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Die Wölfe 4 ~Die Rache des Paten~

Teil IV
von

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~Blutige Hände~

Kleiner, so hat er mich immer genannt, das hat mich jedes Mal tierisch aufgeregt. Dabei ist der Spitzname doch ganz normal, wenn er wirklich mein großer Bruder war. Raphael, der Name sagt mir noch immer nichts, dabei versuche ich jetzt schon seit Wochen, die neuen Puzzleteile zusammenzufügen. Doch immer, wenn ich anfange, ein Gesicht zu sehen, oder die Worte aus vergangenen Tagen zu hören, platzt jemand dazwischen.

Auch jetzt kann ich festes Schuhwerk auf dem Boden hören und zwei paar Beine zwischen den Reifen herumlaufen sehen. Ich stoße mich mit dem Fuß ab, um mit meinem Brett unter das Automobil zu rollen, bis ich nicht mehr gesehen werden kann. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, wo ich mit meinem Gedankenkarussell stehen geblieben bin. Irgendwas mit meinem Spitznamen.

„Bist du dir sicher, dass er noch hier ist?“

„Ja! Er werkelt hier schon seit heute Morgen. Er hat sogar die Aufträge für nächste Woche fertig gemacht. Versteh mich nicht falsch, als Werkstattbesitzer kommt mir so viel Fleiß ja gelegen, aber er reagiert überhaupt nicht mehr, wenn man ihn anspricht.“ Ja, ich will einfach nur mal in Ruhe meinen Erinnerungen nach hängen, um endlich ein richtiges Bild von meinem Bruder zu bekommen. Ob er überhaupt noch am Leben ist und wenn ja, warum habe ich in den letzten vier Jahren nichts von ihm gehört? Haben wir so ein schlechtes Verhältnis, dass ich ihm egal bin?

„Sein Verhalten macht mir echt Sorgen. Hast du nicht behauptet er darf vom Arzt aus nur vier Stunden arbeiten? Er ist jetzt aber mindestens schon zehn Stunden hier.“

„Das ist echt seltsam. Lui sollte ihn längst abgeholt haben. Ich versteh das nicht.“

„Ehrlich? Mir hat er gesagt du holst ihn heute ab. Deswegen bin ich jetzt ja auch zur Wache gekommen.“

„Aber ich arbeite heute bis zehn, das habe ich ihm auch gesagt.“

„Sehr merkwürdig. Meinst du mit seinem Gedächtnis steht es jetzt schlimmer als zuvor?“ Von wegen! Ich habe Jan und Lui lediglich gegeneinander ausgespielt. Was sind schon lächerliche vier Stunden arbeiten? Dabei finde ich kaum ein neues Puzzleteil für meine Erinnerungslücken. Ich wollte doch nur einmal ungestört meinen Gedanken nachhängen.

„Sieh mal unter dem Wagen da hinten nach! An dem hat er zuletzt geschraubt“, schlägt Eros vor. Kurz darauf kann ich Jans Füße zwischen den Hinterreifen erkennen. Er packt mich an meinen Knöcheln und zieht mich daran aus meinem Versteck. Als wir uns in die Augen sehen können, schimpft er ärgerlich: „Sag mal, was soll der Mist? Weißt du jetzt nicht mal mehr, was noch vor ein paar Stunden war? Ich hab dir mindestens zwei mal gesagt, dass dich heute Lui abholt.“ Ich setze ein schelmisches Grinsen auf. Jans Aufmerksamkeit wandert an mir herab, sein Gesichtsausdruck wird leidend. Er nimmt mir den Schraubenschlüssel weg und betrachtet meine Hände besorgt.

„Enrico, verdammt! Was hast du gemacht?“, will er entsetzt wissen. Ich verstehe nicht, was er meint und betrachte ebenfalls meine Hände. Etliche Blasen und Schwielen ziehen sich über meine Fingerkuppen und die Handflächen. Viele von ihnen sind bereits aufgeplatzt und das blanke Fleisch liegt frei. Bei dem Anblick frisst sich unbarmherzig ein heftiges Brennen durch meine Finger, meine Hände beginnen zu zittern.

„Au...!“, murmle ich, während mich der Schmerz endgültig aus der Welt meiner Gedanken reißt.

