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Prince and Pea

A nohrian reenactment. Kind of.
von
Koautor: Arcturus

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I‘ll do what no one else can!

„Denkst du, du kannst mich mit Gulaschsuppe bestechen?“

Normalerweise lautete die Antwort nicht ‚Ja‘, sondern ‚Wie viel?‘ und gezahlt wurde in ganzen Mahlzeiten.

Beide Brüder starrten auf die dampfende Terrine, die Jakob zwischen sie gestellt hatte. Es war zweifellos eine seiner besten Suppen, mit ebenmäßig geschnittenen Rindfleischwürfeln, besonders vielen Tomaten und einem Klecks Sahne. In der Regel wäre Leo allein vom Geruch, der aus der Schüssel aufstieg, das Wasser im Munde zusammengelaufen.

Der heutige Tag entsprach nicht der Regel.

Er presste die Lippen aufeinander.

„Ich kann und werde heute keine Antwort von dir erwarten“, antwortete Xander ihm, die Stimme gesenkt und betont sachlich. „Ich wünsche mir lediglich, dass du mich ausreden lässt.“

Neben ihnen griff Jakob nach einem Weißbrot und tat so, als würde er ihr Gespräch nicht einmal hören. Mit routinierten Bewegungen schnitt er den Laib in dicke, fluffige Scheiben. Die Kruste knackte bei jedem Schnitt und verströmte dabei den Geruch von frisch gebackenem Brot.

Leo zog die Augenbrauen zusammen.

Es wäre gelogen gewesen, hätte er behauptet, er habe nicht mit diesem Gespräch gerechnet. Er hatte es bereits erwartet. Wenn ihn eines überraschte, dann nur, dass Xander sich damit so viel Zeit gelassen hatte.

Doch das hieß nicht, dass es ihm deshalb auch nur einen Deut besser gefiel.

„Vor einem Jahr hätte ich sehr viel dafür gegeben, sie unter Brynhildrs Ranken zu begraben und ihnen dabei zuzusehen, wie sie langsam ersticken. Sie alle.“

„Wir waren im Krieg.“

Die steilen Falten zwischen seinen Augenbrauen wurden tiefer. Der Geruch von Gulasch wich dem Geruch von Schweiß, Feuer, versengten Haaren.

„Das waren wir“, presste Leo zwischen seinen Zähnen hervor. „Ich hätte beinahe ein Loch in ihren zweiten Prinzen gebrannt.“

„Wir haben in der Vergangenheit alle Dinge getan, die wir nicht tun wollten.“

Leo blickte von der Terrine auf, die Farbe der Suppe plötzlich unerträglich. Ein stummes Flehen spiegelte sich in Xanders Augen. Ein Flehen, das Xander wohl bedacht aus seiner Stimme hielt.

„Ich wollte es tun, Xander. Jede Geste, jeden Zauber. Und wäre Vater nicht gefallen, hätten sie nicht– Ich hätte noch viel mehr als das getan. Erwarte nicht von mir, dass ich das vergesse. Erwarte nicht, dass die Hoshiden es tun.“

„Leo.“

Erst jetzt bemerkte er, dass er, aus Ermangelung von Brynhildr – die Zeiten, in denen er den Folianten selbst beim privaten Essen mit seinen Geschwistern bei sich trug, waren hoffentlich endgültig vorüber – nach dem bereitliegenden Messer gegriffen hatte. Entgeistert starrte er es an.

Einen Moment lang war ihm, als starre das Messer zurück.

Betont langsam legte er es zurück an seinen Platz zwischen Suppenlöffel und Teller. Er schlug die Augen nieder.

„Verzeih. Ich habe mich gehen lassen.“

Am Rande seines Blickfelds sackte sein Bruder ein klein wenig in sich zusammen.

„Ich bin derjenige, der um Entschuldigung bitten muss. Ich verlange dir zu viel ab.“

Leo ließ seinen Blick zurück zu der Gulaschsuppe gleiten, doch das bisschen Appetit, das er sich seit dem Beginn ihres Gesprächs bewahrt hatte, war ihm vergangen.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein“, erwiderte er. „Du hast recht.“

Den Blick immer noch gesenkt, sah Leo nicht mehr, als Xanders rechte Hand, die, zur Faust geballt, neben dem Besteck ruhte. Die Anspannung in seinen Fingerknöcheln verstärkte sich. Leo wusste, dass sich seine Fingernägel in seine Handfläche bohrten – das Überbleibsel vergangener Unsicherheiten, die Leo nur aus Erzählungen kannte.

Plötzlich, fast so, als habe er Leos Blick gespürt, lockerte Xander seinen Griff. Es war eine kontrollierte Geste. Behutsam löste er Finger für Finger, bis er seine Hand, Handfläche nach oben, auf den Tisch legte.

Auch ohne Xanders Gesicht zu sehen, ahnte Leo, dass seine Züge zarter geworden waren, die Stirnfalten weniger prominent, die Lippen weniger fest aufeinander gepresst, der Blick weicher. Mehr sein Bruder, weniger sein König.

Entschieden sah Leo auf.

Beide Brüder tauschten einen Blick, der Leos Vermutungen bestätigte. Es war sein Bruder, der seinen Blick erwiderte, nicht sein König. Und so ungelegen dieser Umstand für ihr Gespräch auch kam, sorgte er doch dafür, dass er sich ein wenig entspannte. Er spürte förmlich, wie die Spannung in seinen Schultern ein wenig nachließ.

„Nohrs politische Lage ist prekär“, warf Leo ein, bevor einer von ihnen auf die Idee kommen konnte, das Thema fallenzulassen. „Die Politik der letzten Jahre hat unsere Bündnisse innenpolitisch wie außenpolitisch zerrüttet und der Krieg zu viele Verbündete in fremde Lager getrieben. Die, die blieben, stehen deinem Kurswechsel kritisch gegenüber. Eine sichere Allianz mit Hoshido würde nicht nur unsere Ostgrenze stabilisieren, sondern auch das Vertrauen in den Grenzmarken stärken. Zudem ist sie als Grundlage für die Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen nicht nur mit Hoshido unabdingbar. Wenn eine Heirat diese Allianz erschließen kann, dann soll es so sein.“

Xander nahm sich Zeit, bevor er antwortete. Leo spürte, wie er ihn studierte, seine Haare, seine Mimik, seinen Kragen, der hoffentlich nicht falsch herum war. Er mochte es nicht, so genau gemustert zu werden, hatte es nie gemocht, doch er wusste es besser, als jetzt ungeduldig zu werden. Auch dann, wenn sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufstellten und vor Nervosität kribbelten.

„Wie lange hast du dich auf dieses Gespräch vorbereitet?“

Die Wahrheit war – komplex.

Fakt war, bei den Verhandlungen, die seit Kriegsende stattfanden, hatten sowohl die nohrischen als auch die hoshidischen Delegierten das Thema einer möglichen, politischen Ehe bislang so strikt gemieden, wie die Teilnahme an einem Best Hair Contest.

Fakt war aber auch, dass es bei den Verhandlungen beinahe seit der ersten Stunde im Raum stand, wie der sprichwörtliche rosafarbene Wyvern.

Seitdem die hoshidische Königsfamilie ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten zu Xanders Krönungsjubiläum zugesagt hatte, verfolgte es Leo bis in den Schlaf.

„Eine Weile.“

Sein Bruder spürte die Lüge, das sah Leo an Xanders Blick, doch die Rüge blieb aus.

„Ich bleibe dabei – ich werde heute keine Entscheidung von dir erwarten.“

„Und dafür bin ich–“

Ein Aufschrei drang durch die Tür.

Leo war in Bewegung, noch bevor er vollständig verstand, was geschah. Automatisch griff er nach der Halterung, in der er Brynhildr normalerweise bei sich trug. Das vertraute Gefühl von Leder und Eisenbeschlägen unter seinen Fingern blieb aus. Erst, als er ins Leere fasste, erinnerte er sich daran, Brynhildr in seinen Gemächern gelassen zu haben.

Einen Wimpernschlag später hörte er Niles, seine Stimme durch die Tür zu gedämpft, um Worte auszumachen. Eine andere Stimme antwortete ihm, ebenfalls zu undeutlich. Nur den Tonfall hörte er dieses Mal heraus.

Nicht panisch. Nur empört.

Weitere Schreie blieben aus.

Trotzdem griff er nach einer Waffe. Bewusst, dieses Mal, nicht nach Brynhildr, sondern nach dem Stahlschwert, das an seiner Hüfte ruhte. Er trug es nur des Ranges wegen, trotzdem beruhigte das Gefühl des Schwertgriffs unter seiner Hand seinen Puls. Unsicher warf er einen Blick zu Xander.

Beinahe hätte er geglaubt, sein Bruder habe sich nicht gerührt, hätte er nicht das Fehlen seiner Schwerthand auf dem Tisch bemerkt.

„Elise“, stellte Xander fest, die Stimme zu rau, um beruhigend zu sein.

Leo nickte.

