.

„Mein Wagen steht dort, Antworten gibt es auf dem Weg zum Sommerhaus.“ Das sind ja tolle Aussichten. Erst wenn er sich in einem Wagen befindet, der ihn sonst wo hin bringen kann, wird er Antworte bekommen. Misstrauisch mustert Antonio den Asiat. Lui setzt sich wieder in Bewegung, ohne eine Reaktion abzuwarten, hält er auf sein Automobile zu. Antonio seufzt ergeben und folgt ihm. Lui öffnet den Wagen. Noch einmal wirft Antonio dem jungen Mann einen prüfenden Blick zu, dann nimmt er seinen Gitarren vom Rücken und schiebt sie, zusammen mit dem Koffer, auf den Rücksitz. Er selbst nimmt auf dem Beifahrersitz platz.

„Du spielst Gitarre?“, will Lui wissen, als er zu ihm steigt.

„Ja, ich brauchte etwas, was mir auf der langen Fahrt die Zeit vertreibt. Ehrlich, wenn sich das hier für mich nicht lohnt, bist du fällig.“ Lui schmunzelt verschwörerisch und startet den Motor. Auf direktem Wege lassen sie das verschlafene Dorf hinter sich. Die befestigte Straße wird von einer Schotterpiste abgelöst, die sich im Nichts verliert.

„Du wohnst hier ganz schön am Arsch der Welt, oder?“ Nichts als Bäume und weite Felder, keine Menschenseele, so weit das Auge reicht.

„Naja, der Arzt hat empfohlen aufs Land zu ziehen, irgendwo hin, wo es schön ruhig ist und glaub mir hier ist es verdammt ruhig.“

„Der Arzt?“ Antonio betrachtet Lui von oben bis unten, doch mal von dem müden Erscheinungsbild, sieht er fit aus.

„Es ging nicht um mich.“

Auffordernd betrachtet Antonio den Polizisten.

„Er ist es, der zwei Jahre im Koma lag und seit dem sein Gedächtnis verloren hat. Wir haben echt alles versucht, aber langsam übertreiben es Jan und Robin mit ihren Lügengeschichten. Er glaubt uns schon kein Wort mehr und deswegen brauche ich dich.“

„Jan und Robin sind auch hier? Es ging das Gerücht um, sie wären tot.“

„Ja, das Gerücht haben wir verbreitet.“

„Warum?“

„Weil wir ständig angegriffen wurden. Deswegen wohnen wir auch hier im Nirgendwo.“

„Ich blick da nicht durch. Von welchen Lügengeschichten sprichst und wer hat euch angegriffen?“

„Das ist eine wirklich lange Geschichte.“ Antonio betrachtet die endlose Piste. In der Ferne ist weder eine Stadt noch ein Haus zu erkennen.

„Wir scheinen Zeit zu haben, oder? Also rede endlich!“

„Die Drachen sind bis ins Krankenhaus gekommen, sie haben uns selbst über die Ländergrenzen hin verfolgt. Es ging nicht anders, als uns alle für tot zu erklären. Er lag doch schon im Koma und war so gut wie tot, aber sie haben einfach keine Ruhe gegeben und als wir ihn endlich aus New York raus hatten, wollte er einfach nicht wieder aufwachen. Die Ärzte haben zwei Jahre um sein Leben gekämpft und dann kommt er endlich wieder zu sich und weiß nichts mehr. Zwei Jahre ist das jetzt her und er hat immer noch keine Ahnung, wer er eigentlich ist. Jan und Robin tragen auch nicht gerade dazu bei, dass sich das ändert.“

„Moment mal, ich verstehe nur Bahnhof. Von wem reden wir hier eigentlich?“, versucht Antonio in Erfahrung zu bringen, doch Lui ist so in seinem Redefluss vertieft, dass er einfach weiter spricht.

„Mag ja sein, dass es besser ist die schlimmen Passagen auszulassen und ihm erst mal keinen Grund zu bieten nach New York zurückzukehren. Er ist noch lange nicht so weit, dort zurecht zu kommen, aber ihre Lügen gehen allmählich zu weit. Ich habe mir vergeblich den Mund fusselig geredet. Sie hören mir einfach nicht zu und weil er auch mir kein Wort mehr glaubt, brauche ich dich. Du bist der einzige Name, an den er sich erinnert. Wenn es da noch irgendwo etwas in ihm gibt, dann bist du der Einzige, dem er vertrauen wird.“

„Könntest du endlich mal mit nem Namen arbeiten?“, wird Antonio lauter. Lui schweigt, er lenkt den Wagen auf ein freies Grundstück, dass direkt an den Klippen liegt. Nur ein Haus steht hier, aus dessen Schornstein dicker Rauch aufsteigt. Lui seufzt ergeben und und beugt sich über das Lenkrad, schließlich öffnet er die Wagentür und steigt aus.

„Komm mit rein, dann wirst du's verstehen“, schlägt er vor. Antonio atmet tief durch, ein flaues Gefühl breitet sich in seinem Magen aus. Nur widerwillig steigt er aus und folgt dem Asiat zur Haustür. Lui verstaut den Wagenschlüsse in seiner weiten Manteltasche und kramt aus seiner Hose den Hausschlüssel. Als er die Tür für sie öffnet, greift Antonio ihm in die Manteltasche und lässt den Wagenschlüssel in seiner eigenen Jackentasche verschwinden. Lui bemerkt den Diebstahl nicht, seine Hände zittern so sehr, dass er zwei Versuche braucht, um das Schloss zu finden. Argwöhnisch sieht Antonio ihm dabei zu, als ein Schatten um das Haus herum geflitzt kommt. Bellend springt ihnen ein Fellknäuel entgegen und umrundet Lui aufgeregt. Immer wieder springt der Welpe an ihm hoch und versucht ihm das Gesicht zu lecken.

„Hat er dich wieder ausgesperrt?“, will Lui von dem Welpen wissen und streichelt ihn durch das Fell. Als er die Tür endlich aufgeschlossen hat, stürmt der Hund an ihnen vorbei, hinein ins Haus. Wohlige Wärme kommt ihnen entgegen. Irgendwo Knistert ein Kaminfeuer. Die Pfote des Hundes schlittern über den gefliesten Boden. Das Fellbündel verschwindet laut kläffend.

„Lui, lass den Köter gefälligst draußen!“, schallt es aus einem der Zimmer. Antonios Herz durchzuckt ein heftiger Stich. Diese Stimme, das kann nicht sein. Als Lui vor ihm das Haus betritt, hält Antonio ihn an der Schulter fest und schiebt sich an ihm vorbei. Der Asiat lässt ihn gewähren.

„Geh nur zu ihm, ich kümmer mich um dein Gepäck.“ Luis Worte verklingen ungehört. Seine Beine tragen Antonio von ganz allein durch den Flur, doch mit jedem weiteren Schritt, werden sie immer schwerer. Er muss sich einfach verhört haben. Vielleicht spielt ihm ja wieder Enricos Geist einen Streich.

Unendlich lang erscheint Antonio der Weg durch den Flur, bis er endlich die Türrahmen erreicht. Er macht einen Schritt in den Raum und atmet noch einmal tief durch. Sein Blick bleibt an einem Sofa hängen. Ein junger Mann mit blonden Haaren sitzt dort. Er hat eine Decke über den Beinen liegen und ein Buch in der Hand. Der Welpe springt neben ihm auf dem Sofa herum. Die Stirn des Blonden legt sich genervt in Falten. Er greift das Tier im Genick und reicht es in Antonios Richtung.

„Würdest du das Tier bitte entfernen!“ Als Antonio wie angewurzelt stehen bleibt und nicht reagiert, richtet sich der Blick des Blonden auf ihn. Die selben eisblauen Augen, die selbe Frisur, selbst das Gesicht ist um keinen Tag gealtert. Das ist kein schemenhafter Umriss mehr, kein Schatten der sich durch Blinzeln wieder auflöst. Dieser Enrico wirkt so echt und lebendig, das Antonio das Gefühl hat, nur die Hand nach ihm ausstrecken zu müssen, um ihn berühren zu können. Doch er traut sich nicht, wagt noch nicht mal zu atmen.

Die Augen des Blonden weiten sich. Seine Hand, mit der er den Welpen hält, öffnet sich. Das Tier purzelt unsanft auf das Sofa. Das Buch lässt der Blonde sinken und starrt ihn mit offenem Mund an.

„Ist … ist … das euer verdammter ernst?“, schreit Antonio. Sein Magen dreht sich um, ihm wird so flau, das ihm schwarz vor Augen wird. Seine Beine wollen sein Gewicht nicht mehr tragen, unter ihm knicken sie weg. Wie ein nasser Sack, fällt er auf die Knie. Alles um ihn herum, beginnt sich zu drehen.

~Du lebst~

Die Haustür wird aufgeschlossen. Lautes Hundegebell und Stimmengewirr dringen mit kalter Zugluft herein. Pfoten schlittern über den gefliesten Boden.

„Lui, lass den Köter gefälligst draußen!“, rufe ich vergebens in den Flur. Es ist bereits zu spät, der Welpe stürmt ins Wohnzimmer und begrüßt mich freudig kläffend. Tollpatschig versucht er auf das Sofa zu klettern. Schließlich schaffen er es, sich mit seinen viel zu großen Pfoten, zu mir hochzuziehen. Aufgeregt hüpft er neben mir auf und ab. Vorbei ist es mit meiner Ruhe. Nicht mal auf den Text, kann ich mich noch konzentrieren, dabei war es gerade so spannend. Ich will wissen, wie es mit dem Romanheld weiter geht, ob er findet, wonach der gesucht hat. Als ich Schritte auf dem Flur höre und Lui in der Tür stehen bleibt, packe ich den kläffenden Köter im Genick und reiche ihn in seine Richtung. Ohne von meinem Buch aufzusehen, weiße ich ihn an: „Würdest du das Tier bitte entfernen!“

Lui reagiert nicht, er steht einfach nur da. Das ist seltsam, sonst nimmt er mir den Welpen doch immer ab. Verwirrt sehe ich zu ihm auf, doch dieses mal braucht mein Blick wesentlich länger, um an seinem Gesicht anzukommen. Der Mann, der im Zimmer steht, ist deutlich größer und hat ein viel breiteres Kreuz. Dieses Gesicht, dass ist nicht das des Asiaten, sein Teint ist südländisch und unendlich vertraut. Mir stockt der Atem, den zappelnden Welpen lasse ich fallen, das Buch sinken. Der Hund quietscht und verkriecht sich ängstlich unter dem Sofa.

'Toni' – Meine Lippen formen seinen Namen, doch es kommt kein Ton aus meiner zugeschnürten Kehle. Das ist der Mann, denn ich so oft in meinen Alpträumen sehe. Er sieht genau so aus. Die selben grünen Augen, die selben pechschwarzen Haare. Es gibt ihn wirklich!

„Ist … ist … das euer verdammter Ernst?“, schreit er. Seine Stimme geht mir durch Mark und Bein. Sie ist dunkel und kraftvoll und viel intensiver, als in meiner Erinnerung.

Die Beine des Mannes beginnen zu zittern, vor dem Sofa sackt er auf die Knie. Unfähig zu reagieren, sehe ich ihm dabei zu.

„Ich muss irgendwo meinen Schlüssel verlegt … verdammt Antonio, alles okay?“

Antonio, nicht einfach nur Toni? Lui kniet sich zu unserem Gast. Er nimmt ihn an den Schultern und hilft ihm, sich in einen der Sessel zu setzen.

„Ich hätte dich wohl doch vorwarnen sollen, was? Warte ich hol dir ein Glas Wasser!“ Während Lui in der Küche verschwindet, kann ich meinen Blick nicht abwenden. Sein vertrautes Erscheinungsbild fasziniert mich. Ich habe nie damit gerechten, ihm einmal wirklich zu begegnen. Der junge Mann stützt das Gesicht in die Hände, seine schulterlangen Haare fallen ihm darüber. An ihre Spitzen bilden sich kleine Locken. Zwischen seinen Fingern blitzen mich seine smaragdgrünen Augen an und jagen eisige Schauer meinen Rücken hinab. Ein warnendes Gefühl schleicht sich in meinen Magen, das mit dem Kerl nicht zu spaßen ist.

Lui kommt aus der Küche zurück. Er reicht unserem Gast ein Glas Wasser, das dieser Kommentarlos annimmt. Ohne daraus zu trinken, presst er lediglich ein unheilvoll klingendes: „Danke!“, hervor. Unentwegt sieht er mich an und auch ich kann nicht wegsehen. Das erste Mal, seit ich aus dem Koma aufgewacht bin, ist da etwas vertrautes. Stirn, Nase, Augen, Mund dass alles kenne ich bereits auswendig, nur dieser finstere Blick und das Glas mit Wasser, passen irgendwie nicht dazu. Das war sonst eine Tasse und darin war auch kein Wasser. Das Getränk, dass er immer angelächelt hat, war dunkel und roch süßlich. Kakao, schießt es mir.

Ich lege das Buch und die Decke bei Seite und stehe auf. Schwerfällig humple ich bis in die Küche und krame dort eine der Tassen aus dem Schrank. Robin trink auch hin und wieder Kakao, vielleicht haben wir ja noch welchen da. Wenn ich nur wüsste, in welchem der vielen Schränke sie ihn aufbewahrt. Während ich die nötigen Zutaten zusammen suche, folgt mir sein Blick unentwegt und auch Lui beobachtet mich aufmerksam.

Mit der duftenden Tasse in der Hand, kehre ich zum Tisch zurück. Kommentarlos nehme ich unserem Gast das Glas Wasser aus der Hand und reiche ihm stattdessen die Tasse. Er nimmt sie entgegen und sieht mich noch einmal lange an, schließlich wandert sein Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Tasse. Ein wehmütiges Lächeln huscht ihm über die Lippen, während er sacht mit dem Kopf schüttelt. Gedankenverloren beginnt er mit dem Löffel in der Tasse zu rühren.

Luis verwunderter Blick streift mich. „Du hast alles vergessen, aber was er gern Trink weißt du noch?“, will er wissen.

Ich zucke mit den Schultern. Es scheint so zu sein.

„Lui!“, beginnt der junge Mann leise aber kraftvoll. Als ihm die Aufmerksamkeit des Asiaten sicher ist, fügt er an: „Lass uns allein!“ Seine Wort gleichen einem Befehl. Lui zögert einen Moment, sein fragender Blick gilt mir. Ich nicke. Mit unserem Gast komme ich auch allein klar.

„Schön, aber lasst das Sofa heil!“

Irritiert sehe ich Lui nach, während er auf die Tür zuhält.

„Spar' dir deine dummen Sprüche. Ihr könnt froh sein, wenn ich euch dafür nicht alle umlege!“ Die kraftvolle Stimme unseres Gastest ist so laut, dass Lui zusammen zuckt und seine Schritte beschleunigt. Als er in sein Zimmer verschwindet und die Tür nach ihm ins Schloss fällt, wird es bedrückend still. Ob der Kerl das ernst gemeint hat? Aber welchen Grund sollte er haben, uns umbringen zu wollen und warum schleppt uns Lui so jemanden ins Haus? Die Haltung des Südländers ist tatsächlich angespannt und sein Blick hat etwas bedrohliches. Selbst Lui ist vor ihm zusammen gezuckt und den bringt für gewöhnlich nichts aus der Ruhe. Trotzdem empfinde ich weder Furcht noch Sorge, wenn ich ihn ansehe. Stattdessen bin ich so ruhig und ausgeglichen, wie lange nicht mehr.

„Setz dich!“, fordert er streng.

Ich tu ihm den Gefallen und setze mich in den Sessel, ihm direkt gegenüber. Meine Arme stütze ich mit den Ellenbögen auf den Knien und falte die Hände zusammen.

„Wieso lebst du noch?“, will er ernst wissen.

„Das selbe könnte ich dich fragen.“

„Was soll das heißen?“

„In meinen Alpträumen, stirbst du immer.“

Er schaut gedankenverloren in seine Tasse. „Du in meinen auch“, murmelt er.

Meinen Kopf lehne ich gegen die gefalteten Hände und betrachte noch immer fasziniert das vertraute Gesicht. Obwohl wir in meinen Träumen immer von Flammen eingeschlossen werden, ist an ihm keine Brandnarbe auszumachen. Lediglich eine kleine, gerade Narbe, zieht sich durch seine linke Augenbraue. Er ist vielleicht ein bisschen mager, sieht ansonsten aber fit aus, auf jeden Fall fitter als ich es bin.

„Was schaust du denn so?“, meint er schroff und wendet seinen Blick für einen Moment ab.

Ich schaue ihn auch weiterhin direkt an, während ich mit fester Stimme wissen will: „Wer bist du?“ Endlich kann ich diese Frage mal jemandem stellen, der auch ganz sicher, die richtige Antwort darauf weiß. Sein irritierter Blick wendet sich wieder mir zu. „Was soll das heißen, wer ich bin? Wollt ihr mich eigentlich alle verarschen?“ Klangvoll stellt er die Tasse auf den Tisch ab und steht auf. Wütend stampft er bis zum Kamin und stützt sich mit den Händen an die Verkleidung, sein Blick verliert sich in den Flammen.

„Toni, ich weiß nicht, ob Lui dich aufgeklärt hat, aber ich habe fasst all meine Erinnerungen verloren und ...“

Ein bitteres Lächeln schleicht sich auf seine Mundwinkel. „Wie … wie hast du mich gerade genannt?“ Als er seinen Kopf zu mir dreht, hat sein Blick etwas leidendes, seine Augen werden gläsern.

„Ich habe dich Toni genannt. Du heißt doch nicht wirklich Antonio, oder?“ Der Name erscheint mir einfach nicht richtig.

„Doch! Du bist der Einzige der Toni sagt.“ Seine Stimme verliert an Kraft und wird immer brüchiger, die Schultern lässt er hängen. „Seit Jahren hat mich niemand mehr so genannt ...“, murmelt er in die Flammen.

Wieso geht ihm dieser Spitzname nur so nah? Kopfschüttelnd wende ich mich von ihm ab.

„Wieso hast du gedacht, ich sei tot?“, will ich wissen.

„Weil ich dich beerdigt habe, du Idiot!“

„Dafür kann ich nichts. Ich lag im Koma. Keine Ahnung was die drei Gestalten in der Zeit abgezogen haben.“ Verächtlich schaue ich zur Tür, hinter der Lui verschwunden ist. Offensichtlich bin nicht der Einzige, der die letzten Jahre belogen wurde. Wir schweigen beide, bis ich die unerträgliche Stille nicht länger ertrage. „Toni, du bist das einzige Gesicht mit Namen, in meinen wirren Erinnerungsbruchstücken und ich habe das Gefühl, dir vertrauen zu können …“

„Du hast nur das Gefühl, mir vertrauen zu können? Das ist bitter, ehrlich!“, seufzt er und sackt in seiner Haltung noch ein Stück mehr zusammen.

Es ist tatsächlich nur ein unbestimmtes Gefühl in mir. Was soll es auch sonst sein? Mal von seinem äußeren Erscheinungsbild abgesehen, ist er mir fremd.

„Nimm's mir nicht übel, aber ich weiß nicht mal, wer ich selbst bin. Woher soll ich wissen, ob du mein Freund oder Feind bist?“

„Sieh mir ins Gesicht und sag mir, ob du wirklich glaubst, dass ich dein Feind sein könnte!“, fordert er aufgebracht und dreht sich zu mir.

Ich zögere einen Moment, bis ich es wage ihn anzusehen. Obwohl sein Blick ernst und verbissen und seine Haltung angriffslustig ist, empfinde ich noch immer keine Furcht. Nicht mal seine lauten und aggressiven Worte erschrecken mich. Ich bin mir fast sicher, dass er sich zwischen mich und eine Kugel werfen würde, wenn es nötig wäre.

„Wer bin ich für dich?“, will ich meinerseits wissen. Irgendetwas ist da, etwas das ich nicht nicht greifen kann. Er ist nicht nur ein Begleiter, wie Jan und Lui, so viel steht fest.

„Du bist … Eigentlich …. eigentlich bist du der wicht ...“, beginnt er und wendet seinen Blick verlegen ab. Bilde ich mir das nur ein, oder werden seine Wange rot? Anstatt zu antworten, kramt er in seiner Jackentasche und zieht einen Schlüssel heraus. Er dreht ihn einige Male nachdenklich durch die Finger und schaut dann, wie vom Blitz getroffen, aus der Verandatür nach draußen. Auffordernd sehe ich ihn auch weiterhin an. Ich will eine Antwort, doch er wechselt das Thema: „Lass uns abhauen. Weg von hier, weg von den Lügen!“

Ungläubig betrachte ich ihn.

„Was denn? Du hast gesagt du hast das Gefühl mir vertrauen zu können, dann lass uns Luis Karre nehmen und abhauen.“

„Wohin denn?“

„Scheiß egal! Einfach weg!“ Der Schlüssel in seiner Hand, sieht genau so aus, wie der von Luis Automobile. Den gibt der doch nicht freiwillig her. Nicht mal Jan darf mit seinem Wagen fahren.

„Wo hast du Luis Schlüssel her?“

Er zuckt mit den Schultern. „Nun, ich bin ein ziemlich guter Dieb!“, sagt er nur und geht auf die Verandatür zu. Während er sie öffnet, sieht er noch einmal zu mir zurück. „Was ist jetzt, kommst du?“

Ich schaue von ihm in den Flur. Weg von allen Lügen, weg aus diesem verdammten Haus, das klingt mehr als verlockend. Als ich wieder zu Toni sehe, geht ein verlockendes Gefühl von Abenteuer von ihm aus. Allein unterwegs mit einem Dieb, der meine Freunde beklaut, das kann nur schief gehen. Doch noch bevor die Bedenken Raum in meinem Kopf gefunden haben, bin ich schon aufgestanden und folge ihm hinaus ins Freie.

~Allein mit einem Dieb~

Irgendwie seltsam, mit ihm auf so engem Raum allein zu sein. Ob wir wohl schon oft gemeinsam auf Tour waren?

Als er den Wagen startet und wir losrollen, rutscht etwas schweres gegen meinen Sitz. Zwei Koffer liegen auf der Rückbank, einer davon hat die Form eines Musikinstrumentes.

„Du spielst Gitarre?“, will ich von ihm wissen.

„Du erinnerst dich wirklich an nichts, oder?“

„Glaubst du ich habe mir das nur ausgedacht?“ Er schweigt nachdenklich, dann wandert seine Aufmerksamkeit von der Straße auf meine verbundenen Hände.

„Was ist mit deinen Händen passiert?“

„Ich habe es bei der Arbeit in der Werkstatt etwas übertrieben. Halb so schlimm.“

„Und warum humpelst du?“ Ich seufze und schiebe den Stoff meiner Hose bis zu den Knien. Toni wirft beiläufig einen Blick darauf.

„Verstehe“, sagt er lediglich. Mit den Gedanken ist er auf einmal ganz weit weg und auch ich sehe für einen Moment die brennende Lagerhalle und glaube das Feuer spüren zu können, dass sich in meine Beine frisst. Wir hängen einen Moment lang unseren Erinnerungen nach, bis mir meine Frage wieder in den Sinn kommt.

„Wie stehen wir beide eigentlich zueinander?“, versuche ich es noch einmal. Toni weicht meinem fragenden Blick aus. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich antwortet: „Du bist mein bester Freund.“ Ich mustere seinen scheuen Blick aufmerksam, schließlich wendet er sich ab. Mein bester Freund, ja? Bisher habe ich Robin, Jan und Lui dafür gehalten. Immerhin haben sie mich die ganze Zeit begleitet, aber wirklich wohl, habe ich mich in ihrer Gesellschaft nie gefühlt. Und bei ihm? Ich werde gerade, mit einem geklauten Wagen entführt und bin die Ruhe selbst. Das Sommerhaus ist schon nicht mehr zu sehen und vor uns liegt die Einöde des Niemandslandes. Wo bleibt das Misstrauen, dass mich sonst bei jedem anderen Menschen begleitet.

„Ich kann es einfach nicht fassen“, unterbricht er meine Gedanken.

„Was denn?“

„Das du das überlebt hast. Sie haben dir im Krankenhaus direkt in die Brust geschossen.“ Reflexartig taste ich nach der Narbe.

„Ich hatte wohl einfach Glück, dass die Kugel von meinen Rippen abgelenkt wurde.“

„Du hattest schon immer mehr Glück als Verstand!“

„Bin ich denn so oft angegriffen worden?“ Bisher habe ich angenommen, der Mordversuch in der Lagerhalle und im Krankenhaus waren einmalig gewesen.

„Naja, ich kenne dich eigentlich nur mit irgendwelchen Verbänden.“ Ich hebe belustigt meine Hände.

„Na da scheint sich ja zumindest in dem Punkt nichts verändert zu haben.“ Wir müssen beide lachen, doch nur all zu schnell wird er wieder ernst.

„Ich habe wirklich gedacht, ich hätte dich für immer verloren. Wahrscheinlich wache ich morgen früh irgendwo in der Gosse auf und das hier, ist alles nur ein Traum.“ Seine Stimme wird zunehmend brüchiger, seine Augen bekommen einen gläsernen Glanz. Kurzentschlossen schlage ich ihm kraftvoll auf den Oberarm. Er zuckt erschrocken zusammen und sieht mich ärgerlich an.

„Aua! Hey, wofür war das?“

„Das tat doch weh, oder? Also träumst du nicht! Wobei ich es auch echt merkwürdig finde, dich außerhalb meiner Träume sehen und mit dir sprechen zu können. Sag mal, wie lange kennen wir uns eigentlich schon?“ Er überlegt einen Moment.

„Wenn du die letzten vier Jahre mitzählst, neun Jahre.“ Also haben wir gerade mal fünf Jahre zusammen verbracht? Seltsam, mir kommt es fast wie ein ganzes Leben vor.

„Wie haben wir uns kennen gelernt?“ Ein Schmunzeln huscht ihm über die Lippen.

„Du wolltest unbedingt Basketball gegen mich spielen und hast zehn zu null verloren..“

„Basketball?“

„Hast du das auch vergessen?“ Ich schaue entschuldigend unter seinem forschenden Blick hinweg.

„Ich hab noch nie von dieser Sportart gehört.“

„Man wirft da einen Ball in einen Korb, der an einer hohen Stange angebracht ist“, erklärt er. Ich schüttle wehmütig mit dem Kopf.

„Noch nie von gehört.“

„Ehrlich? Du musst echt mal raus kommen, aus der Pampa hier!“

„Wo wollen wir überhaupt hin?“, will ich wissen, als das Dorf in Sichtweite kommt. Er zuckt mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Du kennst dich doch hier aus. Gibt es hier denn irgendwas interessantes?“ Gute Frage. Mal abgesehen von der Werkstatt und dem Lebensmittelgeschäft, habe ich das Dorf nicht wirklich erkundet.

Als wir auf die befestigte Straße wechseln und die ersten Häuser an uns vorbei ziehen, betrachte ich ratlos die Umgebung. Es gibt gerade mal zwei Orte, die ich benennen kann: „In dem hellen Haus dort hinten, arbeiten Jan und Lui. Sieht etwas mickrig aus, aber für den kleinen Ort reicht die Wache offensichtlich. In der Werkstatt dahinter arbeite ich.“

„Du arbeitest also wirklich?“ Seine Stimme klingt überrascht.

„Ja, ich repariere Fahrzeuge. Hab ich das früher nicht gemacht?“

„Doch schon, aber eher als Hobby nebenbei.“

„Und was hab ich hauptberuflich gemacht?“

„Du hast Menschen umgelegt!“, haut er trocken raus.

„Ha, ha, sehr witzig.“

„Na gut, manchmal haben wir auch einfach nur geklaut und Erik beim Pokern abgezogen.“

„Du verscheißerst mich doch, oder?“ Toni schmunzelt amüsiert.

„Nicht wirklich, die Wahrheit ist viel zu amüsant dafür.“ Ich glaub ihm kein Wort.

„Wer soll denn dieser Erik bitte sein?“, versuche ich in Erfahrung zu bringen. Den Namen hat er sich doch gerade ausgedacht.

„Er besitzt ein Bordell. Du warst Stammkunde bei ihm.“

„Nein! Ganz sicher nicht!“, halte ich dagegen, doch Toni verzieht keine Mine.

„Wir waren beinah jeden Tag dort. Wir haben bei ihm als Türsteher gearbeitet. Du bist manchmal selbst in der Arbeitszeit mit einer seiner Mädels verschwunden. Klingelt da wirklich nichts bei dir?“

„Nein!“, protestiere ich energisch.

„Du verarschst mich doch, oder?“ Jan hat ja schon angedeutet, dass ich es wohl mit der Treue nicht so ernst genommen habe, dabei kann ich mir das jetzt gar nicht mehr vorstellen. Ich habe neben Robin, die ganzen Jahre keine andere Frau angesehen.

„Nein, ich bin verheiratet.“ Demonstrativ erhebe ich meine Hand, mit dem Ring, bis mir einfällt, dass er unter dem Verband gar nicht zu sehen ist. Toni sieht mich erst fragend und dann mit einem immer breiter werdenden Grinsen an, schließlich beginnt er herzhaft zu lachen.

„Was ist daran bitte so witzig?“, will ich ärgerlich wissen.

„Willst du mir allen ernstes weiß machen, dass du die letzten vier Jahre in keinem Bordell warst und keine Frau hattest?“

„Nein!“

„Nicht mal mit Robin?“ Was ist das denn für eine blöde Frage?

„Sicher hatte ich was mit ihr. Sie ist schließlich meine Frau!“

„Aha!“ Irritiert betrachtet er mich. „Wie hast du dich denn als Toter scheiden lassen, um sie zu heiraten?“

„Hä? Scheiden lassen? Wozu? Ich bin doch schon immer mit ihr verheiratet.“ Die Fröhlichkeit weicht gänzlich aus Tonis Gesicht. Mit einer erhobene Augenbraue, sieht er mich fragend an.

„Hat sie dir das erzählt?“

„Ja, sicher. Ich erinnere mich ja nicht. Worauf willst du überhaupt hinaus?“

„Hat sie auch einen Ring?“ Bei dieser Frage schläft mir das Gesicht ein. Gedankenverloren murmle ich: „Nein. Sie hat behauptet ihn bei dem Brand verloren zu haben. Wir haben ihr einen neuen gekauft ...“

„Ich glaube, du hast viel mit ihr zu bereden, wenn wir zurück sind.“

„Allerdings!“ Finster betrachte ich meinen Ringfinger.

„Wenn ich nicht mit ihr verheiratet bin, mit wem dann?“ Den Ring trage ich, seit ich aus dem Koma aufgewacht bin. Er war mir die erste Zeit viel zu groß, als wird Robin ihn mir sicher nicht während des Komas gekauft und übergezogen haben. Ich muss ihn schon vor dem Überfall besessen haben.

„Mit ihrer Schwerster“, erklärt er.

Mit was für Menschen lebe ich eigentlich schon seit vier Jahren zusammen? Ist denn wirklich alles eine Lüge gewesen? Immer verbissener schaue ich vor mich hin, bis Toni den Wagen parkt.
 

„Schau mal, das ist doch sicher ne Bar oder? Kommt! Du siehst aus, als wenn du nen Drink brauchen könntest.“ Er steigt aus und sieht mich auffordernd an.

„Du lässt es zu, dass ich was trinke?“, will ich irritiert wissen. Jan, Lui und Robin haben penibel darauf geachtet, das ich keinen Alkohol in die Finger bekomme, doch Toni zuckt nur unbekümmert mit den Schultern.

„Klar, wieso? Verträgst du nichts mehr?“

„Dich sauf ich noch immer unter den Tisch!“, kommt mir spontan über die Lippen. Endlich mal nicht an all die Regeln halten, mal nicht wie ein schwer kranker Krüppel behandelt werden. Daran könnte ich mich gewöhnen. Schwerfällig schiebe ich meine Beine aus dem Auto und erwarte jeden Moment, das Toni zu mir kommt und mir hilft, doch er läuft bereits auf den Eingang zu. Irritiert sehe ich ihm nach. Das nicht sofort eine helfende Hand zur Stelle ist, ist ungewohnt. Ich mühe mich allein aus dem Auto und schließe zu ihm auf. Er sieht durch die Glasscheibe der Tür ins Innere.

„Sieht ziemlich dunkel aus.“

„Es ist erst neun. Wer will schon um die Zeit in eine Bar?“

„In New York haben die Geschäfte den ganzen Tag offen.“ Ich zucke mit den Schultern.

„Mhm, lohnt sich hier nicht. Und nun?“ Toni sieht an an dem Gebäude entlang.

„Gibt's noch nen Hintereingang?“, will er wissen.

„Sicher, aber der ist doch bestimmt auch abgeschlossen“, vermute ich. Trotzdem setzt er sich in Bewegung. Ich folge ihm in langsamen Schritt und verstaue meine Hände in den Hosentaschen. Wir erreichen eine Tür auf der Rückseite des Gebäudes. Toni rüttelt einmal am Türknauf, doch nichts geschieht. War ja klar, dass auch hier abgeschlossen ist. Ich wende mich um, um den Rückweg anzutreten, da klickt und knarrt es leise. Als ich mich umdrehe schiebt Toni die Tür auf und verstaut ein Taschenmesser in seiner Jackentasche.

„Nach dir!“, bittet er mich mit einer ausfallende Handbewegung einzutreten. Als ich zögerere, wird sein Blick herausfordernd.

„Was denn? Hast du etwa Schiss von Lui und Jan verhaftet zu werden?“ Gutes Argument. Die Beiden werden mich einen Kopf kürzer machen, wenn sie das hier erfahren, aber sicher eine Ausrede finden, weswegen ich in der Bar war. Das dürfte also mein kleinstes Problem sein, trotzdem, am helllichten Tag irgendwo einbrechen? Andererseits wäre das nach den langweiligen Nachmittagen im Haus, echt mal eine Abwechslung. Die Vorstellung gegen alle Regeln der Vernunft zu verstoßen, beginnt mir zu gefallen.

„Kommst du jetzt, oder nicht?“, drängt er. Ich gehe zu ihm.

„Du bist also nicht nur Dieb, sondern auch ein Einbrecher?“, will ich wissen, als ich mich an ihm vorbei schiebe. Er zuckt mit den Schultern.

„Ich habe eben viele Talente. Außerdem kommt so ein Vorschlag für gewöhnlich von dir!“ Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass er mich nur auf den Arm nehmen will.

„Netter Versuch, aber ich bin noch nie irgendwo eingebrochen!“

„Von wegen! Du brichst doch gerade ein!“, ruft er mir nach, als ich die Bar betrete.

„Mag sein, aber es werden deine Fingerabdrücke sein, die man findet, nicht meine.“

„Ach so, läuft das jetzt?“ Er folgt mir.
 

Die Bar besteht aus einem einzigen großen Raum. Alle Stühle sind hoch gestellt, die Lampen an den Decken sind aus. Hinter der Bar stehen vereinsamte Gläser und Flaschen.

„So, und weiter?“, werfe ich in den leeren Raum. Toni verschafft sich einen groben Überblick, dann steuert er einen Billardtisch an. Auf ihm liegen zwei Stöcke gekreuzt übereinander. Er nimm sich einen davon und wirft ihn mir zu.

„Lust auf ne Runde?“

„Wenn du mir zeigst, wie es geht.“ Während ich ihm zum Tisch folge, richtet Toni die Kugeln aus.

„Langsam nervt deine Amnesie, weißt du das?“ Ich ignoriere sein Kommentar und richte die Spitze des Stocks auf die weiße Kugel. Mit einem kräftigen Ruck, stoße ich sie an. Die bunten Kugeln verteilen sich in alle Richtungen, eine Rote rollt ins hintere rechte Loch. Dunkel überkommt mich die Erinnerung an eine Regel: Die erste versenkte Kugel gibt vor, welche ich als nächstes Anspielen darf. Von jetzt an, darf ich nur noch die vollen einlochen.

Ich suche mir die gelbe Eins aus und versenke sie über eine Bande in der linken unteren Ecke. Auch die blaue Zwei verschwindet kurz darauf im selben Loch.

„Wer hat eigentlich bestimmt, dass du anfangen darfst?“, murrt Toni

„Angst zu verlieren?“, entgegne ich herausfordernd und fixiere die orange Fünf.

„Ich dachte du weist nicht, wie es geht?“

„Habe ich bis vor einer Minute auch noch gedacht!“, erwidere ich breit grinsend und versenke auch diese Kugel.

„Es macht mehr Spaß, wenn wir zusammen spielen und jemand anderen abziehen, als wenn du das bei mir tust!“, meint Toni während ich die lila Sieben anspiele. Sie prallt gegen zwei Banden und bleibt dann vor dem Loch in der Mitte der rechten Bande liegen.

„Wie gnädig von dir“, meint Toni und tritt an den Tisch.

„Ja, hin und wieder kann ich großzügig sein.“ Das ich eigentlich ein ganz anderes Loch anspielen wollte und nur zu wenig Schwung genommen habe, muss er ja nicht wissen. Während Toni seine erste halbe Kugel versenkt, kommt es mir so vor, als wenn ich ihn, so über den Spieltisch gebeugt, schon unendlich oft gesehen habe. Auf dem Tischrand haben überall Gläser gestanden und Geldscheine gelegen. Wir waren von unheimlich viel Lärm und jungen Männern umgeben.

„Sonst haben wir um Geld gespielt, oder?“, will ich noch ganz in Gedanken wissen.

„Stimmt. Meistens nach Feierabend gegen Erik und Maik oder in der Fabrik mit den Jungs.“

„Maik war der Barkeeper, oder?“, erinnere ich mich.

„Ja.“ Krampfhaft versuche ich mich an die Gesichter der beiden Männer zu erinnern, doch mir kommen nur die roten Lampen über den Tischen in den Sinn. Also gab es dieses Bordell wirklich, und ich war da Stammkunde und Türsteher? Bei Toni kann ich mir diesen Job ja noch vorstellen. Er ist gut einen Meter neunzig groß und hat ein breites Kreuz. Ich bin einen Kopf kleiner als er und wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich immer nur einen schwächlichen Krüppel, der kaum alleine aufstehen kann.

„Träum nicht! Du bist dran!“, holt mich Tonis Stimme zurück. Er hat zwei Kugeln versenkt, die Dritte ist in der Mitte des Tisches liegen geblieben und versperrt mir den direkten Weg zur lila Sieben vor dem Loch.

„Bis du immer noch Türsteher?“, will ich wissen, als ich die Kugel über die Bande anspiele. Sie braucht nur einen kleinen Anstoß um ins Loch zu fallen, doch mein Anstoß war zu kraftvoll und wirft sie zurück aufs Feld.