„Eros, hast du Lappen oder ein Handtuch oder so was?“

„Ja, warte!“ Eros humpelt auf seinen Krücken davon. Als er mit einem weißen Handtuch zurück kommt, und Jan meine Hände von dem Öl und Dreck notdürftig zu reinigen beginnt, sehe ich ihm ungläubig dabei zu. So sahen meine Hände nicht aus, als ich mit der Arbeit angefangen habe. Das Tuch brennt in den Wunden. Ich ziehe immer wieder scharf die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Schließlich zieht Jan mich auf die Beine. Er drängt mich zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Eisiges Wasser strömt mir über die Hände. Vergeblich versuche ich sie zurück zu ziehen. Unbarmherzig hält Jan sie fest und reibt den Schmutz aus den Wunden. Blut und Dreck verlieren sich im Abfluss. Ich atme schnell und hastig gegen den Schmerz an.

„Hast du nicht mitbekommen, dass deine Hände so aussehen?“, will Jan vorwurfsvoll wissen.

„Nein“, presse ich gequält heraus. Ich war so in Gedanken und in meiner Arbeit vertieft, wahrscheinlich hätte mich eines der Automobile zerquetschen können, ich hätte es nicht bemerkt.

„Ich habe versucht ihm die Werkzeuge wegzunehmen, aber er ist ein verdammt sturer Hund.“ Eros kommt mit einigen Mullbinden zu uns. Als er sie mir um die Hände wickelt, lässt das Brennen nach, dafür wird das Zittern unerträglich.

„Du bist so ein verdammter Idiot, weißt du das?“, schimpft Jan, „Jetzt muss ich meinem Chef auch noch erklären, dass ich dich erst mal heim fahren muss und das, wo wir sowieso schon unterbesetzt sind, weil zwei Mann krank geworden sind.“ Jan schlägt mir auf den Hinterkopf.

„Au!“

„Kannst du mir mal sagen, was du dir dabei gedacht hast?“ Ich seufze und sehe stumm unter seinem strengen Blick hinweg.

„Ehrlich, nichts als Ärger hat man mit dir. Du rührst dich nicht vom Fleck! Ich gebe auf der Wache Bescheid, dann fahr ich dich heim“, mit diesen Worten und etlichen gemurmelten Flüchen, stiefelt Jan davon. Seufzend sehe ich ihm nach und betrachte dann meine eingebundenen Hände. Bin ich wirklich so sehr in Gedanken versunken gewesen? Die Zehn Stunden, von denen Eros gesprochen hat, sind mir wie zwei vorgekommen, dabei wird es bereits dunkel draußen.

„Warum hast du denn heute, die Zeit so vergessen?“, will Eros in sanftem Ton wissen. Er stellt seine Krücken an die Werkbank und lehnt sich gegen die Fahrertür des Wagens. Ich tue es ihm gleich.

„Ich wollte mich doch nur erinnern.“ Eros zieht die buschigen Brauen kraus.

„Jedes mal, wenn ich bei dir arbeite, sehe ich verschwommene Bilder aus meiner Vergangenheit, aber immer, wenn sie sich aufklaren, kommt ein Kunde, oder ich werde von Jan oder Lui abgeholt. Ich war heute so nah dran, dass Gesicht meines Bruder zu sehen, ich wollte nicht weg.“ Eros legt mir seine Hand auf die Schulter, aufmunternd sieht er mich an. „Setz dich nicht so unter Druck.“

„Es nervt aber einfach. Zwei Jahre und ich weiß noch immer nicht, wer ich bin.“

„Du bist ein guter Mensch und ein exzellenter Mechaniker. Reicht dir das nicht?“

„Ich weiß ja nicht mal genau, ob das stimmt ...“, seufze ich.
 

„Enrico, komm, beweg dich?“, ruft Jan mir zu. Er hat seinen Wagen vor der Werkstatt geparkt. Ich stoße mich von der Fahrertür ab.

„Bis morgen dann!“, verabschiede ich mich von Eros. Der Werkstattchef schau ernst.

„Nein! Bis deine Hände nicht geheilt sind, will ich dich hier nicht mehr sehen“, meint er bestimmt, aber mit Sorge in der Stimme.

„Aber wer soll dann …“, versuche ich dagegen zu halten, doch er fällt mir ins Wort.

„Du hast doch schon alle Aufträge für diese Woche fertig gemacht. Den Rest schaffen Frederic und ich auch allein.“

„Na gut!“, gebe ich nach.
 