Einen Moment lang lauschte er dem Gespräch vor der Tür. Als er sich sicher war, dass Niles seinem Befehl Folge leisten würde, richtete er seinen Stuhl. Er wusste, jetzt wo Elise ihre Heimlichtuerei bemerkt hatte, blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Nicht, wenn sie wollten, dass Elise nicht mehr Obszönitäten lernte, als unvermeidbar war.

Er setzte sich wieder.

„Jedenfalls – wenn nicht ich, wer dann? Du?“, Leo schnaubte. „Machen wir uns nichts vor. Wenn wir den nohrischen Adel wieder an die Königsfamilie binden wollen, wird dir nichts anderes übrig bleiben, als eine ihrer Töchter zu heiraten.“

Xander öffnete den Mund zum Protest, doch Leo war nicht bereit, sich ins Wort fallen zu lassen. Er hob die Hand, wie sein Bruder es früher immer getan hatte, wenn seine Geschwister stritten. Es funktionierte.

„Die Nohren werden keine Hoshidin als ihre Königin akzeptieren. Das weißt du so gut, wie ich. Nicht jetzt, nicht nach dieser Niederlage. Bleiben Camilla, Elise, Azura und ich.“

Er knickte den Daumen seiner immer noch erhobenen Hand ein. Xander verfolgte die Geste mit einem Stirnrunzeln, doch er schluckte den Protest.

„Elise wäre eine vernünftige Wahl, wäre sie ein paar Jahre älter. So jedoch fehlt ihr die politische Erfahrung und die nötige Reife. In einer politischen Ehe würde sie heute kaum mehr sein, als ein Spielball in den falschen Händen.“

Xander runzelte noch immer die Stirn, finsterer, jetzt. Der Streit vor der Tür wurde lauter, doch für den Moment ignorierten sie ihn beide.

„Sie aus dem Haus zu schicken, zu einem Mann, den sie weder kennt, noch liebt“, antwortete sein Bruder ihm schließlich, den Blick auf seiner Hand, „kannst du genauso wenig wie ich.“

„Natürlich kann ich das nicht.“ Unzeremoniell knickte Leo den kleinen Finger ein. „Sie ist unsere kleine Schwester. Ich könnte mir das nie verzeihen – und Camilla uns auch nicht.“

Leo suchte Xanders Blick nicht, aber er ahnte auch so, woran sein Bruder bei der Erwähnung von Camilla in diesem Kontext dachte. Es war scharf, zur besseren Handhabung auf einen Stahlschaft montiert und hörte auf den betörenden Namen Ruby Glimmer.

„Was Camilla selbst anbelangt, so hat sie sicher die Erfahrung, an der es Elise noch mangelt. Ich bin auch zuversichtlich, dass sie die Bürde auf sich nehmen würde und kann, aber wir kennen ihr Temperament.“

Erneut blitzte Ruby Glimmer vor seinem inneren Auge auf. Doch so befriedigend die Vorstellung einer Axt im Schädel eines bestimmten Hoshiden auch war, so sehr war ihm daran gelegen, eine derartige Eskalation zumindest zum jetzigen Zeitpunkt zu vermeiden. Ein Blickwechsel mit Xander bestätigte seine Sorge. Ohne einen weiteren Kommentar krümmte er auch den Ringfinger.

„Bei Azura hingegen hege ich keine Zweifel, dass sie mit einem hoshidischen Ehemann auskommen würde und sie besitzt zweifellos genügend Kalkül, um sich durchzusetzen. Dafür fehlt ihr der Rückhalt hier in Nohr.“

Gerne hätte Leo behauptet, dass ihr nur der Rückhalt des nohrischen Adels fehlte, doch er sah keinen Sinn darin, Xander – und sich selbst – etwas vorzumachen. Ihre Stiefschwester mochte nach dem Krieg, nach dem Ende ihrer und Corrins Zeit als Geiseln, nach Nohr zurückgekehrt sein, doch das allein machte sie kaum zu einer der ihren. Und so sehr Leo im vergangenen Jahr auch den Kontakt zu ihr gesucht hatte, war die Distanz zwischen ihnen doch kaum geringer geworden.

Er bog auch den Ringfinger zur Faust.

„Bleibe ich übrig. Ich habe im Krieg Entscheidungen getroffen, wegen derer mir viele Hoshiden nach wie vor grollen. Ich bin nicht der charismatische Prinz in strahlender Rüstung, den sich eine Prinzessin Sakura sicher erhofft. Ich werde es nie sein. Und du hast selbst mit angesehen, was aus meinem kläglichen Versuch einer Liebesheirat geworden ist.“

Über Selena zu sprechen, schmerzte noch immer. Alles aus einer sachlichen Perspektive zu sehen half, aber nicht viel.

„Leo–“

„Was ich sagen will ... Ich mag nicht die perfekte Wahl sein, vermutlich nicht einmal die richtige. Aber ich bin deine – Nohrs –“

„Leo.“

Xanders Einwurf war nicht lauter, als der erste. Es war der Tonfall, der Leo zum Schweigen brachte. Ohne seinen Satz zu beenden, schloss er den Mund. Suchend musterte er Xanders Mimik, doch er konnte nicht sagen, ob aus ihm sein Bruder oder sein König sprach.

„Was ich sagen will“, erwiderte Xander, als er sich seiner Aufmerksamkeit sicher war, „ist – danke. Ich bin unendlich dankbar, dich an meiner Seite zu haben. Du bist nicht nur einer der besten, sondern auch mein treuester Berater. Ich schätze deine Entschlossenheit genauso, wie ich deine Opferbereitschaft bewundere. Ich weiß, dass ich mich blind auf dich verlassen kann.“

Leo spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, doch er unterbrach seinen Bruder nicht. Zu gut taten seine Worte, zu sicher vertrieben sie die Zweifel, die an ihm nagten, zumindest für den Augenblick.

„Ich weiß allerdings auch, dass es Opfer gibt, die ich weder als dein König, geschweige denn als dein Bruder von dir verlangen kann. Diese Entscheidung ist deine, nur deine, und ich möchte, dass du sie mit Bedacht triffst. Die hoshidische Königsfamilie wird die nächsten Wochen in Nohr verbringen. Ich möchte, dass du dich während dieser Zeit um sie kümmerst. Ich bin mir sicher, du weißt diese Gelegenheit zu nutzen.“

Leo schloss die Augen und atmete tief durch. Zugegeben, mit dieser Anweisung hatte er rechnen müssen, spätestens seit Beginn ihres Gespräches. Er wusste auch um die Notwendigkeit. Das jedoch machte die Vorstellung, den hoshidischen Gästen in den nächsten Wochen jeden Wunsch von den Augen ablesen zu müssen, nicht reizvoller. Nicht bei den Gästen, die sie erwarteten.

Er öffnete den Mund.

Das Klicken des Türschlosses ließ Leo verstummen, noch bevor er seine Worte in Gedanken formulieren konnte. Er hatte gerade noch genügend Zeit, den Kopf zum Eingang zu drehen, bevor die Tür gegen die Wand knallte.

Camilla ignorierte es. Hoch erhobenen Hauptes und die Arme vor der Brust verschränkt stolzierte sie in den Raum. Ruby Glimmer schwang im Takt ihrer Schritte, ein bedrohliches Schimmern auf der Klinge. Jedes Klackern ihrer Absätze kündete von Ärger.

Leo blinzelte. Einmal, dann noch einmal.

„Verzeiht, Mylord“, hörte er Niles aus der Vorhalle rufen, „Die Axt war schärfer als das Wort.“

We‘re not done yet!

Es war keine gute Taktik.

Eigentlich war es gar keine Taktik.

Sich vor dem Tisch aufzubauen, einen Arm in die Hüfte gestützt, den anderen um Elises Schultern gelegt, zählte nicht unter Taktik, da war Leo sich sicher.

Es funktionierte trotzdem.

Es funktionierte selbst dann, wenn er die viel zu scharfe Axt ignorierte, die in Camillas Hüftgurt ruhte – und das tat Leo. So sauer Camilla auch war, so sehr sie Niles damit auch bedroht haben mochte, sie würde sie nicht ziehen. Nicht gegen ihre Brüder.

Ihr Tonfall war ohnehin scharf genug.

„Ich finde es nicht in Ordnung, unsere arme Elise vor der Tür stehen zu lassen“, erklärte sie, im Brustton der Überzeugung. „Also, redet. Oder muss ich Jakob fragen?“

Okay.

Vielleicht war es doch eine Taktik.

Keine sonderlich gute, hoffte er. Der Einzige, dem Jakob bislang absolute Treue gegenüber gezeigt hatte, war Corrin – gewesen. Corrin, der jetzt wahrscheinlich unter den Kirschbäumen in Shirasagi saß und seine wiedergewonnene Heimat genoss. Corrin, der–

Leo zwang sich dazu, den Gedanken fallen zu lassen. Skeptisch warf er Xander einen Blick zu, doch dieser erwiderte ihn nur mit einem Stirnrunzeln. Beinahe synchron sahen sie weiter zu ihrem Diener.

Dieser jedoch ignorierte sie alle – Xander, ihn. Camilla. Die schluchzende Elise. Azura, die in der offene Tür stehen geblieben war. Niles, der sich gerade an ihr vorbei schob, um bloß nichts zu verpassen. Ruby Glimmer.