„Nein. Bin schon ewig nicht mehr bei Erik gewesen. Hat mich zu sehr an dich erinnert“, erklärt er und stößt die weiße Kugel an. Seine Haare fallen ihm dabei tief ins Gesicht, zwischen ihnen hindurch schauen mich seine tiefgrünen Augen direkt an. Ein warmherziges Lächeln liegt auf seinen Lippen. Je länger ich ihn ansehe, um so unruhiger werde ich. Die Weiber müssen ihm in Scharren hinter laufen. Groß, gut gebaut und mit einem Hauch Gefahr umgeben.

Toni umrundet den Tisch, um eine bessere Position für seinen nächsten Stoß zu finden. Als er ganz nah an mir vorbei kommt und hinter mir verschwindet, trommelt sich die Unruhe in mein Herz und lässt meinen Puls in jeder Ader heftig schlagen.

„Hab jetzt die letzten Jahren für nen Hungerlohn an den Docks geschuftet“, erzählt er, „Muss man echt nicht haben. Bin ganz froh über die paar Wochen Urlaub jetzt!“

„Also bleibst du ne Weile bei uns?“, kommt mir überraschen enthusiastisch über die Lippen.

„Wenn ich darf, gern! Daheim wartet gerade nichts auf mich, und außerdem, bist du hier!“ Wieder sieht Toni mich so seltsam warmherzig an und zwingt mir damit ein Lächeln ins Gesicht. Noch mehr Unruhe schleicht sich in meinen Pulsschlag. Vor dem Kerl muss ich mich unbedingt vorsehen, irgendwas stimmt mit ihm nicht. Ich schüttle den Gedanken ab und wende mich meinem nächsten Stoß zu.

„Wie ist es in New York so? Hast du Familie?“, will ich wissen. Toni lässt den Blick sinken, das Strahlen verschwindet aus seinen Augen und das Lächeln von seinen Lippen. Er schweigt meinen ganzen Zug lang. Erst als ich die weiße Kugel versenke und er dran ist, ringt er sich zu einer Antwort durch: „Ich hab ne Tochter. Sie ist letzte Woche vier geworden. Aber sie lebt bei ihrer Mutter und die will im Moment nichts mit mir zu tun haben.“

„Was hast du ausgefressen?“ Er schmunzelt amüsiert, dann wehmütig.

„Ihr hat die Art nicht gefallen, mit der ich mein Geld verdiene.“

„Was ist so falsch an Hafenarbeit?“

„Nichts! Ihr hat nicht gefallen, dass ich Geld genommen habe, um deine Mörder zu beklauen.“ Seine Gesichtszüge werden ernst und verbissen. „Wobei ich sie lieber erschossen hätte, wenn du nicht dazwischen...“ Er stoppt sich selbst mitten im Satz und betrachtet mich nachdenklich, schließlich winkt er ab. „Ach schon gut, vergiss es.“

„Meine Mörder? Du weist wer mir das angetan hat?“, will ich aufgebracht wissen.

„Du nicht?“ Ich betrachte ihn mahnend.

„Wenn du diese Kerle beklauen konntest, laufen sie also noch frei herum? Sind sie denn für die Brandstiftung und den Mordversuch nie verurteilt wurden?“ Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass diese Menschen noch auf freiem Fuß sind.

„Das ist wirklich dein Ernst, oder? Das ist nicht nur einer deiner blöden Späße, du weißt tatsächlich nicht wer wir sind, und wer uns nach dem Leben trachtet, oder?“ Ich schüttle mit dem Kopf und warte angespannt auf eine Erklärung, doch Toni sagt nichts. Er legt lediglich den Kö über den Tisch und geht zur Bar.

„Wer sind diese Typen?“, harke ich nach. Toni nimmt sich eine der Flaschen und zwei Gläser, er stellt sie auf den Tisch und füllt sie mit Scotch.

„Die japanische Mafia!“ Ich muss schwer schlucken.

„Schulden wir den Typen Geld, oder so?“, will ich wissen und gehe zur Bar. Bei dem Thema ist ein Trink keine schlechte Idee. Ich nehme mir einen der Hocker vom Tresen und setze mich.

„Nicht ganz.“ Was können sie sonst für Gründe haben, uns nachzustellen? Bei so Kerlen geht es doch immer nur ums Geld. Auffordernd sehe ich Toni an, und setzte das Glas an die Lippen. Als ich einen Schluck nehme, sagt er schließlich belustigt: „Du hast ihren Chef auf dem Gewissen, so was nehmen die persönlich.“ Seinen Worte erschrecken mich so sehr, dass ich den Trink in einem Schwall, quer über den Tresen spucke. Toni lacht amüsiert und wuschelt mir durch die Haare.

„Du müsstest dein Gesicht sehen“, lacht er.

„Also ziehst du mich nur auf?“, will ich erleichtert wissen. Toni nimmt sein volles Glas und kehrt zum Billardtisch zurück.

„Du glaubst mir doch sowieso kein Wort. Los komm, lass uns weiter spielen!“ Was denn nun, stimmt was er sagt, oder nicht?

„Jetzt schau nicht wie sieben Tage Regenwetter, das steht dir nicht!“ Wieder blickt er mich durch seine schwarzen Haare hindurch, lächelnd an, wieder schlägt mir das Herz bis zum Hals. Wie macht er das nur? Ich dränge das seltsame Gefühl in mir bei Seite und stehe auf.

„Aber was stimmt denn nun?“, will ich energisch wissen und gehe mit meinem Glas zu ihm. Toni meidet meinen Blick und nimmt den Kö vom Billardtisch.

„Lass uns die alten Geschichten für heute mal vergessen, okay?“, bittet er. Ich hole Luft um zu protestieren, doch als er mich wieder mit diesem seltsamen Lächeln ansieht, atme ich stumm aus.

„Na schön“, gebe ich ihm nach.

~Zu viel des Guten~

Schon nach einer Stunden mit ihm, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich je ohne ihn ausgekommen bin. So viel gelacht habe ich lange nicht mehr, mir schmerzen bereits die Mundwinkel davon. Auf dem Rand des Billardtische stapeln sich die Gläser und Flaschen, die wir bereits gelehrt haben. Der Alkohol gluckst in meinem Magen und brennt sich durch meine Gedärme. So langsam sollte ich mit dem Zeug aufhören, doch es schmeckt einfach zu gut. Nach so langer Zeit endlich mal keinen widerlichen Tee, oder irgendwelche bittere Medizin. Obwohl sich die Welt um mich herum bereits zu trüben beginnt, setzte ich auch mein viertes Glas Scotch an die Lippen und trinke den letzten Schluck, der sich noch darin befindet.

„Du bist dran! Falls du überhaupt noch die Kugeln triffst“, fordert Toni mich auf. Ich zwinge mich von meinem Stuhl aufzustehen. Die wenigen Schritte bis zum Spieltisch erscheinen mir unendlich lang. Den viel zu langen Kö auszurichten, gelingt mir nur mit Mühe.

Toni wendet sich unterdessen der Bar zu. Ungeniert sucht er sich eine neue Flasche aus und schenkt sich einen weiteren Drink ein.

„Bring mir ausch einen mitsch ...“, bitte ich ihn und stoße die Kugel an. Ich habe so viel Schwung, dass sie über den Rahmen des Spieltisches hinaus springt und zu Boden rollt. Viel zu schnell, laufe ich ihr nach und kann gerade noch so abbremsen, bevor ich gegen die Wand lauf. Als ich mich suchend nach der Kugel umschaue, verknoten sich meine Beine. Ich stolpere über meine eigenen Füße und sehe mir selbst beim Fallen zu, als mich Toni fest am Arm packt. Er verhindert meinen Sturz und sieht mich belustigt an.

„Lächerliche vier Drinks und du bist schon Sturz besoffen? Das ich das noch erleben darf!“, lacht er.

„Ach wasch mir gehhhht’s gut“, entgegne ich und schaue mich nach meinem Glas um. Toni hält nur seines in der Hand.

„Wo ischt mein Glas?“, will ich wissen. Toni setzt ein warmherziges Lächeln auf.

„Ich glaube du hast genug für heute.“ Ärgerlich sehe ich zu ihm auf. Wann ich genug habe, kann ich noch ganz gut selbst einschätzen.

„Dann hole ischhs mir eben selbscht!“ Ich versuche auf meinen schwankenden Bein, einen Fuß vor den andere zu setzen, doch Toni gibt meinen Arm nicht frei. Als ich zu ihm zurück schaue, betrachtet er mich streng.

„Enrico, lass es besser!“ Dieser elende Spielverderber.

„Bisscht du meine Mutter oder wasch? Lass los!“, maule ich ihn an. Schulterzuckend gibt er mich frei.

„Bitte! Es ist ja nicht mein Wagen, den du voll kotzen wirst.“ Er wendet sich seinem Kö zu, das Glas in seiner Hand leert er in einem Zug und stellt es zu den anderen. Er verträgt wirklich erstaunlich viel. Das ist bereits sein achter Drink und er spricht noch immer völlig normal. Seine Schritte sind sicher und nicht einmal seine Anstöße sind schlechter geworden. Während ich in den letzten zwei Spielen, keine einzige Kugel mehr versenken konnte, locht er seine zielsicher ein. Während ich mir an der Theke ein neues Glas nehme und es fülle, muss ich ihn immerzu ansehen. Mit dem vollen Glas in der Hand beuge ich mich über den Tresen. Er locht schon wieder eine der Kugeln ein. Über den Tisch gelehnt, visiert er schon die nächste an. Seine schulterlangen Haare, fallen ihm kraus ins Gesicht, das breites Kreuz verläuft hinab in eine schmale Taille. Er ist extrem dünn und doch zeichnen sich unter dem Stoff seines Hemdes deutliche Muskeln ab. Ob er wohl täglich irgend ein Training absolviert? Tonis Blick richtet sich auf mich.

„Was schaust du denn so?“ Ich fühle mich ertappt und wende mich meinem Glas zu. Während ich einen Schluck nehme, sind vor dem Eingang Schritte zu hören, ein Schlüssel dreht sich im Schloss der Tür. Mir bleibt das Herz stehen. Toni wirft nur einen flüchtigen Blick auf den Eingang und deutet dann, mit einem Schwenk seines Kopfes, auf den Hintereingang. Geräuschlos legt er den Kö auf den Spieltisch und kommt auf mich zu. Wie erstarrt betrachte ich die Schatten, hinter der Glasscheibe der Eingangstür. Wie konnte ich Trottel mich nur zu diesem Mist hier überreden lassen? Jetzt sind wir geliefert. Gedanklich sehe ich mich schon im Polizeirevier sitzen. Toni erreicht mich, er packt mich am Oberarm und zieht mich mit.

„Warte!“, rufe ich aus und ziehe meine Brieftasche aus der Jacke. Vielleicht stimmt es den Barbesitzer ja milder, wenn wir wenigstens für die Drinks bezahlen? Ich ziehe einige Geldscheine heraus und lege sie unter mein angefangenes Glas. Toni betrachtet mich irritiert und schüttelt mit dem Kopf. Kommentarlos zieht er mich durch den Hintereingang aus der Kneipe. Geräuschlos schließt er die Tür nach uns, dann kann man schon den Besitzer schimpfen hören.

„Ach du Scheiße, was ist denn hier passiert?“ Ich erwarte jeden Moment, dass er uns hinterher gestürmt kommt und sehe ängstlich auf die geschlossene Tür.

„Eigentlich ist es Sinn und Zweck eines Einbruchs, nicht für die Dinge zu bezahlen, die man sich nimmt!“, belehrt Toni mich. Mit den Händen in den Hosentaschen, läuft er seelenruhig los. Stört es ihn den gar nicht, dass das Geschrei des Besitzers gar nicht? Er wird sicher Anzeige erstatten, dann wird man nach uns suchen.

„Du benimmst dich eigenartig!“, meint er und sieht auffordernd über die Schulter zurück.

„Das sagt der Richtige“, murmle ich und schleiche ihm nach. Immer wieder werfe ich besorgt einen Blick zurück auf die Tür. Selbst als wir den Eingang der Bar erreichen, folgt uns niemand. Trotzdem habe ich das Gefühl, von allen Passanten auf der Straße angesehen zu werden. Was wenn sich später jemand daran erinnert, uns hier gesehen zu haben? Scheu meide ich die Blicke der Menschen und stopfe meine zitternden Hände in die Hosentaschen. Toni überquert die Straße und öffnet das Automobil. Kritisch sieht er auf mich zurück und beobachtet mich aufmerksam.

„Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd. Wir haben ja niemanden umgebracht, oder so!“

„Du bist ganz schön abgebrüht, weist du das?“, erwiedere ich.

„Danke für die Blumen und jetzt steig ein!“

Dieser Kerl bringt nichts als Ärger, doch je länger ich ihn an sehe, um so weniger stört es mich. Verrückt! Ich seufze und steige in den Wagen. Er wirft einen letzten Blick auf den Eingang der Bar, dann steigt er zu mir. Wortlos startet er den Motor und lenkt den Wagen auf die Straße.

„Na wenigstens bist du jetzt wieder nüchtern“, lacht er, doch ich kann nicht mehr lächeln. So eine selten dumme Idee. Wieso habe ich mich nur zu so etwas verleiten lassen? Als ich mit ihm in diese Bar eingestiegen bin, war ich irgendwie nicht ich selbst. Je mehr Zeit ich habe, um über die letzte Stunde nachzudenken, um so erschrockener bin ich von mir selbst. Einbruch und Diebstahl, dass bin doch nicht ich und doch fühlte es sich an, als wenn es das normalste der Welt gewesen wäre. Was ist nur los mit mir?

Nervös knete ich den Saum meines Pullovers. Toni beobachtet mich eine Weile stumm. Immer wieder wandert sein Blick von der Straße zu mir. Schließlich sagt er ernst: „Du warst mal ein kaltblütiger Killer und jetzt machst du dir ins Hemd, wegen ein paar geklauter Drinks?“ Jetzt fängt er schon wieder damit an. Ich kann und will ihm das nicht glauben.

„Ich bin kein Mörder! Hör auf das zu behaupten!“ Toni rollt mit den Augen und sieht zurück auf die Straße. Wir schweigen. Das vertraute Gefühl zwischen uns, ist verschwunden. Ich kann seine Unzufriedenheit mit mir spüren. Seufzend wende ich mich ganz ab und schaue aus dem Fenster. Wir verlassen die befestigte Straße und folgen der Schotterpiste zurück nach Hause. Scheinbar hat er die Nase voll von mir, wenn er mich ohne Umwege zurück bringt. Der Gedanke lässt mich schwer ausatmen. Eigentlich war dieses Abenteuer mit ihm, gar nicht so schlimm, es hat sogar Spaß gemacht. Einfach einsteigen und sich bedienen, das hatte schon was und dann dreist, alles so stehen lassen und gehen. Ein Schmunzeln huscht mir über die Lippen, bis mir klar wird, über was ich nachdenke. Ich bin so ein verdammter Idiot. Warum gefällt mir dieser gesetzlose Mist auch noch?

Ein unbehagliches Rumoren geht durch meinen Magen, ein stechender Schmerz breitet sich in meinen Gedärmen aus. Das flaue Gefühl, frisst sich durch meinen Bauch. Kalter Schweiß kriecht mir den Rücken hinab und läuft mir über die Stirn. Mir ist auf einmal so entsetzlich schlecht. Ich fahre mir durch die verschwitzen Haare und atme schwer.

„Hey, alles okay?“, will Toni wissen. Ich kann seinen besorgten Blick auf mir spüren. Die Übelkeit steigt mir immer wieder in die Kehle, ich bekomme sie, mit noch so viel Schlucken, nicht in den Griff.

„Halt an“, bitte ich ihn. Toni fährt rechts rann, der Wagen ist kaum zum Stehen, gekommen, da kann ich den Brechreiz in der Kehle spüren. Ich reiße die Wagentür auf und Kotze in den Straßengraben. Ein derber Geschmack erfüllt meinen Mundraum und lässt mich nur noch mehr würgen. Ich kotze wieder und wieder, bis auch der letzte Rest Mageninhalt im Gras liegt. Angewidert betrachte ich den ganzen Dreck und wische mir die Reste vom Mund.

„Ich hab dich gewarnt!“, schalt es vom Fahrersitz. Ohne zu antworten, ziehe ich die Tür des Wagens zu. Ich lehne mich an den Sitz und lege den Kopf zurück. Immer wieder atme ich tief durch, doch das flaue Gefühl ebbt nicht ab. Ich bin so ein Idiot. Heiß und Kalt wechseln sich in mir ab, mein Körper beginnt zu zittern, ich kann weder meine Hände, noch die Beine ruhig halten. „Du siehst echt scheiße aus!“, kommentiert Toni und lenkt den Wagen zurück auf die Straße.

„Klappe!“, murre ich atemlos. Jan, Robin und Lui haben mich so oft gewarnt, warum habe ich nicht auf sie gehört?

Immer wieder wandert Tonis besorgter Blick zu mir. Er beschleunigt unsere Fahrt, in der Fern ist schon das Sommerhaus zu sehen.

Toni parkt den Wagen vor dem Haus. Er steigt aus und wartet nicht mal darauf, dass ich ihm folge. Ich seufze ergeben. Sicher bin ich nicht das, was er erwartet hat. Ob er uns jetzt wieder verlassen wird? Seine kalten Ausdruck in den Augen, kann ich nicht deuten. Als er die Haustür erreicht, dreht er sich nach mir um. Fragend schaut er mich an und legt den Kopf schief. Ich bin noch immer nicht ausgestiegen und ich fühle mich auch jetzt nicht in der Lage dazu. Das Zittern in meinen Beinen wird unerträglich, die Muskeln meiner Waden ziehen sich krampfartig zusammen. Ich werfe den Kopf zurück und ziehe die Luft scharf ein. Dunkel spucken die Worte des Arztes durch meinen Kopf: Bettruhe, mindestens fünf Tage lang. Immer heftigere Krämpfe durchzucken meine Beine, der Schmerz wandert meine Waden hinauf und erfasst meine Oberschenkel, selbst meine Arme zucken unwillkürlich.

„Arrgghh!“, stöhne ich, während mir ganz automatisch die Tränen in die Augen schießen.

Die Wagentür öffnet sich.

„Was ist mit dir? Wieso steigst du nicht aus?“, will Toni genervt wissen. Ich habe nicht die Luft ihm zu antworten. Neu Krämpfe fressen sich durch meine Beine und beißen sich in meine Oberarme. Ich spüre nichts, als diesen unsagbaren Schmerz, höre nicht mal mehr seine Stimme, als er zu mir spricht. Ich stöhne, keuche und bekomme einfach nicht genug Luft. Panik schlägt sich in mein Herz, ich spüre es bis in meinen Kopf schlagen. Es hämmert erbarmungslos in meinem Schläfen, ein heller Pfeifton dröhnt mir in den Ohren. Unerträgliche Hitze breitet sich in meinem Körper aus, mir ist, als wenn ich von Innen heraus schmelzen würde. Ich schließe die Augen und bin mir sicher, hier und jetzt sterben zu müssen, als alles um mich dunken wird.
 

Etwas eisiges legt sich auf meine glühende Stirn. Ich erschaudere am ganzen Körper. Als ich danach greife, werden meine Arme hinab gedrückt. Eine weiche Wolldecke legt sich um mich. Die Hitze in meinem Inneren schlägt in Kälte um. Zittern, ziehe ich die Decke enger um mich. Ein schwerer Arm legt sich quer über meinen Brustkorb. In sanften Bewegungen fährt eine Hand auf und ab. Als ich aufsehe, blicken zwei smaragdgrüne Augen besorgt auf mich herab. Schwarze Haare rahmen das Gesicht ein, dass mir so nah ist.

„Toni?“, formen meine bebenden Lippen seinen Namen. Verwirrt schaue ich an ihm vorbei. Ich sitze nicht mehr im Wagen. Mit dem Kopf auf seinem Oberschenkel liege ich auf dem Sofa. Im Kamin ist das Feuer weit herunter gebrannt. Mal vom Ticken der Wanduhr abgesehen, ist es totenstill. Ich schaue zurück in Tonis Gesicht. Er betrachtet mich mit einem gequälten Lächeln. Noch immer reibt seine Hand beruhigend über meinen Brustkorb.

„Wirds besser?“ Ich gebe ihm keine Antwort, sondern betrachte ihn und das Zimmer verwirrt. Hat er mich etwa hier her getragen? Das ganz allein zu bewerkstelligen, ist bisher weder Jan noch Lui gelungen. Toni wendet sich von mir ab, sein Blick geht an mir vorbei und verliert sich im Kaminfeuer. Ein trauriger Glanz bildet sich in seinen Augen. Ich strecke meine zitternden Finger nach ihm aus und lege sie um seine Wange.

„Hey, keine Sorge ...“, versuche ich mit einem Lächeln zu sagen, doch er fällt mir ins Wort. Aufgebracht mustert er mich wild und anklagend.

„Keine Sorge? Du wärst mir hier fast krepiert! Das kommt nicht vom Alkohol allein, oder?“, will er wissen. Ich wende mich von ihm ab und schüttle sacht meinen hämmernden Kopf.

„Laut Arzt hätte ich heute nicht mal aufstehen dürfen“, gebe ich zu. Er betrachtet mich entsetzt.

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“

„Weil ich nicht wollte, dass du mich auch, wie ein schwerkrankes Wrack behandelst!“

„Aber du bist doch scheinbar schwer Krank!“, mault er, als die Haustür aufgeschlossen wird. Wir verstummen und lauschen den Schritten, die sich durch den Flur bewegen.

„Lui, das muss ich dir erzählen. Ehrlich! Die Menschen werden immer bekloppter! Stell dir nur mal vor: Heute sind irgendwelche Penner in die Bar von Viktor eingebrochen. Die haben sich quer durchs Sortiment getrunken und dann dreister Weise ein paar Scheine auf dem Tresen zurück gelassen. Mal ehrlich! Welche Idioten machen bitte so einen Scheiß? Lui?“ Jan betritt das Wohnzimmer. Als er uns auf dem Sofa sitzen sieht, bleibt er abrupt stehen. Seine Aufmerksamkeit richtet sich ohne Umwege auf Toni, beide tauschen finstere Blicke aus.

„Ne oder? Was willst du hier?“, knurrt Jan und stemmt die Arme in die Seiten. Noch bevor Toni zu einer Antwort kommt, wir die Tür erneut geöffnet. Schnelle Schritte eilen durch den Flur und kommen zu uns. Lui drängt sich an Jan vorbei und bleibt wütend vor uns stehen.

„Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“, schreit er. Mir platzt bei seiner lauten Stimme fast der Schädel. Ich presse meine Hände gegen die Ohren und kann ihn immer noch viel zu deutlich hören.

„Rück sofort meine Wagenschlüssel raus!“ Lui streckt seine Hand fordernd aus. Toni verdreht die Augen. Er greift in seine Hosentasche und zieht den gestohlen Autoschlüssel heraus. Kommentarlos legt er ihn Lui in die Hand.

„Ich lade dich hier her ein, bezahle das Ticket und das ist der Dank?“, beschwert er sich aufgebracht.

„Nichts so laut“, bitte ich vergebens. Mein Protest geht ungehört unter. Luis finsterer Blick richtet sich nun auf mich.

„Und du machst da auch noch mit?“

„Kann mir mal einer erklären, was hier vor sich geht? Warum hast du den Kerl hier her geholt?“, will Jan aufgebracht wissen.

„Ich hab dir gesagt, dass mir eure Lügen reichen“, erklärt Lui. Ihr lauten Stimmen halte ich nicht mehr aus. Ich befreie mich von der Decke und zwinge mich auf die Beine. Mit beiden Händen stütze ich meinen viel zu schweren Kopf und taumle an Lui vorbei. Als ich mich auch an Jan vorbeischieben will, hält er mich am Arm fest. Er betrachtet mich angewidert und rümpft die Nase.

„Sag mal, hast du etwa getrunken?“ Ich betrachte ihn flehend.

„Bitte, erspare mir eine Predigt und lass mich einfach ins Bett. Ich hab mir schon den halben Magen raus gekotzt und mein Schädel platzt auch gleich.“ Von mir wandert Jans Blick schuld suchend zu Toni.

„Du hast ihn abgefüllt? Bist du völlig bescheuert? Hast du überhaupt eine Ahnung, was er für schwere Medikamente nimmt? Du hättest ihn damit umbringen können!“ Dieses ewige Geschrei, das halte ich keinen Moment länger aus. Ich drücke mich an Jan vorbei und flüchte ins Schlafzimmer.

~Hass und Tränen~

„Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir!“, keift Jan. Antonio sieht weder ihn noch Lui an. Kommentarlos lässt er alle Beschimpfungen an sich abprallen. Seinen Blick hat er fest auf die Flammen im Kamin gerichtet.

„Du bist kaum ein paar Stunden hier und ziehst ihn schon in die Scheiße? Dafür habe ich dich nicht hergeholt. Hast du überhaupt einen Funken Verantwortungsbewusstsein im Leib?“ Den nassen Lappen, der zuvor noch auf Enricos Stirn gelegen hat, drückt Antonio immer fester in die geballte Faust.

„Das ihr es ...“, beginnt er leise, doch mit jedem gesprochenen Wort, wird seine Stimme lauter und aggressiver, „ … das ihr es überhaupt wagt, mich zu kritisieren.“ Mit durchdringenden Blick sieht er Jan und Lui gleichermaßen strafend an. Ihre wütenden Worte verstummen.

„Vier Jahre lang, habt ihr euch hier verkrochen und mir das Wichtigste genommen. Nennt mir einen guten Grund, warum ich euch nicht augenblicklich über den Haufen schießen sollte?“ Drohend erhebt er sich und macht einen Schritt auf die Polizisten zu. Beide weichen vor ihm zurück.

„Du hast keine Waffe bei dir“, wagt Jan zähneknirschend zu sagen. Antonios Blick verdunkelt sich weiter.

„Ich erwürge dich auch mit bloßen Händen, wenn es sein muss.“

„Was bringt uns das jetzt, wenn wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen? Viel wichtiger ist es doch zu besprechen, wie es jetzt weiter geht. Hat er sich an irgendwas erinnert, als er mit dir unterwegs war?“, geht Lui dazwischen. Er schiebt sich vor Jan. Antonio wendet den Blick ab und stemmt die Hände in die Seite. Er atmet einige Mal tief durch, nur unmerklich entspannt sich seine Haltung.

„Was habt ihr mit ihm gemacht? Was sollen all diese Lügen? Er ist nicht mehr der Selbe“, ein deutlicher Vorwurf, schwingt in Antonios Worten. Aufgebracht deutetet er auf die Tür, hinter der Enrico verschwunden ist. Jan schiebt Lui am Arm bei Seite, wütend tritt er aus seinem Schatten.

„Wir hatten unsere Gründe. Aber jemand wie du, würde das nie verstehen!“

„Jemand wie ich?“ Antonios Pulsschlag erhöht sich, Wut steigt heiß in seinem Magen auf. Energisch schließt er die Lücke, die ihn von Jan trennt.

„Ja, jemand wie du! Was hast du in deinem Leben denn schon geleistet? Außer Menschen abzuknallen, kannst du doch nichts. Deinetwegen ist er doch erst in die ganze Scheiße rein gerutscht. Es ist nur deine Schuld, dass die Drachen hinter ihm her sind.“

„Was weißt du schon darüber? Scheiß Bulle!“ Antonio packt den Kragen des Asiaten und zieht ihn daran näher zu sich. Finster blickt er Jan in die Augen, doch der schaut unbeirrt zurück.

„Wir haben sein Leben gerettet und ihn bis jetzt beschützt. Du bist überflüssig!“ Antonios Griff lockert sich, entsetzt sieht er dem Asiaten in die Augen. Jan schlägt seine Hand von sich und betrachtet ihn herausfordernd. Antonios Atem geht immer schneller, so unendlich viele Dinge schießen ihm durch den Kopf und wirbeln wild durcheinander.

„Ihr habt seinen Tod vorgetäuscht. Was hätte ich tun sollen?“

„Nichts, wie immer! Wir hätten dich auch gar nicht dabei haben wollen. Du hättest die Drachen nur auf unsere Fährte gelockt und du wirst es auch jetzt tun, wenn du bei uns bleibst.“ Antonio bleibt stumm. Für einen Moment überschlägt er die Möglichkeit, dass ihm einer der Drachen gefolgt sein könnte, dann kommt ihm ein ganz anderer Aspekt in den Sinn.

„Ihr habt meine Trauer also nicht nur in Kauf genommen, ihr habt sie regelrecht mit eingeplant?“

„Ihr musstet überzeugend sein, also ja“, die Wut weicht aus Jans Worten, der Klang seiner Stimme wird weicher. Antonio senkt den Blick, das Atmen fällt ihm schwer, seine Hände ballen sich zu Fäusten. Jan legt ihm seine Hand auf die Schulter.

„Gönn ihm das friedliche Leben hier und verschwinde zurück nach New York, bevor du sein Leben noch einmal zerstörst!“ Ein Stich durchfährt Antonios Herz und lässt ihn den Atem anhalten. Zurück nach New York und so tun, als wenn er von all dem hier nichts wüste? Das könnte Jan so passen! Finster sieht er auf, die Hand des Asiaten schüttelt er ab und packt ihn am Hals. Wütend drängt er ihn an die Wand neben dem Kamin und presst ihn hart dagegen.

„Vergiss es!“ Die Hände des Asiaten packen panisch nach seinen Fingern, Tränen schießen ihm in die Augen. Antonio beugt sich zu ihm, bis sie nur noch ein Hauch trennt.

„Er gehört zu mir! Eure Lügen haben ab heute ein Ende. Ihr habt vielleicht vergessen, wer er mal war, ich aber nicht. Er ist der Chef der Wölfe, der skrupelloseste Killer den ich kenne. Ihr macht keinen Bücher verschlingendes Muttersöhnchen aus ihm. Nicht so lange ich am Leben bin!“

„Hör auf! Verflucht noch mal!“ Lui reist an seinem Arm, versucht ihn von Jan zu trennen, doch Antonio stößt ihn grob von sich.

„Halt dich da raus!“, schreit er. Lui stolpert über den Tisch und fällt rücklings auf die Platte. Antonios Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf Jan. Er drückt noch fester zu, bis dem Asiaten die Tränen über die Wangen fließen.

„Glaub ja nicht, dass ich dir den ganzen Scheiß abkaufe. Du hast nur einen Grund, warum du diesen ganzen Dreck erfunden hast. Du und Robin, ihr steckt doch unter einer Decke. Sie ist seine Frau, ja? Und du, wer willst du sein? Sein Lover? Ich will dich nie wieder in seiner Nähe sehen, hast du mich verstanden?“ Jan rührt sich nicht, seine aufgerissenen Augen färben sich rot. Antonio verstärkt seinen Griff, bis der Asiat ein leichtes Nicken andeutet. Erst jetzt gibt er ihn frei und tritt einen Schritt zurück. Jan fällt vor ihm auf die Knie, er hustet und würgt heftig. Lui kämpft sich wieder auf die Beine, er kommt zu ihnen. Neben Jan wirft er sich auf die Knie und reibt ihm über den Rücken.

„Hast du völlig den Verstand verloren?“ Drohend sieht er zu Antonio auf und greift in seinen Gürtel. Um ihn auf Abstand zu halten, zieht er seine Dienstwaffe. Ungerührt tritt Antonio sie ihm aus der Hand. Mit all seinem Gewischt stemmt er sich auf den Handrücken Luis und hält sie unter seiner Schuhsole gefangen.

„Wage es nie wieder eine Waffe auf mich zu richten, sonst vergesse ich meine liebenswürdige Art!“ Antonio bückt sich nach der Pistole und nimmt sie an sich. Verbissen sieht Lui zu ihm auf, und versucht sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Stur sieht er Antonio dabei zu, wie er das Magazin aus der Waffe zieht und alle Kugeln daraus löst. Die leere Waffe wirft er ihm in den Schoss, die Patronen steckt er ein.

„Haltet euch am besten von mir fern, sonst garantiere ich für nichts mehr!“, lässt er sie wissen. Drohnend stemmt er seine Ferse in Luis Handrücken, dann dreht er den beiden Polizisten den Rücken zu und lässt sie zurück.

„Wieso hast du den Kerl bloß her geholt?“, keucht Jan.

„Ich habs gut gemeint“, jammert Lui schuldbewusst.
 

Ohne Umwege hält Antonio auf das Zimmer zu, in dem Enrico verschwunden ist. Er zieht die Tür auf und knallt sie nach sich zu. Das Zimmer ist dunkel. Als er sich an das kalte Holz lehnt, spürt er einen Schlüssel im Rücken. Er schließt die Tür damit ab und lehnt den Kopf zurück. Noch immer rast sein Herz, noch immer schwillt der Hass in seiner Brust. Diese verdammten Polizisten, die sind ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Er hätte sie bei ihrer ersten Begegnung in New York über den Haufen schießen sollen. Warum musste sich Enrico unbedingt mit denen anfreunden. Die wenigen Male, wo sie nützlich waren, wiegen den Ärger nicht auf, den er mit ihnen hat. Antonio seufzt ergeben, nur langsam will sich sein Puls beruhigen. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Die Umrisse eines großen Ehebettes lösen sich aus den allgemeinen Schatten. Versteckt unter der Decke, heben sich die Konturen Enricos ab. Sein Atem geht schwer, er zittert und umklammert krampfhaft die Decke. Hat er es wirklich mit ihm übertrieben? Starke Medikamente, um was es sich dabei wohl handelt? Koma, die verbrannten Beine, der seltsame Schüttelfrost, die Atemnot, die Antonio so erschreckt hat - die letzten Stunden mit seinem Freund wirbeln, wie in einem Karussell, unaufhörlich durch seinen Kopf. Er arbeitet jetzt als Mechaniker? Ein friedliches Leben? Enrico weiß nichts mehr, von all den Dingen, die er einmal getan hat. Weiß nichts mehr, von ihrer gemeinsamen Zeit.

Ganz von allein setzten sich Antonios Beine in Bewegung und führen ihn zum Bett Enricos.

„Enrico?“, fragt er in die Dunkelheit. Nichts, nur der gequälte Atem seines Freundes erfüllt den Raum. Antonio kniet sich in die Matratze, er legt seine Hand um den Oberarm Enricos. Der Stoff seines Pullovers ist nassgeschwitzt, er ist kalt und zittert am ganzen Körper.

„Enrico?“, spricht er ihn wieder vergebens an. Von seinem Freund kommt nur ein gequältes Stöhnen zurück. Immer enger krümmt er sich zusammen.

„Es tut mir leid! Das habe ich nicht gewollt“, flüstert er, den Tränen nah und legt sich zu seinem Freund. Er nimmt Enricos krampfenden Fäuste in seine Hände und legt sie sich an die Brust.

„Es tut mir leid, so leid“, murmelt er, während immer mehr Tränen von seinen Wangen ins Kissen fallen. Enrico scheint ihn noch nicht einmal zu hören.

Für einen Moment glaubt Antonio sich in der brennenden Lagerhalle zu sehen, zusehen zu müssen, wie die Flammen seinen Freund zerfressen. An den Armen zieht er Enrico zu sich. Mit bebendem Körper lehnt dieser sich an ihn und legt den Kopf an seinen Brustkorb.

„Es tut mir leid. Ich konnte dich nicht beschützen. Bitte, nicht noch mal sterben“, fleht Antonio inständig und schließt seine Arme eng um den Freund. Wenn er es doch nur gewusst hätte, er wäre doch nie mit ihm in diese Bar eingebrochen und hätte ihn zum Trinken verleitet.

„Warum hast du Idiot denn nichts gesagt?“, will er wissen, während immer mehr Tränen seinen Blick fluten. Wieder ist ein leises Stöhnen die einzige Antwort. Die Hände Enricos greifen sein Hemd, seine Finger krallen sich in den Stoff. Das Zittern seines Körpers lässt allmählich nach, sein Atem wird ruhiger.

„Hätte ich es doch nur gewusst“, murmelt Antonio in die feuchten Haare Enricos. Er fühlt sich so erschöpft und ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. All der Hass, all die Jahre die er auf Rache aus war, alles umsonst. Enrico war hier, die ganze Zeit.

„Du blöder Idiot!“ Ein wehmütiges Lächeln huscht ihm über die Lippen. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe? Und du, du erinnerst dich nicht mal.“ Seine Stimme wird zu einem Schluchzen, seine Lippen beben. Egal wie eng er seine Umarmung auch macht, Antonio hat das unbestimmte Gefühl, dass ihm der Freund im nächsten Moment entrissen wird. Er vergräbt den Kopf in den klammen Haaren Enricos, lautlos fallen seine Tränen ins Kissen.

~Eine klare Ansage~

Mir ist so kalt und schlecht. Nie wieder, nie wieder! Eng schlinge ich die Decke um meinen bebenden Körper, doch mir wird nicht wärmer. Kalter Schweiß rinnt mir aus jeder Pore, während sich immer neue Krämpfe durch meine Beine ziehen. Das Hämmern und Dröhnen in meinem Kopf übertönt sogar den lautstarken Streit meiner Freunde. Ich werde mein Bett nie wieder verlassen, ich rühre auch nie wieder einen Schluck Alkohol an, wenn dieser Schmerz nur endlich nach lässt – schicke ich ein stummes Gebet gen Himmel, doch ich werde nicht erhört.

Ich rolle mich immer weiter zusammen und stöhne gequält, mein Atem schlägt mir entgegen. Ein seltsam wilder Geruch steigt mir in die Nase. So vertraut und irgendwie beruhigend. Etwas warmes umschließt meinen frierenden Körper und hält mich fest umschlungen. Das ist so angenehm, das ich mich an die Wärme lehne. Ein Brustkorb hebt und senkt sich unter mir, ein schneller Herzschlag durchdringt das Dröhnen in meinem Kopf. Irgendwas fehlt da. Das ist nicht der weiche Busen meiner Frau, auf dem ich sonst immer liege. Es ist hart und viel wärmer. Verstört öffne ich die Augen. Diese Umrisse, diese schulterlangen, dunklen Haare.

Toni? Erschrocken sehe ich in das dunkle Gesicht. Wieso kommt er in mein Bett? Was soll die feste Umarmung? Verdammt, und ich habe mich auch noch an ihn gelehnt, als wenn er Robin wäre. Ich versuche mich gegen ihn zu stemmen, ihn von mir zu drücken, doch ich habe keine Kraft in meinen Armen.

„Toni? Was soll das?“, will ich wissen, doch meine Stimme ist kaum zu hören.

„Lass los“, bitte ich ihn, doch seine Umarmung wird fester. Etwas nasses tropft mir auf den Kopf. Heult er etwa? Sein Atem geht stoßweise, immer wieder höre ich ihn leise Schluchzen.