Ich steige zu Jan in den Wagen. Während er das Automobile auf die Straße lenkt und die Stadt auf direktem Wege verlässt, betrachte ich schweigend meine Hände. Der Verband färbt sich allmählich rot, selbst auf meinen Oberschenkel ruhend, schaffe ich es nicht, meine Finger ruhig zu halten. Ich habe es wirklich übertrieben.

„Tut mir leid“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen. Jan seufzt, er lässt den Blick auf die dunkle Schotterpiste gerichtet, als er sagt: „Ehrlich mal Enrico. Du bist doch kein Kind mehr, auf das man ständig aufpassen muss. Was sollte das heute, dass du Lui weg schickst und so tust, als wenn ich dich fahre?“

„Ich wollte nicht nach Hause. Wenn ich Sachen repariere, bin ich meinen Erinnerungen wenigstens ein Stück näher. Außerdem schaffe ich in vier Stunden doch kaum was, geschweige denn, dass ich in den paar Stunden genug verdiene, um uns zu helfen.“

„Eros bezahlt dir doch schon mehr, als er müsste und außerdem hat der Arzt die Stundenzahl nicht umsonst festgelegt. Was bringt es dir, wenn du dich übernimmst und morgen nicht aus dem Bett kommst? Du siehst jetzt schon leichenblass aus und zitterst am ganzen Körper.“

„Ich weiß“, seufze ich. Je mehr ich zur Ruhe komme, um so heftiger reagiert mein Körper. Selbst meine Beine zittern inzwischen so stark, das meine Knie immer wieder gegen die Armaturen des Wagens stoßen. Heiße und kalte Schauer durchströmen mich abwechselnd. Ich lehne den Kopf gegen den Sitz und betrachte die dunkle Landschaft, die an uns vorbeizieht.
 

Als wir das Sommerhaus erreichen und Jan den Wagen parkt, hat das Zittern in meinen Beinen nachgelassen. Dafür rinnt mir der Schweiß aus allen Poren. Ein starker Kopfschmerz hämmert in meinen Schläfen. Ich bin so müde, dass mir immer wieder die Augen zufallen.

Jan betrachtet mich auffordernd.

„Steig aus und leg dich hin“, schlägt er vor. Ich öffne die Tür und will aussteigen, doch meine Beine sind taub und unbeweglich.

„Nun mach schon! Ich muss wieder zurück“, drängelt Jan. Ich versuche mich zu bewegen, doch es geht nicht. Panisch betrachte ich meine Beine und drücke mit den Händen dagegen, doch ich spüre die Berührung nicht.

„Ich kann nicht!“, rufe ich verzweifelt.

„Hör auf mit dem Mist, ich hab wirklich keine Zeit dafür!“

„Ich mach keine Witze man, ich spüre meine Beine nicht.“

„Na toll!“, murrt er und schlägt die Tür auf. Er steigt aus und umrundet den Wagen. Vor mir geht er in die Hocke und hilft, meine Beine aus dem Automobil zu hieven.

„Das du es auch immer übertreiben musst!“, schimpft er.

„Hör auf mich auch noch an zu meckern und mach lieber was!“, schnautze ich mit nassem Blick.

Ich will nicht wieder gelähmt im Rollstuhl sitzen. Das alles kann doch nur ein schlechter Traum sein. So sehr ich mich auch anstrenge, ich spüre weder meine Zehen, noch die Waden oder Oberschenkel. Nur mit Jans Hilfe, schaffe ich es überhaupt aus dem Wagen. Er legt sich meinen Arm um den Hals und schleppt mich bis zur Haustür. Lautes Hundegebell ist hinter der Tür zu hören, Schritte bewegen sich auf dem Flur.

Lui öffnet uns die Tür. Der Welpe springt uns entgegen, doch dieses mal schenkt ihm keiner Beachtung. Luis entsetzter Blick gilt mir, von oben bis unten sieht er mich an.

„Was ist passiert?“, will er wissen.

„Frag nicht! Hilf mir lieber, ihn rein zu tragen!“, weist Jan ihn an. Lui legt sich meinen anderen Arm über die Schulter. Gemeinsam tragen sie mich bis ins Schlafzimmer und legen mich dort aufs Bett. Lui betrachtet mich noch einmal von oben bis unten, dann nimmt er meine verbundenen Hände.

„Was ist denn passiert?“, will er wissen.