Beflissentlich öffnete Jakob nun eine Weinflasche, das Timing sicher mit Kalkül gewählt. Mit aller Seelenruhe griff er nach Xanders Kelch und goss ihm ein. Leo hätte ihm die Scharade abgekauft, hätte er nicht das leichte Zittern gesehen, als er den Kelch wieder abstellte.

Erneut blickte Leo auf, erst zu Xander, dann zu Camilla. Er entschied spontan, dass es keine gute Idee war, Jakob zu fragen.

„Wir haben eine mögliche Eheschließung zwischen mir und einer hoshidischen Prinzessin diskutiert.“

Leo konnte förmlich spüren, wie die Stimmung kippte.

Zum ersten Mal, seit sie Camilla in den Speisesaal gefolgt war, war es Elise, die den Kontakt zu ihrer Schwester suchte. In seinem Augenwinkel sah er, wie sie sich in Camillas Umarmung lehnte.

Camilla selbst zog die Stirn kraus. Eindeutig überrascht, verlagerte sie ihr Gewicht auf das anderes Bein. Selbst Ruby Glimmer wirkte plötzlich weniger bedrohlich, als vielmehr fehl am Platz. Der Entschluss, beiden Brüdern eine Standpauke zu halten, verpuffte mit der Bewegung. Zumindest vorerst.

Hinter den Beiden machte Azura einen hastigen Schritt zurück.

„Welche von beiden?“

Es waren nur drei Worte, doch mit jedem davon, kehrte ein wenig von Camillas Entschiedenheit zurück.

„Das wird sich zeigen“, warf Xander ein, die Stimme betont beherrscht. „Bitte, setzt euch.“

Es war keine Antwort, die Camilla gefiel. Einen Moment lang musterte sie erst Leo, dann Xander. Schließlich schürzte die Lippen, sagte jedoch nichts. Sie musste auch nicht aussprechen, woran sie dachte – Leo wusste es auch so. Zu gut erinnerte sie sich an die ersten Nächte nach Ende des Krieges, die sie zusammen auf Schloss Krakenburg verbracht hatten. An die Nächte und an die wütenden Beschwerden über die ältere der beiden Hoshido–Schwestern, die er sich hatte anhören dürfen. Denen er mehr als einmal zugestimmt hatte.

Mit einem letzten Blick zu Leo drückte sie Elise noch einmal an sich, dann löste sie sich von ihrer Schwester und folgte Xanders Bitte.

Das Holz ihres Stuhles kratzte über die Steinfliesen, als Jakob ihren Stuhl zurecht rückte.

Während sie um den Tisch herum schritt und sich schließlich setzte, ließ sie Leo nur kurz aus den Augen und das auch nur, um der Suppe einen argwöhnischen Blick zuzuwerfen.

„Denkst du wirklich, das funktioniert?“

Xander zuckte nicht zusammen, doch Leo sah den schuldbewussten Blick, mit dem sein Bruder nun seinerseits die Suppe musterte.

Leo schüttelte den Kopf, doch er wusste es besser, als sich da jetzt einzumischen. Stattdessen blickte er zu Elise, die noch immer ein wenig verloren neben dem Tisch stand. Zu seiner Überraschung suchte sie seinen Blick.

„A–aber kannst du überhaupt heiraten?“, fragte sie leise. „Was ist m–mit mit Selena?“

Schuldbewusst zuckte Leo zusammen. Der Impuls, den Blickkontakt zu brechen, war da, doch er widerstand ihm, wenn auch mühsam. Elise war seine Schwester – sie verdiente es nicht, dass er sie mied. Oder anlog.

„Selena hat sich für ihre Heimat entschieden und ich mich für meine“, antwortete er ihr. Die Erinnerung an die letzten Gespräche tat weh, doch er wusste auch, nicht nur mit Blick auf Elise, dass er richtig entschieden hatte. „Sie wird nicht zurückkehren, das habe ich akzeptiert. Es wird Zeit, dass ich wieder nach vorne schaue.“

Elise nickte knapp, doch sie wirkte nicht überzeugt. Ihr Lächeln war dafür zu dünn. Zu sehr ließ sie die Schultern hängen. Das übliche Strahlen in ihren Augen fehlte.

Jakob nutzte den Moment, um ihren Stuhl für sie zurecht zu rücken. Kurz drehte sie den Kopf zu dem Diener, als sie das Kratzen des Stuhls hörte, doch sie setzte sich nicht. Leo konnte sehen, wie sie die Lippen aufeinander presste, unschlüssig.

„Wenn–“, begann sie, brach dann aber ab.

„Ja?“

Erneut suchte sie seinen Blick, doch dieses Mal hielt sie ihm nicht stand.

„Wenn– Wenn du diese Prinzessin heiratest ... Du– du wirst uns nicht verlassen, o–oder?“

Das ... saß.

Leo schluckte, doch der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte nicht weichen.

„Oh, Elise, du Dummerchen. Als wenn ich das je könnte.“

Er lächelte, versuchte es zumindest, auch wenn es ihm ziemlich schief geriet. Entschieden streckte Leo die Hand nach ihr aus – und Elise verstand die Geste. Zwei Schritte, dann schlang sie ihre dünnen Arme um seinen Nacken. Er zog sie zu sich.

„Wir haben nur über die Möglichkeit gesprochen“, sagte er gegen ihre Stirn. Vage war er sich bewusst, dass Xander und Camilla ihre Diskussion darüber, ob man ihren kleinen Bruder mit Gulaschsuppe bestechen sollte, beigelegt hatten, um sie zu beobachten. „Wir haben nur beschlossen, dass ich die Festlichkeiten dazu nutzen werde, mich mit den Prinzessinnen bekannt zu machen. Ich werde ihnen das Schloss und Windmire zeigen. Ihren Brüdern natürlich auch. Vielleicht ergibt sich ja gar nichts.“

Sie schniefte gegen seine Schulter.

„U–und wenn doch?“

„Dann bekommst du eine neue Schwägerin und wir feiern die bunteste Hochzeit, die Windmire seit Jahren gesehen hat.“

„Aber ihr geht nicht nach Hoshido?“

„Vielleicht besuchen wir es mal. Dann bringe ich dir einen hübschen Kimono mit.“

„Versprochen?“

Zur Antwort lachte er leise.

„Versprochen. Du kannst mir helfen, wenn du möchtest.“

„Denkst du?“

„Es wäre nicht schicklich, würde ich die Damen auf ihre Gemächer begleiten. Außerdem wette ich mit dir, dass sie sich für Xanders Jubiläum hübsch machen wollen. Das könnte dir gefallen. Von bunten Kleidern hast du sowieso mehr Ahnung, als ich. Und Prinzessin Sakura ist in deinem Alter. Vielleicht werdet ihr ja Freunde.“

Elise nahm den Kopf von seiner Schulter, gerade genug, um ihn ansehen zu können. Entschieden wischte sie die Tränen fort.

„Wir könnten ihnen die Türme zeigen“, sagte sie leise. „Wenn die Nacht sternenklar ist, können wir vielleicht die Nordlichter sehen. Und wir müssen ihnen Katharinas Gärten zeigen und Daisys Stall. Oh und natürlich die Bibliothek. Aber nur, wenn du vorher aufräumst!“

Wenn er–

„Hey! Die Bibliothek ist nicht unordentlich!“

Die Röte, die ihm ins Gesicht stieg, strafte seine Worte Lügen. Hilfesuchend blickte er zu seinem Bruder, doch der hob nur skeptisch die Augenbrauen.

„Als ich das letzte Mal in der Bibliothek war, stapelten sich dort Bücher auf deinem Lieblingstisch.“

„Xander, das ist nicht hilfreich.“

„Und neben deinem Lieblingstisch auch.“

„Xander!“

Statt einer Entschuldigung erhielt Leo nur ein Lachen. Es war ein tiefes, ruhiges Lachen, eines, das Xander sich für seine Geschwister vorbehielt. Nach einem Moment des Zögerns stimmte Elise mit ein. Selbst Camilla kicherte.

Nur Azura, die sich still auf ihren Platz gesetzt hatte, lachte nicht. Vermutlich aus Taktgefühl. Doch auch in ihren Augen sah Leo es verdächtig funkeln.

„Ihr seid gemein.“

„Sieh es ein, mein kleiner, süßer Bruder. Du bist auf verlorenem Posten.“

Stöhnend legte Leo den Kopf in den Nacken. Er bereute es einen Atemzug später, als sein Blick den von Niles traf. Er hatte nicht gehört, wie sein Getreuer hinter ihm Stellung bezogen hatte, aber vielleicht hätte er besser daran getan, es zu tun.

„Noch habt Ihr die Gelegenheit, die Bücher zurück ins Regal zu räumen, Mylord“, raunte Niles ihm zu, mit diesem süffisanten Grinsen, das Leo nur dann mochte, wenn es sich gegen andere richtete. „Außer natürlich, Ihr wünscht, dass die Hoshiden sehen, womit Ihr Eure schlaflosen Nächte verbringt.“

Mittlerweile, da war Leo sich sicher, sah er aus, wie eine Tomate. Entgegen aller Unterstellungen, die Niles sicher auf Lager gehabt hätte, hätte er es angesprochen, war es kein angenehmes Gefühl.