„Was hast du?“, will ich wissen, doch wieder ist meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe? Und du, du erinnerst dich nicht mal.“

Ich seufze ergeben. Was soll ich darauf erwidern? Es ist nun mal wie es ist, das gibt ihm noch langer nicht das recht in mein Bett zu kommen. Noch einmal versuche ich ihn von mir zu stemmen, wieder vergebens. Seiner Kraft habe ich nichts entgegen zu setzen.

Ich seufze ergeben und schließe die Augen, den Kopf lehne ich wieder an seine Brust. Wenigstens ist mir jetzt nicht mehr so entsetzlich kalt.
 

Grelle Sonnenstrahlen fluten mein Zimmer, ich blinzle verschlafen. Dunkel frisst sich die Erinnerung an den vergangen Tag in mein Gedächtnis. Toni, er war hier, hier in meinem Bett. Ich reiße die Augen auf und sehe mich nach ihm um. Die zweite Hälfte des Ehebettes ist leer. Das Lacken und die Decke sind zerwühlt, aber von ihm fehlt jede Spur. Gott sei Dank! Ich atme auf. Hoffentlich habe ich das nur geträumt. Was sollte er auch für einen Grund haben, hier rein zu kommen? Auch wenn es irgendwie seltsam real war. So warm und geborgen. Ich schüttle diesen Gedanken ab. Ich wohne eindeutig zu lange mit Lui und Jan zusammen. Ist ja widerlich. Ich fahre mir durchs Gesicht und zwinge mich zum Aufstehen. Der Duft von Spiegelei und Kaffee liegt in der Luft, das Klappern von Geschirr ist zu hören. Verwirrt betrachte ich die geschlossene Tür. Robin ist doch noch bei ihrer Cousine und Jan und Lui stehen, wenn sie frei haben, nicht vor zwölf Uhr auf. Ich humple zur Tür und schaue neugierig in den Flur. Irgendjemand hantiert in der Küche, jetzt kann ich es ganz deutlich hören. Der leckere Duft lockt mich weiter.

„Guten Morgen, Na, hast du endlich ausgeschlafen? Geht's dir besser?“, begrüßt Toni mich. Er wirft gerade ein weiteres Ei in die Pfanne, zu den anderen fünf. Belustigt betrachtet er mich.

„Ich sehe bestimmt total scheiße aus!“ Ich fahre mir über den Kopf. Meine Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab.

„Kein Wunder, so wie du dich im Schlaf hin und her wälzt.“ Ich stutze bei seinen Worten.

„Willst du auch was?“, will er wissen und schiebt die Spiegeleier auf einen Teller. Ich vergesse glatt ihm zu antworten und starre ihn an. War das doch kein Traum?

„Was ist?“

„Hast du heute Nacht bei mir im Bett gepennt?“

„Ja, wieso?“, sagt er locker und schiebt sich an mir vorbei, um sich aus dem Schrank ein Leib Brot zu holen. Entsetzt sehe ich ihm dabei zu, wie er in einer Schublade nach einem Messer kramt. Dann habe ich mich also wirklich an ihn … Ein fetter Kloß presst sich mir in die Kehle, meine Wangen werden heiß. Das ist doch nicht zu fassen, warum macht er so einen Mist?

„Warst du so besoffen, dass du mich mit deiner Frau verwechselt hast?“, presse ich ungehalten heraus. Toni dreht sich zu mir, er hebt eine Augenbraue und betrachtet mich fragend.

„Ich steh nicht besonders darauf, mit nem Kerl zu kuscheln. Schlaf gefälligst auf dem Sofa, wenn du hier bleiben willst!“, setzte ich nach und nehme den Teller mit den Eiern an mich. Das Frühstück ist das mindeste, als Entschädigung. Von dem Leib Brot breche ich mir ein großes Stück ab und nehme beides mit zum Sofa. Toni sieht mir ungläubig nach. Er sagt nichts, auch die Suche nach dem Messer gibt er auf.

Als ich mich auf dem Sofa fallen lasse, öffnet sich im Flur eine Tür. Die Schritte von Jan und Lui nähern sich dem Wohnzimmer. Als sie eintreten, bleibt ihr Blick an Toni hängen, sie halten abrupt inne. Die Drei tauschen feindselige Blicke aus. Weder Jan noch Lui wagen es, einen weiteren Schritt ins Zimmer zu tun. Ich sehe von einem zum anderen. An Jans Hals fallen mir dunkelrote Striemen auf, die an lange Finger erinnern. Seine Augen sind blutrot unterlaufen. Um Luis Hand ist ein Verband gewickelt. Ich lasse das Stück Brot sinken, dass ich mir gerade in den Mund schieben wollte.

„Was ist denn mit euch passiert?“, frage ich. Jan wendet seinen Blick nicht von Toni ab, als er mir antwortet: „Frag das deinen Kumpel!“ Fragend richte ich meine Aufmerksamkeit auf Toni. Er sagt keinen Ton, auch sein Blick weicht nicht von Lui und Jan. Also ist er wirklich für die Verletzungen der Beiden verantwortlich? Ich stelle den Teller und das Brot auf den Tisch und stehe auf.

„Okay, was war hier los, nachdem ich ins Bett bin?“, verlange ich zu wissen. Noch immer sieht mich keiner von ihnen an.

„Ja, Antonio! Was war gestern los? Sag's ihm! Mal sehen, was er dann noch von dir hält.“ Ich sehe mir Jans Hals genauer an. Die Male wechseln an einigen Stellen von rot zu lila, sie verlaufen um seinen ganzen Hals.

„Hast du ihn etwa gewürgt?“, frage ich fassungslos. Toni schnaubt nur verächtlich.

„Selbst schuld“, murmelt er und kann seinen finsteren Blick nicht von Jan lassen.

„Hast du den Verstand verloren? Wir laden dich hier her ein und empfangen dich gastfreundlich und du greifst meine Freunde an? Spinnst du?“, schreie ich ihn an und deute auf Jans Verletzungen, „Sieh dir das an, das ist übel. Wolltest du ihn umbringen?“ Toni lächelt bitter und zuckt mit den Schultern.

„Wenn ich das gewollt hätte, würde er jetzt nicht mehr hier stehen!“ Ist das sein verdammter ernst?

Toni wirft Jan einen letzten finsteren Blick zu, dann lässt er die Pfanne in die Spüle fallen und geht. Kein Wort der Verteidigung, er leugnet es nicht mal. Fassungslos bleibt mir der Mund offen stehen, während ich ihm nachsehe. Ohne Umwege hält er auf die Verandatür zu und öffnet sie. Er tritt ins Freie und schlägt sie nach sich zu. Während er auf die Klippe zu geht, zieht er eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und brennt sie sich eine Kippe an.

„Was stimmt denn nicht mit ihm?“, wende ich mich an Lui und Jan.

„Einmal Killer, immer Killer!“, meint Jan abschätzig und sieht hinaus.

„Das war nicht erfunden? Er bringt wirklich Menschen um?“, will ich entsetzt wissen. Lui und Jan schweigen, das ist mir Antwort genug.

„Wieso bringt ihr so jemand zu uns?“

„Weil er dein bester Freund ist und Lui ein Schwachkopf!“ Lui sieht zur Seite weg. Er reibt sich gedankenverloren über seine verletzte Hand.

„Und deine Hand, was ist damit?“, will ich streng wissen.

„Ich hätte eben nicht die Waffe zücken sollen“, meint Lui kleinlaut. Ich sehe von ihn zu Jan und wieder zurück und werde noch immer nicht schlau aus all dem.

„Ach was!“, entfährt es Jan, „Du hättest ihn über den Haufen schießen sollen und keiner wäre deswegen böse gewesen.“

„Würdet ihr endlich mal anfangen Klartext zu reden? Was war hier los?“, verlange ich lautstark zu wissen. Jan geht in die Küche, aus einem der Hängeschränke nimmt er sich ein Glas und füllt es mit Wasser.

„Er ist ausgetickt, das war los!“

„Einfach so?“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. Irgend einen Grund muss es doch gegeben haben.

„Ja, einfach so! Der Typ ist ein Psychopat. Ganz ehrlich, schick ihn weg Enrico! Auf dich hört er wenigstens.“ Ich richte meinen fragenden Blick auf Lui. Er schaut zur Seite weg und schweigt. Irgendwas haben sie ausgefressen. Toni flippt doch nicht einfach so aus. Ich seufze ergeben. Hier werde ich wohl keine Antworten finden.

„Ich rede mit ihm“, schlage ich vor und löse die Verschränkung meiner Arme.

„Ja tu das, und sorge dafür, dass er heute noch abreist.“
 

Ich hole mir meine Jacke von der Garderobe und folge Toni vor die Tür. Er raucht bereits seine zweite Zigarette und sieht über das weite Meer.

„Sagst du mir wenigstens, was los war?“, will ich wissen und trete mit verschränkten Armen zu ihm. Meinen Blick richte ich ebenfalls auf den fernen Horizont.

„Du glaubst mir doch sowieso nicht, wozu sollte ich mir die Mühe also machen?“

„Du kannst es ja wenigstens mal versuchen.“ Toni wendet sich zum Haus, er wirft einen finsteren Blick durch die Glastür, bevor er sich wieder mir zuwendet.

„Ich hasse den Kerl einfach. Und Lui wollte auf mich schießen, er ist selber schuld.“

„Lui zieht seine Waffe nicht ohne Grund.“

„Wie schön, dass du auf ihrer Seite bist.“

„Sie sind meine Freunde und du hast sie angegriffen. Was erwartest du?“

„Ach und ich bin nicht dein Freund?“ Ich schaue skeptisch.

„Gerade bin ich mir da nicht mehr so sicher. Stimmt es, dass du Menschen umlegst?“ Toni zögert einen Moment, er zieht an seiner Kippe und wirft den Stummel über die Klippe hinaus ins Meer.

„Ich habe dir bereits gesagt, dass wir beide Killer sind. Wenn du dich daran nicht mehr erinnern kannst, ist das nicht mein Problem.“

„Komm mir nicht so doof. Ich weiß ja nicht, wie es bei euch in New York zugeht, aber hier in meinem Haus gelten andere Regeln. Wenn du meine Freunde angreifst, bekommen wir ein Problem miteinander.“

„Deine Freunde?“ Toni kommt einen energischen Schritt auf mich zu. „Diese Typen haben dich hier her verschleppt, deine Familie und Freunde belogen und dich auch. Du weißt nicht mal wer du bist, weil sie dir die Wahrheit vorenthalten.“

„Sie werden ihre Gründe haben. Diese Menschen haben mir mehr als einmal das Leben gerettet und...“, werfe ich dazwischen, doch er unterbricht mich rüde.

„Ach und ich dir nicht, oder was?“

„Woher soll ich das wissen? Das einzige, was ich von dir bisher mitbekommen habe ist, dass du meine Freunde beklaust, dass du einbrichst und nicht davor zurück schreckst andere zu verletzen. Vielleicht hat Jan ja recht und du bist wirklich ein Psychopath.“ Tonis steigt die Wut feuerrot in den Kopf. Er packt mich an der Jacke und sieht mich durchdringend an.

„Sag das noch mal!“, fordert er drohend. Ich wende meinen Blick nicht ab und sehe ihn meinerseits wütend an.

„Was denn? Willst du mir jetzt auch an die Gurgel gehen? Nur zu! Ich hab keine Angst vor dir.“ Wir starren uns lange direkt in die Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Schließlich ist es Toni, der seinen Blick abwendet. Er gibt meine Jacke frei und meint leise: „Ich könnte dir nie was antun.“

„Aber meinen Freunden schon?“, keife ich noch immer wütend, „Verschwinde einfach. Geh zurück nach New York. Vergreif dich an den Menschen dort, aber lass uns in Ruhe!“

„Ist das dein ernst?“ Ich blase die angestaute Wut in deinem langgezogenen Seufzer heraus und sehe nach unten Weg. Bis heute Morgen habe ich mich wirklich wohl mit ihm gefühlt. Selbst das er bei mir gepennt hat, ist fast schon in Ordnung gewesen. Aber das mit Jan und Lui geht einfach zu weit. Auch wenn Jan ein echter Arsch sein kann, hat niemand das Recht so brutal Hand an ihn zu legen.

„Wenn du wirklich so krank drauf bist, dann ja! Geh! Verschwinde einfach!“ Ohne einen letzten Blick auf ihn, wende ich mich um und gehe zurück ins Haus.

~Begegnung am Pier~

Er sieht zwar genau so aus, aber das ist nicht Enrico. Verächtlich sieht Antonio seinem Freund nach, als dieser die Verandatür nach sich schließt. Wie hat er sich auch der Illusion hingeben können, er könnte noch leben. In diesem Kerl ist nichts mehr übrig, von dem Freund, mit dem Antonio durch die Hölle gegangen ist. Enrico hätte ihn nie abgewiesen, wenn er bei ihm schlafen wollte und er hätte ihn auch nie vertrieben. Es macht keinen Sinn hier zu bleiben. Wäre er nur nie her gekommen. Nicht einmal seinen Koffer und die Gitarre nimmt Antonio mit. Ohne einen letzten Blick zurück, verlässt er das Grundstück.
 

Der Weg über die Schotterpiste erscheint ihm unendlich lang. Mit den Händen in den Taschen seiner Hose, tragen ihn seine Beine immer weiter und weiter. Er ist so in Gedanken versunken, dass er von der Landschaft gar keine Notiz nimmt:

Unaufhörlich kreisen die letzten Stunden durch seinen Geist. Der Einbruch in die Bar, das Billardspiel, die Fahrt zurück, als er ihm fast unter den Händen weggestorben wäre. Vielleicht ist Enrico ohne ihn ja wirklich besser dran. Antonio dreht sich um. Das Haus ist nicht mehr zu sehen. Ein tiefer Seufzer verlässt seine Lippen. Enrico arbeitet jetzt als Mechaniker? Das kann er sich nur schwer vorstellen. In seinen Erinnerungen ist er noch immer der Chef einer Gang, die vor Mord und Diebstahl nicht zurückschreckt. Hier mitten im Nirgendwo, da gehört er doch gar nicht hin. Allein nur mit diesen beiden Gestalten und Robin. Sie haben doch in New York jede Nacht durchgemacht, sind immer unterwegs gewesen und jetzt soll Enrico sich mit Büchern und einem Kaminfeuer zufrieden geben? Das ist einfach nicht mehr der Mann, für den er sein Leben gegeben hätte. Sollen doch Jan und Lui mit ihm glücklich werden. Sie können ihn haben. Ein fette Kloß zwingt sich Antonio in die Kehle und schnürt ihm die Luft ab. Unweigerlich drängen sich ihm Tränen in die Augen, doch er wischt sie sich mit dem Handrücken vom Gesicht. Er ist die letzten vier Jahre auch allein zurecht gekommen. Wer braucht schon Freunde? Mal von Enrico abgesehen, hat er sich noch nie auf jemanden verlassen können, dran ist er gewöhnt. Was ist schon so schlimm daran, das es jetzt eben wieder so ist, wie schon immer in seinem beschissenen Leben?
 

Ohne das es Antonio wirklich bewusst wird, wechselt die Schotterpiste in eine befestigte Straße. Ganz von allein finden sein Beine den Weg zum Hafen. Als er das erste mal wieder bewusst aufsieht, steht er bereits am Pier und blickt hinaus auf das weite Meer. Nur ein paar vereinzelte Fischerbote liegen vor Anker, nach einem Passagierschiff sucht er vergebens. Ein alter Mann, wirft ein großes Fischernetz in eines der kleinen Bote und verstaut einige Eimer mit Köder darin. Antonio hält auf ihn zu und will wissen: „Entschuldigen sie bitte. Wann fährt das nächste Schiff nach Amerika?“ Der Mann betrachtet ihn unverständlich. Er hebt die Schultern und sagt etwas in einer fremden Sprache. Na super, hier sprechen alle nur italienisch, das hat er bereits wieder vergessen gehabt. Antonio winkt ab und lässt den fremden Mann hinter sich. Da hat er sich ja mal wieder tief in die Scheiße geritten. Allein in einem fremden Land, ohne Geld und ohne Obdach. Antonio hätte es besser wissen müssen. Er läuft den ganzen Pier ab, doch nirgends gibt es eine Infotafel oder etwas anderes, das ihn über die Abfahrt und Ankunft der Schiffe in Kenntnis setzt. An einem vereinsamten Teil des Hafens lässt er sich auf dem Steg nieder. Die Beine über den Rand baumelnd, betrachtet er sein Spiegelbild, dass immer wieder von den Wellen bewegt wird. Dieser feindselige Blick Enricos, geht ihm einfach nicht aus dem Kopf. Hat er es denn wirklich mit Jan und Lui übertrieben? Menschen umbringen, Bedrohungen aussprechen, handgreiflich werden, den anderen zu erst einschüchtern, das ist in New York sein täglich Brot gewesen. Schon lange ist ihm nicht mehr in den Sinn gekommen, dass er Probleme auch anders lösen könnte. Ist das überhaupt möglich? Für was hat er die letzten Jahre gelebt und gekämpft? Jetzt wo Enrico am Leben ist, erscheinen ihm sein Rachefeldzug sinnlos. Selbst wenn er jetzt zurück in die Heimat fährt, wie soll es dort weiter gehen? Anette will ihn nicht mehr sehen, selbst das Kind hält sie von ihm fern. Nichteinmal die Drachenjagd, macht jetzt noch Sinn. Antonio tritt mit dem Fuß in sein Spiegelbild.
 

„Antonio? Kann das sein?“ Erschrocken fährt er zusammen und wagt nur zögernd sich umzudrehen. Eine junge Frau, mit langen schwarzen Haaren und einem Korb unter dem Arm, steht auf dem Steg. Sie nimmt den vollen Korb aus der Armbeuge und fasst ihn mit beiden Händen.

„Tatsächlich, du bist es.“ Ein warmherziges Lächeln erhellt ihr blasses Gesicht. Sie stellt den Korb ab und kommt die wenigen Schritte zu ihm. Antonio zwingt sich auf die Beine, als er endlich wieder steht, hat Robin ihn bereits erreicht. Sie legt ihre Arme um ihn, ihre Worte überschlagen sich: „Was machst du denn hier? Wie geht es dir?“ Antonio lässt sie gewähren, ohne sich zu rühren, oder die Umarmung zu erwidern. Als sich Robin von ihm löst, ist die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht verschwunden. Besorgt betrachtet sie ihn.

„So schlimm?“, will sie wissen. Er gibt ihr keine Antwort und sieht sie auch nicht direkt an.

„Du hast ihn schon gesehen, oder?“

„Warum hast du mich nicht eingeweiht?“, will er streng wissen. Robin geht an ihm vorbei, sie holt den schweren Korb und setzt sich an den Rand des Stegs. Mit der flachen Hand klopft sie auf den freien Platz an ihrer linken Seite.

„Danke, ich steh lieber“, erwidert er und rührt sich nicht. Prüfend betrachtet er sie und verschränkt die Arme.

„Lui hat dich eingeladen, oder?“, will sie wissen. Robins Blick gleitet hinaus aufs Meer.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, harkt er nach. Robin schweigt, sie pendelt mit den Beinen und stützt sich mit beiden Händen am Steg ab.

„Wie lange bist du schon hier?“, will sie irgendwann wissen. Antonio dreht ihr den Rücken zu.

„Robin, ich höre nicht auf zu fragen. Also warum? Wolltest du ihn für dich allein?“

„Das alles ist etwas komplizierter“, säuselt sie in die Meeresbrise.

„Ich habe Zeit!“

Sie dreht sich zu ihm, sie legt den Kopf in den Nacken und sieht ihn auffordernd an.

„Dann setzt dich doch zu mir!“, bittet sie. Antonio seufzt, dann geht er zu ihr und setzt sich neben sie.

„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen“, sagt sie und lächelt sanft.

„Das kauf ich dir nicht ab!“ Er weicht ihren Blicken aus.

„Du wärst uns gefolgt, wenn du es gewusst hättest, oder?“

„Sicher!“

„Dir ist schon klar, warum wir seinen Tod vortäuschen mussten, oder?“

Er nickt.

„Was glaubst du, wie oft wir das noch hätten tun müssen, wenn du bei uns gewesen wärst? Es musste jemand zurück bleiben, der die Drachen überzeugt.“

„Das selbe Geschwätz, wie von Jan. Ihr könnt mich alle mal. Ich fahr mit dem nächsten Schiff wieder in die Heimat.“ Sie schweigen beide und betrachten das Meer. Robin atmet schwer, sie sieht sie ihn lange eindringlich an, doch er weigert sich, mehr zu sagen. Schließlich ist sie es, die wieder zu sprechen beginnt: „Der nächste Dampfer nach Amerika, legt frühstens in drei Monat hier an.“ Erschrocken richtet er seine Aufmerksamkeit auf sie. Drei Monat, so lange kann er sich hier niemals über Wasser halten. Antonio lässt die Schultern hängen und seufzt tief: „Na toll!“

„Euer Treffen ist wohl ziemlich schief gelaufen, was?“, fragt sie vorsichtig. Von unten herauf schaut sie ihn an und versucht seinen Blick zu erhaschen.

„Er hat sich ganz schön verändert, was?“, versucht sie noch immer ein Gespräch zu beginnen. Gedankenverloren schüttelt Antonio den Kopf.

„Er weiß nichts mehr. Er hat einfach alles vergessen.“

„Ja“, seufzt sie.

„Er hat mich zur Sau gemacht, weil ich heute Nacht bei ihm geschlafen habe und dann hat er mich raus geschmissen, weil ich …“ Antonio stoppt sich selbst. Ob Robin ihn auch dafür verurteilt, was er mit Jan und Lui getan hat? Sie betrachtet ihn eine Weile auffordernd. Als er sonst nichts sagt, harkt sie nach.

„Was hast du ausgefressen?“

„Jan ist selbst schuld. Er hat mich bis zum Erbrechen provoziert und Lui hat seine Waffe auf mich gerichtet.“

„Du hast die Beiden aber nicht umgelegt, oder?“

„Nein“, gibt er zähneknirschend zu.

„Na dann geht’s ja noch“, entgegnet sie und pendelt gelassen mit ihren Beinen. Überrascht sieht er sie an. Robin schmunzelt amüsiert.

„Glaub mir, ich wollte ihn auch schon mehr als einmal erschlagen.“ Sie lächelt verschlagen und zwinkert ihm zu, bevor sie wieder hinaus auf das Meer sieht und ernster fortfährt, „Aber hin und wieder ist er ganz nützlich. Er hat uns mit seinem Job viele Wege geebnet und hin und wieder kann er besser mit Enrico umgehen, als ich.“ Sie macht eine lange Pause, dann fährt sie fort: „Hat Enrico dich deswegen vor die Tür gesetzt?“

„Ja.“

„Mhm ...“ Robin pendelt stärker mit ihren Beinen und richtet ihren Blick in den Himmel. „Es ist seltsam, wenn er sich so ganz normal benimmt, oder? Einer ehrlichen Arbeit nachgeht, lieber einen Tag mit einem Buch vor dem Kamin verbringt, anstatt in einem Bordell oder beim Pokern.“

„Allerdings! Er verträgt gar nichts mehr. Auf dem Heimweg von der Bar, wäre er mir fast krepiert.“

„Du hast ihn abgefüllt?“, lacht Robin vergnügt.

„Er hatte nur drei Drinks und war schon sternhagelvoll.“

„Das hätte ich gern gesehen. Da wird er sich sicher gefreut haben. Wir verbieten ihm schon seit Jahren Alkohol.“

„Ist wohl auch besser so. Es ging ihm danach echt dreckig.“

„Naja, vielleicht lässt er ja jetzt freiwillig die Finger davon.“ Wieder schleicht sich Schweigen zwischen sie. Es dauert ewig, bis sich Robin durchringen kann, ein neues Thema anzuschneiden: „Hat er sich denn an gar nichts erinnert, als er dich gesehen hat?“

„Nur an Kleinigkeiten, nichts von Substanz.“

„Du kennst ihn von uns allen am beste. Glaubst du nicht auch, dass es besser ist, wenn er sich nicht erinnert und hier ganz neu anfangen kann?“

„Keine Ahnung! Den Typen im Sommerhaus kenne ich nicht und er ist mir auch egal. Ich verschwinde von hier. Schlagt ihr euch mit ihm herum.“

„Jetzt schiebe mal deinen gekränkten Stolz bei Seite und gib mir nicht so dumme Antworten. Hast du noch nie darüber nachgedacht, ein normales Leben zu führen? Ist das nicht besser, als ständig auf der Flucht zu sein? Mal ganz langweilig einfach nur vor dem Kamin zu sitzen? Ist das wirklich so schlimm?“ Antonio schweigt, er denkt einen Moment darüber nach, doch schließlich sieht er sie ernst an: „Ihr seid doch immer noch auf der Flucht und ihr werdet es immer sein, oder willst du mir wirklich weiß machen, dass du dich nicht mehr zwei mal umdrehst, wenn jemand hinter dir geht, weil du das Gefühl hast, dir schleicht jemand nach, oder siehst du nie nach, wer hier alle drei Monaten aus dem Schiff aus Amerika steigt? Für Menschen, wie uns, gibt es kein zurück, in ein normales Leben.“

„Ob du das glauben kannst oder nicht: Ich bin hier wirklich zur Ruhe gekommen. Ich sehe nicht mehr in jedem fremden Gesicht eine Bedrohung. Ich bin mir sicher, dass das auch etwas für dich wäre, aber du willst das gar nicht, oder? Du hast nicht das Gefühl, das verdient zu haben, stimmt's?“ Er wendet den Blick ab.

„Tu nicht so, als wenn du mich kennen würdest!“, sagt er abwehrend.

„Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen?“, seuselt sie.

Er knirscht mit den Zähnen, doch sie lächelt nur sanft und steht auf. Auffordernd reicht sie ihm die Hand. „Los steh auf!“ fordert sie.

„Wozu?“

„Wir gehen jetzt zum Sommerhaus und klären das. Du willst doch gar nicht hier weg, solange er hier ist.“ Misstrauisch sieht Antonio zu ihr auf.

„Warum solltest du mir helfen wollen? Wo du doch mit ihm verheiratet bist!“ Herausfordernd sieht er zu ihr auf.

„Guter Einwand. Aber du bist ein Kerl und keine Konkurrenz. Außerdem wollte ich bei euch beiden schon immer mal mitmischen. Vielleicht habe ich ja jetzt die Chance dazu.“ Antonio hebt eine Augenbraue und sieht sie entsetzt an. Robin schmunzelt erst, dann beginnt sie herzhaft zu lachen.

„Du müsstest dein Gesicht sehen.“

„Jetzt tu nicht so, als wenn das nur ein Scherz gewesen wäre. Ich hab dich schon mit mehr als zwei Männern gesehen. Du meinst es, wie du's gesagt hast.“

„Ach lass mir doch meine Träume. Und jetzt komm! Du kannst ja schlecht die nächsten drei Monate hier auf dem Steg verbringen.“

„Ich geh nirgendwo hin!“ Demonstrativ dreht Antonio ihr den Rücken zu. Ihre Schritte kommen näher, ein harter Schlag trifft ihn am Hinterkopf.

„Beweg dich!“

Ärgerlich sieht er sie an und reibt sich über die getroffene Stelle: „Du wagst es einen Killer zu schlagen?“

„Unter uns Mördern, darf ich das. Außerdem steh ich in der Rangfolge noch immer über dir.“ Nur weil sie die Tochter des Paten ist und Enrico und ihn ausgebildet hat? Das ist noch lange kein Grund. Demonstrativ sieht Antonio weg.

„Jetzt steh schon auf! Du hast dir den Mist eingebrockt, nun schaff die Sache auch aus der Welt. Ob du willst oder nicht, du sitzt mindestens drei Monate hier fest und im Sommerhaus ist es ganz sicher angenehmer, als hier am Hafen. Spring mal über deinen Schatten“, Robin macht eine betont lange Pause, bevor sie lächelnd fortfährt, „Außerdem könnte ich jemanden brauchen, der meinen Korb trägt.“ Sie schiebt den randvollen Korb mit dem Fuß in seine Richtung. Antonio seufzt ergeben und richtet sich auf. Zähneknirschend nimmt er den Korb.

„Danke!“, sagt sie übertrieben freundlich und geht voran.

~Der eigene Schatten~

Ihr Weg ist lang und ewig schafft es Robin nicht zu schweigen: „Wie sieht es daheim aus? Wie geht es Vater und meinen Schwestern?“

Antonio steckt die freie Hand in die Hosentaschen und tritt ein Stein vor sich her, sein Blick ist düster, als er zu sprechen beginnt: „Susen und Raphael haben ziemlich fiese Geldsorgen. Susens Praxis steht jeden Monat auf der Kippe.“

„Mit Geld konnten die Beiden noch nie besonders gut umgehen“, murmelt sie gedankenversunken.

„Judy ist mit den Kindern zu ihrem Ex gezogen. Der Typ arbeitet in einem Kontor und scheint wohl genug zu verdienen, um die Drei durchzubringen. Wenn du mich fragst, ist sie sowieso nur deswegen mit dem Kerl zusammen. Ich sehe sie oft mit den Kindern an Enricos Grab. Sie heult immer noch, wenn sie dort steht. Was Aaron angeht ...“ Antonio macht eine lange Pause und seufzt tief dabei. „Michael erpresst ihn, um das Leben seiner Enkelkinder. Er lässt sich von den Drachen befehligen und ist vergeblich auf der Suche nach einem Nachfolger, für sich und die Wölfe. Er hat selbst mich dafür in Betracht gezogen.“

„Dann muss Vater ja wirklich verzweifelt sein.“

„Na danke auch!“

Robin macht ein entschuldigendes Gesicht. „Sorry, so war es nicht gemeint, aber du bist ein Überläufer. Wer soll dich denn an der Spitze akzeptieren?“

„Ich habe es auch abgelehnt. Ich habe so schon genug Scheiße am Hals. Bei den Locos geht sowieso alles den Bach runter. Wir hätten die letzten Jahre Enrico wirklich brauchen können. Also den alten Enrico, nicht diesen traurigen Schatten von ihm.“ Abschätzig sieht Antonio vor sich hin. Robin hält abrupt inne. Fragend sieht er zu ihr zurück und bleibt ebenfalls stehen. Die junge Frau hat den Blick gesenkt, leiser will sie wissen: „Was hätte Enrico denn dagegen tun soll?“

„Mit Enrico hätten sich die Wölfe nicht in alle Himmelsrichtungen zerstreut und ...“

„Und ihr hättet zusammen mehr Drachen töten können?“ Robin schüttelt abwehrend mit dem Kopf. Sie sieht wieder auf und Antonio direkt an. „Antonio, willst du ihn wirklich in Vaters Krieg gegen die Red Dragons ziehen sehen?“

„Wir haben diese Schweine klein gehalten, als wir noch zusammen waren.“

„Ihr seid ständig angegriffen worden. Das ihr so lange überlebt habt, liegt nur daran, das Michael euch lebend haben wollte, um euch persönlich umlegen zu können. Ihr habt oft mehr Glück als Verstand gehabt.“

„Das war kein Glück! Wir wussten uns zu wehren.“

Robin setzt sich wieder in Bewegung, sie hebt den Kopf und sieht abschätzig an Antonio vorbei.

„Ach ja, wirklich? Bei dem Überfall, seit ihr wie lange gefoltert worden, bevor Michael die Lagerhalle angezündet hat? Wie gut habt ihr euch da zur Wehr setzen können? Der einzige Grund, warum das nicht schon viel früher passiert ist, ist Enricos Talent gewesen sich einflussreiche Freunde zu machen, die euch in alle Richtungen geschützt haben. Mich, Aaron, Erik, Jan und Lui, der ganze Clan der Wölfe, er hat uns alle wie Schachfiguren um euch beide positioniert. Doch wenn nur eine davon fällt, seid ihr tot. So wie an Enricos zwanzigsten Geburtstag passiert.“

„Worauf willst du überhaupt hinaus?“, raunt Antonio genervt und läuft ihr nach.

„Es ist nicht dein Verdienst als Leibwächter. Du kannst ihn nicht schützen, ich konnte es auch nicht.“ Wieder hält Robin inne und betrachtet mit trübsinnigem Blick den Boden. Bevor Antonio dazu kommt, etwas zu erwidern, fährt sie fort: „Ich war im Krankenhaus, als es passiert ist.“ Robins Stimme bekommt einen leidenden Tonfall: „Ich war dabei, als sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und abgedrückt haben. Einer hat mich bedroht, der andere hat geschossen. Ich konnte überhaupt nichts tun. Wären nicht Jan und Lui dazu gekommen, ich würde heute nicht mehr hier stehen.“ Sie wicht sich eine Tränen aus dem Gesicht und sieht zu Antonio auf. Wütend und vorwurfsvoll sagt sie: „Ich liebe ihn, verstehst du! Ich will ihn nie wieder in so einer Situation sehen und wenn du ihn auch lieben würdest, dann würdest du ihm dieses ruhige Leben hier wünschen und dich darüber freuen, wie er jetzt ist.“

„Ach du musst gerade reden. Warum belügst du ihn, wenn du ihn ja angeblich so liebst? Du bist nicht seine Frau!“

Robin lächelt bitter, als sie ihren Weg fortsetzt. Zügig folgt Antonio ihr. Er will noch immer eine Antwort und sieht sie auffordernd an.

„Ich habe mich schon als seine Frau ausgegeben, noch bevor er aus dem Koma aufgewacht ist. Wir mussten so viel Bürokratie regeln, mit unendlich vielen Ärzten sprechen. Als Verwandte zweiten Grades, hätte ich gar nichts tun können. Jan hat mir alle Unterlagen besorgt, Papiere gefälscht und so weiter. Ich regle heute noch den ganzen Papierkram, damit sein Name nirgendwo auftaucht.“

„Na schön, dass ihr die ganze Welt täuschen musstet, sehe ich ja noch ein, aber warum hast du ihn angelogen? Er hat euch vertraut und hätte doch sicher auch so mitgespielt, wenn ihr es ihm erklärt hättet.“

„Ach Antonio, frag doch nicht so dumme Sachen. Es hat sich einfach so ergeben. Als er aufgewacht ist, haben mich doch schon alle für seine Frau gehalten und er hat das, ohne es in Frage zu stellen, akzeptiert. Ich bin seit Jahren nur die Geliebte gewesen, zu der er kommt, wenn er mit dir oder Judy Streit hat. Ein bisschen Glück habe ich mir nach der langen Zeit doch auch mal verdient, oder nicht? Außerdem, was glaubst du, wie lange er mit uns gekommen wäre, wenn er gewusst hätte, dass es da noch Frau und Kinder und dich gibt? Er wäre irgendwann nach New York zurück, nur um sich dort von den Drachen erschießen zu lassen. Ich weiß, dass er mich irgendwann dafür hassen wird. Aber weißt du was, dass nehme ich in Kauf. Denn wenn es so weit ist, wird er gesund und am Leben sein und nur darauf kommt es an.“

Antonio schüttelt abwehrend mit dem Kopf. Sie laufen schweigend nebeneinander her. Etliche Minuten vergehen. In der Ferne ist bereits das Sommerhaus zu sehen.

„Glaub ja nicht, dass ich ihn dir so einfach überlasse werde“, lässt er sie irgendwann ernst wissen. Robin lächelt zufrieden.

„Sollst du auch gar nicht. Hilf mir lieber dabei, dass er hier bleibt. Wenn er sich wieder in dich verliebt, hat er einen Grund weniger, hier weg zu gehen.“

„Ich werde nicht ewig hier bleiben Robin.“

„Warum denn nicht? Was gibt es denn in New York schon, außer Mord und Totschlag?“

„Meine Tochter!“

Robin hält erschrocken inne.

„Nein! Du bist Vater? Wie ist das denn passiert?“

Strafend sieht Antonio sie an. „Was soll das denn heißen? Glaubst du ich kann keine Kinder machen?“

„Ach komm schon Antonio. Du stehst auf Männer. Du wüsstest doch noch nicht mal, was du mit einer nackten Frau anfangen sollst.“

„Nur weil ich dich nicht wollte ...“, entfährt es Antonio wütend, doch Robin sieht in unbekümmert an.

„Ach komm schon, du hast nicht nur mich ignoriert, sondern jede Frau. Nicht mal die Nutten bei Erik konnten bei dir landen und den süßen Miezen dort, kann nicht mal ich widerstehen. Wir haben selbst bei mir in der Villa Wetten darauf abgeschlossen, ob dich nicht doch eine ins Bett bekommt. Du hast sie alle zum Teufel gejagt.“

„Bei Anette war es eben anders.“

„Anette? Das Mauerblümchen hat es letzten Endes geschafft?“ Robin verkneift sich mit aller Mühe das Lachen.

„Red nicht so von ihr!“

„Sie ist nur dein Alibi Antonio. Das hast du selbst gesagt.“

„Die Zeiten ändern sich eben“, murrt er.

„Du kannst dich noch so sehr anstrengen, du wirst nicht normal. Ich dachte wenigstens das, hättest du auf meinen Partys gelernt.“

Antonio schweigt betreten und sucht krampfhaft etwas anzusehen, nur um Robins forschendem Blick zu entgehen. Die Villa, in der sie ihre Partys veranstaltet hat, ist ihm noch viel zu lebhaft in Erinnerungen. Stets waren nur Menschen mit seltsamen Neigungen eingeladen: Männer die nur Männer mochten, Frauen die mit anderen Frauen rummachten, Männer und Frauen die bunt durcheinander vögelten. Dort ging es wilder zu, als in jedem Freudenhaus. Enrico hat ihn oft dort hin geschliffen. Nach außen hin natürlich nur, um Robin einen Besuch abzustatten, aber eigentlich hat Enrico es genossen, ein Gleicher unter Gleichen zu sein und so schlecht war es dort gar nicht. Irgendwann hat selbst Antonio die Atmosphäre genossen.

„Wie alt ist denn deine Tochter jetzt?“

Antonio braucht einen Moment, bis er seine Gedanken auf Robins Frage lenken kann.

„Vier“, sagt er schließlich.

„Süß. Warum holst du sie nicht her? Hier lebt sie sicher ruhiger, als in New York.“

„Sie lebt bei ihrer Mutter. Ich habe momentan keinen Kontakt zu ihr.“

Robin zuckt ungerührt mit den Schultern.

„Dann hast du noch einen Grund weniger nach New York zurück zu kehren.“

„So einfach ist das nicht!“

„Wie du meinst. Mein Angebot steht auf jeden Fall. Von mir aus kannst du bleiben, so lange du willst. Das Haus und alle Konten laufen sowieso über mich. Wenn die Anderen dich los werden wollen, müssen sie erst mal an mir vorbei.“

„Ich bleibe nicht dort, wo ich nicht erwünscht bin.“ Das Haus ist nur noch wenige Schritte entfernt. Unruhig hastet Antonios Blick umher. Dicker Rauch steigt aus dem Schornstein und lässt die Wärme erahnen, die im Inneren auf sie wartet. Der kalte Wind heult vom Meer her die Klippe hinauf. Ein Schauer durchfährt Antonios ausgekühlten Körper.