„Er hat jetzt gute zehn Stunden am Stück bei Eros gearbeitet“, erklärt Jan.

„Was? Aber ich dachte Robin hätte ihn erst heute Mittag in die Werkstatt gefahren.“ Ärgerlich sehen Lui und Jan mich an. Ich verdrehe die Augen.

„Ja, ich habe gelogen! Mein Körper bestraft mich gerade genug dafür, also spart euch eure Sprüche“, murre ich. Das taube Gefühl in meinen Beinen weicht einem entsetzlichen Krampf. Von den Waden, bis in die Oberschenkel, verspannen sich meine Muskeln. Ich werfe den Kopf im Kissen zurück und schreie: „Ahhhrgg!“

„Was ist denn hier los?“ Robin betritt das Zimmer. Sie bleibt im Türrahmen stehen, doch als sie meinen Zustand sieht, kommt sie die wenigen Schritte zum Bett gelaufen. Besorgt wirft sie sich neben mir auf die Knie und stützt sich mit den Ellenbogen in die Matratze. Ihre Hände suchen nach meinen, doch als sie die Verbände bemerkt, zögert sie, sie zu ergreifen.

„Was habt ihr denn mit ihm gemacht?“, wendet sie sich schuld suchend an Jan und Lui.

„Wir? Er ist es doch, der uns gegeneinander ausspielt, nur um bis zum Umfallen arbeiten zu können“, schimpft Jan.

„Wer wollte denn unbedingt, dass er arbeiten geht?“, hält sie dagegen.

„Ja vier Stunden, keine Zehn!“

„Er kommt doch schon nach den vier Stunden am nächsten Tag kaum aus dem Bett.“

„Ach, was! Dafür springt er jeden Morgen wie ein junges Reh durchs Haus.“

„Ja, nachdem er drei Schmerztabletten intus hat. Ich habe euch gesagt, es ist zu früh dafür.“

„Schluss jetzt! Ahhhgr!“, schreie ich, doch mein Protest geht in einem neuen Aufschrei unter. Immer heftiger ziehen sich die Muskeln in meinen Beinen zusammen. Der Schmerz raubt mir die Sinne, immer wieder wird mir schwarz vor Augen.

Ihr Streitgespräch endet abrupt, ich kann ihre besorgten Blicke auf mir spüren, eine kalte Hand berührt mich an der Stirn.

„Er ist ganz heiß!“, stellt Lui fest, „Wir müssen den Arzt holen!“

„Seht mich nicht so an, ich muss zurück zur Wache.“

„Aber du bist der schnellste und beste Fahrer von uns dreien“, hält Lui dagegen. Jan seufzt resigniert.

„Na schön!“ Seine Schritte verlieren sich auf dem Flur. Kurz darauf knallt die Haustür zu.

„Ich hole Wasser und Waschlappen“, schlägt Robin routiniert vor und verschwindet ebenfalls.

Die Krämpfe lassen einfach nicht nach, egal wie fest ich die Zähne auch aufeinander presse, ich kann nicht anders, als immer wieder zu schreien. Tränen pressen sich mir in die Augen und rollen mir die Wangen hinab.

„Schneide sie ab“, flehe ich Lui an. Alles ist besser als dieser Schmerz. Er lächelt nur sanft.

„Das geht vorbei.“

„Nein, wird es nicht. Hack sie einfach ab!“, maule ich, während neue Krämpfe durch meine Oberschenkel schießen. Ich drehe den Kopf zur Seite, um ins Kissen zu beißen und halte den Atem an. Das ist einfach nicht auszuhalten. Wenn Lui es nicht gleich tut, reiß ich sie mir selbst ab.

Etwas kaltes berührt mich an der Stirn, ein eisiger Schauer rinnt mir den Rücken hinab.

„Enrico, hey weiter atmen! Sieh mich an! Tief durchatmen!“, rät Robin mir. Ich blinzle den trüben Schleier weg. Ihr Gesicht ist mir ganz nah, ich spüre ihren warmen Atem im Gesicht, die haselnussbraunen Augen sind voller Sorge.

„Geh...“, presse ich gequält hervor. Ich will nicht, dass sie mich so sieht. Sie kann doch sowieso nichts dagegen tun. Ihren leidenden Blicke ertrage ich nicht auch noch.

„Was?“ Verständnislos sieht sie mich an.

„Geh raus!“, wiederhole ich kraftvoller.