Obwohl er ihm bereits auf den Lippen lag, schluckte Leo weiteren Protest herunter. Er wusste, egal, was er jetzt auch sagte, es würde gegen ihn verwendet werden. Ihm blieb nur die Flucht nach vorn.

Mit einem Ruck setzt er sich gerade hin. Langsam ließ er den Arm, den er um Elises Schultern gelegt hatte, sinken.

„Jakob, bitte fülle die Suppe auf.“

Zugegeben, sein Fluchtversuch klang selbst in seinen Ohren verzweifelt. Und nicht sonderlich clever. Schlimmer noch. Er kam zu spät.

„Schlaflose Nächte?“, hörte er Elise unter dem Klappern der Terrine fragen. „Was für schlaflose Nächte denn?“

Über seine Schulter hinweg warf er seinem Getreuen einen finsteren Blick zu.

„Ich habe mich die letzten Nächte vielleicht ein wenig festgelesen“, versuchte er zu retten, was zu retten war. „Geschichtsbücher. Berichte. Erzählungen.“

Niles bemühte sich nicht um eine Antwort. Einerseits war sein anzügliches Grinsen, das Leo mehr in seinem Nacken kribbeln spürte, als tatsächlich in seinem Augenwinkel sah, Unterstellung genug. Anderseits übernahm Elise – fast, als habe sie sich mittlerweile zu viel von seinem Getreuen abgeschaut – die Aufgabe mit wachsender Begeisterung. Vergnügt löste sie sich von ihrem Bruder und ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen.

„Was waren das für Geschichten?“, fragte sie und fügte, ohne Luft zu holen, hinzu: „Hast du sie als Vorbereitung für unsere Gäste gelesen? Für die Prinzessinnen?“

Natürlich. Leo wusste, wie Elise ihre Frage meinte.

Theoretisch.

Praktisch wirkte die Frage mit Niles‘ fadenscheinigem Lächeln in seinem Nacken nicht einmal aus ihrem Mund unschuldig. Selbst dann nicht, wenn Niles die nicht elisefreien Implikationen nur dachte, statt sie auszusprechen.

„Ja“, antwortete er. „Gewissermaßen.“

Wenn er dabei zu gequält klang, hörte Elise es offenbar nicht, auch wenn sie damit die einzige war. Azura schaute hastig auf ihren Teller, kaum, das sie Leos Aufmerksamkeit auf sich spürte. Und obwohl Xander sich tief über seine Suppe beugte, sah Leo den undeutbaren Blick, den sein Bruder mit Camilla tauschte, sehr wohl.

Elise jedoch schenkte seinem Tonfall keine Beachtung. Gerade beobachtete sie Jakob dabei, wie er eine große Kelle voll Gulaschsuppe auf ihren Teller gab. Ohne einen Tropfen zu verschütten oder die Suppe auch nur auf den Tellerrand schwappen zu lassen, stellte er ihn vor ihrer Nase ab. Neugierig beäugte sie den Klecks Sahne, den Jakob dazu tat, und schnupperte am aufsteigenden Dampf.

„Hmmm! Jakob, das riecht köstlich!“

In seinem Augenwinkel sah Leo, wie Jakob sich verneigte.

„Euer Lob ist mir eine Ehre, Mylady Elise. Seid versichert, dass sie auch geschmacklich all eure Erwartungen zufriedenstellen wird.“

„Das hoffe ich doch!“

Entschieden griff sie nach ihrem Löffel. Auch wenn er keinen Hunger hatte, tat Leo es ihr gleich. Immerhin konnten sie das Thema schlecht weiter verfolgen, wenn sie alle den Mund voll hatten. Und vielleicht kehrte sein Appetit ja beim Essen zurück.

Zu spät bemerkte er, dass sie den Löffel, statt ihn in ihre Suppe zu tunken, gedankenverloren an ihr Kinn tippte.

„Denkst du“, fragte sie, „die Bücher werden dir bei der Auswahl helfen?“

Beinahe hätte Leo, den Löffel bereits an den Lippen, seine Suppe quer über den Tisch gespuckt. Er tat es nur nicht, weil er von seinen Getreuen – seinem Getreuen, korrigierte er sich – schlimmeres gewohnt war. Und man Gulaschsuppe nicht vergeudete.

Eilig, bevor Elise sein Zögern merkte, steckte er sich den Löffel in seinen Mund. Eine Ahnung von Tomaten und Rinderfleisch breitete sich auf seiner Zunge aus, ging aber in der Erkenntnis darüber, wie heiß die Suppe noch war, unter. Er verzog das Gesicht, schluckte aber trotzdem. Er spürte die Brühe noch in seiner Speiseröhre brennen.

Mit Tränen in den Augen drehte Leo sich ihr zur.

„Ah! Heiß– Bei der Auswahl wobei?“

Es war mehr ein Japsen als eine Frage, doch Elise kicherte trotzdem.

„Bei der Wahl zwischen Prinzessin Hinoka und Prinzessin Sakura, natürlich, du Dummi!“

Leo erstarrte.

In seinem Augenwinkel linste er zu Xander, doch der mied seinen Blick. Verräter.

„Ich d–denke nicht.“ Verdammt, seine Zunge fühlte sich taub an. Er schluckte, aber das machte es nicht besser. „Ich habe mir nur mögliche Gesprächsthemen angelesen.“

„Oh.“

Aus unerfindlichen Gründen ließ Elise plötzlich die Schultern hängen. Sie senkte den Blick zurück auf ihre Suppe. Sogar ihre Zöpfe wirkten schlaffer, auch wenn das eigentlich gar nicht möglich war.

Leo spürte Camillas Blick auf sich, doch er war selbst zu beschäftigt mit der Frage, was er falsch gemacht hatte, um sich auch noch davor zu fürchten.

„Elise?“, fragte er leise.

Sie sah nicht von ihrem Teller auf.

„Und ich dachte, du machst es wie der Prinz in den Märchen.“

Oh. Oh–oh.

Leos Wissen über Märchen war in etwa so begrenzt, wie sein Interesse an fiktiver Literatur, aber er kannte die Art von Märchen, die Elise gerne las. Sie war voll von Feen, Rittern auf weißen Pferden und Prinzen, die sich ganz sicher nicht die Zunge an ihrer Lieblingssuppe verbrannten.

Nichts davon erschien ihm sonderlich hilfreich, besonders nicht im Fall der hoshidischen Prinzessinnen. Trotzdem, es war Elise, nicht Odin Niles, die den Vorschlag vorgebracht hatte. Und da war immer noch Camillas Blick, der über ihm hing, wie die Klinge einer Axt.

Nein, Leo wusste, dass er hier diplomatisch vorgehen musste.

„Ich denke, die Prinzen aus den Märchen, die ich kenne, wären mir keine große Hilfe“, gestand er, darauf bedacht, möglichst interessiert zu klingen. „Mir fällt da nur Prinz Georgej ein, der auszog, den Wyvern zu erschlagen. Ich nehme an, ihn meinst du nicht?“

Er nahm es nicht nur an – Leo hoffte es inständig. Doch Elise schaute ihn nur irritiert an.

„Prinz Georgej? Aber, wie kommst du denn auf den? Der passt doch gar nicht zu dir!“

Gedanklich atmete Leo auf.

„Oh, nun, es ist das erste Märchen, das mir einfällt, nichts weiter. Und du musst zugeben, es mangelt uns an Monstern, die ich für das Wohlergehen der Damen erschlagen könnte.“

Abgesehen von Daisy vielleicht – und Camilla würde ihn erschlagen, sollte er ihrem Lieblingswyvern auch nur eine Schuppe krümmen. Nicht, dass er von sich aus auf die dumme Idee kommen würde, sich dem bissigen Vieh auch nur einen Meter mehr als zwingend erforderlich zu nähern. Nicht freiwillig.

„Oh, ja“, stimmte Elise zu, „außerdem klingt das eher nach Xander als nach dir.“

Auf der anderen Seite des Tisches beugte Xander sich weiter über seinen Teller. Die beiden Brüder tauschten knappen Blick. Stumm kamen sie zu der Übereinkunft, das es besser war, den Prinzen zu wechseln.

Leo räusperte sich.

„Nun, auch ihm fehlt es an Monstern, Elise. Aber sag, an welchen Prinzen hattest du denn gedacht?“

„An Prinz Innozenz, natürlich!“

Prinz Innozenz. Natürlich. ... Bitte wer?

Über seinem Teller sah Xander in etwa so irritiert drein, wie Leo sich fühlte. Nur Camillas Laune besserte sich schlagartig, zumindest, wenn man dem wissenden Blick Glauben schenkte, der sich in ihre Augen schlich. Leo hoffte inständig, dass es nur damit zusammenhing, dass das Leben ihres Wyvern nicht mehr zur Debatte stand, aber das dünne Lächeln, das um ihre Lippen spielte, ließ ihn Schlimmeres befürchten.

Auch Elise musste seinen irritierten Blick bemerkt haben. Jedenfalls seufzte sie theatralisch. „Prinz Innozenz, Leo. Komm schon, du kennst ihn. Jeder kennt dieses Märchen!“

Leo hätte gern behauptet, dass es ihm siedend heiß einfiel – doch da war nichts.