„Das kriegen wir schon wieder hin. Lass mich nur machen.“ Robin lächelt aufmunternd und geht voran.
 

Sie öffnet die Tür mit einem dicken Schlüsselbund und tritt ein. Lautes Hundegebell ist zu hören, um die Hausecke kommt der Welpe geschossen und stürmt an Robin vorbei, in den Flur und weiter in die Wohnstube.

„Könnt ihr den Köter nicht mal draußen lassen?“, tönt es von dort. Bei dem Klang von Enricos Stimme, presst sich Antonio ein dicker Kloß in die Kehle. So ernst und vorwurfsvoll, hat er an den Klippen auch gesprochen. Wie angewurzelt bleibt Antonio vor der Haustür stehen. Robin antwortet Enrico nicht. Sie hält ohne Umwege auf eine der Türen im Flur zu und klopf an.

„Jan, Lui, zieht euch was an, ich muss mit euch reden!“ Schritte bewegen sich im Raum, die Tür wird geöffnet.

„Wir sind angezogen“, mault Jan und sieht sie ärgerlich an. „Du denkst auch wir haben nichts anderes als vögeln im Sinn, oder?“

Robin lächelt belustigt.

„Ist doch auch so. Das ist schon euer drittes Bett in vier Monaten.“

„Robin? Warum bist du denn schon wieder zurück?“ Lui schiebt die Tür weiter auf, um ebenfalls in den Türrahmen zu treten. Er zieht sich einen Pullover über und steckt die Arme durch die Ärmel. Robin lächelt wissentlich, als sie ihm dabei zusieht, dann wandert ihr Blick an Jans Hals. Sie betrachtet ihn prüfend.

„So wie du aussiehst, musst du ihn ja wirklich ganz schön provoziert haben.“

Jans sieht an Robin vorbei, hinaus zur Tür. Als sich sein Blick mit dem von Antonio kreuzt, flucht er wütend: „Was will der schon wieder hier?“

„Ich habe ihn unterwegs aufgegabelt. Er war so nett mir den Korb herzutragen“, beginnt Robin in einem zuckersüßen Tonfall, der überhaupt nicht zu ihrem ernsten Gesicht passen will. Als Jan Luft für einen Einwand holt, fährt sie unbeirrt fort: „Es wäre echt nett gewesen, wenn ihr mir vorher mal Bescheid gegeben hättet, das ein Gast vorbei kommt. Das hier ist immer noch 'mein' Haus.“ Jan und Lui sehen sie nicht einmal an, ihr finsterer Blick gilt Antonio. Dieser atmet einmal tief durch, dann betritt er den Flur. Er geht die wenigen Schritte zu Robin und drängt sie an der Schulter bei Seite. Den Korb drückt er ihr in die Hand und sieht dann Jan fest an.

„Jan, tut mir leid. Ich hab überreagiert, das kommt nicht wieder vor.“ Sein Blick wandert auf Lui, von oben herab schaut er ihn an, „Und Lui, du bist selbst schuld. Ich habe ihn längst los gelassen gehabt. Die Waffe zu ziehen, war nicht nötig.“ Er macht eine kurze Pause, dann meint er an alle gerichtet: „Ihr habt mich her geholt, euretwegen sitze ich jetzt mindestens drei Monate hier fest. Es wäre ein netter Zug von euch, wenn ich wenigstens mein Zeug hier unterstellen und die Nacht hier verbringen darf. Den restlichen Tag mach ich mich sowieso dünne und in drei Monaten seit ihr mich ganz los.“ Überrascht wird Antonio von allen drei angesehen. Als kein Einwand von ihnen kommt, fordert Antonio von Lui, mit ausgestreckter Hand: „Darf ich deinen Wagenschlüssel haben? Meine Sachen sind noch in deiner Karre.“ Kommentarlos greift Lui in seine Hosentasche und legt ihm den Schlüssel in die Hand.

„Danke!“ Während Antonio das Haus wieder verlässt, kann er die fassungslosen Blicke noch immer im Rücken spüren.

„Hat er sich gerade ernsthaft entschuldigt?“, will Jan von Robin wissen.

„Es scheint so“, antwortet sie freudig überrascht und lächelt warmherzig, während sie Antonio dabei zusieht, wie er die beiden Koffer aus dem Wagen holt.

„Er hat recht. Ich bin Schuld daran, dass er jetzt hier fest sitzt“, meint Lui kleinlaut. Jan dreht sich zu ihm und fährt ihn harsch an: „Na und! Er hat es sich doch mit uns verscherzt, nicht umgekehrt.“ Robin schlägt Jan ihren Handrücken auf den Oberkörper.

„Der kaltblütigste Killer der italienischen Mafia hat sich gerade bei dir entschuldigt. Du solltest dich geehrt fühlen.“

„Ach von wegen. Das macht er doch nur, weil er sonst nicht weiß wohin.“

„Und wenn schon. Das hier ist mein Haus und hier wird getann was ich sage!“

Jan knirscht mit den Zähen, als er murrt: „Enrico will ihn auch nicht hier haben.“

„Ich rede mit Enrico. Und du reist dich einfach mal am Riemen. Du bist nämlich nicht ganz unschuldig an der Sache.“ Robin klopft ihm noch einmal auf den Brustkorb, dann folgt sie dem Flur ins Wohnzimmer und schließt die Tür nach sich.
 

Enrico sitzt auf dem Sofa und ist in einem seiner Bücher vertieft. Er sieht sie nicht mal an, als sie herein kommt. Selbst den Welpen, der immer wieder aufgeregt neben ihm auf dem Sofa herum springt, nimmt er nicht wahr. Um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, nimmt sie ihm das Buch aus der Hand.

„Ich wünsche dir auch einen schönen guten Tag!“, sagt sie schroff. Erst jetzt richten sich seine eisblauen Augen auf sie. Er legt den Kopf schief, als ernst wissen will: „Was machst du denn hier?“

„Ja, Schatz, du hast mir auch gefehlt!“

Enrico rollt mit den Augen und reist ihr das Buch aus der Hand, er legt ein Band, das mit dem Buchrücken verbunden ist, in die Mitte und schlägt es zu.

„Gut das du hier bist, ich habe sowieso ein Hühnchen mit dir zu rupfen.“

„Ich mit dir auch. Warum muss ich Antonio am Hafen einsammeln? Der arme Kerl ist über den ganzen Ozean gesegelt, nur um dich zu sehen und du setzt ihn einfach so auf die Straße?“

„Hast du Jan schon gesehen?“

„Hast du mal nachgefragt, wie es zu dem Streit kam?“

„Welchen Grund kann es schon geben, so auszurasten?“

„Dieser Grund steht vor mir!“

Irritiert wird sie von Enrico gemustert.

„Ach du raffst mal wieder gar nichts, oder?“ Robin stemmt die Arme in die Seite und seufzt tief. Sie greift sich an die Stirn und sieht nach unten weg.

„Wer sich in dich verliebt, kann sich eigentlich gleich die Kugel geben.“

„Was redest du schon wieder für einen Mist?“

„Hast du das wirklich nicht mitbekommen, dass es den beiden um dich ging?“

„Was für ein Blödsinn! Jan hat Lui und Toni in New York eine Frau und ein Kind.“

„Ich geb's auf! Tu mir einfach den Gefallen und mach Antonio das Leben nicht zur Hölle, so lange er bei uns bleiben muss. Ihm liegt wirklich was an dir und das nächste Schiff legt erst in drei Monaten an.“

„Sein Problem! Er kommt mir hier nicht mehr rein.“

„Er und Jan haben das schon geklärt.“

Enrico zwingt sich auf die Beine, wütend schnauzt er: „Ist mir egal!“

„Na schön, dann darf ich dich daran erinnern, dass das hier mein Haus ist. Du und auch Jan und Lui, sind hier auch nur zu Gast. Bis jetzt habe ich mir noch nie nachsagen lassen, eine schlechte Gastgeberin zu sein und damit fange ich auch jetzt nicht an. Wir haben ihn eingeladen, also wird er wie ein Gast behandelt. Ende der Diskussion.“

„Dann kratzt du ihre Überreste von den Wänden, wenn sie sich umgebracht haben. Ich tus nicht!“, mault Enrico und lässt sich auf das Sofa fallen.

„Schön! Und was wolltest du jetzt mit mir besprechen?“ Enrico sagt nichts, er beginnt den Verband von seinem Ringfinger zu wickeln, bis der goldene Ring daran zum Vorschein kommt. Seine Hand streckt er ihr entgegen und meint: „Hast du mir dazu, was zu sagen?“

Robin atmet tief durch und hebt stolz den Kopf. „Er hat es dir also schon gesagt?“

„Also stimmt es?“, entfährt es Enrico entsetzt. Robins Haltung strafft sich weiter, ungerührt erklärt sie: „Ja, als deine Schwägerin hätte ich nichts klären können, hätte nicht mal eine Auskunft von den Ärzten bekommen. Es war für uns alle einfacher, wenn ich deine Frau spiele, aber es wäre auch gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich es nicht auch für mich selbst getan habe. Ich habe es einfach satt gehabt, nur deine Geliebte zu sein. Wenn du mich deswegen jetzt hasst, kann ich damit leben. Ich hatte wenigstens vier schöne Jahre mit dir und konnte dir damit das Leben retten. Das reicht mir.“ Robin wendet sich um und geht. Sie öffnet die Tür und bleibt im Türrahmen stehen. „Vielleicht ist es ja ganz gut, dass ich erst mal bei meiner Cousine bin, dann haben wir beide die Zeit, darüber nachzudenken, wie es mit uns weiter gehen kann.“ Sie wirft Enrico einen letzten, traurigen Blick zu, dann geht sie den Flur entlang, und verlässt das Haus.

„Willst du jetzt einfach so gehen und das so stehen lassen?“, ruft Enrico ihr nach. Sie kann seine schwerfälligen Bewegungen hinter sich hören und beschleunigt ihre eigenen Schritte. Ohne Abschied lässt sie sowohl Jan, als auch Lui und Antonio hinter sich.
 

Während Antonio seine Koffer im Flur an die Wand lehnt, sieht er erst Robin nach, dann fällt sein Blick auf Enrico. Dieser ist in der Haustür stehen geblieben und sieht der jungen Frau mit grimmiger Mine nach.

„Verdammtes Weib“, murmelt er, dann richtet sich sein zorniger Blick auf Antonio. Stumm mustert er zunächst die beiden Koffer und dann ihn.

„Du brauchst es dir hier gar nicht erst gemütlich machen. Von mir aus kannst du die drei Monate hier pennen, aber Tagsüber will ich dich nicht im Haus haben und ich will, dass du Abstand zu Lui und Jan hältst“, droht er lautstark, dann wandert sein Blick auf den Welpen, der zwischen ihnen liegt. Er kaut auf einem der Schuhe herum und zerbeißt das Leder. Enrico bükt sich nach ihm.

„Und nimm die Dreckastöle mit!“, schnauzt er und entreißt dem Welpen den Schuh. Er holt weit damit aus und schlägt dem Tier die Sohle auf das Hinterteil. Der Hund jault hell und flüchtet hinaus ins Freie. Antonio sieht ihn fassungslos an.

„Du bist ja immer noch hier!“, keift Enrico. Antonio rollt mit den Augen, dann dreht er sich um und verlässt das Haus.

„Tja, da gehört ein Straßenköter, wie du eben hin: Vor die Tür!“, ruft ihm Jan gehässig nach. Ein harter Schlag prallt gegen den Brustkorb des Asiaten. Als Antonio sich nach ihm umdreht, drängt Enrico ihn mit dem Arm hart gegen die Wand. Finster und durchdringend sieht er Jan direkt in die Augen, als er ihn anschreit: „Halts Maul! Du bist mindestens genau so schuld an dem Streit. Bei deiner großen Klappe, wundert es mich ehrlich gesagt, dass er dich nicht umgelegt hat. Halt in Zukunft deine Schnauze, sonst fliegst du genau so raus, wie er!“ Ein schadenfrohes Lächeln schleicht sich in Antonios Mundwinkel. Als Jan in seine Richtung schaut, hebt er den Mittelfinger. Enrico finster Blick richtet sich beinah zeitgleich auf ihn. Er schaut drohend, dann wirft er die Haustür zu.

Antonio bleibt allein im eisigen Wind zurück. Nur der Welpe sitzt zu seinen Füßen und leckt sich das getroffene Hinterteil. Seufzend beugt Antonio sich zu ihm hinab und krault ihn hinter den Ohren.

„Dich kann er wohl auch nicht besonders leide, was?“ Der Welpe legt den Kopf in seine Hand und genießt die Streicheleinheiten.

„Da haben wir wohl was gemeinsam“, seufzt Antonio und verstaut die kalten Hände in seinen Hosentaschen. Als er das Haus zu umrunden beginnt, folgt der Welpe ihm.

Drei Monate muss er sich jetzt mit diesem unfreundlichen Enrico herumschlagen, da wäre es besser gewesen, sein Freund wäre tot und beerdigt geblieben. Was soll er denn die ganze Zeit in dieser Einöde machen? Hier gibt es nicht mal Drachen, die er umlegen kann und am Hafen legen neben den Fischerboten wohl auch nur selten große Schiffe an, die er entladen könnte. Mit einem tiefen Seufzer lässt er sich auf der Bank nieder, die hinter dem Haus aufgestellt ist. Was zu Essen wäre auch nicht schlecht, sein Magen hängt ihm bereits in den Kniekehlen. Seine letzte Mahlzeit hat er auf dem Schiff gehabt. Nicht mal die Spiegeleier hat er essen können, die hat sich am Morgen ja Enrico unter den Nagel gerissen. Diese zehnköpfige Raupe. Bei dem Spitznamen, den Raphael seinem kleinen Bruder verpasst hat, muss Antonio schmunzeln, doch nur all zu schnell trüben sich seine Gedanken wieder. Sein Blick verliert sich in der Ferne und streift das Meer. Irgendwo dort hinten leben Anette und Kira. Wie es den beiden wohl geht?

Die Pfote des Welpen kratzt an seinem Hosenbein, auffordernd sieht er zu ihm auf. In der Schnauze hat er ein Stück Holz. Antonio ist jetzt nicht nach Spielen zumute. Er ignoriert das Tier, doch der Hund lässt ihm keine Ruhe. Immer wieder legt er ihm seine Pfote auf das Knie und wuft auffordernd. Schließlich erbarmt sich Antonio und nimmt ihm das Stück Holz aus dem Maul. Es ist kein Stock, sondern sieht wie ein großer Splitter aus, der beim Holzhacken übrig geblieben ist. Das Holz hat eine feine Maserung und die Form ähnelt dem Welpen, wenn er aufrecht sitzt. Je länger Antonio es ansieht, um so deutlicher glaubt er eine Hundeform drin erkennen zu können. Es müssen nur noch hier und dort ein paar Stellen geglättet und abgeschnitten werden. Antonio zieht sein Taschenmesser aus der Hosentasche und beginnt an dem Holzstück herumzuschnitzen. Immer deutlicher arbeitet er die Konturen eines Hundes heraus. Der Welpe beobachtet ihn interessiert. Er schnappt immer wieder nach den herabfallenden Holzspänen und schiebt sie mit der Pfote hin und her. Antonio nimmt ihn zum Vorbild und gestaltet die Ohren eben so spitz und die Schnauze rundlich, die Beine kurz, die Pfoten groß. Für die Feinheiten des Fells, wird er jedoch anderes Werkzeug brauchen. Seufzend sieht er durch die Verandatür ins Innere des Hauses. Enrico sitzt auf dem Sofa, in der Hand ein Buch. Trotzdem schaut er ab und an in seine Richtung. Sich an ihm vorbei zu schleichen, wird keinen Sinn machen. Dann muss er eben wieder die Konfrontation mit ihm suchen. Inzwischen ist es sowieso egal, weswegen der Kerl sauer auf ihn ist. Antonio legt Messer und Holz auf die Bank und steht auf und zieht die Verandatür auf. Als sich Enrico ihm zuwendet, sagt er schnelle und ohne den Freund eines Blickes zu würdigen: „Keine Sorge, ich bin gleich wieder weg. Ich brauch nur was aus meinem Koffer.“ Enrico lässt ihn wortlos passieren und wendet sich wieder seinem Buch zu. Auch Lui, der mit einer Pfanne in der Küche hantiert, sagt nichts. Im Flur kramt Antonio zwei Holzkisten aus seinem Koffer. Die eine schwer, die andere leichter. Er nimmt beide an sich und verlässt das Haus wieder.

~Tonis Talent~

Als die Haustür nach ihm ins Schloss fällt, wird es wieder ruhig. Ich versuche nicht weiter über das Vorhaben dieses Kerls nachzudenken, doch als er hinter dem Haus auftaucht und sich auf die Bank setzt, kann ich trotzdem nicht anders, als hin und wieder nach ihm zu sehen. Da hat Lui uns wirklich was eingebrockt. Warum schleppt er uns überhaupt einen Mörder ins Haus?

„Hältst du es wirklich für klug, ihn wie einen räudigen Köter, vor die Tür zu setzen?“, will Lui von mir wissen, während er Fleisch in die Pfanne wirft. Es spritzt und zischt, ein wunderbarer Duft nach angebratenen Zwiebeln liegt in der Luft. Ich antworte ihm nicht und betrachte stattdessen Toni. Er hantiert die ganze Zeit mit einem Taschenmesser, vor dem Hund herum.

„Enrico, ich hab dich was gefragt“, harkt Lui nach. Als ich wieder stumm bleibe, schaut auch er aus dem Fenster.

„Was macht er denn da?“

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht will er den Hund essen. Wäre ja nicht schlecht, dann sind wir den schon mal los“, entgegne ich belustigt.

„Enrico, das ist nicht lustig. Würdest du bitte mal nachsehen, was er da treibt?“

„Warum ich?“

Lui hebt seine verletzte Hand. Ich rolle mit den Augen und lege mein Buch zur Seite. Heute komme ich zu nichts, so viel steht schon mal fest. Schwerfällige kämpfe ich mich auf die Beine und schiebe die Verandatür auf.

„Wenn du dem Köter das Fell abziehen willst, musst du ihn schon festhalten“, spreche ich Toni an. Er sieht mich nicht an, auch als ich ins Freie trete, ist sein Blick auf ein Stück Holz in seinen Händen fixiert. Auf dem Boden, zwischen seinen Beinen, liegen überall Holzspäne, die der Welpe zu fressen versucht. Auf der Bank neben ihm, steht eine geöffnete Holzkiste. Toni greift immer wieder hinein und nimmt sich verschiedene Werkzeuge daraus. Ich lege den Kopf schief und betrachte sein Tun stumm. In seinen Händen entsteht nach und nach eine Figur, die dem Welpen zum Verwechseln ähnlich sieht.

„Was machst du denn da?“ Toni sieht nur flüchtig zu mir auf.

„Keine Sorge, ich klau euch schon nicht euer Feuerholz. Das Stück hat der Hund angeschleppt.“ Ich ignoriere seine schroffen Worte und strecke meine Hand nach ihm aus. „Zeig mal her!“, fordere ich. Er schnitzt einen Spann vom Ohr der Figur, dann legt er sie mir in die Hand. Ich schiebe seine Werkzeugschachtel ein Stück bei Seite und setze mich zu ihm, während ich die Figur von allen Seiten betrachte. Sie sieht dem Welpen zum verwechseln ähnlich, selbst das Fell wirkt so weich und flauschig, wie das des Vorbildes.

„Das ist echt gut geworden. Du kannst ja doch noch was anderes, als Kriminaldelikte“, stelle ich verblüfft fest. Er rollt mit den Augen und sieht zur Seite weg.

„Ich meins ernst. Das sieht genau so aus, wie der Köter.“ Wieder schweigt Toni. Von ihm wandert mein Blick auf eine zweite Schachtel, die verschlossen unter der mit dem Werkzeug liegt.

„Was ist da drin?“, will ich wissen und hebe die Werkzeugbox an. Kommentarlos klappt Antonio sein Messer ein und schweigt erneut.

„Darf ich?“, will ich wissen und nehme die verschlossene Schachtel an mich.

„Von mir aus“, murrt er kleinlaut. Neugierig öffne ich den silbernen Verschluss:

In der Box liegen noch weitere geschnitzte Tiere. Ziegen, Schaffe, Kühe, Schweine, Jungtiere und ausgewachsene Exemplare. Sie sind noch deutlich aufwendiger gearbeitet, als der Welpe.

Verstohlen sieht er mir von der Seite dabei zu, wie ich eine Figur nach der anderen herausnehme und staunend bewundere.

„Das wird ein Bauernhof für meine Tochter. Ich wollte ihn ihr schenken, wenn ich wieder zurück bin. In den sechs Wochen auf dem Schiff, kann man ja eh nichts anderes machen.“

Ich betrachte ihn prüfend. „In dir scheint ja doch ein guter Kern zu stecken.“ Er wendet sich kopfschüttelnd ab und verstaut das Messer in seiner Hosentasche.

„Wieso legst du Menschen um, wenn du so ein Talent hast?“

Seine Aufmerksamkeit wandert fragend zurück auf mich.

„Du könntest dein Geld doch mit diesen Schnitzereien verdienen.“

„Wer sollte so was denn schon kaufen wollen?“

„Machst du Witze? Für solches Spielzeug könntest du auf dem Wochenmarkt im Dorf ein kleines Vermögen verlangen. Als Bauernhofset, wäre es unbezahlbar.“

„Ich schnitze nur für meine Tochter“, murrt er und nimmt mir die Schachtel mit den Tieren weg. Er klappt sie zu.

„Was macht ihr denn hier draußen?“, will Lui wissen. Er lugt um den Türrahmen herum. Ich halte die Welpenfigur in seine Richtung.

„Schau mal. Den hat Toni geschnitzt“, berichte ich überschwänglich.

„Nein, der ist noch nicht fertig!“, protestiert er und versucht vergeblich mir die Schnitzerei wegzunehmen. Ich dränge ihn an der Schulter zurück und lege die Figur in Luis Hand. Er betrachtet sie von allen Seiten.

„Der sieht ja richtig lebendig aus“, stellt er fest, „Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.“

„Er hat noch mehr davon gemacht“, sage ich begeistert und nehme Toni die geschlossene Box weg. Seinen finsteren Blick, ignoriere ich.

„Hey! Gib sie wieder her!“, protestiert er vergeblich, als ich sie aufklappe und Lui zeige. Während Lui die Figuren durch sieht, kann ich meine Begeisterung einfach nicht im Zaum halten: „Die sind doch großartig. Glaubst du nicht auch, dass man die gut verkaufen könnte?“

„Die sind nicht verkäuflich. Die habe ich für meine Tochter gemacht!“, knurrt Toni wütend und reist mir die Schachtel aus der Hand. Hastig erhebt er sich und versteckt sie hinter seinem Rücken.

„Du hast ein Kind?“, will Lui überrascht wissen.

„Ja und? Was ist daran so besonders?“

„Naja ...“, beginnt Lui, doch als Toni ihn warnend ansieht, bleibt er stumm. Ich schaue von einem zum anderen und erwarte jedem Moment, einen neuen Streit, als mir der bittere Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase steigt. „Lui, das Mittagessen!“, entfährt es mir.

„Ach, verdammt!“, flucht er und drückt mir die Hundefigur in die Hand, dann stürzt er ins Haus zurück. Ich sehe ihm belustigt nach.

Toni lässt sich mit einem tiefen Seufzer auf der Bank nieder. Er legt die Holzkiste in seinen Schoß und greift sich an den knurrenden Magen. Ich beobachte seine trübsinnigen Blick eine Weile stumm.

„Na los, komm mit rein und iss mit uns!“, schlage ich schließlich vor und wende mich wieder der Schnitzerei zu. Ich kann einfach nicht anders, als die Figur noch einmal von allen Seiten zu betrachten.

„Das ist echt erstaunlich“, murmle ich vor mich hin und gehe zurück ins Haus. Als ich keine Schritte hinter mir hören kann, drehe ich mich noch einmal um. Ungläubig sieht Toni mich an und ist bisher noch nicht aufgestanden.

„Noch mal lade ich dich nicht ein, also komm schon!“ Endlich erhebt er sich und folgt mir ins Haus. Lui schaut uns überrascht an, akzeptiert meine Entscheidung aber stumm. Während er das Fleisch zu retten versucht setze ich mich an den Küchentisch. Den Teller auf meinem Platz schiebe ich in die Mitte des Tisches und lege beide Arme auf die Platte. Gedankenverloren drehe ich die Figur durch die Finger. Irgendetwas fehlt an ihr noch. Lui deckt den Platz neben mir, der bisher leer gewesen ist, während Toni im Wohnzimmer stehen bleibt. Ich winke ihn zu mir und klopf mit der flachen Hand auf den Stuhl zu meiner Rechten. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, zu uns zu kommen und sich neben mich zu setzen.

„Bekomme ich den Hund auch irgendwann mal wieder?“, will er von mir wissen, doch ich ignoriere seine Worte. Noch einmal drehe ich die Figur durch meine Finger, dann komme ich endlich darauf, was ihr noch fehlt.

„Farbe ...“, murmle ich und stehe auf. Die Figur lege ich auf den Tisch und will gehen, als mein Blick auf Toni fällt. Ich entscheide sie lieber mitzunehmen, bevor er sie vor mir verstecken kann. Sein verstörter Blick folgt mir, während ich im Schlafzimmer verschwinde.

Irgendwo auf meinem Sekretär, muss die Schachtel mit den Farben doch stehen. Auf der Platte stapeln sich Zeichnungen und Bücher, ich muss hier wirklich mal wieder aufräumen. Neben dem Holzkästchen, nehme ich noch das Glas mit den Pinseln mit und kehre ich in die Küche zurück. Lui ist gerade damit beschäftigt das Fleisch auf die einzelnen Teller zu verteilen, auf denen bereits Kartoffeln und Gemüse liegen. Bevor er mir meine Portion hinstellen kann, platziere ich die Kiste und das Glas auf dem freien Platz.

„Muss das jetzt sein? Wir wollen essen!“, meint Lui genervt. Ich nehme ihm den Teller ab und stelle ihn in die Tischmitte.

„Fangt schon mal ohne mich an.“ In das Glas mit den Pinseln fülle ich Wasser und kehre auf meinen Stuhl zurück. Lui schütteln abwertend mit dem Kopf und verteilt die restlichen Teller auf dem Tisch.

„Ich geh Jan holen“, sagt er und lässt uns allein. Ich gebe ihm keine Antwort, schaue ihm nicht mal nach. Mit dem dünsten Pinsel, den ich habe, male ich dem Welpen blaue Augen auf. Argwöhnisch sieht mir Toni dabei zu. Den Augen folgt eine graue Maske im Gesicht, so wie es auch der echte Welpe trägt. Rücken und Schwanz bemale ich in der selben Farbe. Ganz langsam sieht es dem Köter immer ähnlicher.

Jan und Lui kommen zusammen zum Tisch. Sofort liegt Jans feindseliger Blick auf Toni. Seine Stimme ist rau und schroff, als er fragt: „Er darf schon wieder ins Haus?“

Ich richte meinen Blick drohend auf ihn. Lui schlägt ihm leicht auf Oberarm und sieht ihn ebenfalls durchdringen an.

„Schon gut! Ich hab ja nichts gesagt.“ Als er sonst nichts mehr von sich gibt und sich mit Lui an den Tisch setzt, wende ich mich wieder der Figur zu. Ich male ihr weiße Beine und Pfoten und versehe die angedeuteten Krallen mit schwarzer Farbe.

„Was machst du da überhaupt?“, will Jan irgendwann wissen. Seine dumme Frage ist mir keine Antwort wert. Konzentriert gebe ich dem Fell mit dunklem Grau mehr Struktur.

„Toni hat unseren Welpen geschnitzt“, antwortet Lui für mich.

„So was kannst du?“, richtet Jan seine Frage an Toni. Dieser zuckt nur mit den Schultern und macht sich gierig über seine Mahlzeit her. Hastig verschwinden Kartoffeln und Gemüse im ganzen in seinem Mund.

„Fertig!“, rufe ich stolz in die Runde und setze die Figur in die Tischmitte. Toni nimmt sie als erster mit spitzen Fingern an sich, um die frische Farbe nicht zu verwischen und betrachtet sie prüfend.

„Na toll! Jetzt kann ichs wegschmeißen“, meint er.

Entsetzt sehe ich ihn an. Er bemüht sich ernst zu schauen, doch das Lächeln in seine Mundwinkeln verrät ihn.

„Du Arsch!“, maule ich und schlage ihn auf den Oberarm.

„Na gut, es geht so“, fügt er mit fiesem Grinsen an. Ich ziehe einen Schmollmund und schlage ihn gleicht noch mal auf die selbe Stelle.

„Zeig mal!“, fordert Jan. Toni überlässt ihm die Figur.

„Und den hast wirklich du geschnitzt?“, fragt Jan verblüfft. Toni nickt.

„Du kannst ja doch mehr als Schießen.“

Toni sagt nichts, er wendet sich stattdessen seinem Teller zu und verschlingt den Rest seiner Portion.

„Du hast wohl lange nichts gegessen, was?“, stelle ich fest.

„Die Mahlzeiten auf dem Schiff waren ziemlich teuer. Ich habe nicht jeden Tag mitessen können“, erklärt er mit vollen Backen. Einen ganzen Tag nichts essen, dass kann ich mir gar nicht vorstellen. Meinen vollen Teller schiebe ich zu ihm.

„Du kannst meinen Teller haben. Ich bin noch satt vom Frühstück“, füge ich an.

„Ehrlich?“

„Ja, iss nur.“ Seinen leeren Teller tauscht Toni mit meinem.

„Was hast du denn mit den Schnitzereien vor?“, versucht Jan in Erfahrung zu bringen. Ich greife über den Tisch und nehme ihm die Figur ab. Weil Toni die Backen zu voll hat, antworte ich begeistert für ihn: „Er arbeitet an einem Bauernhof für seine Tochter. Er hat schon eine ganze Kiste voller Tiere geschnitzt.“

„Du bist Vater geworden?“ Toni rollt genervt mit den Augen und sagt nichts.

„Warum wundert ihr euch alle darüber?“, kann ich nicht anders, als zu fragen. Toni ist ein Kerl, er hat eine Frau, da ist es doch nur natürlich, Kinder zu bekommen. Nur weil es bei mir und Robin bisher nicht geklappt hat, muss das ja nicht heißen, dass es jedem Paar so geht.

„Na weil er doch gar nichts für Frauen übrig hat.“

„Du bist, wie die beiden Idioten?“, will ich entsetzt wissen und deute auf Lui und Jan. Toni sieht mich mit vollem Mund an und blickt sich einmal in der Runde um. Während seine Wangen knall rot anlaufen, beginnt er heftig zu husten. Mit aller Mühe versucht er sich zusammen zu reißen, das Stück Fleisch im Mund zu behalten. Um es endlich los zu werden, schluckt er es schwer hinunter und schlägt sich mit der Faust auf den Brustkorb, damit es besser rutscht. Sein Blick wird gläsern, während er immer wieder husten muss. Nach einem Schluck aus seinem Wasserglas wird es besser, doch bevor er wieder die Luft zum Sprechen hat, antwortet bereits Jan für ihn und sieht mich dabei an: „Du müsstest das von uns allen doch noch am besten wissen.“ Will er damit etwa sagen, Toni ist der Kerl, für den ich mit dem Arsch gewackelt haben soll? Fragend richte ich meinen Blick auf Toni. Er weicht mir aus, auch als ich ihn weiter fragen anschaue, wagt er nicht mir ins Gesicht zu sehen. Ist da also wirklich was dran? Ich schüttle mir den Gedanken aus dem Kopf. Alles Blödsinn! Warum sollte er dann eine Frau und ein Kind haben?

„Wir sind nicht wie ihr beide! Wir sind Freunde, beste Freunde. Mehr nicht! Hör auf das immer zu behaupten! Ich bin nicht wie ihr!“

„Stimmt, du nimmst auch hin und wieder eine Frau mit ins Bett“, sagt Jan achselzuckend und steht auf. Er stellt seinen leeren Teller in die Spüle, dann kommt er zu mir. Im Vorbeigehen wuschelt er mir durch die Haare. „Du vögelst eben alles, was bei drei nicht auf dem Baum ist, also bist du, wie ich“, lacht er. Ich schlag seine Hände von mir.

„Spar dir deine dummen Späße.“

Jan lacht, während er in den Flur geht. „Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, wenn du dein Gedächtnis wieder findest“, sagt er und verschwindet in sein Zimmer. Finster schaue ich ihm nach. Ich kann mich nicht daran erinnern, je etwas mit einem Mann gehabt zu haben, ich kann mir noch nicht mal vorstellen, wie das überhaupt funktionieren soll.

„Sag doch auch mal was dazu!“, maule ich Toni an und schlage ihm mit dem Handrücken auf den Oberarm. Er zuckt kaum merklich zusammen und meidet noch immer meinen Blick. Statt etwas zu sagen, schiebt er sich eine Kartoffel in den Mund.

~Ein Alptraum~


 

...~*~...

Ein herzzerreißender Schrei zerreißt die Luft. Ich höre ihn wieder und wieder und weiß nicht, wo er in diesem viel zu großen Gebäude her kommt. Vergeblich suche ich die endlosen Gänge ab. Schließlich finde ich am Ende des Flurs Licht. Schroffe Stimmen dringen bis zu mir.

„Wo ist dein Kumpel?“

„Wo ist der weiße Wolf?“, wollen sie immer wieder wissen. Langgezogene Schmerzensschreie folgen.

„Ich … ich weiß nicht“, keucht jemand.

'Weißer Wolf' – ich habe das Gefühl, dass ich damit gemeint bin. Mit klopfendem Herzen, schleiche ich weiter, bis der Flur sich öffnet und eine große Halle frei gibt. Etliche Männer, mit kleinen Schlitzaugen, stehen im Kreis um einen Jungen. Die Arme haben sie ihm über den Kopf zusammen gebunden und mit einem Fleischerhaken, weit über seinen Körper ausgestreckt, nach oben gezogen. Er mag kaum fünfzehn Jahre alt sein. Sein Hemd hängt ihm in Fetzen vom Oberkörper. Etliche Wunden sind darunter sichtbar. Er atmet schwer, seine ganze linke Gesichtshälfte ist mit getrocknetem Blut verklebt, aus einem Schnitt in seiner Augenbraue, läuft frisches nach. Strähnig kleben ihm seine schwarzen Haare im geschwollenen Gesicht. Seine grünen Augen blinzeln Tränen weg.

Mir stockt der Atem, entsetzt halte ich inne.

„Toni“, kommt mir leise über die Lippen.

„Ich frage dich jetzt ein letztes Mal, wo ist dein Kumpel? Wo ist der weiße Wolf?“

Toni zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, als er antwortet: „Ihr werdet ihn niemals finden!“ Einer der Männer hält ein Messer in der Hand, er zieht es Toni quer durch den Oberkörper. Sein heller Schrei erfüllt die Lagerhalle und lässt mich zusammenzucken. Ich zittere am ganzen Körper, Wut und Hass arbeitet sich meinen Magen hinauf, ich balle die Hände zu Fäusten. Mein Blick hastet durch die Halle und bleibt an einer Pistole hängen, die unbeachtet auf dem Boden liegt.

„Willst du immer noch nicht reden?“

„Wo ist der weiße Wolfe?“, fragen sie wieder und wieder.

„Ich bin hier!“, höre ich mich selbst schreien. Ich stürze mich auf die Waffe am Boden. Als sich die Blicke der Männer zu mir drehen, richte ich den Lauf auf den Asiaten mit dem Messer und drücke ab. Die Kugel durchschlägt die Stirn des Mannes und tritt am Hinterkopf wieder aus. Seine Augen verdrehen sich ins Weiße, er sackt auf die Knie. Die übrigen Männer greifen unter ihre Jacken. Bevor sie fündig werden, schieße ich einem zweiten in die Brust, ein dritter wird von einer weiteren Kugel getroffen, doch sie stammt nicht aus meiner Waffe. Ein alter Herr in einem feinen, schwarzen Anzug, mit elegant gebundener Krawatte, tritt neben mich. Er erschießt noch einen Mann und sieht mich auffordernd an. Ein letzter Asiat ist noch übrig, er zielt mit seiner Pistole auf mich. Ich zögere keinen Moment und drücke ab. Etwas heißes trifft mich am Oberarm, doch ich spüre keinen Schmerz, nur das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Mein Atem geht so schnell, dass ich glaube, nicht genug Luft zu bekommen.

Mein Blick fällt zurück auf Toni. Er hängt schlaff in seinen Fesseln, sein Kopf liegt ihm auf der Brust. Die Pistole lasse ich fallen und renne zu ihm. Ich nehme seine Gesicht in beide Hände und hebe es an. Seine Augen sind matt, er sieht durch mich hindurch.

„Nicht sterben!“, schreie ich ihn an.
 

...~*~...
 

„Toni!“, schreie ich heißer und richte mich auf. Mein Atem rast, meine Hände zittern. Verstört sehe ich mich um. Ich sitze in einem dunklen Raum. Die vier Wände sind mir vertraut, trotzdem brauche ich einen Moment, um mich zurechtzufinden. Das ist mein Schlafzimmer, ich habe nur geträumt. Ich atme tief durch und lasse mich wieder ins Kissen fallen. Den Arm bette ich auf meinen Augen. Unbarmherzig trommelt mir das Herz gegen die Rippen, mein Atem will sich einfach nicht beruhigen. Was für ein beschissener Alptraum. Er hat sich so verdammt real angefühlt. Auch jetzt habe ich ständig das Gefühl, zurück in diesen Traum gezogen zu werden. Die Bilder spuken unaufhörlich durch meinen Geist. Ich nehme den Arm von den Augen und schaue neben mich. Der Platz ist leer, Robin ist nicht hier. Ich kann sie nicht, wie sonst wecken und ihr davon erzählen. Seufzend erhebe ich mich und fahre mir durchs Gesicht. Meine Haare sind schweißnass und fallen mir kalt ins Gesicht. Immer noch kann ich sie sehen, diese grausamen Kerle und ihre schrecklichen Fratzen, als sie sterben. Ich muss aufstehen, irgendwas machen, um diese Bilder loszuwerden.

Mühsam zwinge ich mich auf die Beine und verlasse mein Zimmer.

Alles ist dunkel, kein Laut ist zu hören. Nur das leise Ticken der Standuhr im Wohnzimmer, dringt bis zu mir.