„Aber …“

„Bitte, lasst mich allein! Ahhhgr!“ Ich presse die Augenlider zusammen, neue Tränen rollen mir die Wange hinab. Das ganze Kissen ist schon nass.

„Ich kann dich doch so nicht allein lassen“, protestiert sie. Ich habe keine Luft mehr, sie weg zu schicken. Ein neuer Krampf fordert all meine Aufmerksamkeit.

Lui erhebt sich, er umrundet das Bett und nimmt Robin am Arm.

„Komm!“, fordert er sie auf.

„Aber...“

„Wir können sowieso nichts machen, als auf den Arzt zu warten.“ Nur widerwillig lässt Robin sich aus dem Zimmer schieben. Ich werfe Lui einen dankbaren Blick hinter, bis mich die Krämpfe wieder zusammenzucken lassen. Ach verdammt, was muss ich Idiot es auch immer gleich übertreiben? Wenigstens einmal, hätte ich auf den Arzt hören sollen. Aber bisher habe ich all seine Diagnosen widerlegt. Wer kann denn ahnen, dass es dieses mal recht hat?
 

Eine gefühlte Ewigkeit später, stapft ein braungebrannter Mann, mit einem schwarzen Arztkoffer ins Zimmer. Während er näher kommt, schüttelt er immer wieder mit dem Kopf und verdreht die Augen. Er sagt nichts, setzt sich lediglich auf den Rand des Bettes und zieht einen Stuhl zu sich. Seinen Koffer stellt er darauf ab und klappt ihn auf. Er kramt eine Weile darin herum und zieht dann eine Spritze auf. Kommentarlos spritzt er mir die farblose Flüssigkeit in die Vene meiner Armbeuge. Eine zweite und dritte jagt er mir rechts und links in die Oberschenkel. Die unerträglichen Krämpfe werden schwächer, ich atme erleichtert auf.

„Zehn Stunden, ja? Dir ist schon bewusst, dass ich den vier Stunden nur mit Zähneknirschen zugestimmt habe, oder?“ Ich schaue den jungen Mann, mit der dicken Brille auf der Nase, leidend an. Mir fehlt die Kraft für Wiederworte, also schweige ich.

„Und ihr!“ Sein Blick geht von Lui auf Jan und Robin. „Wieso lasst ihr das zu? Ihr kennt ihn doch. Selbsteinschätzung ist nicht seine Stärke.“

„Ich hab's euch ja gesagt!“, schimpft Robin.

„Was können wir denn dafür, wenn er uns anlügt. Er ist doch kein Kind mehr und ich bin nicht sein Vater“, mault Jan.

„Könnt ihr nicht leise sein?“, murmle ich, doch meine Stimme ist so schwach, dass keiner davon Notiz nimmt.

„Er wird sich jetzt ausruhen müssen. Fünf Tage Bettruhe, mindestens.“ Das soll wohl ein schlechter Scherz sein? Ich halte es ja kaum eine Nacht in diesem Raum aus. Andererseits, klingt liegen bleiben und nicht mehr aufstehen müssen, gar nicht so schlecht. Nun wo die Schmerzen endlich nach lassen, werde ich unendlich müde. Ich schaffe es nicht mal mehr dem Gespräch des Doktors zu folgen, auch das er seinen Koffer zusammen packt und den Raum verlässt, bekomme ich nur beiläufig mit.

Ich bin schon fast eingeschlafen, als ich von Händen gepackt und von starken Armen aufgerichtet werde. Jemand zieht mir die verschwitzten Sachen vom Leib und frische wieder an. Während auch das Bett neu bezogen wird, schlafe ich ein.
 

Als ich aufwache ist das Zimmer in dämmriges Licht getaucht. Durch das Fenster sind orangene Streifen am Firmament zu sehen. Geht die Sonne auf oder unter? Wie lange habe ich geschlafen?

Im Raum ist es ruhig, der Platz neben mir ist verwaist. Verwirrt sehe ich mich um, doch von Robin fehlt jede Spur. Die Türen unseres Kleiderschrankes stehen offen, etliche Kleidungsstücke meiner Frau fehlen, dafür liegt ein großer Koffer auf einem Stuhl davor. Erschrocken schlage ich die Decke zurück. Schwerfällig versuche ich mich aufzurichten. Von den Armen bis in die Zehenspitzen habe ich Muskelkater. Besonders meine Beine schmerzen, als wenn sie jeden Moment ein neuer Krampf durchzucken würde. Nur mit zusammengebissenen Zähnen schaffe ich es, sie aus dem Bett zu schieben. Ich brauche zwei Anläufe, um aufzustehen. Unendlich mühsam erscheint mir der Weg bis zur Tür und durch den Flur. Immer wieder muss ich stehen bleiben, um mich an der Wand oder an einem Möbelstück abzustützen.