Nichts, außer Niles Räuspern, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ.

„Sie meint das Märchen von der Erbsenprobe, Mylord“, verkündete sein Getreuer in einem Tonfall, der Leo nichts gutes ahnen ließ. Er sah Niles‘ süffisantes Grinsen nicht, doch er hörte es in seiner Stimme. „Es ist bei den Adeligen in Eurem Alter sehr beliebt, habe ich gehört.“

Auch mit dem Namen des Märchens blieb die Erkenntnis bei Leo aus. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Märchen über Erbsen gelesen zu haben. Abgesehen vielleicht von der Geschichte, in dem ein Mädchen Erbsen – oder waren es Linsen gewesen? Oder Bohnen? – aus einem Haufen Asche hatte sammeln sollen. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass in diesem Märchen ein Prinz namens Innozenz vorgekommen war.

Hilfesuchend blickte er zu seinen Geschwistern, doch von denen war keine Hilfe zu erwarten. Xander hatte plötzlich mehr Interesse an seiner Gulaschsuppe, als an einem weiteren Blickkontakt mit seinem Bruder. Camillas Lächeln hatte sich zu einem unheilvollen Grinsen, das dem von Niles sicher in nichts nach stand, ausgewachsen. Selbst Azura lächelte und es war ein besonders wissendes Lächeln.

„Worum geht es in der Erbsenprobe?“, fragte er und es graute ihm schon jetzt vor der Antwort.

Zu seiner Überraschung war es nicht Elise, die antwortete. Camilla war schneller.

„Um Prinz Innozenz, mein lieber, unschuldiger Bruder“, erklärte sie mit einem besonders süßlichen Tonfall. So viel hatte Leo sich zwar selbst zusammenreimen können, doch er wusste es besser, als das jetzt laut anzumerken.

„Prinz Innozenz wollte unbedingt eine Prinzessin heiraten. Also reiste er landauf, landab quer durch Nohr, auf der Suche nach der richtigen Prinzessin. Doch kein der Damen, die er traf, erfüllte seine Ansprüche. Die eine war, so stellte sich heraus, entgegen ihrer Worte von niederer Geburt. Die nächste benahm sich wie eine Schankmaid. Eine andere war die Tochter eines verfeindeten Fürsten seines Vaters, die ganz nach ihrem Vater kam. Wieder eine andere war hässlich wie ein besonders runzeliger Rettich aus Hoshido. Enttäuscht kehrte er nach langer Suche allein nach Haus zurück. Während eines Sturmes klopfte jedoch ein Mädchen an das elterliche Tor und bat um ein Bett für die Nacht – eine Prinzessin. Sie hatte alles, was er auf seiner Reise gesucht hatte: Gutes Benehmen, das richtige Aussehen und ein reines Herz. Nur der Beweis für ihre Herkunft fehlte ihr. Und so prüfte der Prinz, ob sie wirklich die richtige Frau für ihn war.“

„Lass mich raten“, warf Leo ein, dem so langsam dämmerte, worauf die Geschichte hinauslaufen würde. „Er prüfte sie mit einer Erbse?“

Seine Schwestern nickten einstimmig.

„Genau!“, flötete Elise. „Er legte sie unter ihre Matratzen.“

Gut, vielleicht ahnte er den weiteren Verlauf der Geschichte doch nicht so gut voraus, wie er angenommen hatte. Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch.

„Und?“

„Und?“, wiederholte Camilla, immer noch lächelnd. Es war ein sehr zufriedenes Lächeln. Ein Lächeln, das er sonst normalerweise bei Daisy sah, wenn sie eine besonders fette Kuh verspeist hatte. „Das ist die Probe, mein süßer Bruder. Es heißt, nur eine Prinzessin – die richtige Prinzessin – könne einen winzig kleinen Gegenstand unter all den Matratzen spüren. Also ließ er eine Erbse unter ihre Matratzen legen. Am nächsten Morgen fragte er sie, wie sie geschlafen habe. Ihre Nacht aber war ganz furchtbar gewesen. Etwas, das in ihrem Bett lag, habe sie die ganze Nacht aufs schlimmste gedrückt, aber sie habe die Ursache nicht finden können. Und als er das hörte, da wusste er, er hatte recht.“

„Und dann hat er sie geheiratet?“

„Genau!“

Elise nickte so heftig, dass ihre Zöpfe im Takt wippten. Ihr Lächeln wäre beinahe ansteckend gewesen. Wäre – hätte Leo sich nicht noch daran erinnert, weshalb die Mädchen ihm das Märchen überhaupt erzählten.

„Und warum“, fragte er, auch wenn er die Antwort bereits zu glauben ahnte, „ist ausgerechnet dieses Märchen bei den jungen Adeligen so beliebt?“

„Es enthält Betten“, säuselte Niles hinter ihm. „Ich meine natürlich – sie eifern dem Prinzen nach, Mylord.“

Elise, die die Anspielung hoffentlich überhört hatte, nickte zustimmend. „Es heißt, so könne man die wahre Liebe finden, Bruder!“

Ja.

Genau so etwas hatte er befürchtet.

Es kostete ihm alle Willenskraft, seinen milde interessiert wirkenden Gesichtsausdruck beizubehalten.

„Elise“, begann er vorsichtig, „es tut mir wirklich leid, das zu sagen, doch ... man spürt eine einzelne Erbse nicht, wenn sie unter den Matratzen liegt. Das ist physikalisch nicht möglich.“

Elise reagierte – leider – genau so, wie er es befürchtet hatte. Noch während er sprach, verschränkte sie die Arme vor der Brust und verzog trotzig den Mund. Hätte sie ihn mit Blicken erdolchen – oder zumindest pieksen – können, er hätte sicher ziemlich gelitten.

„Natürlich ist das möglich!“

Entgegen besseren Wissens seufzte er schwer.

„Ist es nicht Elise, und das weißt du ganz genau. Ich könnte dir eine ganze Handvoll Erbsen unter deine Matratzen tun, und du würdest es nicht bemerken.“

„Ich bin ja auch nicht deine wahre Liebe!“

„Du könntest es nicht einmal, wärst du es.“

„Beweis es!“

„Ich soll dir Erbsen unters Bett schütten?“

„Nicht ihr“, mischte sich zu allem Überfluss nun auch Camilla wieder ein. „Unseren Gästen.“

Leo stöhnte entgeistert.

Er wusste, dass das keine gute Idee war. Selbst wenn sie schlechter schliefen, als sonst, würde das nur der fremden Umgebung geschuldet sein. Weder Prinzessin Hinoka, noch Prinzessin Sakura würden irgendetwas unter ihrer Matratze spüren. Schon gar keine Erbse. Das Experiment war zum Scheitern verurteilt. Das einzige Ergebnis, das es hervorbringen würde, würde eine enttäuschte Elise sein.

Doch Leo wusste noch etwas: Wenn die Frauen aus seiner Familie eins waren, dann war es stur.

Ob er jetzt auf die Beiden einredete, oder mit Daisy sprach – es käme aufs gleiche heraus.

Entnervt schloss er die Augen. Er wusste, er würde das alles noch bereuen.

„Niles“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Tu es einfach.“

Such a nuisance!

Mit Pegasi nach Windmire reisen zu wollen, war zu keiner Jahreszeit eine besonders gute Idee.

Über den Plan, es ausgerechnet im Frühjahr zu tun, zu einer Zeit, in der unbeständige Westwinde die letzten, eisigen Stürme der Saison über das nur langsam tauende Land peitschten, hätte jeder vernünftige Nohre die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Doch Xanders hoshidische Gäste waren keine vernünftigen Nohren. Vermutlich besaßen sie nicht einmal einen vernünftigen, nohrischen Reiseführer.

Vier Tage vor Beginn der Feierlichkeiten – drei Tage und einen Schneesturm nach dem ursprünglich vereinbarten Termin – stand Leo, zusammen mit Niles, im ersten Hof von Schloss Krakenburg. Schweigend richtete er den Pelzumhang seiner Rüstung gegen die Windrichtung und hob den Kopf. Die Krone des Kronprinzen von Nohr, ein kühles Band aus schwarzem Stahl, ruhte über seinen Schläfen. Vielleicht zum ersten Mal, seit Xander sie ihm vor knapp einem Jahr verliehen hatte, störte sie ihn nicht. Zu beschäftigt war er damit, sich die Ankunft der hoshidischen Königsfamilie in seine Erinnerung zu brennen.

In der Luft mochten die Pegasi majestätisch wirken, doch die eisige Kälte der letzten Apriltage und unberechenbaren Böen zwangen die wärmeliebenden Tiere zum Marsch durch schmelzenden Schnee und Eis. Ihrer natürlichen Anmut beraubt, trotteten knapp drei dutzend weiße Pegasi, eines nach dem anderen und mit hängenden Köpfen, durch das Haupttor. Unter ihren Flügeln, die die Tiere instinktiv eng an ihren Körper schmiegten, wirkten ihre Paraderüstungen matt und stumpf. Das sonst strahlend weiße Fell glänzte höchstens vor Dreck.