Meine Kehle ist rau und wie ausgetrocknet. Ich laufe weiter, durch das Wohnzimmer und bis in die Küche. Aus einem der Schränke nehme ich mir ein Glas und fülle es mit Wasser aus dem Hahn. In einem Zug trinke ich es leer und fülle es gleich noch einmal. Hastig atme ich nach Luft, bevor ich auch das Zweite bis zur Hälfte leere. Endlich wird das trockene Gefühl in meiner Kehle erträglicher. Die Bilder des Traums verblassen. Ich drehe mich um und lehne mich an die Spüle. Verdammte Alpträume! Wenn ich nur mal eine Nacht durchschlafen könnte, ohne davon aufzuwachen. Ich fühle mich noch genau so müde, wie beim Zubettgehen.

Mein Blick wandert umher und bleibt schließlich am Sofa hängen. Dort liegt doch jemand. Stimmt ja, ich habe Toni auf das Sofa verbannt. Die Decke, die Lui ihm gegeben hat, liegt zur Hälfte auf dem Boden, ebenso wie sein rechter Arm. Auch sein Bein baumelt über dem Rand. Ich muss über seine Schlafposition schmunzeln und stelle das Glas lautlos auf der Küchenzeile ab. Vorsichtig schleiche ich mich ins Wohnzimmer. Im fahlen Licht des Vollmondes, dass durch die Verandatür herein fällt, kann ich seine entspannten Gesichtszüge, wie am Tag erkennen.

Er ist inzwischen viel älter, als in meinem Traum. Wir müssen wirklich schon lange befreundet sein. Irgendetwas wahres muss an dem Traum dran gewesen sein, denn er trägt tatsächlich eine Narbe über der linken Augenbraue. Ich lasse mich im Sessel neben ihm nieder und schaue ihm beim Schlafen zu. Ob ich wirklich jemanden töten könnte, um ihn zu retten?

So friedlich wie er schläft, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass er gewalttätig werden kann.

Ich stütze den Kopf in die Hand und lehne mich mit den Ellenbogen in die Sessellehne.

„Enrico“, murmelt er im Schlaf. Ich muss lächeln. Er träumt von mir? Wie süß. Je länger ich ihn betrachte, um so friedlicher wird alles in mir. Ich rolle mich im Sessel ein und lege beide Arme übereinander auf die Lehne. Meinen viel zu schweren Kopf lasse ich auf sie fallen. Ich lausche seinen gleichmäßigen Atemzügen. Er lebt, es ist nicht, wie in meinen Träumen. Alles ist gut. Ich fühl mich so wohl, dass ich es wage, die Augen zu schließen.

„Hoffentlich träumst du was schöneres, als ich“, murmle ich, während mich ein traumloser Schlaf verschluckt.
 

„Enrico? Was machst du hier?“, dringt eine Stimme von weit her zu mir. Ich drehe den Kopf auf die andere Seite und wehre mich gegen das Aufwachen.

„Ich darf nicht, aber wenn du bei mir pennen willst, ist es okay?“, schnauzt er mich an. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und sehe direkt in Tonis ernstes Gesicht. Er hat die Arme in die Seiten gestemmt und sich zu mir hinab gebäugt. Ich schlucke schwer, bei seinem Anblick und schaue umher. Ich sitze noch immer zusammengerollt im Sessel. Ein dicker Gloß presst sich mir in die Kehle, mir wird entsetzlich heiß im Gesicht.

„Manchmal möchte ich dich einfach nur erschlagen, weißt du das eigentlich? Wie lange sitzt du da schon? Hast du mich etwa die ganze Nacht beobachtet?“, mault er weiter. Ich fühle mich ertappt, springe auf die Bein und drücke mich an Toni vorbei. Fluchtartig renne ich in mein Zimmer und knalle die Tür nach mir zu. Ich atme immer wieder durch, doch mein Herz will sich einfach nicht beruhigen. Dieser verdammte Kerl bringt mich völlig aus dem Konzept. Warum habe ich den Typ nur wieder ins Haus gelassen? Verächtlich schaue ich auf die geschlossene Tür. Ich muss ihm aus dem Weg gehen, am besten ich bleibe den restlichen Tag einfach hier. Ich drücke mich von der Tür ab und gehe zum Sekretär. Was fällt ihm überhaupt ein, mich so anzuschreien? Ich hab ja nur im Sessel gepennt, nicht in seinem Bett. Das ist etwas ganz anderes, versuche ich mir einzureden und krame ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift heraus.

Irgendwas unheimliches macht dieser Typ mit mir. Wenn ich in seiner Nähe bin, bin ich nicht mehr ich selbst. Ich muss ihn unbedingt loswerden. Als ich bewusst das Blatt betrachte, schauen mich seine Augen auf dem Papier an. Verdammt, jetzt zeichne ich ihn auch noch. Ich zerknülle die Zeichnung und werfe sie auf den Boden. Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Das ist doch nicht normal.

~Das 'kleine Schwarze'~

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages scheinen ihm warm ins Gesicht. Gähnend blinzelt Antonio in den neuen Morgen. So gut wie in dieser Nacht, hat er das letzte mal bei Raphael geschlafen. Kein Wunder, hier gibt es keine streitenden Nachbarn und keinen lauten Straßenverkehr. Es ist so still und friedlich, dass er sich die Decke noch mal bis zum Hals zieht und sich zur Seite umdreht. Es gibt ja auch keinen Grund so früh aufzustehen: Keine Arbeit, keine Termine, er muss nicht mal Kira etwas zu Essen machen. So ein bisschen Urlaub ist schon was schönes. Antonio gähnt noch einmal herzhaft und reibt sich über die Augen, als sein Blick den Sessel zu seiner rechten streift. Irgendjemand sitzt dort. Über der Lehne zusammengerollt, schläft Enrico seelenruhig neben ihm. Antonio bleibt das Herz stehen.

"Enrico?", spricht er ihn an, doch er rührt sich nicht. Antonio schiebt die Decke von sich und steht auf.

"Enrico? Was machst du hier?", versucht er es noch einmal und rüttelt an ihm. Enrico murrt und dreht den Kopf von einer auf die andere Seite.

„Manchmal möchte ich dich einfach nur erschlagen, weißt du das eigentlich? Wie lange sitzt du da schon? Hast du mich etwa die ganze Nacht beobachtet?“

Sein Freund reißt die Augen auf und sieht ihn entsetzt an. Er sagt nichts, stattdessen springt er auf die Beine und stößt ihn bei Seite. Hastig verschwindet er in seinem Schlafzimmer. Antonio sieht ihm nach, doch je länger er die geschlossene Tür betrachtet, um so schuldiger fühlt er sich. Da kommt Enrico schon mal aus freien Stücken zu ihm und er muss ihn so barsch vertreiben. Seufzend lässt er sich auf das Sofa fallen. Diese ganze Situation ist einfach nur zum Kotzen. Als hätte es Antonio mit zwei Personen gleichzeitig zu tun. Dieser Enrico ist einfach nur verrückt. Trotzdem, es hilft alles nichts. Er sollte sich entschuldigen und sehen, was noch zu retten ist.
 

Als er die Zimmertür Enricos erreicht, ist dahinter kein Laut zu hören. Antonio klopft an.

"Enrico? Darf ich rein kommen?"

"Nein!"

"Es tut mir leid, okay?" Nichts keine Antwort mehr. Antonio atmet tief durch, dann öffnet er die Tür.

Mit der Stirn auf seinem Sekretär, sieht Enrico ihn nicht mal an. Sein linker Arme baumelt leblos am Stuhl hinab, der rechte kritzelt mit einem Bleistift auf einem Stück Papier herum.

"Ich hab's nicht so gemeint, ich hab mich einfach nur erschrocken", beginnt er noch mal eine Entschuldigung und tritt ein, doch wieder kommt keine Antwort. Erst als er Enrico fast erreicht hat, murrt dieser: "Geh weg!"

"Was machst du denn da?" Antonio sieht ihm über die Schulter, in kleinen und großen Kreisen, fährt Enrico mit dem Bleistift über das Blatt. Ein einziges Chaos aus Strichen entsteht dabei.

"Alles okay mit dir?"

"Ahhr du nervst! Lass mich doch einfach mal in Ruhe! Du musst mir nicht immer, wie ein räudiger Köter, hinterher laufen." Enrico schiebt sich mit seinem Stuhl vom Sekretär weg und steht auf. Ohne Antonio anzusehen, geht er an ihm vorbei und lässt ihn stehen.

„Du verdammtes Ekel! Du gehst mir gehörig auf die Nerven, weist du das?“, ruft Antonio ihm nach.

An der Tür dreht Enrico sich nach ihm um.

"Wenn's dir nicht passt, wie ich bin, da fahr doch wieder nach Hause! Ich kann dich sowieso nicht ausstehen", mit diesen Worten knallt er die Zimmertür nach sich zu.

"Ich hasse dich auch!" Antonio tritt eine Papierkugel am Boden gegen die Tür. Wenn er doch nur schon heute Abfahren könnte. Er wird den Tag irgendwo draußen verbringen, hier rein setzt er bestimmt keinen Fuß mehr und mit diesem Idioten wird er auch nicht mehr sprechen. Als er das Zimmer verlassen will, verklemmt sich die Papierkugel unter der Tür. Genervt bückt sich Antonio nach ihr. Irgendetwas hat dieser Trottel darauf gezeichnet und es sieht nicht so chaotisch aus, wie die Kreise auf dem anderen Blatt. Antonio faltet das Papier auseinander. Auf der Zeichnung blickt er sich selbst an. Das sind doch seine Augen und seine dunklen Haare. Ratlos sieht er durch den Spalt der Tür in den Flur. Enrico packt den Welpen am Halsband. Das Tier quietscht und wehrt sich strampelnd, während er an ihm die Leine befestigt. Als er die Haustür öffnet, weigert sich der Hund mit ihm zu gehen. Enrico muss ihn an der Leine hinter sich her zerren, damit sie zusammen das Haus verlassen können.
 

"Seit wann geht Enrico denn mit dem Hund raus?", meint Lui, der in der Tür seines Zimmers steht. Als die Haustür hinter Enrico zufällt, kommt er zu Antonio.

„Was weiß ich! Der Kerl ist einfach krank. Ihr hättet es mit ner Irrenanstalt und nicht mit nem Krankenhaus bei ihm versuchen sollen. Seine Stimmungsschwankungen sind einfach nicht normal.“

„Was hast du denn da?“

Antonio drückt Lui die Zeichnung in die Hand.

„Sollst du das sein?" Antonio antwortet nicht, er durchquert den Flur und das Wohnzimmer und tritt ins Freie. Ohne Umwege hält er auf den Holzstapel zu, der neben dem Baumstumpf und der Axt aufgetürmt liegt. Er nimmt sich eines der Holzscheitel und kehrt damit zur Bank zurück. Aufgebracht beginnt er es mit seinem Taschenmesser zu bearbeiten.

„Was ist denn überhaupt passiert?“, will Lui wissen und bleibt, mit der Zeichnung in der Hand, neben Antonio stehen.

„Ach, er geht mir einfach auf die Nerven. Die Nacht pennt er im Sessel neben mir. Ich will gar nicht wissen was er da getrieben hat und wenn ich ihn darauf anspreche, rennt er wie ein Kind weg. Dann gehe ich ihm nach und will mich entschuldigen und er schreit mich nur an und rennt wieder weg. Wenn ihr nicht wollt, dass ich ihm mal ordentlich eine Einschenke, dann haltet ihn besser fern von mir.“ Lui sagt lange nichts, er betrachtet die zerknitterte Zeichnung. Schließlich wendet er seine Aufmerksamkeit wieder Antonio zu.

„Euch Beiden zuzusehen, ist schlimmer als jedes Liebesschnulzenhörspiel im Radio.“

„Was willst du damit sagen?“

„Naja, ihr sagt ich hasse dich, aber eigentlich wollt ihr beide sagen: Ich liebe dich!“

„Erzähl keinen Scheiß! Dem Kerl gehe ich am Arsch vorbei und mich kümmert auch nicht, was er treibt.“ Antonio dreht den Kopf weg und schält große Späne vom Scheitel.

„Ach ja?“ Lui legt die Zeichnung neben Antonio auf die Bank. Dieser wirft nur einen flüchtigen Blick darauf. Stumm schnitzt er weiter.

„Ein was muss ich dir über ihn erzählen“, beginnt Lui und lässt sich auf der Bank nieder. Als Antonio ihn ansieht, fährt Lui fort: „Seit er aufgewacht ist, macht er mich und Jan für unsere Beziehung zueinander fertig und das nicht zu knapp. Für ihn ist das etwas krankes und widerliches und seit du da bist, merkt er langsam, dass er selbst so krank und widerlich ist. Ich bin mir sicher, er erinnert sich an mehr, als er zugibt und das macht ihm zu schaffen. Hab ein bisschen Geduld mit ihm.“ Lui klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter, dann steht er auf.
 

...~*~...
 

Dieser verdammte Köder. Nicht mal für eine Flucht aus dem Haus ist das Tier gut. Seit gut zehn Minuten, muss ich ihn schon dazu zwingen, mich zu begleiten. Er hat sich einfach hingesetzt und stemmt sich gegen den Zug der Leine. Das Haus ist zwischen den Bäumen hindurch immer noch zu sehen.

„Nun komm schon!“

Mit allen vier Pfoten stemmt sich der Welpe in den Waldboden und dreht den Kopf hin und her, um aus dem Halsband zu entkommen. Ich kann noch so sehr an der Leine ziehen, er rührt sich nicht vom Fleck. Seufzend gebe ich auf und lasse mich auf einem umgefallen Baumstamm nieder. So weit es die Leine zu lässt, rennt der Hund von mir weg und zerrt so heftig, dass ich ihn kaum halten kann. Ich sehe seinen Bemühungen zu und murmle vor mich hin: „Bin ich wirklich ein Ekel?“ Der Welpe wirft den Kopf hin und her. Ich schmunzle mit traurigem Blick.

„Na aus deiner Sicht bestimmt. Na los, lauf schon heim!“ Ich lasse die Leine fallen. Augenblicklich stürmt der Welpe davon. Das Unterholz knackt und ächzt unter seiner wilden Flucht, bald kann ich ihn auf dem freien Gelände Richtung Haus laufen sehen. Mit dem Hund habe ich es mir eindeutig verscherzt und wenn ich so weiter mache, mit Toni sicher auch. Aber vielleicht ist das nicht mal das Schlechteste. Wenn er in drei Monaten ohnehin wieder verschwindet, brauche ich mich auch gar nicht erst an seine Anwesenheit gewöhnen. Ich komme sowieso nicht mit ihm aus und bei ihm zu sein, fühlt falsch an. Immerhin ist er nur irgend ein Kerl, aber warum geht er mir dann den ganzen Tag nicht aus dem Kopf? Verzweifelt bette ich meinen Kopf in die Hände. Dieser Typ treibt mich noch in den Wahnsinn.

Ob er das ernst gemeint hat und mich wirklich hasst? Ach was ist schon dabei, er ist mir egal. Immer wieder versuche ich mir das einzureden, doch es geht nicht. Das nagende Gefühl in meinen Herzen, lässt sich nicht vertreiben. Ich will den Kerl nicht mögen. Sein stechender Blick ist unheimlich und seine grobe Art nervt gewaltig.
 

Ich bleibe noch lange einfach im Unterholz sitzen, bis die Kälte in meine Knochen kriecht und mich zum Aufstehen zwingt.

Der Weg zurück erscheint mir unendlich weit und trotzdem will mir die ganze Zeit über keine passende Entschuldigung einfallen. Als ich Toni schließlich hinter dem Haus begegne, weiß ich noch immer nicht, was ich sagen soll. Mit den kalten Händen tief in den Hosentaschen, schaue ich scheu zu ihm auf. Er wirft mir nur einen kühlen Blick zu, dann bückt er sich nach einem Wäschekorb am Boden. Über das ganze Grundstück sind Leinen gespannt, etliche seiner Kleidungsstücke wehen bereits im Wind. Ein schwarzes Hemd hängt er nun dazu.

„Toni, ich ...“, suche ich nach den passenden Worten.

„Lass es einfach! Ich will's nicht hören!“ Ich atme schwer aus und sehe ihm beim Wäscheaufhängen zu. Hilflos frage ich: „Was machst du denn da?“

Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue finster an.

„Nach was sieht es denn aus?“

„Bei uns kümmert sich Robin um die Wäsche.“

Wieder sieht er mich finster an.

„Robin ist nicht hier und ich brauche auch keine Frau, die mir irgendwas nachträgt.“

„Ja“, sage ich kleinlaut und umrunde ihn und den Korb, „Soll ich dir helfen?“

„Mach was du nicht lassen kannst!“ Er nimmt sich einen Berg Wäsche und läuft an mir vorbei, zu den Leinen, die am weitesten von mir entfernt sind. Das ist ja fast so schlimm, wie bei dem blöden Köter. Ich seufze und nehme mir ebenfalls ein paar der Sachen aus dem Korb und lege sie nach und nach über die Leine.

„Das ich das noch erleben darf. Enrico macht Hausarbeit. Wie hast du ihn denn dazu bekommen?“, schallt es hinter mir. Lui kommt ins Freie und geht Toni entgegen. Ich ziehe einen Schmollmund und bemühe mich, ihn zu ignorieren.

„Ach, er hat nur ein schlechtes Gewissen“, mault Toni und kommt zum Korb zurück.

„Ich wollt mich ja entschuldigen, aber das willst du ja nicht hören!“, murre ich, als er mich erreicht.

„Ich höre dir nun mal nicht zu, wenn du so herum stammelst“, sagt er, ohne mich anzusehen.

„Na schön! Es tut mir leid. Ich bin ein Idiot! Bist du jetzt zufrieden?“

„Noch nicht ganz.“

Ratlos sehe ich ihm dabei zu, wie er sich noch einen Stapel Wäsche aus dem Korb nimmt. Als er sich wieder aufrichtet, schauen mich seine grünen Augen durchdringend an.

„Warum zeichnest du mich?“

Mir bleibt die Luft weg.

„Ich, also ...“

„Du stammelst schon wieder!“, sagt er und dreht sich von mir weg. Wieder verschwindet er zu den hintersten Leinen.

„Ich zeichne eben gern Porträts von Menschen, die mir gef … die ich mag“, rufe ich ihm nach.

„Ist das alles?“

„Ja!?“

„Dann ist ja gut“, sagt er in seltsam melancholischem Unterton.

„Verzeihst du mir jetzt?“, will ich wissen und hänge eine seiner Hosen über die Leine.

„Mal sehen.“

„Ist das alles?“

„Idiot! Hör auf mich nachzuäffen.“

„Selber Idiot!“, murre ich in mich hinein und bücke mich nach dem letzten Hemd im Korb. Es ist pechschwarz. Als ich es aufhebe und ausbreite, kommt Toni gerade zu mir zurück gelaufen. Sein Blick ist nicht mehr so streng, er lächelt. Als ich das Hemd aufhängen will, sieht es für einen Moment so aus, als wenn er an hätte.

Ich kenne diese Hemd und genau diesen Blick an ihm. Für den Moment vergesse ich die Welt um mich herum und glaube mich selbst sehen zu können:

Ich stehe vor ihm und löse einen Knopf nach dem anderen, bis sein ganzer Oberkörper frei liegt. Jeden Muskel fahre ich mit den Fingern ab und bewundere das Drachentattoo, das in seiner Hose verschwindet.
 

Mit aller Kraft verbanne ich diese Erinnerungen aus meinem Kopf. Als ich mich wieder in der Wirklichkeit befinde, steht Toni direkt vor mir. Er lächelt schelmisch grinsend. Etwas liegt ihm auf den Lippen, doch ich komme ihm zuvor.

„Hänge es selbst auf!“ Ich drücke ihm das Hemd in die Hand und flüchte mich zurück ins Haus.
 

...~*~...
 

Verwirrt sieht Antonio seinem Freund nach, dann wandert sein Blick zu Lui: „Und jetzt sag noch mal, dass er nicht gehörig einen an der Waffel hat.“ Lui sieht unbeeindruckt ins Haus und fordert dann: „Zeig mal das Hemd!“

Antonio wirft es ihm zu. Der Asiate faltet es auf, betrachtet es einen Moment lang und sagt: „Hast du das nicht immer auf Robins Partys angehabt?“

„Ja, weil er es ja immer so toll an mir fand“, mault Antonio abschätzig.

„Wie lange hast dus da anbehalten, wenn ihr allein wart?“, gibt Lui zu bedenken. Antonio sagt nichts mehr, gedankenverloren sieht er durch die Verandatür ins Haus.

Es gab einen Bereich, in Robins Villa, den kein Gast betreten durfte. Eigentlich nicht mal er und Enrico. Trotzdem sind sie oft genau dorthin verschwunden. Wenn die Stimmung der Gäste auf dem Höhepunkt war und alle miteinander beschäftigt waren, haben sie sich stets zurückgezogen. Das Hemd war dabei nie lange zugeknöpft geblieben.

„Ich sag doch er erinnert sich an mehr, als er zugibt“, sagt Lui zuversichtlich und kommt die wenigen Schritte zu Antonio. Er drückt ihm das Hemd in die Hand.

„Geh ihm doch nach!“

„Um mich wieder als räudigen Köter beschimpfen zu lassen? Vergiss es! Von mir aus kann er in seinem Zimmer versauern. Ist mir egal!“ Antonio betrachtet das Hemd genervt und hängt es über die Leine.
 

...~*~...
 

Kaum bin ich in meinem Zimmer, werfe ich die Tür nach mir zu und schließe sie sicher ab. Ich atme heftig, atme schnell, mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Was bitte ist das gewesen, was ich gesehen habe? Was für einen Grund sollte ich denn haben, ihm an die Wäsche zu gehen?

Mit dem Rücken lehne ich mich an die Tür und rutsche allmählich an ihr hinab. Als ich den Boden spüren kann, ziehe ich die Beine an und umklammere meine Knie. Das kann doch alles nur ein böser Traum sein. Das muss einer sein. Ich zieh keine Männer aus. So was tu ich nicht und wenn doch muss es dafür einen triftigen Grund geben haben, dass muss es einfach. Vielleicht war er verletzt oder so, sicher habe ich deshalb das verdammte Hemd aufgeknöpft. Es darf einfach nichts anderes gewesen sein. Ich raufe mir die Haare und versuche vergeblich dieses Bild loszuwerden.

~Zu viel nackte Haut~

Die ganze Nacht habe ich wach gelegen und mir dabei fest vorgenommen, den heutigen Tag nicht im Haus zu bleiben. Je weiter ich von diesem Kerl weg komme, um so besser.

Auf meinem Bett sitzend, wickle ich den Verband von meinen Händen. Über den wunden Stellen hat sich neue Haut gebildet, es schmerzt auch nicht mehr, wenn ich etwas anfasse. Eros hat gesagt, ich dürfe zurück kommen, wenn meine Hände verheilt sind. Hoffentlich reicht ihm das so, wie es jetzt ist. Arbeiten wäre genau das richtige Mittel, um mich abzulenken. Die benutzten Mullbinden lege ich auf den Nachttisch. Schritte überqueren den Flur, sie verlieren sich im Wohnzimmer und anschließend in der Küche. Geschirr klappert, Gläser klirren.

Ich stehe auf und schleiche aus meinem Zimmer. Als ich durchs Wohnzimmer in die Küche luge, ist es nur Lui, der das Frühstück zubereitet. Er kramt aus den Schränken Zutaten für Omelett und zieht eine Pfanne aus dem Schrank unter der Spüle.

„Guten Morgen“, begrüße ich ihn und schaue auf das Sofa. Der Platz ist verweist, die Decke liegt ordentlich zusammengelegt auf dem Sessel. Auch im Garten kann ich Toni nirgends sehen. Perfekt! Vielleicht komme ich hier weg, bevor er wieder auftaucht.

Ich laufe weiter bis ich Lui erreicht habe und bestürme ihn mit meinem Vorhaben: „Kannst du mich in die Stadt fahren?“

„Willst du nicht erst mal was essen?“

„Nein, ich will auf Arbeit.“ Lui sieht mich fragend an. Er nimmt meine Hände und betrachtet sie prüfend.

„Du solltest noch warten, bis sie ganz verheilt sind. Außerdem mache ich jetzt erst mal Frühstück.“

„Ach bitte! Das geht doch schnell. Du kannst mich gleich an der Straße rausschmeißen und zurückfahren.“

„Nein, Enrico! Ich hab zu tun!“

„Bitte!“, beknie ich ihn, „Ich muss hier raus.“

„Ist es so schrecklich mit uns?“

„Nein, mit euch nicht, aber mit ...“ Schritte kommen auf uns zu. Ich drehe mich danach um.

„Soll ich dich fahren?“, will Toni wissen. Bei seinem Anblick, stockt mir der Atem: Mit blankem Oberkörper tritt er vor uns, lediglich ein Handtuch liegt um seine Hüften und ist noch zu klein, um seine ganze Blöße zu bedecken. Mit einem zweiten Handtuch trocknet er seine Haare, die ihm wirr ins Gesicht fallen. Ich muss schwer schlucken. Das ist ja noch viel schlimmer, als in meiner blassen Erinnerung. Wieso sieht der Scheißkerl nur so gut aus? Nicht ein Gram ist an ihm zu viel, seine nasse Haut betont die einzelnen Muskeln. Mir bleibt der Mund offen stehen, Hitze steigt mir in den Kopf.

„Nein, danke! Ich laufe lieber“, antworte ich schnell und reiße mich aus der Situation. Ohne Umwege verschwinde ich durch das Wohnzimmer und hinaus ins Freie.
 

...~*~...
 

„Was hat er denn jetzt schon wieder?“, will Antonio wissen und sieht Enrico nach. Lui schmunzelt und braucht ebenfalls einen Moment, sich von Antonios Anblick zu lösen.

„Wie wäre es, wenn du dir was anziehst?“, schlägt er vor.

„Warum?“

„Na du kannst froh sein, dass ich bereits vergeben bin. Bei deinem Anblick, wird einem ja ganz warm ums Herz.“

„Hä?“

„Du bist heiß. Kein Wunder das er abgehauen ist. Das hält ja kein normaler Mensch aus, ohne dich flachzulegen.“

„Erzähl keinen Scheiß!“

„Du hast wohl lange nicht mehr in den Spiegel gesehen, was?“

Antonio sieht an sich hinab.

„Du übertreibst.“

Lui entgegnet nichts mehr, er betrachtet Antonio noch einmal von oben bis unten schmunzelnd.

„Schon gut, ich zieh mir was an“, murrt der und verschwindet im Flur. Aus seinem Koffer kramt er frische Klamotten. Während Antonio sie sich überzieht, kehrt er ins Wohnzimmer zurück.

„Brauchst du Hilfe?“, will er beim Blick in die Küche wissen.

„Nein, geh lieber Enrico nach!“

„Warum sollte ich?“

„Weil er es mit seinen Beinen niemals bis in die Stadt schafft. Du bist die Strecke doch beim letzten Mal auch gelaufen. Das ist viel zu weit.“

Antonio zuckt nur mit den Schultern.

„Sein Problem! Ich wollte ihn ja fahren.“

Lui sieht in eindringlich an.

„Was? Bin ich sein Kindermädchen?“

„Nein, sein Leibwächter!“

„Das war mal. Er ist nicht mehr der weiße Wolf.“

„Aber du noch immer der Schwarze, also hau schon ab!“

„Ich hab noch nicht mal was Gefrühstückt“, versucht Antonio dagegen zu halten.

„Er ist sowieso noch nicht weit gekommen. Bis ihr zurück seid, ist das Essen fertig.“

„Du nervst!“

„Und du störst! Ich hasse es, wenn man mir beim Kochen über die Schulter sieht.“

„Sag doch gleich, dass du mich los werden willst.“ Antonio nimmt sich eine der abgeschnittenen Brotscheiben, mit ihr im Mund, verlässt er das Haus.
 

...~*~...
 

Dieser verdammte Kerl. Was muss er halb nackt vor uns herum laufen? Ob er das auch gemacht hätte, wenn Robin im Haus gewesen wäre? Mit ihm könnte ich niemals mithalten. Sie würde sicher sofort an ihm kleben. Vergeblich versuche ich mir einzureden, dass es das ist, was mich an seinem Anblick so gestört hat. Ich kann den Gedanken einfach nicht verdrängen, dass er viel zu gut aussieht. Ob er wirklich so groß …? Hastig schüttle ich mir das aufkommende Bild aus dem Kopf.
 

Schritte verfolgen mich, als ich mich umdrehe, ist es Toni, der mir mit den Händen in den Hosentaschen nachgelaufen kommt. Für einen Moment glaube ich ihn noch immer im Handtuch zu sehen. Betreten wende ich meinen Blick ab.

„Hab ich dir nicht gesagt, dass du mir nicht wie ein räudiger Köter nachlaufen sollst?“, will ich wissen, als er in Hörweite kommt.

Er sagt nichts. Auch als er mich eingeholt hat, bleibt er still. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, läuft er an mir vorbei und in zügigen Schritten immer weiter. Toni wird immer schneller, viel zu schnell, als das ich mit ihm schritthalten kann. Verwirrt sehe ich ihm nach.

Seine Gestalt wird in der Ferne immer kleiner, bis er hinter einem Hügel verschwindet.

Ich bemühe mich schneller zu gehen, um über den Hügel zu kommen und die Straße wieder einsehen zu können. Die Anstrengung lässt mich schwitzen, ich bin schon nach den ersten zügigen Schritten außer Atem. Als ich zurück schaue, ist das Sommerhaus nicht mehr zu sehen, beim Blick nach vorn, gibt es nichts als Wald und Felder. So lang habe ich den Weg bis in die Stadt gar nicht in Erinnerung. Mit dem Automobil sind wir in wenigen Minuten da. Nun bin ich schon eine gefühlte Ewigkeit unterwegs und der Hügel erscheint mir immer höher. Eigentlich wollte ich gar nicht so weit laufen. Die ganze Zeit habe ich fest damit gerechnet, dass mich Lui aufhalten wird. Doch er scheint mir nur Toni nachgeschickt zu haben und der Mistkerl hat mich einfach stehen lassen.

Als ich endlich den Hügel erklommen habe und die Umgebung einsehen kann, breitet sich vor mir eine leere Schotterpiste aus. Auf den ganzen Weg bis zur nächsten Biegung, kann ich ihn nicht mehr sehen.

„Na toll!“, murre ich und stütze mich auf meine Knie. Ich atme hastig und glaube trotzdem nicht genug Luft zu bekommen. Schweißperlen laufen mir von der Stirn ins Gesicht, ich wische sie mir mit dem Handrücken weg.

Die Stadt ist immer noch nicht zu sehen. Ich werfe einen Blick zurück. Selbst der Weg zum Sommerhaus erscheint mir viel zu lang. Die ganze Strecke noch mal zurück, oder weiter bis in die Stadt? Ich sehe unschlüssig vor und zurück. Schließlich entscheide ich mich dazu weiter zu gehen. Ich werde heute wieder arbeiten, dass habe ich mir fest vorgenommen. Weder Lui noch Toni brauche ich dafür. Ich schaffe das allein!

Schritt für Schritt, quäle ich mich den Hügel hinab. Meine Beine beginnen mit jeder weiteren Bewegung, mehr und mehr zu schmerzen. Immer wieder muss ich inne halten und einen Moment ausruhen, bis ich weiter gehen kann.

Ich habe es nichtg mal bis zur nächsten Biegung geschafft, als mir meine Beine den Dienst verweigern und ich auf die Knie sacke. Mit den Armen stütze ich mich auf den Boden und ringe nach Atem.

„Wer ist jetzt der räudige Köter, hä? Nach so ner kurzen Strecke, kniest du schon auf allen Vieren. Wie erbärmlich!“

Erschrocken richte ich meinen Blick der Stimme entgegen. Toni sitzt auf einem abgesägten Baumstumpf und schnitzt an einem Stück Holz herum. Während mir der Schweiß aus allen Poren strömt und von meinem Kinn auf meine Hände tropft, schaut er mich finster an.

„Ach … halt … halt einfach die Klappe!“, fluche ich atemlos.

Seine Augen bekommen einen seltsamen Glanz. Er steckt das Messer und das Stück Holz in seine Tasche und legt die Arme auf seine Knie. Mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, beugt er sich nach vorn und faltet die Hände ineinander.

„Ich muss zugeben, dass du mir auf den Knien, ganz gut gefällst.“ Seine tiefe Stimme bekommt einen düsteren Ton, seine Augen mustern mich wild.

Ich schlucke schwer. Nein, ich will es gar nicht wissen und ich will mich auch nicht erinnern.

Mit aller Kraft zwinge ich mich dazu, wieder aufzustehen.

„Du kannst mich mal!“, maule ich ihn an und zwinge meinen erschöpften Körper, zum Weitergehen.

„Schön wär's“, seufzt er leise. Ich sehe irritiert zu ihm zurück. Sein Blick verliert sich trübsinnig in der Ferne. Während ich mir noch den Kopf darüber zerbreche, wie er das jetzt wieder gemeint hat, versagen mir meine Beine erneut den Dienst. Wieder sacke ich auf die Knie und fluche „Verdammt!“

Warum muss mir das ausgerechnet vor ihm passieren? Angespannt warte ich auf einen neuen fiesen Spruch, doch er seufzt nur und steht auf. Mit langsamen Schritten kommt er um mich herum.

„Wird das noch lange dauern? Ich bin am verhungern!“

„Dann geh doch zurück!“, murre ich und versuche mich wieder aufzurichten. Es geht nicht, die müden Muskeln in meinen Beinen, wollen mein Gewicht nicht mehr tragen. Toni sieht meinen vergeblichen Bemühungen eine Weile lang stumm zu, schließlich geht er vor mir in die Hocke.

„Wie lange soll das jetzt noch so weiter gehen?“

„Lass mich!“ Ich wende meinen Blick ab.

„Wem willst du eigentlich was beweisen? Du kommst hier nicht mehr weg, merkst du das denn nicht?“

„Ich will niemandem was beweisen. Ich will einfach nicht zurück ins Haus und den ganzen Tag dort mit dir eingesperrt sein, okay?“

„Was hast du eigentlich für ein Problem mit mir?“

„Ich kann dich einfach nicht ausstehen!“ Toni sucht meinen Blick und sieht mir lange und eindringlich in die Augen. Ich bemühe mich so ernst ich kann zurück zu schauen, doch beim Anblick seiner tiefgrünen Augen, will es mir einfach nicht gelingen. Je länger ich ihn ansehe, um so schneller schlägt mir das Herz in der Brust.

„Du lügst!“, entgegnet er. Ich schlucke schwer und fühle mich ertappt. Betreten wende ich meinen Blick ab. Wir schweigen, bis mir Toni schließlich den Rücken zudreht.

„Los, komm her, ich trag dich!“, bietet er an.

„Nein, das will ich nicht.“

„Ich kann dich auch an den Haaren zurück zum Sommerhaus schleifen, wenn dir das lieber ist.“ Eindringlich sieht er mich, über die Schulter hinweg, an. Ich bin mir sicher, dass er das wirklich tun wird, wenn ich weiter zögere.

„Ich bin doch viel zu schwer.“

Toni rollt mit den Augen. „Lass das mal meine Sorge sein.“

Ich werfe einen Blick über die Schulter zurück. Den Hügel wieder hinauf, die endlose Strecke zurück und dann noch den freien Weg bis zum Sommerhaus rauf, das packe ich nicht mehr und bis in die Stadt ist es noch weiter. Ich seufze ergeben und lege ihm meine Arme um den Hals. Problemlos läd er mich auf seinen Rücken,steht auf und läuft los.

Ein wunderbarer Duft steigt mir von seinem Aftershave in die Nase. Warum muss der Kerl auch noch so gut riechen? Resigniert lehne ich den Kopf gegen seine Schulter. Egal was ich auch mache, ich werde ihn nicht los.

„Warum musst du nur so ein wundervoller Mensch sein?“, flüstere ich ihm in den Nacken. Irritiert sieht er zu mir zurück. Ich lehne meine Stirn gegen seine Schulter, um ihn nicht ansehen zu müssen.

„So kann ich dich nicht mal hassen“, schimpfe ich.

„Warum willst du mich denn unbedingt hassen?“

„Damit ich dich nicht mögen muss?“

„Ja, blöd von mir. Was frag ich auch so doof?“, murmelt er in sich hinein. Ich schlinge meine Arme enger um ihn und kann nicht genug von diesem vertrauten Geruch bekommen. Eigentlich will ich mich in seiner Nähe gar nicht so wohl fühlen, aber ich komme nicht gegen das warme Gefühl in mir an. Es stört mich nicht von ihm, getragen zu werden und dabei hasse ich das sonst.

„Du trägst mich nicht zum ersten mal, oder?“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen.

„Nein, aber es ist das erste Mal, dass du mir dabei nicht fast unter den Händen wegstirbst.“

„Unser Leben in der Heimat ist hart gewesen, oder?“

„Manchmal!“

„Erzähl doch mal was von dir. Mal abgesehen davon, dass du Frau und Kind hast, weiß ich gar nichts über dich.“

„Was willst du denn wissen?“ Alles? Wo ist er aufgewachsen? Wie war seine Kindheit? Wie unsere gemeinsame Zeit? Egal was es ist, Hauptsache es hat mit ihm zu tun.

„Wie bist du aufgewachsen? Hast du Geschwister und leben deine Eltern noch?“

Toni seufzt hörbar.

„Ich bin Einzelkind“, sagt er zögerlich und braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er fortfährt, „Mein Vater ist ein Säufer. Er hat mich und meine Mutter regelmäßig verprügelt, bis ich acht war, dann hat er sie im Suff erschlagen.“

„Das ist ja schrecklich!“, entfährt es mir. Ich umarme ihn fester.

„Findest du?“, fragt er melancholisch und zuckt mit den Schultern. Als ich nicht sofort antworte, fügt er an: „Bei den Drachen war es schlimmer.“

„Drachen?“

„Ich bin nach der Tat meines Vaters von Daheim abgehauen und habe lange Zeit auf der Straße gelebt. Irgendwann hat mich ein schwarzer Kerl angequatscht, ob ich mir nicht etwas Geld verdienen will und Sachen ausliefern mag. Ich war immer hungrig, also habe ich Trottel zugestimmt. So bin ich ins Gangleben abgerutscht.“

„Also ist der Drache auf deinem Oberkörper …?“

„Ja, das sichtbare Zeichen meiner Zugehörigkeit bei den Red Dragons.“

„Hast du für sie getötet?“

„Ja!“

„Du warst gut darin, oder?“, erinnere ich mich.

„Ich bin immer noch gut darin.“

„Und darauf bist du auch noch stolz, oder was?“

„Ein wenig?“

„Du bist so ein Idiot!“, maule ich und schlage ihm auf den Hinterkopf. Er zuckt übertrieben stark zusammen und grinst breit.

„Du bist im übrigen auch nicht schlecht darin gewesen.“

„Ich kann mir das einfach nicht vorstellen“, seufze ich.