Im Wohnzimmer sind Schritte zu hören, Licht fällt durch die Tür in den Flur. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich im Türrahmen stehe und Robin beim Kaffeekochen beobachten kann. Als sie mich kommen hört, dreht sie sich um.

„Du sollst doch im Bett bleiben!“

„Ziehst du aus?“, will ich entsetzt wissen.

Robin schmunzelt. „Wieso? Würdest du mich auf einmal vermissen?“

„Das ist nicht lustig!“, protestiere ich.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu meiner Cousine fahre.“ Stimmt, davon hatte sie mir vor meinen Zusammenbruch mal erzählt, aber ich habe wie immer nur halbherzig zugehört. Die Erklärung beruhigt mich fürs erste. Ich humple ins Wohnzimmer und steuere das Sofa an. Ich kann keinen Moment länger stehen, also lasse ich mich auf die Sitzfläche fallen.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, will ich wissen

„Einen ganzen Tage“, erklärt sie und trägt zwei Tassen Kaffee zum Tisch. Eine gibt sie mir, die andere trinkt sie selbst.

Einen ganzen Tag also, so lang hat es sich gar nicht angefühlt. Ich bin noch immer hundemüde und gähne herzhaft. Meinen Blick richte ich an die Standuhr. Es ist gerade mal kurz nach Sechs.

„Wieso bist du schon so früh auf?“

„Meine Cussine hat schon heute Nacht ihre Zwillinge bekommen. Ich soll ihr im Haus zur Hand gehen, bis der Kaiserschnitt verheilt ist und sie allein zurecht kommt. Eigentlich sollten die Zwillinge ja erst nächste Woche kommen, deswegen muss ich jetzt etwas früher los.“ Ich nicke lediglich und nehme einen Schluck aus der Tasse.

„Kann ich dich denn allein lassen, ohne dass du wieder irgendwelchen Blödsinn machst?“

„Wie lange wirst du denn weg sein?“

„Zwei bis drei Wochen auf jeden Fall.“ Zwei bis drei Wochen allein mit den beiden Schwuchteln, das kann was werden. Wer soll uns eigentlich essen kochen? Wir werden verhungern und in einem Berg Dreckwäsche ersticken. Bei der Vorstellung, wie es bei Robins Rückkehr hier aussehen wird, muss ich schmunzeln.

„Was ist jetzt, kann ich guten Gewissens fahren?“

„Keine Sorge, ich hab schon früher nur mit Jungs zusammen gewohnt. Wir kommen schon zurecht.“ Moment, habe ich? Woher kommt auf einmal diese Gewissheit?

„Daran erinnerst du dich?“

„Keine Ahnung. Stimmt es denn?“

„Robin, kommst du?“ Lui kommt zu uns, er trägt den Koffer aus dem Schlafzimmer unter dem Arm. Robin wird uns also wirklich verlassen. Obwohl mich ihre Fürsorge bisher immer erdrückt hat, ist es eine seltsame Vorstellung, dass sie nun ganze drei Wochen nicht um mich sein wird.

„Ja, komme sofort!“ Robin kommt noch einmal zu mir. Sie gibt mir einen Kuss und sieht mich streng an.

„Mach keinen Unsinn und hilf den anderen Beiden bei der Hausarbeit. Ich will nicht in Arbeit ersticken, wenn ich wieder komme.“

„Kann ich nicht versprechen“, lache ich sie an. Sie straft mich mit einem mahnenden Blick, dann geht sie zu Lui.

„Danke das du mich extra fährst, wo du doch gerade erst aus der Nachtschicht heim gekommen bist.“

„Ach was, ich muss sowieso zum Hafen.“

„Zum Hafen?“

„Ja, ich muss da jemanden abholen.“ Luis Blick streift mich. Ein verschwörerisches Lächeln bildet sich in seinen Mundwinkeln. Ich ziehe eine Augenbraue fragend hinauf. Er wird doch nicht noch einen Hund anschleppen, oder?



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