Die Reiter indes sahen aus, als seien sie an ihren Sätteln festgefroren. Zwischen den weißen Pegasusflügeln sah Leo zitternde Dienstmädchen und Getreue, die bei jedem Windstoß erbärmlich schlotterten. Selbst die Mitglieder der königlichen Familie hoben sich höchstens durch besonders dicke Umhänge aus unpassenden, beim letzten Kälteeinbruch eilig zusammengekauften, Fellen von ihren Untergebenen ab. Nicht einmal Prinz Ryoma wirkte in seiner roten Rüstung besonders beeindruckend – nur klamm und unbedeutend.

Kurzum: Leo genoss jeden Augenblick.

Er genoss es, einem Getreuen – der ihm nicht nur unbekannt, sondern auch ein eitler Gockel war – dabei zuzusehen, wie er über das schneebedeckte Kopfsteinpflaster zu seiner Prinzessin stolzierte, nur um auf dem letzten Meter ins Rutschen zu geraten und sich panisch an den nächstbesten Pegasus zu klammern.

Er genoss es, wie die andere Prinzessin hoch erhobenen Hauptes und mit stolzgeschwellter Brust in eine besonders tiefe, besonders kalte Pfütze trat und daraufhin nicht besonders königlich über Nohr und die Welt schimpfte.

Und besonders genoss er es, als Prinz Takumi aus seinem Sattel rutschte und mit einem spitzen Schrei in einem Berg voller Schneematsch landete.

Noch vor einer halben Stunde hatte Leo damit gerungen, ob er bei der Begrüßung der Gäste lächeln sollte, wie Elise es ihm angeraten hatte, oder besser nicht. Jetzt schlich sich das Lächeln beinahe wie von selbst auf seine Lippen – es wirkte nur vielleicht nicht ganz so höflich, wie es hätte wirken sollen.

Sogar die altbekannte Nervosität, mit der Leo zwar seit jeher gerungen, mit der er sich aber nie näher als unbedingt notwendig auseinander gesetzt hatte, und die ihm noch in der Nacht zuvor den Schlaf geraubt hatte, wurde erträglich. Xanders Trick mit den Kaninchen hatte sich bei Leo nie bewährt. Immer, wenn er sich jemanden als Kaninchen vorstellte, erinnerte er sich an Elises vierten Geburtstag, das von Camilla verschenkte Kaninchen und die scharfen Zähne desselben.

Den Hoshiden dabei zuzusehen, wie sie an typisch nohrischem Wetter verzweifelten, wirkte hingegen überraschend beruhigend.

Seine innere Ruhe hielt, bis Kronprinz Ryoma selbst von seinem Pegasus glitt. Beinahe, als habe das Auftreffen seiner Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster eine Wirkung, die über davonspritzenden Schneematsch hinaus ging, verpuffte jedes Konzept von Ruhe schlagartig.

Ohne den nohrischen Witterungsverhältnissen oder dem Chaos seiner Untergebenen viel Aufmerksamkeit zu schenken, drückte er seinem Getreuen, einem grimmig dreinschauenden Ninja, dessen Namen Leo nicht kannte, die Zügel in die Hand. Mit selbstsicheren Schritten stakste er auf Leo zu. Knapp einen Meter vor ihm blieb er stehen.

Einen langen Moment, der den Lärm des Vorhofes zu schlucken schien, musterte die beiden Kronprinzen einander. Prinz Ryoma überragte ihn, trotz des Wachstumsschubs des letzten Jahres, noch immer um beinahe einen halben Kopf. Selbst in seiner dreckigen, roten Reiserüstung und mit dem Umhang aus billigem Fuchsfell wirkte er von nahem imposanter, als Leo es sich von sich selbst jemals erhoffen konnte.

Die altgewohnte Nervosität flammte wieder auf und versetzte dem aufkeimenden Hochgefühl in Leos Brust einen herben Stich.

Steif verneigte Leo sich in einer Geste, die er ursprünglich für die Friedensverhandlungen eingeübt hatte: Den Blick fest auf einen Punkt oberhalb von Ryomas Kinn gerichtet und nur so weit, wie es angesichts ihres Ranges gerade noch respektvoll war.

„Kronprinz Ryoma“, presste er hervor, bemüht, sich weder von seiner Nervosität noch von seiner Abneigung gegenüber einem Teil der Gäste etwas anmerken zu lassen. Er konnte nur hoffen, dass Ryoma seinen Tonfall, sollte er diesen bemerken, auf die Kälte schob, statt nach den Ursachen zu forschen. „Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise.“

Eigentlich war es ein Wunder, dass ihm die Floskel nicht ebenso im Halse stecken blieb, wie sein Lächeln. Wobei, wenn er an Ryoma vorbei zu dessen rutschendem und fluchendem Bruder schaute – vielleicht auch nicht.

Prinz Ryomas Miene blieb unverändert finster, doch in seinen Augen funkelte es verdächtig.

„Sie war recht erfrischend.“ Es war eine diplomatische Lüge. Leos Gegenüber zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Wir haben auf dieser Reise viel über das nohrische Klima gelernt. Bitte verzeiht unser spätes Eintreffen, Kronprinz Leo. Es freut mich, Euch wiederzusehen.“

Prinz Ryoma verneigte sich nicht.

Wie bereits bei den Verhandlungstreffen in Izumo streckte er ihm stattdessen die Hand entgegen. Leo zögerte – ebenfalls, wie in Izumo – einen Wimpernschlag lang, dann ergriff er die ihm dargebotene Hand. Die Finger seines Gegenübers waren klamm und kalt, der Griff zu fest, doch Leo schätzte die vertraute, nohrische Geste.

„Wir haben die Gastquartiere nach Euren Wünschen vorbereitet und die Feuer entzündet. Wenn Ihr erlaubt, geleite ich Euch dorthin, bevor König Xander Euch empfängt.“

Ryomas düstere Miene – Leo, der die Mimik des Anderen dank der letzten Treffen kannte, schloss nicht mehr aus, dass sie unter den kalten Böen schlicht eingefroren war – hellte sich beinahe unmerklich auf.

„Zu einem heißen Feuer und trockener Kleidung kann ich nicht nein sagen. Sagt, habt Ihr auch Tee? Ich habe gehört, in Nohr gibt man Aromen hinzu. Stimmt das?“

Obwohl er Ryomas Neigung zu Verstößen gegen das Hofprotokoll mittlerweile ebenso kannte, wie sein Mienenspiel, traf die Frage Leo unvorbereitet. Jedoch kam er nicht dazu, eine Antwort zu formulieren.

Prinz Takumi hatte den Kampf mit der Schneewehe und dem glitschigen Kopfsteinpflaster vielleicht nicht gewonnen, aber beendet. Durchnässt und grimmig erschien er neben seinem Bruder und verschränkte die Arme vor der Brust. Leo zog es vor, den abschätzigen Blick des Anderen zu ignorieren, doch das gelang nicht ganz. Nun, da er nicht mehr wie ein unbeholfender Pinguin über den Hof watschelte, hatte er auch seine positive Wirkung auf Leos innere Ruhe verloren.

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Ryoma war Leo ihm seit Kriegsende nicht mehr begegnet. In dem Jahr, das seitdem vergangen war, hatten sie sich beide verändert. Die Veränderungen, die Leo an seinem Gegenüber auffielen, waren subtil – Takumi war, wie er selbst, gewachsen, sie waren nun beinahe auf einer Augenhöhe, und die Haare, die Leos Zauber ihm versengt hatte, hatten beinahe ihre ursprüngliche Länge zurückgewonnen.

Doch Leo ahnte – wusste – dass der Argwohn, mit dem Prinz Takumi ihn bedachte, nicht diesen Veränderungen geschuldet war. Er sah es in der Art, wie er die Krone auf Leos Kopf und den Folianten an seinem Hüftgurt musterte, und wie sein Blick immer tiefer glitt. Er fühlte sich nicht ganz unschuldig daran.

Den Blick auf Leos Füße gerichtet, räusperte Takumi sich. Er hatte einen aufdringlichen Tonfall, der nicht nur Leo, sondern auch Prinz Ryoma dazu brachte, seinem Blick zu folgen. Zu dritt starrten sie auf den grob geglätteten Marmor unter Leos Füßen.

„Sind wir so angsteinflößend“, fragte er, die Stimme eine Mischung aus gespielter Höflichkeit und Verachtung, „dass Ihr es nötigt habt, Euch hinter einer Drachenader zu verstecken, Prinz Leo?“

Die Nervosität, die in seinen Adern pulsierte, machte einen Hüpfer. Leo spürte, wie sich sein Puls überschlug. Es war nicht die Feststellung selbst, die ihn verärgerte – er hatte erwartet, dass die Hoshiden die Drachenader bemerkten, um die der Hof gebaut worden war – sondern vielmehr die Art, wie der Takumi sie vorbrachte.

Die Wahrheit war: Er versteckte sich nicht hinter der Drachenader.

Er versteckte sich hinter den Soldaten auf den Wehrgängen und Türmen.

Bogenschützen und Söldner, nur die Besten und dreimal so viele, wie üblich. Leo wusste, wie dumm es war, sein Leben von einer Drachenader abhängig zu machen – die Lektion hatte er gelernt und er hatte sie teuer bezahlt.