„Was?“

„Menschen getötet zu haben. So was ist krank!“

„Wenn man dazu gezwungen ist, um zu überleben, ist gar nichts krank.“ Etliche Meter schweigen wir. Ich versuche seine Worte zu verstehen, aber ich kann mir kaum eine Situation vorstellen, in der ich wirklich dazu in der Lage wäre, jemanden zu töten. Mir drängt sich mein Traum ins Gedächtnis.

„Warum habe ich eigentlich damit angefangen?“, will ich wissen.

„Womit?“

„Menschen zu töten?“

Toni schweigt und meidet meinen Blick, seine Aufmerksamkeit richtet er auf den Boden, als er mir antwortet: „Das ist meine Schuld.“

Mit einem fragenden Blick, warte ich auf mehr Informationen.

„Ich hätte mich nie mit dir anfreunden dürfen“, sagt er betrübt. Er braucht lange und seufzt tief, bis er endlich erzählt: „Ich war mitten in der Ausbildung zum obersten Cleaner im Clan. Ich hab die Arbeit und das Leben unter den Drachen gehasst und dann kamst du. Du bist immer fröhlich und unbeschwert gewesen. Hast mich einfach blöd von der Seite angequatscht und hattest nicht mal Angst vor mir. Bei dir und deinem Bruder war es immer lustig. Ihr hattet zwar keine Eltern mehr, aber trotzdem, war es wie in einer richtigen Familie. Bei euch konnte ich vergessen, dass ich ein Killer bin. Da war ich einfach nur, wie ein Junge aus der Nachbarschaft. Aber irgendwann bist du mir gefolgt, als ich Streit mit deinem Bruder hatte und hast mich gesehen, hast mich beobachtet, wie ich einen Kerl erschossen habe. Von dem Tag an, bist du ein Zeuge gewesen, jemanden den ich beseitigen muss“, Tonis Stimme wird brüchiger, „Mein Chef hat mich auf dich angesetzt und ist mir mit seinen beiden Leibwächtern gefolgt, um zu sehen, ob ich dem Clan loyal bin.“

Ich schlucke schwer. Das kann er sich unmöglich alles ausgedacht haben, das muss wahr sein. Das unsere Geschichte so dramatisch ist, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich schlinge meine Arme enger um ihn und flüstert ihm ins Ohr: „Du hast es nicht gekonnt, oder? Mich zu töten?“ Er schüttelt wehmütigen mit dem Kopf.

„Nein! Ich wollte das du wegläufst, das du irgendwo untertauchst, aber mein Chef und seine Handlanger hätten dich nie am Leben gelassen. Als sie bei euch eingestiegen sind, um zu Ende zu bringen, was ich nicht konnte, hast du dir einfach meine Waffe genommen und den Chef der Red Dragons erschossen. Seit dem sind die verständlicher Weise nicht mehr besonders gut auf uns zu sprechen.“ Ein heftiger Schmerz hämmert durch meine Schläfe. Für einen Moment glaube ich mich in meinem Zimmer stehen zu sehen, die Pistole in der Hand, einem Asiaten in einem langen, schwarzen Mantel gegenüber stehend. Er hat ebenfalls seine Waffe auf mich gerichtet und drückt ab.

„Au!“, jammere ich und kneife die Augen zu. Das hämmern in meinem Schädel wird immer schlimmer. Ich lehne die Stirn an Tonis Schulter und atme ruckartig aus.

„Hey! Alles okay?“, will Toni besorgt wissen und rückt mich auf seinem Rücken zurecht.

„Ja!“, knurre ich, „Das geht gleich vorbei. Ich bekomme immer Kopfschmerzen, wenn ich mich an was erinnere.“

„Also weißt du das wieder?“

„Ich habe mich mit der Waffe in der Hand gesehen und einen fiesen großen Kerl, der auf dich eingeschlagen hat und mich dann erschießen wollte.“

„Denijels Blödes Gesicht, als du ihm zuvor gekommen bist, werde ich nie vergessen. Er ist einfach zusammengebrochen und krepiert. Mal von nem Kind getötet zu werden, hätte der sich sicher nicht träumen lassen.“ Stolz schwingt in Tonis Worten mit.

„Das ist nichts Gutes, du Idiot!“ Ich schlage ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Toni grinst frech.

„Ach in dem Fall schon.“

„Du bist wirklich krank, weißt du das?“

„Sagt der, der mit seinem ersten Schuss, sofort jemanden kalt gemacht hat! Ich hab ja wenigstens vorher ein Training dafür absolviert, aber du drückst einfach so eiskalt ab“, lacht er.

„Halt die Klappe!“ So schlimm bin ich nicht, denke ich.

„Naja, jetzt sind wir hier und in Sicherheit. Ich hab hier noch nie einen Mann mit einem Drachentattoo gesehen.“ Toni seufzt hörbar und macht eine lange Pause, bis er sagt: „Enrico, ich werde irgendwann zurück müssen.“

„Sind die denn in New York nicht mehr hinter dir her?“

„Doch!“

„Warum willst du dann zurück?“

„Weil meine Familie dort ist. Anette und meine Tochter. Schon vergessen?“

„Aber ich will nicht, dass du irgendwo hin zurückgehst, wo man dich töten will.“ Ich lege meinen Kopf an seinen und umarme ihn fest. „Niemand darf dir was antun!“

~Im Duett~

„Lass mich runter. Den restlichen Weg schaff ich allein“, fordert Enrico, als sie das Sommerhaus erreicht haben. Antonio zögert seinem Wunsch nachzukommen. Die festen Umamrungen und die Nähe des Freundes haben so gut getann.

„Toni!“, fordert Enrico energischer. Nur widerwillig lässt Antonio ihn absteigen und sieht ihm wehmütig dabei zu, wie er den restlichen Weg allein weiter humpelt. Die traute Zweisamkeit ist schon wieder vorbei, dabei war es gerade fast wie früher. Als Antonio ihm durch die Verandatür ins Haus folgt, bleibt Enrico abrupt stehen.

„Ach, ihr perverses Pack. Dort kochen wir. Nehmt euch gefälligst ein Zimmer!“, flucht er aufgebracht. Antonio sieht an ihm vorbei. Lui sitzt auf der Arbeitsfläche und befindet sich in inniger Umarmung mit Jan. Dieser steht zwischen den gespreizten Beinen Luis und küsst ihn leidenschaftlich. Als Enrico eintritt, lassen beide erschrocken voneinander ab.

Genervt wendet sich Jan an ihn: „Eifersüchtig?“

„Auf euch Beide? Bestimmt nicht! Los, raus aus der Küche!“ Mit ausgestrecktem Arm, deutet Enrico in den Flur.

Lui lässt sich von der Arbeitsplatte gleiten und nimmt Jan an der Krawatte.

„Wir haben auch noch einen Schreibtisch“, schlägt er vor und zieht ihn mit sich. Antonio atmet tief durch und vermeidet es ihnen nachzusehen. Als die Tür im Flur sich schließt, streift sein Blick Enrico.

Das letzte mal mit ihm, das ist schon so lange her, dass er sich nicht mal mehr erinnern kann, wo es gewesen ist.

„Die Beiden sind so was von widerlich! Ich hätte sie längst aus dem Haus werfen sollen. Tut mir leid, das machen die ständig. Aber wenigstens hat Lui noch das Frühstück fertig gemacht. Ich bin am verhungern!“ Enrico setzt sich an den Tisch. Für vier Personen ist dort bereits gedeckt und auf jedem Teller liegt ein Omlett.

„Komm! Ich dachte du hast auch Hunger?“, lädt Enrico ihn ein. Vergeblich versucht Antonio den Gedanken an die gute, alte Zeit zu verdrängen. Was musste er auch in der Nacht davon träumen. Den ganzen Tag gehen ihm diese Bilder nicht aus dem Kopf. Nicht mal das heiße Bad am Morgen hat wirklich Erleichterung gebracht.

Dabei ist er doch so nah, nur eine Armlänge weit weg und doch erscheint es Antonio, als wenn sie noch immer Kontinente trennen würden. Seufzend wendet er sich von Enrico ab und nimmt am Tisch platz.

Das Omelett sieht wirklich köstlich aus, trotzdem verspürt Antonio keinen Hunger mehr. Während Enrico eine Gabel nach der anderen zum Mund führt, stochert er nur auf seinem Teller herum.

Nebenan knarren die Möbel, leises Stöhnen dringt bis zu ihnen. Trübsinnig hebt Antonio seinen Blick und schaut über den Tisch zu Enrico. Der Blick des Freundes ist finster in den Flur gerichtet: „Das die dabei immer so laut sein müssen. Mal ehrlich, das machen die doch mit Absicht, um uns zu ärgern.“ Enrico dreht sich zu ihm. „Kannst du dir das vorstellen? Mit nem Kerl? Schon bei dem Gedanken schüttelt es mich.“

Antonio wendet den Blick ab und stochert weiter in seinem Omelett herum.

„Was hast du? Du isst ja gar nichts.“

„Ich hab keinen Hunger mehr“, entgegnet Antonio in Gedanken versunken.

„Na kein Wunder. Wenn man den Beiden zuhören muss, muss einem ja schlecht werden.“

„Mir wird eher schlecht dabei, wie du darüber redest“, murmelt Antonio.

„Was?“

„Ach nichts! Ich geh ein bisschen spazieren.“

„Ganz allein?“

„Ja! Allein!“ Antonio steht auf und wirft seine Gabel auf den Teller. Hier drin kann er es keinen Moment länger aushalten.
 

Den ganzen Tag streift Antonio durch die nahen Wälder und hängt seinen Gedanken nach. Nie hätte er sich träumen lassen, seinem Freund noch einmal zu begegnen. Das hier ist alles so unglaublich. Immer hat er nur seinen Erinnerungen gehabt und nun könnten neue dazu kommen, aber mit diesem Enrico erscheint ihm das einfach unmöglich. Wie kann er denn einfach alles vergessen haben? Jeden Moment hat Antonio wie einen Schatz in seinem Herzen bewahrt. Er könnte unendlich viele Geschichten von ihm erzählen und Enrico? Da ist einfach gar nichts mehr und im nächsten Moment umarmt er ihn wieder, als wenn er ihn nie wieder los lassen wollte. Antonio meint noch immer die Wärme spüren zu können, die ihn eingehüllt hat. Er legt sich die Arm überkreuzt um den Oberkörper.

An den Bäumen vorbei, kann er das Sommerhaus sehen. Dicker Rauch steigt aus dem Schornstein auf. Sie müssen neu eingeheizt haben. Kein Wunder, es wird bereits dunkel und ein eisiger Wind fegt vom Meer her über das Land. Seine Hände sind bereits so kalt, dass er sie nicht mehr spüren kann. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, wenn er nicht erfrieren will, muss er zurück.

Noch einmal atmet Antonio tief durch, dann tritt er den Rückweg an.
 

Steifbeinig erreicht er die Haustür und muss klingeln, um eingelassen zu werden. Jan ist es, der ihm öffnet und ihn nur eines kurzen Blickes würdigt. Er lässt die Tür offen und geht kommentarlos zurück. Mit dem Fuß stößt er gegen einen von Antonios Koffer.

„Au! Verdammt!“, flucht er, „Kannst du dein Zeug nicht wo anders hin packen? Hier ist es ständig im Weg.“

„Und wo hin, bitte?“

„Ist mir egal, nur nicht hier!“ Genervt verschwindet Jan in seinem Zimmer und schlägt die Tür zu. Antonio seufzt tief und schaut sich im Flur um. Er ist schmal. Auch im Wohnzimmer wäre nicht genug Platz. Bleibt wohl nur noch ein Zimmer. Antonio nimmt beide Koffer mit und klopft an die Tür Enricos.

„Ja?“, schalt es aus dem Raum dahinter. Antonio öffnet und sieht sich nach seinem Freund um. Enrico sitzt an seinem Sekretär und zeichnet.

„Du warst ganz schön lange weg. Alles okay?“

Antonio vermeidet eine Antwort und fragt stattdessen: „Kann ich meine Koffer bei dir unterstellen? Im Flur sind sie im Weg.“

„Ja, klar! Stell sie irgendwo hin, wo Platz ist.“ Das ist einfacher gesagt, als getan. Auf dem Boden verteilen sich überall Wäscheberge, Bücher und Schallplatten. Zeichnungen und Papiere fliegen lose auf dem Sekretär herum, einige liegen schon am Boden daneben. Bei diesem Anblick muss Antonio unwillkürlich schmunzeln. So sah es schon immer im Zimmer seines Freundes aus. Sicher war es bei seinem letzten Besuch hier, nur so ordentlich, weil Robin aufgeräumt hat. Die zwei Koffer dürften in dem Chaos wirklich nicht auffallen. Antonio lehnt sie an die Wand neben der Tür.

„Was zeichnest du denn schon wieder?“, will er wissen und kämpft sich durch die Wäscheberge bis zum Sekretär. Er sieht Enrico über die Schulter. Etliche Blätter liegen verstreut übereinander. Auf ihnen sind bunte Entwürfe aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Loks, Schienen, Häuser und Bauklötze, die unterschiedlichsten Tiere, vom Löwen bis zum Schweinen.

„Ich habe mir was überlegt!“, berichtet Enrico, „Irgendwann wirst du ja wieder zurückfahren und dann brauchst du Geld für das Ticket und dieses mal sollst du auf der Überfahrt auch nicht hungern müssen.“

„Willst du mich etwa los werden?“, entfährt es Antonio entsetzt.

Enrico lächelt versöhnlich. „Nein! Aber du hast ja gesagt, dass du irgendwann zu deiner Familie zurück willst. Also pass auf!“ Enrico schiebt die Zeichnungen auseinander. „Meinst du du kannst das hier alles schnitzen?“

Antonio lässt seinen Blick über die Entwürfe schweifen.

„Sicher!“

„Gut, dann bemale ich sie mit knallig bunten Farben und Robin wird sie auf dem Wochenmarkt verkaufen. Sie verkauft dort eigentlich selbstgenähte Kinderkleidung, aber dazu würde ja Spielzeug gut passen. Im ganzen Dorf gibt es keinen einzigen Spielzeugladen. Die Sachen werden sich super verkaufen. Je nach dem, wie viel du neben den Sachen für deine Tochter noch fertig bekommst, müssten wir auf jeden Fall genug Geld in den drei Monaten zusammen bekommen. Was sagst du dazu?“ Antonio betrachtet noch einmal alle Zeichnungen, bevor sein Blick wieder auf Enrico fällt.

„Du bist immer noch ein Geschäftsmann. Wer hätte das gedacht.“

„Also gefällt dir meine Idee?“

„Ja klar. Ein Versuch ist es wert. Ich hab wirklich nichts dagegen, mir auf der Rückfahrt auch mal was zu Essen kaufen zu können und nicht als blinder Passagier mitfahren zu müssen. Aber bist du dir sicher, dass uns Robin dabei helfen wird? Nach eurem letzten Streit, glaube ich nicht, dass wir sie je wieder sehen werden.“

„Ach was. Die kriegt sich wieder ein. Sie ist nur bei ihrer Cousine und hilft ihr mit den neugeborenen Zwillingen. Wenn wir sie am Wochenende besuchen, werde ich sie einfach fragen.“

„Bist du denn gar nicht mehr sauer auf sie?“

„Doch! Aber gerade deswegen, sollte sie mir besser den Gefallen tun.“

„Wie hast du denn gedacht, wie es mit euch Beiden jetzt weiter gehen soll, nachdem du die Wahrheit kennst?“

Enrico wendet sich ab und macht ein nachdenkliches Gesicht, schließlich sagt er: „So, wie bisher auch.“

„Liebst du sie denn so sehr, dass du ihr das verzeihen kannst?“

„Ich liebe sie überhaupt nicht. Das habe ich nicht mal, als ich das alles noch nicht wusste. Trotzdem sind wir ein gutes Team. Ohne sie würde hier gar nichts funktionieren. Ich verdanke ihr trotz allem mein Leben.“

„Klingt ja sehr romantisch.“ Antonio rollt mit den Augen und stützt sich auf die Stuhllehne.

„Ich steh sowieso nicht besonders auf Kuschelsex. Wenn mich Robin damit in Zukunft in Ruhe lässt, bin ich nicht mal böse darüber.“

„Ja, Kuschelsex ist echt nichts für dich und das ist auch gut so!“

„Woher willst du das denn wissen?“ Fragend sieht Enrico zu ihm auf. Antonio wird erst jetzt bewusst, was er gesagt hat. Verlegen winkt er ab und versucht sich raus zu reden: „Ach, ich hab dich doch oft genug in Eriks Bordel erlebt.“

Enrico schüttelt mit dem Kopf und schaut zur Zimmertür.

„Da ist doch ne Gitarre drin, oder? Was kannst du so darauf spielen?“, will er wissen und erhebt sich von seinem Stuhl.

„Alles mögliche. Das kam in meiner Ausbildung mit vor.“

„Ein Killer der Gitarre spielen lernen muss. Du willst mich verarschen, oder?“

Antonio muss schmunzeln. So hat er als Kind auch reagiert, als sein Ausbilder mit dem Instrument ankam.

„Mein Scharfschützengewehr war in einem Gitarrenkoffer versteckt. Mein Ausbilder ist der Meinung gewesen, ich müsse zur Tarnung auch wirklich Gitarre spielen können.“

„Mhm, gar nicht so dumm.“ Enrico geht bis zum Koffer und öffnet ihn. Er holt die Gitarre heraus und bringt sie Antonio.

„Spiel doch mal was!“, bittet er ihn.

„Und was?“ Mit der Gitarre in der Hand, setzt Antonio sich an die Strinseite des Bettes.

„Was von früher, was ich kennen müsste. Vielleicht erinnere ich mich dann ja wieder an etwas.“ Da gibt es so viele Lieder, die Antonio einfallen. Er beginnt die Gitarre zu stimmen.

Enrico setzt sich an das Fußende des Bettes und sieht ihm aufmerksam dabei zu. Die eisblauen Augen verfolgen jede seiner Bewegungen.

Antonio legt die Finger auf die Seiten und beginnt zu spielen. Eine klare Melodie breitet sich im Raum aus und schwillt mal an und flacht wieder ab. Es ist so unendlich lange her, dass er dieses Lied gespielt hat, das sich seine Finger erst mal an die Noten erinnern müssen. Er braucht zwei Anläufe, um es fehlerfrei spielen zu können.
 

...~*~...
 

Das ist das erste Lied gewesen, das er komponiert hat. Ich sehe ihn genau vor mir, wie er auf meinem Bett gesessen und es zum ersten Mal gespielt hat. Damals klang es noch abgehackt und nicht so harmonisch. Ich schließe meine Augen und lausche dem vertrauten Klang. Es muss ewig her sein, dass ich es gehört habe. In meiner schwachen Erinnerung ist er kaum älter als vierzehn.

„Das ist dein erstes eigenes Lied gewesen“, sage ich und sehe wieder auf. Toni nickt und lächelt freudig überrascht.

„Ja, ich habe es gespielt, als ich das erste Mal bei dir übernachtet habe“, erklärt er, „Du hast Unmengen an Süßigkeiten gekauft. Mir war so schlecht in der Nacht.“

„Stimmt, wir haben die Matratze vom Boden geholt und neben mein Bett gelegt“, erinnere ich mich.

„Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, weil ich direkt neben dir lag“, fährt er fort. Ein wehmütiges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. Eindringlich betrachtet er mich, als wenn er irgend etwas von mir erwarten würde.

„Habe ich geschnarcht, oder so?“, will ich wissen und muss dabei lachen. Toni lächelt nicht mehr, er sieht an mir vorbei.

„Nein, das war nicht der Grund.“

„Sondern?“

„Warum erinnerst du dich immer an den unwichtigen Mist, aber nicht an die wirklich schönen Sachen?“, murmelt er kleinlaut.

„Wie meinst du das? Was ist den an dem Abend so schönes passiert?“, harke ich nach.

„Wenn du nicht selbst darauf kommst, will ich's dir nicht sagen.“

„Na schön, dann spiel noch ein bisschen, vielleicht fällt es mir ja wieder ein.“ Toni seufzt und beginnt das Lied von vorn. Ich lausche der Melodie und kann mein altes Zimmer direkt vor mir sehen. Das Bett, das volle Regal und den Schreibtisch, auf dem schon damals das Chaos herrschte. Ich habe eine ganze Packung Kekse allein verdrückt und wir haben uns bis spät in die Nacht über alles möglich unterhalten. Er hat genau so wie jetzt auf meinem Bett gesessen. Den Rücken an die Rückwand des Bettes gelehnt, seine Gitarre in der Hand. Aber irgendwas war anders. Er ist nicht so weit von mir weg gewesen. Ich konnte ihm von unten ins Gesicht sehen.

Gedankenverloren robbe ich über die Bettdecke zu ihm. Sein Spiel verklingt, irritiert sieht er mich an. Als ich ihn erreiche, schiebe ich seine Gitarre nach oben. Um ihm von unten ins Gesicht sehen zu können, lege ich mich mit dem Kopf in seinen Schoß.
 

„Sag mal, was machst du da?“, will er wissen und sieht entsetzt auf mich hinab. Seine Wangen werden rot. Ich lächle. Genau so hat er damals auch geschaut.

„Ich versuch alles genau so zu machen, wie an dem Tag. Spielst du noch ein bisschen für mich?“, bitte ich.

„Wie soll ich das machen, wenn du da liegst?“ Seine Stimme bebt, ich kann sein Herz durch das Hemd hindurch schlagen hören. Seine Arme nehme ich und lege sie über mich, bis die Gitarre auf meinem Brustkorb aufliegt.

„So!“, sage ich. Toni schluckt schwer, seine Augen mustern mich wild.

„Jetzt spiel schon weiter! Ich hör dir wirklich gern zu.“

Er atmet spürbar aus und ein. Seine Finger legen sich wieder um den Griff der Gitarre. Er beginnt zu spielen, doch die Melodie bricht immer wieder ab. Das harmonische Spiel von eben, bekommt er nicht mehr hin. War das an dem Abend nicht genau so? Ich hole aus und schlage ihm auf den Oberschenkel. Er zuckt zusammen.

„Gib dir gefälligst mehr mühe. Das klingt ja scheußlich!“, murre ich, so wie ich es auch an dem Abend getan habe.

Toni umgreift den Griff im Ganzen und legt seine flache Hand auf die Seiten. Der Ton verstummt.

„Du machst mich fertig, weißt du das?“ Ich erwidere nichts und lächle nur schelmisch. Meine Finger lege ich über seine und fahre mit der rechten Hand über die Seiten. Ein unförmiger Klang erfüllt den Raum.

„Ich wollte ich könnte auch ein Instrument spielen. Das muss unheimlich toll sein“, schwärme ich. So schnell von einem Griff zum anderen zu springen, stelle ich mir schwer vor. All die Kombinationen aus Fingerpositionen im Kopf zu behalten, wäre nichts für mich.

„Im Wohnzimmer steht doch ein Klavier. Warum spielst du nicht darauf?“, fragt er.

„Ich kann kein Klavier spielen. Es gibt hier auch keinen, der es mir beibringen könnte. Das steht nur zur Zierde herum.“

„Hast du es je versucht?“

„Nein!“

Antonio nimmt die Gitarre von uns und stellt sie neben das Bett. Verträumt sieht er mich an und legt beide Hände auf meinen Brustkorb.

„Du konntest mal sehr gut Klavier spielen. Aaron hat es dir beigebracht.“

„Aaron?“ Der Name sagt mir nichts.

„Dein Schwiegervater.“

Ich schaue noch immer fragend.

„Unser Chef, der Pate!“

Entschuldigend blicke ich zu ihm auf und zucke mit den Schultern. Toni seufzt verzweifelt und stützt den Kopf in die Hand.

„Du bist mir ein Rätsel. Wie kannst du das eine wissen und das andere nicht?“

Wieder zucke ich mit den Schultern.

„Was war denn jetzt das schöne an dem Abend?“, wechsle ich das Thema. Antonio holt schwer Luft, er beißt sich auf die Unterlippe und sieht mich zögernd an. Schweigend sieht er mir lange direkt in die Augen. Sein Herz schlägt schnell und sein Brustkorb hebt sich rasch. Schließlich beugt er sich nach vorn über mich. Während mir sein Gesicht immer näher kommt, schlägt auch mir das Herz bis zum Hals. Hitze flutet meinen ganzen Körper. Wie erstarrt sehe ich ihm dabei zu, wie er die Augen schließt und seine Mund auf meinen legt. Ein Kribbeln überzieht meine Lippen und meinen ganzen Körper. Wie ein Blitz durchzuckt der Hauch einer Erinnerung meine Gedanken: Wir hatten das Licht ausgemacht und wollten schlafen. Ich war fast eingeschlafen, da hat er das auch getan. Nein, nein das hat er nicht. Das war keine echte Erinnerung. Ganz bestimmt nicht!

„Idiot! Lass den Scheiß!“, fluche ich. Grob stoße ich ihn am Brustkorb nach oben und rutsche aus seinem Schoß.

„Hör auf mich zu Verscheißern. So nen Mist hab ich sicher nicht mitgemacht. Und du auch nicht! Sag mir das du mich nur auf den Arm nimmst und nicht so bist, wie die beiden Perversen da drüben“, fordere ich aufgebracht und deute auf die Tür. Antonio seufzt hörbar und senkt den Blick. Als er mich wieder ansieht zwingt er sich ein schelmisches Grinsen ins Gesicht.

„Ich zieh dich nur auf. Dein blöder Blick war es mir wert“, lacht er.

Ich packe mir eines der Kissen und werfe es nach ihm.

„Du verdammter Arsch! Das ist nicht lustig!“ Er fängt es vor seinem Gesicht ab und lässt es achtlos neben sich fallen.

„Nein! Nein das ist wirklich nicht lustig“, sagt er melancholisch und rutscht von meinem Bett. Ohne noch einmal zurückzuschauen, geht er zur Tür.

„Toni?“, rufe ich ihm vergebens hinterher. Er öffnet die Tür und verschwindet auf den Flur, kurz darauf schlägt die Haustür nach ihm zu.

Ich bleibe ratlos auf meinem Bett sitzen. Was ist das bitte gerade gewesen? Spaß? Ernst? Ich fasse mir mit Zeige- und Mittelfinger an die Lippen. Noch immer glaube ich die Wärme seiner Lippen und das Kribbeln spüren zu können. Nein, nein, nein, dass kann so nicht gewesen sein. Er hat ja auch gesagt, dass er mich nur aufziehen wollte. Toni hat sich nur einen Scherz erlaubt, ganz bestimmt.

~Tonis dunkle Seite~

Mit dem Gesicht im Kopfkissen, versuche ich vergeblich diesen verdammten Kuss aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich kann mich an keinen Moment mit Robin erinnern, wo ich ähnlich schlimmes Herzrassen hatte, geschweige denn, dass ich überhaupt so lange über einen einfachen Kuss nachgedacht habe. Dieser verdammte Kerl, was macht der nur mit mir?
 

Es klopf an der Tür, Schritte kommen ins Zimmer.

„Hey, Enrico! Alles okay? Was machst du da?“

„Ich versuche mich im Kissen zu ersticken“, nuschle ich.

„Und dafür wirfst du unseren ungebetenen Gast wieder vor die Tür? Ist ne gute Entscheidung!“, sagt Jan.

Ich drehe mich nach ihm um.

„Nein, er will wohl einfach weg von mir“, sage ich trübsinnig.

„Das ist noch besser!“ Er grinst in sich hinein und geht zurück zur Tür.

„Können wir uns unterhalten, mal ganz offen und ehrlich?“, frage ich ernst. Jan zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe und hält inne.

„Und über was?“, will er wissen. Ich setzte mich an den Rand meines Bettes. Jan nimmt den Stuhl vom Sekretär und stellt ihn mit dem Rücken zu mir. Er setzt sich und legt beide Arme auf der Lehne ab. Während ich die passenden Worte suche, fahre ich mir durch die Haare. Verlegen scheue ich Jans Blick, als ich frage: „Was genau lief da zwischen Toni und mir?“

Er mustert mich lange und setzt ein schiefes Lächeln auf, als er seinerseits fragt: „Was hat er versucht?“

„Kannst du nicht einfach meine Frage beantworten?“

„Was glaubst du wohl?“ Durchdringend sieht er mir in die Augen. Die Antwort kann ich ihm vom Gesicht ablesen, aber ich will sie einfach nicht glauben.

„Woher willst du das überhaupt wissen? Hast du uns je bei irgendwas ertappt?“

Jan schüttelt den Kopf. „Nein, dabei wart ihr immer sehr diskret. Alles andere hätte euch in euren Kreisen auch mit Sicherheit das Leben gekostet.“

„Woher willst du das dann wissen? Wir haben sicher viel zusammen durchgemacht und standen uns deswegen sehr nah. Das muss nicht wie bei dir und Lui gewesen sein.“

„Enrico! Ich stehe selbst auf Männer und ich kenne den Blick, den ihr euch immer zugeworfen habt, bevor ihr verschwunden seit, oder wenn ihr miteinander fertig wart.“

Ich falte die Hände ineinander und bette mein Kinn auf die verschlungenen Fingern. Das kann unmöglich so sein. Das bin niemals ich gewesen.

„Das macht dich wirklich fertig, was?“

Ich erwidere nichts, sondern sehe starr vor mich hin. Jan legt mir seine Hand auf die Schulter. Er sucht meinen Blick.

„Hör mal! Bei Antonio musst du wirklich vorsichtig sein.“

Fragend sehe ich ihn an, bis Jan von allein weiter spricht: „Der ist nicht so nett, wie Lui und ich. Der ist knallhart und brutal!“

Ich rolle mit den Augen und stoße seine Hand von meiner Schulter.

„Erzähl keinen Mist. Der würde mir nie was tun. Ich habe ihn in den letzten Tag so oft dumm angemacht und er ist nicht ein Mal ausfallend geworden.“

Jans Blick wird eindringlicher, er rückt mit dem Stuhl näher an mich heran und legt mir beide Hände auf die Schultern.

„Enrico, ich sag dir das jetzt ohne Ironie und weil mir wirklich was an dir liegt: Der Kerl hat dich oft übel zugerichtet. Ich habe keine Ahnung, was ihr miteinander getrieben habt, aber es muss echt verdammt hart gewesen sein. Du hattest jedes Mal am ganzen Körper blaue Flecke und deine Arme und Beine waren voller Schürfwunden. Wenn du vorher verletzt warst, haben deine Wunden danach übelst geblutet. Nimm dich vor ihm in Acht!“

Etwas gefährliches hat Toni tatsächlich an sich, aber gerade das finde ich ja so interessant an ihm. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er mir gegenüber wirklich handgreiflich wird. Er war bisher so lieb, hat mich sogar nach Hause getragen und für mich Gitarre gespielt. Selbst der Kuss war alles andere als überwältigend gewesen.

„Du übertreibst!“, halte ich dagegen.

„Schön wär's!“ Jan steht auf und stellt den Stuhl zurück. „Ich habe dich gewarnt. Was du daraus machst, ist deine Sache.“ Er verlässt mein Zimmer und verschwindet auf dem Flur.

„Na toll“, murre ich. Als wenn es nicht schon schlimm genug ist, das Toni offensichtlich wirklich ein Auge auf mich geworfen hat, nun soll er auch noch ein brutaler Liebhaber sein? Seufzende vergrabe ich meinen Kopf im Kissen.
 

Die Nacht schreitet unaufhaltsam voran und Toni bleibt verschwunden. Ein Sturm fegt um das Haus, es knarrt in allen Ecken und Winkeln. Als ich zum hundertsten mal durch die Verandatür hinaus schaue, ziehen dunkle Wolken vom Meer her auf uns zu. Das gibt bald einen eiskalten Sturmregen und er ist immer noch da draußen. Mein Blick wandert an die Uhr. Es ist bereits halb vier in der Früh.

Wieder suche ich die Landschaft nach seiner Gestalt ab und kann doch nur den dunkle Wald und die leere Schotterpiste erkennen. Ich hätte ihm sofort nachgehen müssen und das mit ihm klären. Wenn er nun irgendwo da draußen erfriert. Er kennt sich doch hier überhaupt nicht aus, da ist es ein leichtes, sich in den Wäldern zu verlaufen. Die schlimmsten Szenarien spuken mir durch den Kopf: Es ist so dunkel, dass man nicht mal die steile Klippe erkennen kann. Wenn er nun dort irgendwo abgestürzt ist, dann findet ihn niemand und ich kann ihn nicht mal suchen gehen, mit meinen verdammten Beinen komme ich keine Meile weit.

Mühsam atme ich durch und löse mich von der Fensterscheibe. Wenn er bis Sonnenaufgang nicht zurück ist, werde ich Lui und Jan wecken und sie bitten, ihn mit mir zu suchen. Bis dahin, muss ich mich irgendwie ablenken. Mein Blick wandert durch das Wohnzimmer und bleibt am Klavier hängen. Ob ich das wirklich kann? Ich klappe den Deckel über den Tasten auf und setze mich auf den Hocker. Der Anblick der schwarz weißen Tasten erscheint mir vertraut. Nacheinander spiele ich einige an. Die Töne passen nicht zusammen. Ich lege die ganze linke Hand auf die Tasten. Da gab es Griffe, Tasten die man mit mehr als einem Finger auf einmal anspielt und die schön zusammen klingen. Vergeblich versuche ich sie zu finden. Alles was meine Finger auf den Tasten erzeugen, sind unförmige Klänge. Ich wechsle die Hand und spiele eine Taste nach der anderen, bis ich drei finde, die gemeinsam eine Melodie ergeben. Es ist die selbe, die Toni gespielt hat, aber eine Note fehlt noch.
 

„Du bist ja immer noch wach!“ Ich fahre zusammen und drehe mich nach der Stimme um. Lui geht an mir vorbei in die Küche und holt sich ein Glas Wasser. Ich antworte ihm nicht und probiere weitere Tasten aus.

„Seit wann spielst du denn Klavier?“, will er wissen und kommt zu mir.

„Toni hat behauptet ich konnte es mal, aber es kommt nichts vernünftiges bei raus.“

„Das ist doch aber nicht der Grund, warum du um die Zeit noch wach bist, oder?“

„Nein!“ Seufzend schließe ich den Deckel über den Tasten und lege meine Arme darauf. „Toni ist immer noch nicht zurück.“

„Er ist weg?“

„Ja, schon seit Stunden und das bei dem Wetter.“ Meinen Blick richte ich aus dem Fenster. Die Wolken haben die Küste erreicht und ziehen über unser Haus hinweg. Die ersten Regentropfen fallen gegen die Scheibe.

„Was hast du ihm den nun wieder an den Kopf geknallt?“

„Nichts, er hat doch …!“ Ich beiße mir auf die Lippe und verstumme.

„Was hat er?“

Zögernd betrachte ich das Notenblatt auf dem Ständer. Irgendwem muss ich das sagen, bevor es mich völlig verrückt macht und Lui ist wenigstens Jemand, der gut zuhören kann.

„Er hat mich geküsst“, wage ich zögerlich zu sagen.

Lui schaut überrascht und schweigt einen Moment, schließlich zuckt er mit den Schultern und meint: „Naja, er hat eben was für dich übrig. Ist das denn so schlimm?“

„Ja!“

Eindringlich mustert Lui mich, bis ich schließlich sage: „Naja, nein! Doch, schon! Ach, ich weiß doch auch nicht.“ Unruhig erhebe ich mich und wandere durch das Wohnzimmer.

„Ihr seid euch ja alle so sicher, dass da was zwischen uns lief und Toni benimmt sich ja wirklich so, als wenn er was von mir will und ...“

„Und was ist mit dir?“

„Mit mir?“

„Empfindest du denn gar nichts, wenn er bei dir ist?“

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Das geht dich nichts an.“

„Also, ja?“ Ich gehe in die Küche, um seinem fragenden Blick zu entkommen und hole mir ebenfalls ein Glas Wasser. Nach einem kräftigen Schluck daraus, will ich von Lui wissen: „Jan hat mir etwas seltsames über ihn und mich erzählt.“

„Ach ja? Was denn?“

„Das er ziemlich brutal werden kann.“

„Wenn man ihn reizt, sicher. Du hast es ja an mir und Jan gesehen.“

„Ja, aber ich meine zu mir? Jan hat mir gesagt, er hätte mich oft übel zugerichtet, wenn wir, also wenn er ...“ Ich sträube mich, diesen Gedanken zuzulassen und doch war Jan so glaubwürdig, dass ich nicht umhin komme, seine Warnung ernst zu nehmen, „ … naja, wenn er eben mit mir verschwunden ist.“

Lui nimmt einen Schluck aus seinem Glas und zögert, bevor er sagt: „Wenn ihr auf Robins Partys weg wart und später wieder kamt, sahst du schon ziemlich ramponiert aus ...“

„Na super!“ Dann muss es ja stimmen. Ich seufze und lasse den Blick sinken.

„Na ja, aber ...“

„Was aber?“

„Du hast nie einen unglücklichen Eindruck auf mich gemacht. Du konntest noch so schlimm aussehen, angehimmelt hast du ihn gerade dann. Vielleicht hat dir ja die wilde, harte Nummer gefallen. Schon mal daran gedacht?“

Ich atme resigniert aus. „Kann einem so was denn überhaupt gefallen?“

Lui zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung! Aber ihr seid nie besonders zimperlich miteinander umgegangen und wenn ich das mit dir und Robin richtig mitbekommen habe, war dir die liebevolle Nummer immer zu langweilig. Zumindest hat sie sich oft bei mir deswegen beschwert, dass du selten wirklich bei der Sache bist.“

„Über so was redet sie mit dir?“

„Du redest doch auch gerade über so was mit mir und Antonio tut das ebenfalls. Irgendwie zieh ich das wohl an.“

„Moment, warte! Er hat mit dir über mich gesprochen? Was hat er denn gesagt?“

Lui zieht die Arme abwehrend nach oben. „Nein, nein, lass mich da raus. Das macht mal schön unter euch aus.“

„Nein, jetzt will ich es wissen! Sag schon! Was hat er mit dir besprochen?“ Energisch laufe ich auf ihn zu.

„Enrico, was denkst du denn, worum es ging? Er hat dich jahrelang für tot gehalten und dann findet er dich wieder und du weißt nichts mehr über eure gemeinsame Zeit. Noch dazu hast du extrem was gegen Männer die was mit anderen Männern haben. Wie soll er sich da fühlen, wo es doch gerade das war, was er mit dir hatte?“

„Ja toll! Jetzt fühl ich mich noch mieser!“

„Gut so, dann bist du in Zukunft vielleicht etwas netter zu ihm.“ Lui geht an mir vorbei in die Küche. Er stellt sein leeres Glas in die Spüle.