Allerdings hätte Leo sich eher etwas abgeschlagen, als seinem Gegenüber das auf die Nase zu binden.

„Für Furcht besteht kein Grund“, erwiderte er kühl. Er suchte keinen Augenkontakt. Stattdessen ließ er seinen Blick auf Prinz Takumis roten Händen ruhen. Ohne die Handschuhe, die er nach dem Sturz ausgezogen hatte, wirkten sie steif und kalt. „Unsere Reiche sind durch den Friedensschluss von Izumo gebunden. Gewalttätige Übergriffe gehören der Vergangenheit an. Außerdem habe ich mir sagen lassen, dass sich die aktuellen Witterungsverhältnisse nicht positiv darauf auswirken, eine Bogensehne zu spannen.“

Noch im selben Moment realisierte Leo, was er gesagt hatte – doch da war es längst zu spät, um seine Worte zurückzunehmen.

Ruckartig sah sein Gegenüber auf. Ryoma warf ihm – ihnen beiden – warnende Blicke zu, doch Prinz Takumi ignorierte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als täte er dies bereits seit Jahren. Mühsam ballte er die Hände zu Fäusten.

„Ob ich einen Bogen spannen kann, geht euch nichts an!“, fauchte er, blass vor Wut. Mit einem Blick zu seinem Bruder fügte er, etwas kontrollierter, hinzu: „Wie Ihr schon sagtet, es gibt keinen Grund, dergleichen zu tun.“

„Ihr habt gewiss recht, Prinz Takumi“, flötete Niles, der das Gespräch bislang stillschweigend verfolgt hatte, unvermittelt. „Mir fallen eine Reihe deutlich interessanterer Dinge ein, die ihr mit Euren Händen tun könntet. Gesetzt den Fall, ihr habt das nötige Fingerspitzengefühl dafür.“

Leo hoffte, dass Prinz Takumi Niles‘ Anspielung nicht so obzön auslegte, wie sie intendiert war. Er hoffte es wirklich.

Nur – er hatte kein Glück.

Prinz Takumi wurde erst noch blasser als ohnehin schon und dann, als die Implikationen einsickerte, sehr, sehr rot.

„Was–“, stammelte er, „Was fällt dir eigentlich ein–?!“

Leo unterdrückte ein Stöhnen. Das war die falsche Frage.

Die komplett falsche Frage.

„Nun, mir ist kalt. Ihr seid heißblütig. Ihr wisst schon, mein Prinz.“

Takumi öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus.

Wie Niles kannte auch Leo das Temperament des Prinzen fast ausschließlich vom Schlachtfeld, doch er ahnte, was kommen würde.

Kommen musste.

Und im Gegensatz zu Niles legte er es nicht darauf an. Nicht vor Takumis großem Bruder und dem zukünftigen König von Hoshido.

„Ein gut gemeinter Rat, Prinz Takumi“, warf er dazwischen, bevor selbiger die Sprache wiederfinden konnte. „Zieht euch keinen Stiefel an, der Euch nicht passt.“

„Nass, wie sie sind, sollte er sie lieber ausziehen, Mylord.“

Leos spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Xander, das war ihm klar, würde nicht begeistert sein, wenn er von diesem Gespräch hörte. Noch weniger begeistert würde er sein, würde er hören, dass Leo es überhaupt zugelassen hatte. Skeptisch blickte er von einem Hoshiden zum anderen.

Als Antwort verschränkte Ryoma die Arme vor der Brust und erwiderte seinen Blick. Etwas Herausforderndes spiegelte sich in seinen Augen, doch ob es von Zorn oder von Belustigung herrührte, war bei ihm immer schwer zu sagen.

Was Takumi anbelangte, so war dieser weit einfacher zu lesen. Und wenn Leo ihn richtig las, würde er von seiner Seite keine Beschwerde fürchten müssen, nicht vor Ryoma, nicht vor seiner großen Schwester und erst recht nicht vor Xander. Nicht, weil er aussah, als würde er sich nicht beschweren wollen – nur, als würde er die Sache gleich persönlich lösen.

„Niles“, presste Leo hervor, bevor Takumi den Entschluss fassen konnte, zu prüfen, ob er in der Lage war, seinen Bogen zu spannen, „ich möchte, dass du den Dienern unserer Gäste ihre Unterkünfte zeigst.“

Prinz und Getreuer wechselten einen Blick, zwei stumme Fragen, einen unausgesprochenen Befehl und eine Reihe von wortlosen, nur teilweise obszönen Seitenhieben. Schließlich verneigte Niles sich.

„Seht es bereits als erledigt an, Mylord.“

Er entfernte sich.

Unwillkürlich atmete Leo auf. Zu spät bemerkte er, dass die Sache für Prinz Takumi damit noch nicht erledigt war.

„Wenn Ihr schon nur einen Getreuen mit Euch bringt, hätte es nicht der andere sein können?“

Jegliche Erleichterung, die hätte sein können, verabschiedete sich sang– und klanglos. Leo entglitten die Gesichtszüge, doch in diesem Moment bemerkte er es nicht.

Odin.

Owain.

Fast war ihm, als könne er ihn hören, ihn, sein großes Mundwerk, die gewichtigen Beschwörungen. Ihn. Laslow. Selena.

Er biss die Zähne aufeinander.

„Es gibt keinen anderen Getreuen.“

„Nicht?“ In Takumis Blick spiegelte sich eher Irritation als Spott, doch dafür war Leo in diesem Moment blind. „Was ist mit dem mit der Hand? Fluch der Finsternis? Schrecken, der die Nacht durchflattert? Wo ist der?“

Der Kloß, der sich in Leos Hals gebildet hatte, wurde größer. Viele Antworten lagen ihm auf der Zunge, doch mehr als ein „Nirgends“ bekam er nicht hervor gewürgt.

Takumis Lippen formten ein „Oh“, doch Leo hörte den Laut nicht. Der Blick des Anderen fragte nach genaueren Erläuterungen, doch Leo war nicht bereit, sie zu geben. Nicht für Ryoma, der dank der letzten Treffen wusste, was auszusprechen nicht zu vermeiden gewesen war. Nicht für Prinz Takumi, den das Ganze noch viel weniger anging. Nicht für Prinzessin Hinoka und Prinzessin Sakura, die just in diesem Moment hinter ihren Brüdern in Sichtweite staksten. Gleich dreimal nicht für Corrin Kamui den Verräter – wie auch immer er sich jetzt nennen mochte – der seinen Schwestern folgte. Noch waren alle drei außer Hörweite. Selbst auf die Entfernung erkannte Leo den Blick, den Prinzessin Hinoka ihm zuwarf und der auch ohne Naginata in der Hand nur wenig freundlicher war, als seinerzeit auf dem Schlachtfeld. Die Art, wie Prinzessin Sakura gleichzeitig zwischen ihren beiden Geschwistern zu verschwinden schien, verbesserte den Anblick nicht, genauso wenig, wie Corrins Kamuis bloße Anwesenheit.

Was auch immer Xander dazu veranlasst hatte, ihn selbst dazu veranlasst hatte, anzunehmen, die Hoshiden könnten ihm die Sache mit dem Feuerzauber zwischenzeitlich verziehen haben – es wirkte offenbar nicht.

Eilig senkte Leo den Blick und sah zurück zu den beiden Brüdern.

„Was Niles betrifft, so war mein Rat ernst gemeint“, sagte er, vornehmlich, um das Thema abzuschließen, bevor sich noch mehr Gemüter daran erhitzen konnten. „Er besitzt ein exzellentes Gedächtnis und er ist dreist genug, um es zu verwenden. In einem Punkt hat er jedoch recht. Nasse Kleidung wird Euch in Nohr keinen Gefallen tun. Ihr solltet Sie wechseln.“

Takumi schnaubte – bei beiden Aussagen.

„Am Besten hier und jetzt, huh?“

„Das habt Ihr gesagt.“

You should‘ve surrendered!

Eine Audienz, drei Gespräche über nohrisches Wetter und ein blaues Auge - Niles‘, nicht Leos - später war er noch immer keinen Schritt weiter. Nur in einem Punkt war Leo sich mittlerweile absolut sicher: Die vor ihm liegenden Festlichkeiten würden sehr, sehr lange Festlichkeiten werden.

Erinnerungen an die unglückseligen Gespräche, die er mit den Hoshiden zu führen versucht hatte, verfolgten ihn bis in den Schlaf. Selbst in seinen Träumen fragte Prinz Takumi ihn nach seinen Getreuen, lächelte Prinzessin Sakura ihr nichtssagendes Lächeln, nannte Corrin Kamui ihn Bruder. Als er schließlich aufwachte, tat Leo es unter Prinzessin Hinokas feindseligem Blick, den Geruch nach Schweiß und Eisen in der Nase und dem Geschmack von Blut auf der Zunge.

Missmutig blinzelte er in trübes Morgenlicht.

Ein paar Lidschläge später verschwand das Gesicht vor seinem inneren Auge und mit dem Anblick auch die Gerüche. Der Geschmack blieb. Vorsichtig tastete Leo mit seiner Zunge die Innenseiten seiner Wangen ab- Die Wunde fand er auf seiner Unterlippe.