„Nimm's mir nicht übel, aber ich hau mich wieder aufs Ohr. Jan und ich haben morgen die Frühschicht.“

„Ach ja, morgen ist ja schon wieder Montag. Dann könnt ihr mir ja gar nicht bei der Suche helfen, sollte Toni nicht wieder auftauchen.“

Lui lächelt beruhigend. „Keine Sorge, der kommt schon wieder. Antonio kann gut auf sich selbst aufpassen.“

„Aber er kennt sich hier doch gar nicht aus, wenn er sich nun verlaufen hat, oder die Klippe runter gestürzt ist. Es ist eiskalt draußen und jetzt hat es auch noch angefangen zu regnen. Er hat nicht mal ne Jacke mitgenommen. Ich meine, wo will er um die Zeit überhaupt hin? Hier ist doch Meilenweit nichts“, sprudeln alle Bedecken auf einmal aus mir heraus.

„Wie süß, du kannst dir ja doch mal Sorgen um jemand anderen machen, als nur um dich selbst. Wer hätte das gedacht“, lacht Lui.

„Das ist nicht lustig!“, protestiere ich heftig.

„Ach Enrico, bleib locker. Du bist hier, also wird er früher oder später wieder hier auftauchen. Er ist alt genug. Nur keine Sorge.“ Er geht und winkt mir über die Schulter. „Guten Nacht und mach nicht mehr so lange.“

Müde wandere ich zum Sofa und stelle auf meinem Weg das Glas auf dem Couchtisch ab. Noch einmal geht mein Blick hinaus aus der Verandatür. Immer noch ist keine Gestalt auf der breiten Schotterpiste zu sehen. Nur der Regen ist schlimmer geworden. Dicke Tropfen peitschen gegen die Scheibe.

„Er ist sicher eine Klippe hinab gestürzt“, flüstere ich und lasse mich auf das Sofa fallen.
 

Ich muss eingeschlafen sein, denn als sich die Verandatür öffnet, erschrecke ich fürchterlich.

Von Kopf bis Fuß durchnässt, die Arme um den frierend Körper geschlungen, steht Toni im Zimmer. Ich springe auf die Beine und laufe ihm entgegen, erleichtert schlingen ich meine Arme um ihn.

"Da bist du ja endlich!“ Ich drücke ihn fest an mich. „Du bist ja eiskalt!", stelle ich fest. Von seinen Haaren fallen mir große Tropfen auf die Schultern und ins Gesicht. Meine Klamotten sind augenblicklich durchnässt.

"Du musst das nasse Zeug ausziehen. Sonst wirst du noch krank!", rate ich. Toni reagiert nicht, er betrachtet mich mit einem seltsam trüben Blick.

"Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen? Ich hab mir echt Sorgen gemacht."

Wieder gibt er mir keine Antwort, er macht auch keine Anstalten, sich die nassen Sachen auszuziehen. Seine müden Augen mussten mich nur immer zu. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig: Ich knöpfe ihm das Hemd auf und schiebe ihm denn nassen Stoff von den Schultern. Bereitwillig löst er die Verschränkung seiner Arme und lässt das Hemd zu Boden gleite, dann wandern seine Hände zu meinen Hüften. Er ziehen mich enger zu sich, ich er schaudern bei seiner eisigen Haut.

"Du hascht mir gefehlt", sagt er. Der Geruch einer ganzen Schnapsfabrik, steigt mir in die Nase. Ich stemmen mich gegen seinen Brustkorb.

"Bohr du stinkst! Wie viel hast du bitte gesoffen? Du bist ja total zu."

Tonis Hände wandern an mir hinab. Er legt sie um meinen Po und packt beherzt zu.

"Weischt du eigentlich, dassch du einen verdammt geilen Knackarsch hascht?"

"Lass den Scheiß!" Ich löse seine Hände von mir und befreie mich aus seiner Umarmung.

"Zieh lieber endlich deine nassen Klamotten aus", tadel ich und wende mich der Decke auf dem Sofa zu.

"Alles?", will er in einem freudigen Tonfall wissen.

"Ja, du Idiot!" Ich schüttle über ihn den Kopf.

Schwerfällig lösen seine zitternden Hände den Gürtel aus der Schnalle. Für die Knöpfe im Schritt braucht er mehrere Anläufe. Ich rolle genervt mit den Augen und nehme die Wolldecke an mich.

Als ich mich wieder nach ihm umdrehe, ist er bereits nackt. Ich komme nicht umhin, ihn von oben bis unten zu mustern. Die vielen Muskeln an Brust und Bauch, die sich unter seiner nassen Haut abzeichnen, fangen meinen Blick ein. Ich muss schwer schlucken und kann nicht anders, als ihm in den Schritt zu sehen. Er ist wirklich verdammt groß, kein Wunder dass das Handtuch zu kurz war. Ich schütteln mir den Gedanken aus dem Kopf und zwinge mich zum Wegsehen. Mit der Decke gehe ich zu ihm und lege sie ihm über den Rücken, vorn schließe ich sie über Kreuz. Er zittert noch immer am ganzen Körper und fixiert mich mit eisernem Blick.

"Setz dich aufs Sofa! Ich mach dir nen heißen Tee."

Unverständlich werde ich von seinen grünen Augen gemustert. Ich seufzend und bugsieren ihn um den Couchtisch herum zum Sofa.

"Setzen!", weiße ich ihn noch einmal an. Gehorsam lässt er sich fallen. Ich betrachte ihn besorgt, dann fällt mir der versprochene Tee ein.

"Welchen Tee willst du haben? Kräuter, Früchte, Schwarz?", will ich wissen und schicke mich an, in die Küche zu gehen, bis sich seine kalten Finger um mein Handgelenk schließen.

"Ich will dich!", klingt er auf einmal erstaunlich nüchtern. Bei seinem wilden Blick, jagen mir eisige Schauer den Rücken hinab. Augenblicklich schlägt mir das Herz bis zum Hals. Dieser Ausdruck in seinen Augen, hat nichts Gutes zu bedeuten.

"Lass den Mist!", warne ich, doch er zieht mich mit einem Ruck zu sich.

"Ich habe eine viel bessere Idee, als Tee." Er zwingt mich mit dem Rücken ins Sofa.

Ich stemme mich gegen ihn, doch ich kann sein Gewicht nicht stemmen. Er packt meine beiden Handgelenke und fixiert meine Arme über dem Kopf.

"Toni! Hör auf damit!", schreie ich ihn an, doch er lächelt nur siegessicher.

"Du hattest noch nie eine Chance gegen mich!", freut er sich. Energisch winde ich mich unter ihm und versuche meine Hände zu befreien. Meine Beine stemme ich zwischen uns, doch er setzt sich in meinen Schoss. Die Decke fällt ihm dabei vom Rücken und gibt seine ganze Blöße frei. All seine Muskeln sind angespannt, dieser Kraft habe ich tatsächlich nichts entgegen zu setzen. Ich schlucke schwer und atme schnell. Meine Gedanken wirbeln wild durcheinander. Immer wieder kommt mir Jans Warnung in den Sinn.

"Verdammt! Lass den Scheiß!", schreie ich energischer.

"Nein, du wolltest doch, dass mir warm wird!"

"Aber nicht so warm!", protestiere ich. Toni lässt sich nicht beirren. Eine Hand reicht ihm aus, meine Arme zu bändigen, mit der anderen öffnet er die Knöpfe an meinem Hemd.

"Toni, bitte! Bitte hör auf damit!", flehe ich inständig, während er einen Knopf nach dem anderen öffnet. Als er den Stoff bei Seite schiebt, spüre ich seine Härte über meinen Bauch reiben. Hitze flutet meinen ganzen Körper, ein starker Kopfschmerz schlägt sich in meine Stirn. Unendlich viele Bilder stürmen auf einmal auf mich ein. Immer sind es er und ich, in eben dieser Situation. Er hat sich schon immer auf mich gesetzt und mich mit seinem ganzen Körper überwältigt. Egal wie heftig ich mich auch zur Wehr gesetzt habe, er behielt immer die Oberhand, hat sich genommen was er wollte und ich habe da auch noch bereitwillig mitgemacht. Unzählige Moment spulen sich in meinem Kopf ab. Vor dem Kamin, im Bad unter der Dusche, irgendwo in dunklen Hinterhöfen, auf dem Dach eines Hauses. Es bleibt bald kein Ort offen, keine Stellung, keine Berührung, die wir nicht probiert haben.

Ich will das alles nicht sehen. Das bin ich nicht. So krank und pervers, aber es müssen meine Erinnerungen sein, denn niemand hat mir je davon erzählt. Tränen steigen in mir auf und trüben meinen Blick.

"Hör auf!", schreie ich ihn wieder und wieder an, doch er fährt mit seinen kalten Händen über meinen Brustkorb. Kälte flutet meine Körper und überzieht ihn mit einer Gänsehaut. Toni fährt bis zu meiner Hose hinab und schiebt sie über meine Hüften. Seine saure Alkoholfahne erfüllt meine Atemluft und lässt mich würgen.

"Antonio!", flehe ich, während mir die Tränen über die Wangen laufen. Er hält inne, sein Blick wandert an mir hinauf, stumm mustert er meinen nassen Blick.

"Bitte, lass mich los!"

Er atmet schwer aus, dann rutsch er von meinem Schoß und gibt meine Arme frei. Hastig ziehe ich mein Hemd wieder um mich und rutsche so weit von ihm weg, wie es das Sofa zulässt.

"Wenn du so jammerst, vergeht einem ja der ganze Spaß!", mault er.

Irritiert sehe ich ihn an und wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Er fährt sich durch die klammen Haare und kämmt sie mit den Fingern zurück.

„Früher hättest du dabei nie wie ein kleines Kind geflennt. Ehrlich du bist zu nichts mehr zu gebrauchen. Wärst du nur tot geblieben!“

"Dein ernst?", will ich wissen.

"Und ob das mein ernst ist! Du und deine scheiß Amnesie. Geh in dein Grab zurück, da bist du besser aufgehoben!"

Fassungslos sehe ich ihn an.

„Verdammtes Arschloch! Und um dich habe ich mir auch noch Sorgen gemacht.“

Ich stehe auf und knöpfe mein Hemd wieder zu.

„Ach erzähl keinen Scheiß! Du kannst mich nicht mal leiden. Du spielst mit mir und meinen Gefühlen, als wenn ich eine Puppe wäre. Ich bin dir doch scheiß egal. Hätte ich mich nur erschießen lassen, dann müsste ich das nicht auch noch ertragen.“

Jedes Wort von ihm macht mich wütender. Ohne Vorwarnung drehe ich mich zu ihm um und schlage ihm meine Faust ins Gesicht. Er verliert den Halt auf dem Sofa und fällt in die Lücke zwischen Tisch und Couch. Seine Unterlippe beginnt zu bluten. Erschrocken fast er sich an die getroffene Wange und sieht entsetzt zu mir auf.

"Ich sitze hier ja nur die ganze Nacht wach, weil du mir ja so verdammt egal bist. Idiot!“ Ich balle vor ihm erneut die Faust und blinzle gegen die Tränen an, die sich mir in die Augen zwingen. „Aber eines kann ich dir versprechen: Wenn du mich je wieder so bedrängst, werde ich zu dem Mörder, den du so unbedingt in mir sehen willst."

"Das ich nicht lache. Der weiße Wolf in dir ist längst tot. Du bist nichts weiter, als ein Bücher verschlingender Krüppel!", flucht er.

Ich atme die Wut auf seine Worte aus und hebe stolz den Kopf. Von oben herab lasse ich ihn wissen: „In dir ist auch nichts mehr vom schwarzen Wolf übrig. Der hätte nie was versucht, was ich nicht wollt und jetzt halt die Klappe und schlaf deinen Rausch aus!" Damit lasse ich ihn zurück und verschwinde in mein Zimmer. Laut lasse ich die Tür nach mir zufallen und lehne mich mit dem Rücken an den Rahmen. Immer wieder atme ich tief durch, doch mein wilder Herzschlag will sich nicht beruhigen, ich kann das Pulsieren meines Blutes in jeder Ader spüren.

"Dieser verdammte Mistkerl!", murmle ich, während mir schon wieder jede Nummer mit ihm durch den Kopf schießt. Jan hat wirklich nicht übertrieben. Im Vergleich zu diesen Bildern, war Toni eben noch zahm.

"Das kann mir doch unmöglich gefallen haben." Ich stoße mich von der Tür ab und schleppe mich bis in meine Bett. Ist denn wirklich alles falsch, was ich über mich zu wissen glaube?

~Noch eine Krankheit~

Der neue Tag ist unbarmherzig und fällt mit grausamen Kopfschmerzen über Antonio her. Mit einer Tasse Kaffee hat er sich an den Küchentisch gesetzt und stützt seine Stirn mit der Hand. Mehr als eine Unterhose, hat er sich bisher nicht angezogen und schon dabei wäre ihm fast der Schädel geplatzt. Noch immer rätselt er darüber, wieso er überhaupt nackt gewesen ist. Während er einen Schluck aus der Tasse nimmt, fährt er sich durchs Gesicht. Seine Hand streift Wange und Lippe, ein jeher Schmerz durchflutet seine Sinne. Er tastet beides noch einmal ab. Die Wange ist geschwollen und an seiner Lippe klebt getrocknetes Blut. Ein neues Rätsel beschäftigt seinen hämmernden Kopf.
 

Das Schloss der Haustür klickt, viel laute Stimmen brechen herein, als sie sich öffnet:

„Glaubst du wirklich, dass es der Ehemann war, der die Frau so zugerichtet hat? Er macht einen so ruhigen und freundlichen Eindruck auf mich“, sagt Lui.

„Sind es nicht meistens die Ruhigen, von denen man es am wenigsten erwartet?“

„Und wie willst du das beweisen?“

„Keine Ahnung. So lange seine Frau schweigt, ist ihr nicht zu helfen.“

„Ja, das alte Spiel.“

Die beiden Asiaten kommen ohne Umwege in die Küche und werden immer lauter. Der zerreißende Druck in Antonios Kopf wird unerträglich, er hält sich beide Ohren zu, doch Jans Stimme ist immer noch zu laut: „Na, wieder von den Toten auferstanden?“

„Ist noch Kaffee da?“, will Lui wissen.

Antonio stöhnt und bittet inständig: „Könnt ihr nicht leiser sein? Mir platzt gleich der Schädel.“

Lui gießt sich und Jan eine Tasse ein und kommt damit zum Tisch zurück. Eine reicht er Jan, die andere stellt er auf dem Küchentisch ab. Der Klang des Porzellans auf dem Holz, lässt Antonio zusammen zucken.

„Das sieht nach nem mächtigen Kater aus“, stellt Jan fest, „Warum hast du überhaupt so viel gesoffen?“

„Enrico treibt mich in den Wahnsinn. Da brauchte ich Ablenkung.“

„Etwas zu viel Ablenkung, was?“, mischt sich Lui ein.

„Und warum hast du nackt auf unserem Sofa gepennt?“, versucht Jan in Erfahrung zu bringen, während er einen Schluck aus seiner Tasse trinkt.

„Wenn ich das nur wüsste.“

Lui greift über den Tisch und Antonio an die verletzte Lippe.

„Und wo hast du dir das geholt?“

Antonio zuckt mit den Schultern.

„Das hat er von mir!“, mischt sich Enrico in das Gespräch. Er kommt zu ihnen in die Küche und sieht finster auf Antonio herab. Als er zu ihnen kommt, knurrt er: „Arschloch!“

Antonio sieht seinen Freund verstört an. Von allen Anwesenden wird er stumm gemustert.

„Fahrt ihr noch mal in die Stadt?“, richtet Enrico sich an Lui und Jan.

„Ja, wir sind nur für die Mittagspause her gekommen. Wieso?“

„Nehmt ihr mich bitte mit? Ich will wieder arbeiten.“

„Fühlst du dich denn fit genug?“ Lui betrachtet Enrico besorgt.

„Ja, außerdem will ich nicht mehr allein mit dem Kerl hier bleiben.“ Enricos Blick richtet sich wieder unheilvoll auf Antonio. Fieberhaft überlegt der, was in der vergangen Nacht vorgefallen ist, doch es will ihm kein Streit einfallen. Seufzend wendet er sich von allen ab und trinkt einen Schluck seines Kaffees.

„Was hat er denn ausgefressen?“, will Jan mit einem schadenfrohen Lächeln im Gesicht wissen.

„Das geht euch nichts an!“

„Aha!“, belustigt sieht Jan zwischen ihnen hin und her, „So schlimm also? Ehrlich, dass mit euch Beiden, könnte ich mir den ganzen Tag anschauen.“

„Jan!“, tadelt Lui.

„Was denn?“

Lui schüttelt mit dem Kopf und zieht Jan am Arm aus der Küche. „Lass die Beiden das unter sich ausmachen.“

„Du gönnst mir auch gar keinen Spaß!“

Als Jan und Lui die Küche verlassen haben, will Antonio wissen: „Enrico, was hab ich ausgefressen?“

„Spielt keine Rolle mehr. Für dich bin ich doch sowieso nur ein Bücher verschlingender Krüppel, der zu viel rumflennt.“ Enrico kommt ganz nah an ihm vorbei. Neben ihm beugt er sich herab und flüstert ihm zu: „Wenn du mir noch mal so auf die Pelle rückst, kannst du die nächsten drei Monate auf der Straße pennen!“

„Enrico, ich ...“

Enrico hebt abwehrend die Hand und lässt ihn stehen.

„Und zieh dir gefälligst was an!“, kommt lediglich noch aus dem Flur von ihm. Antonio bettet den Kopf wieder in den Händen.
 

...~*~...
 

„Jetzt sag schon, was hat er gemacht?“, fragt mich Jan zum hundertsten Mal. Ich schaue aus dem Fenster und sehe der vorbeifahrenden Landschaft zu. Die ganze Nacht schon, bekomme ich diese Bilder nicht aus meinem Kopf. Auch jetzt sehe ich diesen verdammten Kerl noch über mir, mit diesem blöden Grinsen im Gesicht und seinen gierigen Augen.

„Das geht dich nichts an!“, maule ich wieder.

„Das muss ja schon was heftiges gewesen sein, wenn du nicht mehr mit ihm allein bleiben willst“, nervt Lui.

„Ja, ich dachte er ist so harmlos?“, fügt Jan grinsend an.

Ich rolle mit den Augen

„Ist er auch“, sage ich und klinge nicht besonders überzeugend. Immer wieder spult sich in meinem Kopf, die selbe Situation ab. Hätte Toni es drauf ankommen lassen, ich hätte ihm nichts entgegen zu setzen gehabt. Schon bei dem Gedanken schlägt mir das Herz wieder bis zum Hals. Was er wohl getan hätte, wenn ich ihn nicht mit meinem Gejammer gestoppt hätte? Unweigerlich zwingen sich mir die Dinge ins Gedächtnis, die ich in dieser Situation gesehen habe. Wilde Küsse, gieriges Kleider vom Leib reißen und harte Stöße ...

Ich atme tief durch und versuche mich vergeblich mit der vorbeiziehenden Landschaft abzulenken. Es gelingt mir nicht. Was musste sein viel zu großer Schwanz auch auf meinem Bauch reiben? Dieser verdammte Mistkerl. Hat ihn denn allein schon die Vorstellung, mich flachzulegen, so geil gemacht, oder ist das nur der Alkohol gewesen?

„Enrico! Ich rede mit dir!“, dringt die Stimme Jans in meinen unruhigen Geist.

„Was denn?“, maule ich und sehe stur aus dem Fenster.

„Komm schon! Ich platze fast vor Neugier!“

„Ach, geh sterben!“

Jan verstumm, dafür wird es in meinem Kopf wieder lauter. Haben wir früher wirklich miteinander geschlafen, so richtig? Bisher konnte ich mir das nicht mal vorstellen und nun habe ich den ganzen Kopf voll mit Bildern davon. In den Arsch, ehrlich? Das muss doch weh tun. Ich seufze und lehne den Kopf gegen die Scheibe. Ich habe so gehofft, dass es für alles eine vernünftige Erklärung gibt. Habe es mir immer und immer wieder eingeredet. Ich will nicht so sein, wie Lui und Jan. Mir gefallen doch große, runde Brüste und ich habe mich in Robin doch auch wohl gefühlt. Ich bin verheiratet. Auch wenn ich es nicht mit Robin bin, sonder mit ihrer Schwester. Wie kann ich gleichzeitig das eine mögen und trotzdem was mit Toni gehabt haben? Hat mir denn da keiner ins Gewissen geredet?

Ich habe Menschen getötet, ich habe mit nem Mann gepennt, gibt es eigentlich noch irgendwelche Katastrophen, von denen ich nichts weiß? Kein Wunder das die Drei nie darüber reden wollten. Jan hatte recht, es wäre besser gewesen, wenn ich mich nicht erinnert hätte. Die ganze Zeit war ich normal und damit auch mehr als zufrieden und jetzt muss ich ständig an diesen verdammten Kerl denken. Immer düsterer wird meine Stimmung. Was für ein abartiger Mensch muss ich damals gewesen sein? Kein Wunder, dass sich neben Lui, Jan und Robin, hier nie jemand gemeldet hat. Wer will schon was mit so jemanden wie mir zu tun haben? Wenn das im Dorf die Runde macht, kann ich mich nirgends mehr blicken lassen. Eros wird mich hochkant aus der Werkstatt schmeißen und die Menschen werden auf der Straße mit Fingern auf mich zeigen. Robins Familie wird mich verstoßen. Dann kann ich mich den Rest meines Lebens in diesem verdammten Sommerhaus begraben.

Ich raufe mir durch die Haare und atme gegen die Scheibe. Ich muss das los werden. Gibt es denn kein Medikament gegen diese Krankheit?

Hilfesuchend sehe ich zu Lui und Jan. „Sagt mal, habt ihr eigentlich je versucht nicht auf Männer zu stehen?“

Jan mustert mich fragend im Rückspiegel, während Lui über den Sitz hinweg zu mir schaut.

„Wie kommst du jetzt darauf?“, fragt Lui.

Ich gehe gar nicht erst auf seine Frage ein und will weiter wissen: „Es muss doch irgend ein Mittel geben, dass abzustellen. Das ist doch ne Krankheit, gibt’s da kein Medikament oder ne Behandlungsmethode?“

„Klar, du kannst gern in ne Irrenheilanstalt gehen und dich mit Elektroschocks foltern und in ne Zwangsjacke stecken lassen“, meint Jan abschätzig.

„Würde das denn helfen?“ Ich bin fast so weit es darauf ankommen zu lassen, wenn diese Gedanken nur verschwinden.

„Dein Ernst?“, murrt Jan.

„Ich will nur dass das aufhört. Ich bin nicht wie ihr. Und ich will auch nicht so werden.“

Jan fährt rechts ran und stoppt den Wagen. Als er sich nach mir umdreht, ist sein Blick ernst und voller Leid.

„Jetzt hör mir mal zu, du Vollidiot! Es gibt kein Heilmittel, du wirst das nicht los.“

„Woher willst du das wissen? Du hast es doch nie probiert!“, halte ich dagegen. Er lebt es mit Lui doch in vollen Zügen aus und versucht noch nicht mal etwas dagegen zu tun.

Jans Blick wird noch verbissener. Wütend schnauzt er: „Ich habe diesen ganzen Scheiß hinter mir. Als mein Vater mich mit meinem ersten Freund erwischt hat, hat er mich sofort einweisen lassen. Er hat Sam bei der erst besten Gelegenheit über den Haufen geschossen und den Ärzten Anweisung gegeben, alles nötige zu tun, um diesen Dämon aus mir zu vertreiben. Und glaub mir, unter Drogen gesetzt und gefoltert zu werden, ändert überhaupt nichts, außer dass du kaputter dort raus kommst, als du rein gegangen bist. Ich habe Monate gebraucht, die Ärzte davon zu überzeugen, dass ich geheilt bin, um dieser Hölle zu entkommen. Aber wenn du unbedingt dort hin willst. Ich fahr dich sofort hin!“

Ich schlucke schwer und weiche Jans Blick aus. Das ist das erste Mal, dass er so viel von sich preis gibt.

Selbst Lui sieht ihn erschüttert an. „Davon hast du nie was erzählt“, meint er.

„Das binde ich ja auch sonst keinem auf die Nase“, entgegnet Jan, sein Blick verliert sich in der Ferne.

Ich schweige lange und wage nur zögernd zu fragen: „Also kann man gar nichts dagegen machen?“

Jan seufzt schwer. An seiner Stelle antwortet Lui: „Ab und an kommt mal ein Arzt und meint er hätte das ultimative Heilmittel gefunden. Aber ich habe bisher noch von keinem Patienten gehört, wo das wirklich geholfen hat.“

„Wie haltet ihr das aus?“

Lui und Jan schweigen und sehen sich gegenseitig an, Schließlich ist es wieder Lui der antwortet: „Es ist nicht mehr so schwer, wenn man sich einfach damit abfindet und das beste daraus macht.“

„Ist das eurer einziger Rat. Ich soll es hinnehmen?“

„Robin ist der Meinung, dass man einfach so geboren wird und das nichts dabei ist. Ihre Partys liefen immer unter dem Motto: Alles ist erlaubt, solange es allen beteiligten gefällt.“

„Das hilft mir auch nicht wirklich weiter!“

„Was willst du denn hören?“, fordert Jan lautstark zu wissen.

„Das es wie ne Grippe wieder weggeht?“

Jan und Lui rollen beide mit den Augen.

„Das kannst du vergessen mein Freund!“, mault Jan harsch.

Ich atme schnell und kann die Wut und Traurigkeit in mir nicht mehr kontrollieren.

„Reicht es denn nicht, dass meine Beine kaputt sind und ich mich an mein halbes Leben nicht mehr erinnern kann? Muss ich diesen Mist auch noch haben?“, fluche ich unter Tränen und richte mich an Lui, „Warum hast du diesen Kerl überhaupt hier her gebracht? Wenn er nicht gekommen wäre, wüsste ich das alles nicht. Dann könnte ich in Frieden weiterleben!“

„Tut mir leid. Ich hab's gut gemeint. Du wolltest dich so unbedingt erinnern und ich wusste, dass es dir mit Antonio gelingen könnte“, erwidert Lui zerknirscht.

„Ich will das alles nicht! Diese verdammten Bilder verfolgen mich schon die ganze Nacht. Das soll aufhören!“, schluchze ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen.

„Was hat der Kerl denn bitte mit dir gemacht?“, will Jan wieder wissen. Dieses Mal fehlt der Spot in seiner Stimme.

„Ich wollte doch nur, dass er die nassen Sachen auszieht, damit er nicht krank wird. Es war doch keine Einladung“, schluchze ich weiter und spüre die besorgten Blicke meiner Freunde auf mir.

„Enrico! Was hat der Schweißkerl gemacht?“

„Er wollte mich auch ausziehen.“

„Okay, wir drehen um und ich hau ihm auf's Maul!“, entscheidet Jan und startet den Wagen. Erschrocken schaue ich auf.

„Jan, nein!“ Ich will nicht, dass sich die Beiden schon wieder kloppen. „Er hat ja aufgehört, als ich ihn darum gebeten habe“, hoffe ich die Situation entschärfen zu können.

„Trotzdem! Das er das überhaupt probiert hat“, flucht Jan und fährt los.

Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und bitte ihn inständig: „Bitte, lass ihn zufrieden!“

„Warum nimmst du ihn noch immer in Schutz?“

„Weil das eine Sache zwischen ihm und mir ist, okay? Wenn wir wirklich mal zusammen waren, kann er doch auch nichts dafür.“

„Und ob er was dafür kann. Er weiß genau, dass du dich nicht erinnern kannst und rückt dir trotzdem auf die Pelle.“

„Aber dafür kann ich mich jetzt ja erinnern und er war total besoffen. Nüchtern hätte er sicher nie was versucht“, halte ich dagegen.

„Na und!“

„Jan, bitte! Lass uns einfach in die Stadt fahren. Ich will weg von dem ganzen Mist. Ich will arbeiten und mich ablenken. Außerdem hab ich ihm schon dafür eine verpasst. Ich glaube nicht das er noch mal irgendwas versucht.“

„Hör doch endlich mal auf ihn in Schutz zu nehmen! Er ist ein verdammter Arsch.“

„Das weiß ich! Aber ich mag ihn trotzdem. Bitte, dreh wieder um.“

Jan seufzt ergeben und schlägt auf das Lenkrad, schließlich drosselt er die Geschwindigkeit des Wagens und wendet ihn.

„Danke!“ Ich lege Jan meine Arme um den Oberkörper und drücke ihn fest in den Sitz. Er streicht mir mit der Hand über den Unterarm.

„Kommt er dir noch mal zu nah, halt ich mich nicht mehr zurück.“

„Okay!“

Lui sieht uns schweigend an, dann kommt ihm ein Seufzer über die Lippen. Seinen Blick wendet er ab und aus dem Fenster.

~Ein heißes Bad~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Küsse unter Tränen~

Die ganze Woche schon gehe ich Toni aus dem Weg. Immer wenn er ankommt um mit mir zu sprechen, senke ich den Blick und flüchte in irgend eine Arbeit oder verlasse das Haus. Seit dem Zwischenfall im Badezimmer, habe ich kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Doch er lässt einfach nicht locker. Auch jetzt steht er wieder in der Tür meines Zimmers und hält mich am Arm fest.

„Enrico, bitte, red endlich mit mir! Was habe ich denn so schlimmes verbrochen?“ Wieder antworte ich ihm nicht und löse lediglich seine Finger von meinem Arm. Als ich mich umwende, um zu gehen, packt er mich dieses Mal an beiden Armen und dreht mich zu sich. Eindringlich mustert er mich und sucht vergeblich meinen Blick. Ich schaffe es einfach nicht, ihn anzusehen, stur betrachte ich den Boden.

„Enrico, bitte!“, fleht er.

„Bitte lass mich los! Lui und Jan warten auf mich“, sage ich kleinlaut. Toni betrachtet mich noch einen Moment lang, dann seufzt er ergeben und gibt meine Arme frei. Ohne noch einmal den Blick zu erheben, drehe ich mich um und verlasse das Haus.
 

Lui packt gerade einen Koffer in den Wagen, während Jan die Fahrertür öffnet. Als ich mit den Händen in den Hosentaschen zu ihnen gehe, richten sich ihre Blicke auf mich.

„Er will wohl nicht mitkommen?“, will Lui wissen.

„Ich habe ihn nicht gefragt und ich will ihn auch nicht dabei haben.“ Wenigstens wenn wir bei Robin und ihrer Cousine sind, will ich mal meine Ruhe vor ihm haben. Lui schließt den Kofferraum, während sich Jans Blick irgendwo hinter mir verliert. Skeptisch betrachtet er etwas und sagt schließlich ungläubig: „Heult der Kerl etwa?“

Irritiert folge ich seinem Blick. Toni sitzt auf der Bank hinter dem Haus und schnitzt an einem Stück Holz herum, immer wieder wischt er sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Es sieht wirklich so aus, als wenn er heulen würde. Ein schlechtes Gewissen frisst sich in meinen Magen und lässt mich schwer durchatmen. Lui kommt zu mir, er legt mir seine Hand auf die Schulter.

„Bleib doch das Wochenende hier und klär das mit ihm, dann habt ihr wenigstens mal die Ruhe dafür“, rät er.

„Aber wir wollten doch zu Robin. Mit ihr muss ich auch noch so einiges klären“, halte ich dagegen.

„Mit Robin hast du noch Zeit. Er aber bleibt nicht ewig hier.“

Ich schaue von Lui zurück auf Toni. Er sitzt wirklich wie ein Häufchen Elend auf der Bank und vielleicht ist das Wochenende allein mit ihm, eine gute Gelegenheit mal ungestört zu reden.

„Enrico, ich halte das für keine gute Idee“, mischt sich Jan ein, „Was willst du machen, wenn er wieder handgreiflich wird? Dann ist keiner von uns hier.“

„Ich bin das letzte Mal auch allein mit ihm fertig geworden“, sage ich und kann meinen Blick nicht von Toni lassen. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je heulen gesehen zu haben.

„Fahrt ohne mich!“, entscheide ich schließlich.

„Aber Enrico!“, versucht Jan mich noch immer aufzuhalten. Ich ignoriere ihn und richte mich an Lui: „Sag Robin bitte, dass ich sie am nächsten Wochenende besuchen komme und wir uns dann in Ruhe unterhalten. Grüßt Eliano und die Familie von mir!“ Lui nickt und lächelt zufrieden.

„Enrico!“, ruft Jan dazwischen.

„Steig endlich in den Wagen und halt die Klappe!“, schnauzt Lui ihn schroff an, „So langsam gehst du mir gehörig auf die Nerven. Wenn du dich nur mal so intensiv um mich kümmern würdest, wie du versuchst, die Beziehung der Beiden zu sabotieren. Steig endlich ein!“

Erstaunt schaue ich von einem zum anderen. Jan steigt in den Wagen. „Bist du etwa eifersüchtig?“, will er wissen.

„Habe ich denn einen Grund dazu?“ Lui steigt zu Jan in den Wagen und schlägt die Tür zu. Der Wagen setzt sich in Bewegung, Jan lenkt ihn auf die Straße. Ich sehen ihnen nach, bis sie hinter dem Hügel verschwinden. Von der Straße richte ich meine Aufmerksam zurück zur Bank. Sie ist inzwischen leer. Suchend sehe ich mich nach Toni um, doch außerhalb des Hauses kann ich ihn nicht finden. Na toll, jetzt muss ich den Blödmann auch noch suchen.

Ich trete den Rückweg an und gehe zur Bank. Als ich sie erreiche, fällt mein Blick auf die Glasschüssel. Sie hat sich inzwischen gut gefüllt. Neben der Lok und den Schienen sind etliche Tiere und ein Automobile dazu gekommen. Ich lächle zufrieden, bis mir in den Sinn kommt, dass er sicher nur so viel schnitzt, um auch wirklich in drei Monaten von hier weg zu kommen. Der Gedanke schmerzt. Eigentlich will ich mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn er nicht mehr da ist. Ich weiß doch erst durch ihn, was mir die ganze Zeit gefehlt hat. So viel Aufregung, wie in den letzten paar Tagen, hatte ich die ganzen Jahre nicht. Das möchte ich gar nicht mehr missen, so anstrengend es auch ist.

Im Wohnzimmer bewegen sich Schritte, im Augenwinkel kann ich einen Schatten sehen, der sich auf dem Sofa nieder lässt. Ich atme noch einmal tief durch, dann trete ich durch die offene Verandatür und lehne mich an den Türrahmen. Mit verschränkten Armen sehe ich Toni an. Er hat eine Bierflasche in der Hand und setzt sie sich die Lippen.

„Du hast gelogen“, spreche ich ihn an.

Sein Blick dreht sich erschrocken nach mir um. Er nimmt die Flasche wieder runter, fragend sieht er mich an, dann werden seine Gesichtszüge finster.

„Oh, redet der Herr jetzt wieder mit mir?“, sagt er abwertend.

„Ich kann auch wieder gehen, wenn dir das lieber ist.“

Er schweigt und atmet schwer. Eine gefühlte Ewigkeit braucht er um endlich zu antworten: „Wobei habe ich bitte gelogen?“

„Als ich dich gefragt habe, wie wir zueinander stehen, hast du mich angelogen“, sage ich und stoße mich vom Türrahmen ab. Mit verschränkten Armen betrete ich das Wohnzimmer und bleibe vor dem Tisch stehen.

Er mustert mich von oben bis unten, schließlich sagt er kühl: „Du hättest die Wahrheit doch gar nicht verkraftet.“

„Was ist denn die Wahrheit?“

Kritisch schaut er unter seinen dunklen Haaren herauf. „Weißt du das immer noch nicht?“

„Ich bin mir noch nicht sicher, von wem von uns Beiden die ganze Sache eigentlich kommt.“

„Also so, wie du in der Wanne meinen Namen gestöhnt hast, geht das wohl nicht nur von mir aus“, sagt er selbstgefällig und prostet mir zu, während er noch einen Schluck nimmt. Ich spüre wie mir die Hitze in den Kopf steigt. Nur mit aller Mühe gelingt es mir, meinen Blick nicht wieder zu senken. Das Thema ertrage ich nicht länger nüchtern. Ich greife über den Tisch und reiße ihm die Flasche aus der Hand.

„Hey!“, beschwert er sich.

„Sauf nicht so viel!“, tadle ich, „Mit Alkohol bist du unausstehlich!“ Die Flasche setze ich selbst an die Lippen und trinke den Rest darin leer. Toni sieht mir mit hochgezogener Augenbraue dabei zu, schließlich will er ernst wissen: „Sagst du mir jetzt vielleicht, was an dem Abend passiert ist?“

„Kannst du dich da immer noch nicht dran erinnern?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Na, dann weist du wenigstens mal, wie es mir immer geht.“

„Das ist keine Antwort!“

„Na schön.“ Klangvoll stelle ich die leere Flasche auf den Tisch ab und gehe um ihn herum. Argwöhnisch beobachtet Toni mich, während ich mich ihm nähere. Unruhig rutsch er auf dem Sofa zurück. Ich setze mich auf seinen Schoß und dränge ihn am Brustkorb in die Lehne.

„Du Mistkerl hast mich ausgezogen und wolltest über mich herfallen!“

Toni schluckt schwer, seine grünen Augen mustern mich wild. Scheu sieht er mich an.

„Enrico, dass … ich“, beginnt er zu stottern. Zufrieden betrachte ich ihn und seinen wundervollen Augen. Wenn er so verlegen und unsicher schaut, ist er noch süßer.

„Du verdammter Scheißkerl“, hauche ich ihm auf die Lippen und kann nichts gegen den verträumten Blick tun, der sich mir ins Gesicht zwingt, „Mein Scheißkerl!“, säusle ich und lege ihm meine Hände um beide Wagen. Ich küsse seine weichen Lippen. Sie sind warm und treiben aufregende Unruhe in mein Herz.

„Das wollte ich schon die ganze Zeit machen“, gebe ich zu und lächle ihn an.

Ungläubig betrachtet er mich eine Moment lang, dann wandern seine Hände meinen Rücken hinauf. Er zieht mich an sich und küsst mich seinerseits.

„Ach du verdammter Idiot. Glaubst du ich nicht?“, nuschelt er zwischen zwei Küssen. Ich lächle und such mit meiner Zunge nach seiner. Das alles ist so unendlich lange her. Ich will es wieder haben, dieses aufregende Gefühl, das Herzflattern, die Geborgenheit, die ich nur in seinen Armen finden kann. Toni drückt sich von der Lehne ab und dreht sich mit mir seitlich aufs Sofa. Er wirft mich unter sich und hält mich doch so sicher, dass ich gar nicht spüre, wie ich falle. Während er sich über mich legt, küsse ich ihn weiter, kann einfach nicht genug von seinem heißen Atem und dem vertrauten, holzig, wilden Duft bekommen. Meine Arme lege ich ihm über die Schultern und den Rücken und ziehe ihn enger zu mir. Ich will seine Wärme und Kraft, einfach alles an ihm spüren, mich von dieser Sehnsucht endlich erlösen.

Toni unterbricht unser wilden Küsse. Ich kann mich nur schwer von seinen Lippen trennen und ihn sprechen lassen.

„Aber, warum jetzt auf einmal?“

„Weil wir jetzt endlich mal allein sind und ich doch sowieso nichts dagegen tun kann. Ich hab's versucht. Wirklich!“ Ich hake meinen Zeigefinger in seiner Kette ein und ziehe ihn daran zu mir. Bevor ich wieder zu Sinnen komme und begreife, was ich hier tue, will ich seine Lippen schmecken.

„Eigentlich“, meint er zwischen unseren Küssen, „eigentlich sollte ich … ich dich hier einfach liegen lassen. So wie dus die ganze Zeit mit mir gemacht hast.“ Flehend sehe ich ihn an und versuche ihn mit einem langen Zungenkuss vom Gegenteil zu überzeugen.

„Bitte … bitte nicht. Dann trau ich mich so was hier, nie wieder.“ Mit zitternden Fingern greife ich den obersten Knopf seines Hemdes und öffne ihn.

„Du bringst mich um den Verstand, ist dir das klar?“

„Na das will ich doch stark hoffen“, entgegne ich atemlos und suche wieder seine Lippen, während ich den zweiten Knopf öffne.

„Wehe du beschwerst dich hinterher wieder!“

„Wenn du wirklich so gut bist, wie in meinen Erinnerungen, bestimmt nicht“, versichere ich ihm und öffne nach einander alle restlichen Knöpfe. Hastig schiebe ich ihm den Stoff von den Schultern.

Abrupt unterbricht Toni unsere Küsse und stemmt sich vom Sofa, bis sich unsere Körper nicht mehr berühren.

„Moment mal, was soll das heißen, deinen Erinnerungen?“

Ich lächle ihn versöhnlich an und fahre seinen schönen Oberkörper mit beiden Händen ab. Von der Brust über jeden einzelnen Bauchmuskel. Alles an ihm ist fest und so verlockend. Ich lege den Kopf schief und antworte ihm: „Ich konnte es sehen.“ Mit dem Zeigefinger fahre ich in kleinen Kreisen um seine Bauchmuskeln und spüre, wie mir die Hitze in den Kopf steigt. Ich wage nicht ihm ins Gesicht zu sehen, als ich weiter spreche: „Als du betrunken über mich herfallen wolltest, war es, als wenn ich jede Nacht mit dir noch einmal erlebe. Ich weiß, was wir alles miteinander getrieben haben und seit her geht es mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Scheu suche ich seinen Blick, doch dort ist kein Lächeln mehr, er schaut durch mich hindurch. Schließlich erhebt er sich ganz und setzt sich auf. Sein Hemd zieht er sich über die Schultern und richtet den Kragen.

„Wenn du die ganze Zeit alles weißt, wieso behandelst du mich dann, wie den letzten Dreck?“, will er zähneknirschend wissen. Ich senke schuldbewusst den Blick und setzte mich ebenfalls auf.

„Es tut mir leid. Ich konnte damit einfach nicht umgehen.“

„Ach und jetzt kannst du's auf einmal?“

„Ich weiß nicht“, gestehe ich kleinlaut und wage nur zögernd wieder aufzusehen, „Ich hab keine Ahnung was ich hier eigentlich tue.“

„Dann solltest du es lassen!“, murrt er und wendet sich ab. Er schließt die Knöpfe an seinem Hemd. Wehmütig sehe ich ihm dabei zu und lege schließlich meine Hand über seine, um ihn zu stoppen. Eindringlich sehe ich ihn an und knie mich ins Sofa direkt neben ihn.

„Bitte Toni, sei nicht so ein Arsch, wie ich es war. Stoß mich nicht weg, wo ich doch gerade begreife, was ich schon die ganze Zeit will.“

„Ach und was soll das bitte sein?“

Ich schaue ihn schief von unten an.

„Dich, du Idiot!“, murre ich und setze mich auf seinen Schoß. Meine Arme schlinge ich um seinen Hals und sehe ihn offen an.

„Ich weiß dass ich dir weh getan habe, die ganze Zeit über.“

Tonis Augen werden gläsern, seine Mundwinkel beginnen zu zucken. Eine erste Träne rollt ihm über die Wange.

„Du Arsch, du weißt gar nicht wie sehr!“, bricht es aus ihm heraus, „So lange habe ich gedacht du seist tot. Ich habe gedacht, ich habe dich für immer verloren und dann komme ich hier her und du bist auf einmal wieder da. Und ich darf dich nicht berühren, kann kaum vernünftig mit dir sprechen.“ Immer mehr Tränen fallen ihm von den Wangen. Seine Arme legt er mir um die Talie und zieht mich an sich. Er hält mich so fest, das mir das Atmen schwer fällt.

„Ich habe dich so entsetzlich vermisst!“, schluchzt er und beginnt hemmungslos zu heulen. Bei seiner verzweifelten Stimme kommen auch mir die Tränen. Ich lege ihm meine Hand in den Nacken und lehne seinen Kopf an meinen Brustkorb. Mein Gesicht vergrabe ich in seinen weichen Haaren und gebe ihm einen Kuss hinein.

„Es tut mir leid. Ich bin nicht ich selbst gewesen. Ich habe so sehr versucht ein normales Leben zu führen und habs an dir ausgelassen. Das hast du nicht verdient.“

Unter meinen Worten schluchzt er nur noch mehr. Seine Tränen dringen warm durch mein Hemd, seine Umarmung wird noch fester.

„Auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, hat mir die ganze Zeit etwas wichtiges gefehlt. Jetzt weiß ich, dass du das warst“, flüstere ich in seine weichen Haare.

~Eine wilde Versöhnung~

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

~Ein Telegramm~

Ein seltsames Gefühl reist mich aus tiefem Schlaf, das Gefühl beobachtet zu werden. Lange wehre ich mich gegen den Impuls aufzuwachen, doch die Unruhe nimmt immer mehr zu. Dabei träume ich gerade so schön - von einem Leben mit ihm. Verschlafen blinzle ich in den neuen Tag und sehe direkt in zwei smaragdgrüne Augen. Ein sanftes Lächeln liegt auf dem Gesicht, das mir so nah ist.

„Guten Morgen“, spricht er mich mit seiner tiefen Stimme an. Ich lächle und schließe die Augen. Meine Atemluft ist angefüllt mit seinem holzig, wilden Duft, die Wärme seinen Körpers hüllt mich ein.

„Du alte Schlafmütze! Willst du nicht langsam mal wach werden? Es ist schon Mittag.“

„Tatsächlich?“, murmle ich im Halbschlaf und lehne meinen Stirn gegen seinen Brustkorb. Ich dränge mich näher an seinen starken Körper. Bilder der vergangen Nacht, flackern in meinem müden Geist auf. So unendlich viele Berührungen, Küsse und harte Stöße. Im ganzen Jahr mit Robin, habe ich nicht so viel gevögelt, wie in der einen Nacht mit ihm. Unweigerlich zwingt sich der Schmerz meines wunden Pos in mein Bewusstsein. Trotzdem fühle ich mich so ausgeruhte und zufrieden, wie lange nicht mehr. Ich will nicht aufstehen und dieses Gefühl wieder verlieren.

Seine sanfte Berührung legt sich um meine Wange, er wischt mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, seine warmen Lippen berühren meinen Mund. Ich spüre seinen Atem im Gesicht.

„Wir sollten wirklich aufstehen und unter die Dusche“, wispert er.

Ich zwinge mich die Augen zu öffnen und sehe an ihm vorbei durch mein Zimmer. Das Bettzeug, Decken und Kopfkissen, verteilen sich verstreut auf dem Boden, wir liegen nackt auf dem Laken, dass an etlichen Stellen, die weißen Spuren unserer Gier ziert. Als ich meinen Körper hinabfahre, bleibe ich an meinem Bauch kleben. Auch an Tonis Oberkörper verteilt sich Punktuell mein letzter Schuss. Ein Schmunzeln huscht mir übers Gesicht, als ich an das geile Gefühl in seiner Kehle denken muss.

„Du hast recht“, lache ich, „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich aufstehen kann. Du hast mich echt fertig gemacht. Ich schlafe sonst nie durch.“

Er legt mir einen sanften Kuss auf die Lippen. „Gern geschehen!“, sagt er, drückt sich aus der Matratze und rutscht an den Rand des Bettes. Seine Bewegungen sind so kraftvoll, wie immer, dabei ist er es gewesen, der sich die letzte Nacht am meisten Bewegt hat.

„Bist du denn gar nicht fertig?“, will ich wissen, als er aufsteht.

„Nein, wieso? Ich habe ganze acht Stunden gepennt. So viel schlafe bekomme ich sonst in der ganzen Woche nicht.“

Während er sich in seiner ganzen Länge streckt, versuche ich mich aufzurichten. Meine Arme zittern so sehr, dass ich einfach keinen Halt finde. Immer wieder sacke ich ins Laken zurück. Schweigend sieht Toni meinen Bemühungen zu, sein Grinsen wird immer breiter, sein Blick immer gehässiger. „Brauchst du Hilfe?“

„Leck mich!“

„Ja? Jetzt gleich?“ Lüstern sieht er mir in den Schritt. Genau so hat er geschaut, kurz bevor er meinen Penis tief in den Mund genommen hat und … Ich schlucke schwer. Das hatte ich in der letzten Nacht eindeutig zu oft, das hält mein wunder Körper nicht mehr aus.

„Nein! Weiche von mir, Satan!“ Ich suche nach einem der Kissen und werfe es in seine Richtung, doch es fällt nur bis zum Fußende des Bettes. Mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht, kommt er zu mir. Er kniet sich in die Matratze, sein Blick ist herausfordernd, als er sich über mich legt. Gierig funkeln mich seine smaragdgrüne Augen an. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, Gänsehaut überzieht meinen Körper. Ich schlucke schwer und sehe scheu zurück.

„Wenn du nicht aufstehst, muss ich noch mal über dich her fallen, denn ich liebe es, wenn du so hilflos unter mir liegst!“, sagt er in einem tiefen, finsteren Tonfall. Mir bleibt die Luft weg, ich will etwas erwidern, doch ich schaffe es nicht. Durchdringend sieht er mich an, sein warmer Körper begräbt mich unter sich.

„Hilfe?“, presse ich kleinlaut heraus, wohl wissend, dass ich ihm nichts entgegen zu setzen habe und mir keiner zur Hilfe eilen kann.

Tonis Mundwinkel beginnen zu zucken, der finstere Blick weicht auf, schließlich beginnt er herzhaft zu lachen. Irritiert betrachte ich ihn.

„Du müsstest dein Gesicht sehen!“, lacht er lauter und löst sich von mir.

„Ha, ha sehr witzig!“ Schmollend sehe ich zur Seite weg. Toni rutscht an den Bettrand zurück und erhebt sich. Er stemmt die Hände in die Seiten und sieht über die Schulter zurück, als er sagt: „Keine Sorge, ich fall' schon nicht über dich her.“

„Und das soll ich dir nach der letzten Nacht glauben?“

„Höre ich da ein wenig Enttäuschung raus?“

Ich schweige bedächtig und kann spüren, wie mir warm im Gesicht wird. Auch wenn mein Körper mir deutlich zeigt, dass ich genug habe, kann ich nicht verstecken, dass mich seine fordernde Art anzieht, dass ich es liebe, von ihm überfallen zu werden.

„Na komm, gehen wir duschen!“ Lächelnd reicht er mir seine Hand.
 

Nach einer heißen Dusche und einem stärkenden Frühstück, setzte ich mich mit einer Tasse Kaffee auf die weiße Bank hinter dem Haus. Das Rauschen des Meeres ist zu hören, ein kühler Wind weht von den Klippen zu mir. Toni steht in der Verandatür und lehnt am Rahmen. Sein Blick verliert sich in der Ferne, während er gedankenvoll an einer Zigarette zieht. In großen Wolke, stößt er den Rauch hervor. Der Geruch seiner Marke ist mir so unendlich vertraut. Ich nippe an meinem Kaffee und betrachte ebenfalls die Weite des Ozeans:

Irgendwo dort hinter dem Horizont liegt unsere Heimat, irgendwo dort hinten hat er Frau und Kind, irgendwann wird er dort sein und nicht mehr hier. Ich seufze.

Toni kommt näher, er setzt sich zu mir und betrachtet mich schweigend. Ich vermeide es ihn anzusehen.

„Woran denkst du?“, will er wissen. Um nicht antworten zu müssen, trinke ich einen großen Schluck. Er betrachtet mich noch einen Moment, dann sieht er aufs Meer hinaus.

„Als mich Robin am Hafen eingesammelt hat und wir hier her gelaufen sind, hat sie mir einige wichtige Fragen gestellt, mit denen ich aber zu Anfang nicht viel anfangen konnte“, beginnt er irgendwann.

„Ach ja?“, frage ich, wie beiläufig und trinke weiter.

Toni sieht mich offen an, als er fortfährt: „Gefällt dir dieses ruhige Leben hier? Bist du glücklich, wenn du zur Arbeit gehen kannst und deinen Abend mit einem guten Buch verbringst?“

Ich nehme die Tasse vom Mund und setze sie auf meinem Schoß ab. Nachdenklich betrachte ich die schwarze Flüssigkeit in ihr.

„Ich kenne nur dieses ruhige Leben hier. Die wenigen Bruchstücke, die mir aus meiner Zeit in New York geblieben sind, reichen für einen Vergleich nicht aus. Ich weiß nicht ob es hier besser ist oder dort.“ Zögernd erhebe ich meinen Blick und richte ihn auf Toni. Ich lege den Kopf schief und zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht: „Ich bin jetzt glücklich.“

Toni hebt eine Augenbraue fragen. „So siehst du aber nicht aus.“

Mit einem seufzend sinken meine Mundwinkel, ich betrachte den Kaffee.

„Bevor du hier aufgetaucht bist, war ein großer Teil in mir völlig leer. Weder Robin, Jan oder Lui bedeuten mir etwas. Sie sind da oder auch nicht, es war mir egal. Bei dir ist das ganz anders. Seit du da bist, passiert jeden Tag etwas anderes verrücktes. Wenn du um mich bist, spüre ich ständig diese Aufregung und ich fühle mich lebendig. Aber ich weiß auch, dass du uns irgendwann verlassen musst und dass dann alles wieder so trist und langweilig sein wird, wie zuvor und selbst wenn ich mit dir nach New York kommen würde, du hast dort Frau und Kind. Wir würden dann auch nicht mehr zusammen und wie hier am Ende der Welt wohnen. Wenn wir uns mal nah sein wollen, müssten wir uns verstecken. Alles wäre unendlich kompliziert.“ Ich mache eine Pause und sehe aufs Meer hinaus. Der Wind hat zugenommen und peitscht hohe Wellen gegen die Klippen.

Toni schweigt, er wartet geduldig darauf, dass ich weiter spreche. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl nur die Wahl zwischen Pest und Cholera zu haben. Entweder ich gehe dir aus dem Weg und ignoriere die starken Gefühle, die ich für dich habe, was mir einfach nicht gelungen ist, oder ich versuche die kurze Zeit zu genießen und quäle mich dafür den Rest meines Lebens mit deiner Abwesenheit, wenn du abgereist bist, oder aber ich komme mit nach New York und sehe dir beim Glück mit deiner Familie zu. Das erscheint mir alles nicht besonders reizvoll.“

„Du hast in New York auch Familie“, bringt Toni zögernd über die Lippen.

„Ja, eine Frau, an die ich mich nicht erinnere“, gebe ich zu bedenken.

„Und zwei Kinder!“, haut er trocken raus und zieht an seiner Zigarette.

Mir stockt der Atem. In verschlucke mich am Kaffee und beginne heftig zu husten.

„Dein Ernst?“, will ich atemlos wissen.

„Das haben sie dir also auch verschwiegen?“

„Offensichtlich!“, murre ich.

„Zwillinge, ein Junge, ein Mädchen“, fährt Toni monoton fort.

„Zwillinge ...“, murmle ich gedankenvoll, „Ich kann es nicht fassen, dass ich Vater sein soll.“ So sehr ich mich auch bemühe, da ist keine Erinnerung an Kinder, nicht mal an meine Frau.

„Wie alt sind die beiden?“

„Sechs Jahre.“

Also waren sie zwei Jahre alt zum Zeitpunkt des Überfalls. Sie dürften mich genau so wenig erkennen, wie ich sie.

„Willst du jetzt nach New York zurück, zurück zu deiner Frau und deinen Kindern?“

Ich schüttle abwehrend mit dem Kopf. „Nein, wozu? Ich erinnere mich nicht an meine Frau und für die Kinder, bin ich auch nur eine fremde Person. Ich fühle mich nicht wie ein Vater und will auch keiner sein.“

„Du machst es dir ja sehr einfach!“ Mit dem Fuß tritt Toni einen Stein bei Seite und meidet meinen Blick.

Als er nicht mehr sagt, bin ich es, der wieder zu sprechen beginnt: „Schon möglich. Ich kann wenigstens alles auf meine Amnesie schieben, aber was ist mit dir? So wie du die letzte Nacht drauf warst und so wie ich dich in Erinnerungen habe, hast du nicht viel für Frauen übrig. Du lebst in New York doch auch nur eine Lüge. Willst du wirklich dahin zurück und für Frau und Kind den Ehemann und Vater spielen?“

„Ich bin Vater und spiele das nicht nur!“, protestiert er heftig.

„Für ein Kind, dass du nicht sehen darfst?“

Er atmet schwer aus, sein Blick streift die Schüssel mit Spielsachen auf dem Fensterbrett. „Wie solltest du das schon verstehen? Du hast ja nur geheiratet, weil Judy von dir Schwanger war. Familie und Kinder waren dir damals schon egal. Ich bin da eben anders. Kira ist das einzig Gute, dass ich in meinem Leben zustande gebracht habe.“ Unruhig erhebt Toni sich und beginnt vor der Bank auf und ab zu laufen.

Ich seufze lediglich und vermeide etwas zu erwidern. Gegen seine Tochter werde ich zwangsläufig den Kürzeren ziehen. Früher oder später wird er aus meinem Leben verschwinden, auf die eine oder andere Weise. Ich kämpfe gegen den zerreißenden Schmerz in meiner Brust an, der mir die Tränen in die Augen zwingen will. Die leer Tasse stelle ich auf der Bank ab und stehe auf. Im Vorbeigehen, lege ich Toni meine Hand auf die Schulter. „Wenn sie dir so wichtig ist, dann solltest du das nächste Schiff nehmen und nach Hause fahren.“ Einmal klopfe ich ihm auf die Schulter, dann laufe ich weiter zum Haus.

Tonis packt mein Handgelenk, er zieht mich zurück und schließt mich in eine feste Umarmung ein. Irritiert sehe ich an ihm hinauf. Tränen sammeln sich in seinen Augen, doch er schluckt sie hinunter.

„Ich will doch gar nicht nach Hause … Nicht ohne dich!“, gesteht er.

„Wirklich? Und dein Familie?“

„Die ist ohne mich sowieso besser dran.“

„Dann bleib hier! Lass uns zusammen von vorn anfangen, ich bitte dich! Nach allem was wir hinter uns haben, haben wir uns doch auch ein bisschen Glück verdient, findest du nicht? Keine Morde mehr, keine krumen Dinger und niemand der uns nach dem Leben trachtet“, sprudeln alle meine Gedanken auf einmal aus mir heraus.
 

Ein lautes Schrillen an der Eingangstür lässt uns zusammenfahren. Augenblicklich lösen wir unsere Umarmungen und entfernen uns reflexartig voneinander.

„Hallo! Ist jemand zu Hause? Ich habe hier ein Telegramm!“, ruft jemand von der anderen Seite des Hauses.

„Ich geh schon!“ Toni wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, dann läuft er um das Haus herum und dem Postboten entgegen.
 

...~*~...
 

Von vorn anfangen, ein ruhiges Leben, fern ab von Bandenkriegen und ohne Überfälle. So sehr Antonio es auch versucht, er kann sich so ein Leben nicht vorstellen, dabei lebt er es die letzten Wochen doch schon. Schlafen ohne bei jedem kleinsten Geräusch aufzuschrecken. Er hat sich nicht mehr nach jedem Schatten umgedreht, nicht mal seine Pistole hat er bisher ausgepackt. Kira und Anette könnten endlich in Frieden Leben, sie zu bedrohen würde keinen Sinn machen, wenn er nicht mehr da ist.

Noch einmal sieht Antonio über die Schulter zurück. Enrico hat sich die Gitarre aus dem Wohnzimmer geholt und beginnt unbeholfen drauf zu spielen. Antonio schmunzelt.

„Sir! Ihr Telegramm! Sir? Hallo?“, spricht der Postbote ihn einige male an, bis er sich endlich dazu durchringen kann, ihn anzusehen.

„Danke!“, bringt er monoton heraus und nimmt den Zettel entgegen, doch nur all zu schnell verliert sich sein Blick wieder hinter dem Haus. Enrico versucht vergeblich die Melodie seines Liedes nach zu spielen.

„Guten Tag der Herr!“, verabschiedet sich der Postbote und hebt seinen Hut vom Kopf. Antonio lässt ihn wortlos ziehen und wirft nur flüchtig einen Blick auf das Telegramm. In der Kopfzeile steht als Empfänger sein Name, in der zweiten Zeile der Name von Enricos großem Bruder. Ein Stich durchfährt sein Herz. Dieser Verdammte Idiot, Raphael sollte ihm doch keine Post hier her schicken. Antonio hatte ihm das doch ausdrücklich in seinem Brief verboten. Er wollte Raphael doch nur mitteilen, dass er einige Monate länger wegbleiben würde, als ausgemacht war. Seine Aufmerksamkeit wandert über das Papier:
 

Dear Antonio[stop]
 

deine Luftpost hat uns erreicht und ich bin froh, endlich eine Adresse zu haben, über die ich dich erreichen kann [stop]

Ich wünschte ich könnte dir schreiben, dass bei uns alles gut ist [stop] aber die Dinge sind nun mal nicht so [stop] Anette hat sich im Sanatorium mit Tuberkolose angesteckt und hat sich viel zu lange nicht behandeln lassen [stop] Sie liegt seit gut einer Woche nur noch im Bett und hat keine Kraft mehr aufzustehen [stop] Susens Prognose ist schlecht [stop] die Lunge schon stark angegriffen[stop] Wenn dich diese Nachricht erreicht [stop] könnte sie uns bereits unter den Händen weggestorben sein [stop] Bis du mit dem nächsten Schiff zurück bist [stop] ist für Kira gesorgt [stop] trotzdem braucht sie dich jetzt dringend [stop]

Ich weiß du wolltest keine Post in deinem Urlaub [stop] aber das hier erschien mir zu wichtig [stop] um auf deine Rückkehr zu warten [stop]
 

Komm heil zurück

Raphael River
 

Ratlos sieht Antonio zurück zu seinem Freund. Das Telegramm beginnt er zu falten, immer kleine und kleiner, bis es in die Brusttasche seines Hemdes passt, um darin zu verschwinden.

~Lieben heißt loslassen~

Wie schafft es Toni nur, diesem Instrument schöne Töne zu entlocken? Wenn ich darauf spiele tun mir selbst die Ohren weh, von meinen Fingerkuppen ganz zu schweigen. Ich muss sie von den Saiten nehmen, so tief haben sie sich in meine Haut geschnitten. Während ich die tiefen Male betrachte, habe ich das Gefühl das nicht zum ersten Mal zu sehen. Dabei bin ich mir ganz sicher nie Gitarre gespielt zu haben. Es war ein anderes Instrument mit Saiten, nur welches?

Schritte nähern sich mir, ich sehe auf.

Toni hat die Hände in den Taschen seiner Hose, seine sonst so strafe Haltung wirkt eingesunken, das Lächeln auf seinem Gesicht ist aufgesetzt.

„Was ist los? Was wollte Henry?“, frage ich und sehe dem Postboten nach, der auf seine Pferdekutsche steigt und die Zügel in die Hand nimmt.

„Nichts wichtiges. Nur eine Nachricht für Jan und Lui. Ich habe ihm gesagt, dass die Beiden nicht da sind. Er will nächste Woche noch mal wieder kommen!“

Prüfend sehe ich Toni an. Seine verbissenen Gesichtszüge verraten mir, dass erlügt.

Er schafft es nicht meinem forschenden Blick stand zu halten.

„Okay, und jetzt noch mal die Wahrheit bitte!“ Die Gitarre stelle ich auf den Boden und sehe ihn ernst an.

Toni seufzt, er hebt den Blick. Das Lächeln ist von seinen Lippen verschwunden. „Lass uns nicht heute darüber reden, bitte!“ Tonis Gesichtsausdruck wird zunehmend leidender.

Ich hole Luft für einen Widerspruch, doch seine traurige Augen sagen mir dass er nicht darüber sprechen wird, egal wie lange ich nachhake. „Na schön, aber fang ja nicht an solche Geheimnisse vor mir zu haben, wie die anderen Drei. Das ertrag ich nicht von dir auch noch.“

Toni senkt den Blick und schaut hinaus auf das Meer. Er scheint den Himmel nach einer passenden Antwort abzusuchen, schließlich kommt er die wenigen Schritte zu mir, die uns noch trennen. Er nimmt mir die Gitarre aus der Hand und lehnt sie an die Hauswand, dann greift er meine Hand.

„Komm lass uns ein Stück spazieren gehen.“

Ich schaue skeptisch und stehe auf. „Okay, mal sehen wie weit ich komme.“ Vielleicht ist er ja beim Laufen gesprächiger.

Toni lässt meine Hand los, er geht langsam los.

Ich hole zu ihm auf und laufe schweigend neben ihm her.

Wir halten uns ganz nach an den Klippen, das Meer rauscht neben uns. Die Wellen schlagen gegen die Klippen. Vereinzelte Wolken ziehen am Himmel entlang.

Immer wieder sehe ich zu Toni auf, er kämpft mit den Tränen das kann ich deutlich sehen, doch er bringt es nicht über sich etwas zu sagen.

Ich sehe hinaus auf das Meer und bleibe stehen. Meine Hände stecke ich in die Taschen meiner Jacke. Ein kühler Priese zieht an mir und bringt meine Frisur durcheinander.

Ich genieße den Wind.

Toni bleibt in einiger Entfernung stehen, fragend sieht er zu mir zurück. „Kannst du schon nicht mehr?“, fragt er.

Ich lächle und überhöre seine Frage, stattdessen betrachte ich die Sonne die sich in den Wellen spiegelt. „Ich habe immer zum Fenster hinaus auf die Wellen gesehen, als ich das Bett noch nicht verlassen konnte. Ein tiefes Gefühl der Sehnsucht hat mich immer wieder hier hinaus gezogen und dort zum Firmament blicken lassen. Als wenn ich gewusst hätte, dass dort jemand ist, der auf mich wartet. Ich habe mich immer gefragt, warum nie ein Brief kommt und ob ich keine Familie habe, die mich vermisst und nach mir sucht. Dabei hätte ich es sein müssen, der Briefe schreibt und auf die Suche geht.“ Ich wende mich ihm zu. „Toni, ich war die letzten Jahre nicht für dich, wo du mich sicher am meisten gebraucht hättest. Aber ich möchte es jetzt gern sein. Also was quält dich so?“

Er wendet den Blick ab, hinaus aufs mehr. Seine Lippen beben, ich bin mir sicher dass er etwas sagen will, doch er atmet erschwert durch und schweigt.

Schließlich sagt er: „Du hast recht. Ich hätte dich gebraucht. Jeden Gott verdammten Tag nach dem Überfall.“

Schuld legt sich schwer auf meine Schultern. Ich gehe einen Schritt näher an ihn heran. Wenn unserer Vergangenheit und unsere Feinde wirklich so schrecklich waren, hat er die letzten Jahre sicher viel durchmachen müssen. Es tut mir unendlich leid ihm dabei keine Hilfe gewesen zu sein. Ich will ihm meine Hand auf die Schulter legen, doch Toni bückt sich.

Er hebt einen Stein auf und wirft ihn weit hinaus aufs Meer. Mit einem Platscher versinkt er in den Wellen. „Es ist ja nicht deine Schuld!“, sagt er.

Ich trete hinter ihn und lege ihm meine Arme um den Oberkörper. Sacht küsse ich seine Schulter.

Er schließt für einen Moment die Augen. „Lass uns einfach die kurze Zeit genießen, ohne an die Zukunft oder die Vergangenheit zu denken. Bitte!“ Er legt seine Hände auf meine Unterarme.

„Na gut!“ Ich küsse seinen Nacken und drücke ihn eng an mich.

Er lehnt sich gegen mich und schließt die Augen.
 

Lange stehen wir so am Meer und betrachten die Wellen, ohne zu reden, ohne einander frei zu geben. Er wird wohl nicht mehr lange bleiben können, wird mir schmerzlich bewusst. Ich will mir gar nicht ausmalen wie es sein wir, wenn uns wieder ein ganzer Ozean trennt. Ob ich das aushalten kann? Ich habe ihn doch gerade erst wieder gefunden. Er ist ja nicht mal sicher in der Heimat. Was wenn ihm wieder einer dieser Drachen auflauert und er sich nicht zur Wehr setzen kann. Der Gedanke an die neue Narbe auf seinem Oberkörper treibt mir die Tränen in die Augen. Heiß rollen sie mir über die Wange. „Ich kann dich nicht in deinen sicheren Tot gehen lassen!“, sage ich. Meine Stimme ist brüchig und gehorcht mir kaum.

Toni löst sich aus meiner Umarmung, er dreht sich zu mir um. Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und wischt mir die Tränen mit den Daumen weg. „Ich bin jetzt hier!“, sagt er und lächelt versöhnlich.

Ich atme erschwert aus und will etwas entgegnen, doch er legt seine Lippen auf meine. Sein Kuss ist lang und intensiv und lässt mich nur noch mehr heulen.

Ich schließe die Augen. Unendlich viele Bilder spucken mir durch den Kopf. So viele Momente in denen auf ihn geschossen wurde, in denen wir fliehen oder kämpfen mussten. So viele Schmerzensschreie, so viele Wunden die versorgt werden musste, so viel Blut und Leid.

Ich lege ihm meine Arme über den rücken und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Eng drücke ich ihn an mich, während mir unaufhörlich Tränen über das Gesicht laufen. „Ich binde dich fest, ich schwöre es!“ Ich spüre das bitte Lächeln in seinem Gesicht, ohne es sehen zu müssen.

„Mir wird nichts passieren, okay! Ich habe bis jetzt auch überlebt!“

Also muss er wirklich gehen? Ich lasse ihn nicht los und mich auch nicht beruhigen. Immer deutlicher erinnere ich mich an die Dinge die wir getan haben, an all die Menschen die durch unsere Hand gestorben sind und an all die die in wir aus unseren Reihen beerdigen mussten. Ich weiß wozu diese Leute fähig sind. „Ich lasse dich nicht weggehen!“, sage ich immer wieder.

Toni sagt kein Wort, er lächelt einfach nur und hält mich eng umschlungen. Hin und wieder drückt er mir einen Kuss auf die nasse Wange, bis ich wieder seine Lippen suche.

Wir küssen uns lange, bis der Wind meine Tränen getrocknet und meinen Körper ausgekühlt hat. Ich beginne zu zittern, trotz seiner wärmenden Umarmung.

Toni löst sich von mir, seine smaragdgrünen Augen mustern mich besorgt. „Wir sollten wieder rein gehen! Lass uns den restlichen Tag einfach im Bett verbringen, einfach nur zusammen unter der Decken liegen, ja?“

Ich nicke, zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage, bis mir der Gedanke an die Flecken im Lacken und auf den Decken und Kissen kommt. Schmunzelnd sage ich: „Aber vorher sollten wir das neu beziehen!“

Auch auf Tonis Gesicht bildet sich ein Lächeln, seine Wangen werden dunkelrot. „Stimmt!“, sagt er lachend.
 

Wir verbringen tatsächlich den ganzen Tag im Bett. Ganz ohne Klamotten, ganz eng beieinander. Ich genieße seinen vertrauten Geruch und die Wärme seines Körper, lasse seine Haare durch meine Finger gleiten oder spiele mit den Fingern seiner Hand. Wir brauchen keine Worte nicht mal Sex. Es reicht mir einfach bei ihm zu sein. Wenigstens für den Moment.

Irgendwann müssen wir beide eingeschlafen sein, denn als ich mich das nächste mal umsehe, wird mein Zimmer vom schwachen Licht der aufgehenden Sonne erhellt. Sie steht feuerrot am Firmament und färbt den ganzen Himmel in Pinke und rosa Wolken.

Toni liegt auf meinem Kissen, ich auf seinem Oberkörper. Als ich mich aufrichte, rührt er sich nicht. Sein Schlaf ist ruhig und friedlich.

Ich betrachte ihn einen Moment. Seine Gesichtszüge sind so entspannt, seine schwarzen Haare rahmen sein Gesicht. Er ist so wunderschön und trotzdem habe ich die ganze Zeit das Gefühl ich sehe ihn in einem Sarg und nicht lebendig neben mir liegen. Schließlich wende ich meinen Blick ab und mich im Raum um. Auf dem Boden liegen unsere Klamotten vom Vortag. Mein Blick wird von Tonis Hemd eingefangen.

Der Postbote hat ihm etwas gegeben, etwas das er gefaltet und in die Brusttasche gesteckt hat.

Ich schleiche mich aus dem Bett und knie mich zu seinem Hemd. Einen prüfenden Blick werfe ich auf Toni zurück.

Er rührt sich nicht, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig.

So leise wie möglich fische ich den Zettel aus der Tasche klappe ihn auf und lese mir den Inhalt durch. Je mehr Zeilen ich überfliege um so schwerer wird der Stein der sich auf mein Herz legt. Mit jedem weiteren Wort steigt die Gewissheit in mir, das es keine Möglichkeit gibt, ihn hier zu halten. Meine Kehle schnürt sich zu und lässt mich schlucken. Ich heule ohne einen Laut von mir zu geben und falte den Zettel wieder zusammen. So wie ich ihn gefunden habe, schiebe ich ihn wieder in die Brusttasche. Vergeblich wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, während ich zum Bett zurück schleiche, sind längst neue da. Ich lege mich wieder neben ihn.

Sein Kind braucht ihn jetzt, wahrscheinlich viel dringender als ich es tue. Wer weiß wie alt das Telegramm schon ist und wie es seiner Frau inzwischen geht, vielleicht ist sie schon nicht mehr am Legen. Lautlos fallen meine Tränen ins Lacken. Eigentlich will ich ihn gar nicht weglassen. Ich fühle mich erst wieder lebendig seit er da ist. Wenn er geht, wird dieses Gefühl sicher mit ihm verschwinden. Ich wische mir über die Augen um ihn wieder klar sehen zu können. Sacht fahre ich ihm durch die schwarzen Locken.

Es war eben einfach zu schön um wahr zu sein. Er ist nun mal ein Vater und sicher ein bessere als ich. Irgendwie war er schon immer besser in allem, als ich. Er ist stärker, mutiger, selbstloser...

Sicher habe ich ihm seine Entscheidung gestern nicht einfacher gemacht, dabei hat er doch eigentlich gar keine Wahl.

Ich lege meine Hand sanft um seine Wange und gebe ihm einen Kuss.

Noch immer rührt er sich nicht, er muss wirklich erschöpft sein.

Lächelnd betrachte ihn ihn, während mir eine einzelne Tränen über die Wange läuft. „Da kommst du meinetwegen ans Ende der Welt und wirst eigentlich von deiner Familie viel dringender gebraucht. Ich sorge dafür, dass du noch diese Woche nach Hause zurückkehren kannst!“, flüstere ich und betrachte ihn noch einmal liebevoll, dann rutsche ich an den Rand des Bettes. So leise wie möglich erhebe ich mich und schleiche zum Schreibtisch. Ich suche mir ein Blatt Papier und schreibe eine Nachricht darauf:
 

~Ich habe noch etwas zu erledigen, bin gegen Abend wieder zurück~

Enrico
 

Den Zettel lege auf die leere Betthälfte. Einen letzten Blick werfe ich auf Toni, dann suche ich meine Klamotten zusammen, ziehe mich an und verlasse das Haus.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tales_
2017-02-18T13:11:27+00:00 18.02.2017 14:11
Huhu,
Das Kapitel war echt heiß!
Schön das Enrico sich vollends auf ihn eingelassen hat.
Das Glück haben sich auch echt beide verdient!

Lg shanti
Antwort von:  Enrico
19.02.2017 06:29
Da kann ich dir nur zustimmen. Nach dem langen hin und her und vier Jahren ohne den anderen, da haben sie sich das Glück wirklich verdient.

Wölfige Grüße
Enrico
Von:  Tales_
2017-02-15T19:20:28+00:00 15.02.2017 20:20
Huhu,
Jetzt bin ich hier am ende angekommen und ich muss sagen dass mir das Lesen wieder sehr viel Spaß gemacht hat. Es war wirklich ein auf und ab der Gefühle!
Toni tat mir wirklich Leid!
Ich bin so froh das Enrico endlich einen großen Schritt auf ihn zugemacht hat!

Ich freu mich aufs nächste Kapitel
Lg shanti
Antwort von:  Enrico
16.02.2017 06:18
Hey Shanti,

man bist du schnell in zwei Tagen 27 Kapitel.
Echt beeindruckend.
Es freut mich wirklich zu hören, dass ich dieses auf und ab der Gefühle noch hin bekomme. All zu viel Aktion gibt es ja in dem Teil nicht und trotzdem scheint es ja spannend genug zu sein. Da bin ich echt erleichtert.
Toni hatte in dem Teil wirklich zu leiden ^-^. Aber ab jetzt wird besser, versprochen.
Das nächste Kapitel ist in Arbeit.

Wölfe Grüße
Enrico
Von:  Tales_
2017-02-14T18:27:14+00:00 14.02.2017 19:27
Huhu.
Ich hinterlasse dir mal ein kleines Kommentar!
Sobald ich wieder auf dem neuesten Stand bin, gibt's wieder zu jedem eins.

Teil 3 kannte ich ja bisher gar nicht...
Das macht mich fertig, gott ich liebe deine Fanfics!
Der Teil macht so süchtig, ich kann einfach nicht aufhören.
Es ist so mega spannend!

Ein dickes Lob!
Lg shanti
Antwort von:  Enrico
15.02.2017 00:11
Hey Shanti,

Das freut mich dass du dich gleich wieder so in die Storry verliebt hast. Dann wünsche ich dir erst mal viel Spaß mit diesen Teil und freu mich natürlich auf deine Meinung, wenn du dann wieder aufgeholt hast.

Wölfe Grüße
Enrico


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