Er stöhnte und bereute es einen Moment später, als Kopfschmerzen ihm antworten. Kopfschmerzen und-

„Mylord, raus aus den Federn!“

Niles.

„Wer hat dich reingelassen?“

„Oh, das war ich. Und jetzt steht auf, Ihr seid spät dran.“

Ein viel zu gut gelaunter Niles.

„Verschwinde.“

Statt Niles antwortete ihm das Geräusch sich öffnender Fensterläden. Eine eisige Brise strich wie eine letzte Warnung über sein Gesicht hinweg. Instinktiv zog Leo sich die Decke über den Kopf. Zu spät realisierte er, dass Niles den Schnee nicht werfen würde.

Ein knappes Dutzend Schritte und eine nur beiläufig angehobene Decke später schritt Niles zur Tat.

Leos Schrei hörte man noch bis zu den Gästequartieren.
 

 

Als Leo eine halbe Stunde später in Richtung Speisesaal schlich, zitterte er immer noch.

Nachdem ihn auf den Weg bereits zwei Wachen, ein Dienstmädchen und eine viel zu gut aufgeweckte Peri gefragt hatten, ob alles in Ordnung mit ihm war, war er vorsichtiger geworden. Sorgsam lauschte er auf Schritte und Gespräche, die die Gänge hinab hallten, bedacht, niemandem mehr zu begegnen. Er machte sogar einen Umweg, als er eine Gruppe von Mägden zu den Wäschekammern eilen hörte.

Niles, der ihm nicht nur mit Leichtigkeit folgte, sondern überdies deutlich leiser war, als sein Herr, kommentierte keine seiner Entscheidungen. Das er es mit einem besonders breiten Grinsen, als habe er soeben in die Heldenklasse gewechselt, tat, sah Leo nicht. Vielmehr spürte er es an der Art, wie sein Getreuer sich in jedem Moment, den Leo inne hielt, etwas zu dicht über ihn beugte. Leo ahnte auch, dass Niles diese Nähe nur suchte, um ihm das Grinsen und alles, was es implizierte, noch ein bisschen mehr unter die Nase zu reiben.

Er strafte ihn mit völliger Missachtung.
 

 

Für einen Weg, an dem er an guten Tagen – wachen Tagen – kaum fünf Minuten gebraucht hätte, vertrödelte Leo so eine gute Viertelstunde. Bevor er den Speisesaal, und die Wachen vor ihm, schließlich erreichte lauschte er ein letztes auf Stimmen, doch hinter der Tür hörte er nur das Geklapper von Geschirr und eine fröhlich plappernde Stimme, die Elise gehören musste. Leo atmete tief durch, dann öffnete er die Tür.

Erleichtert stellte er fest, das bislang nur seine Geschwister anwesend waren. Von den hoshidischen Gästen war noch keine Spur und insgeheim hoffte Leo, dass sie das Angebot, die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen, ausschlagen würden.

„Guten Morgen.“

Schwungvoller, als er sich fühlte, trat er ein, Niles wie ein Schatten hinter ihm.

Elise – die Xander tatsächlich in irgendein Gespräch verwickelt hatte, dessen Inhalt sich Leo so früh am Morgen noch nicht erschließen wollte – winkte ihm nur über die Teller hinweg zu, die die Dienstmädchen gerade auftrugen. Ihr gegenüber nickte ihr Bruder ihm nur knapp zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Elise widmete. Es war Camilla, die es an diesem Morgen auf sich nahm, ihn überschwänglich zu begrüßen.

Ihr Kuss, den sie auf seine Wange drückte, war viel zu feucht. Und vermutlich Absicht.

„Guten Morgen, mein lieber, süßer Leo“, flötete sie vergnügt. Für die frühe Stunde klang sie für seinen Geschmack viel zu gut gelaunt, doch Leo war auch ein ausgesprochener Morgenmuffel. „Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Morgen.“

Routiniert löste er sich aus ihrem Griff und schritt um den Tisch herum zu seinem Platz.

Ihre Wortwahl irritierte ihn erst im zweiten Moment. Unter hochgezogenen Augenbrauen und über die hohe Lehne seines Stuhls hinweg warf Leo ihr einen Blick zu und versuchte abzuschätzen, wie viel sie mitbekommen hatte. Angesichts des Lächelns, das um ihre Lippen spielte, kam er zu dem Schluss: Zu viel.

Leo warf einen knappen, aber finsteren Blick über seine Schulter. Niles erwiderte den Blick ohne eine Miene zu verziehen. Mit stoischem Gesichtsausdruck hielt er Leo den Stuhl zurecht, doch Leo wusste, dass das nur Fassade war. Er kannte Niles lang genug, um zu wissen, dass selbiger nur darauf wartete, um aus dem Nähkästchen zu plaudern – insofern Leo ihn ließ.

Leo ließ ihn nicht.

Eine stumme Aufforderung später setzte er sich.

„Er war formidabel, Schwester. Warum fragst du?“

„Wir haben dich schreien gehört“, warf Xander ihm gegenüber ein. „Peri sagte, sie habe dich getroffen und es sei alles in Ordnung, aber …„

Oh, wundervoll.

„Niles hat lediglich das Fenster geöffnet, Bruder.“

„Sicher?“, legte nun auch Elise den Finger auf die Wunde. „Du warst ganz schön laut.“

„Sicher. Das Fenster stand offen. Sicher hat es über den Hof gehallt.“ Natürlich war das nur die halbe Wahrheit, doch er würde seinen Geschwistern ganz sicher nicht erzählen, wo er heute bereits Schnee stecken gehabt hatte. „Sagt, wie war euer Morgen?“

Xander richtete sich ein wenig mehr in seinem Stuhl auf, antworte jedoch nicht – seine Art, ihm zu sagen, dass es keine besonderen Vorkommnisse gegeben hatte. Elise hingegen ging freudig auf den Themenwechsel ein.

„Der war supi! Ich habe von einem Spaziergang unter Kirschblüten geträumt! Und von Erdbeerparfaits! Denkst du, die ersten Erdbeeren in den Gärten sind schon reif?“

Leo, der Katharinas Gärten nur betrat, um zu überprüfen, ob die Zauber, die Nyx und er auf die unterirdischen Gewächshäuser gewirkt hatten, nachgebessert werden mussten, zuckte mit den Achseln. Das Stück Magie, das Königin Katharina ihnen vererbt und das sie nach Kriegsende eher zufällig wiederentdeckt hatten, beeindruckte Leo zwar jedes Mal aufs Neue – doch das bedeutete eben noch lange nicht, dass er deshalb die Wachstumsphasen irgendwelcher Pflanzen abschätzen konnte.

„Du könntest Jakob oder einen der anderen Diener fragen. Sie können dir sicher weiterhelfen.“

Der Versuch, die Verantwortung auf die Dienerschaft abzuschieben, war halbherzig. Zumal gerade Jakob sicher besseres zu tun hatten, als irgendwelchen Erdbeeren beim Wachsen zuzusehen. Elise jedoch schluckte den Köder. Sie nickte begeistert.

„Das werde ich gleich nach dem Essen tun! Ich wette, Sakura mag Erdbeerparfaits so sehr, wie ich!“

Leo antwortete mit einem dünnen Lächeln. Bei seinem ganzen Ärger über den hoshidischen Besuch - mit Prinzessin Sakura hatte er bislang nur leere Floskeln austauschen können, mit Prinzessin Hinoka nur unterschwellige Feindseligkeiten und Prinz Takumi zürnte ihm wegen des Niles-Zwischenfalls noch mehr als üblich - hatte er beinahe vergessen, dass Elise sich am Abend zuvor ausgezeichnet mit Prinzessin Sakura unterhalten hatte. So gut offenbar, dass sie schon jetzt in eigentlich viel zu vertraute Anreden abrutschte. Für einen Moment spürte Leo den Neid auf die Leichtigkeit, mit der seine kleine Schwester neue Kontakte schloss, in sich aufwallen. Eisern schluckte er ihn hinunter.

„Bestimmt tut sie das. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück. Du könntest ihr die Gärten zeigen, was hältst du davon?“

Elise machte große Augen.

„Darf ich denn?“, fragte sie. „Es sind schließlich deine Zauber!“

Nach all den spitzen Seitenhieben, die er am gestrigen Abend zu hören bekommen hatte, juckte es ihm in den Fingern, eben den Hoshiden seine magischen Fähigkeiten unter die Nase zu reiben. Dennoch - die Vereinbarung mit Xander, sich um das Wohl ihrer Gäste zu kümmern, stand nach wie vor. Und so sehr Leo diese Vereinbarung auch mit jedem weiteren Gespräch mehr bereute, so wenig war er gewillt, jetzt von ihr abzuweichen. Wenn das bedeutete, dass er von unnötigen Provokationen absah, dann war dem so.

Außerdem konnte er Elise den Spaß ruhig lassen. Er nickte knapp.

„Ja, geht ihr nur, wenn ihr die Zeit dafür findet.“

„Danke, Leo! Du bist der Beste!“

Noch während sie sprach, fiel seine Schwester ihm um den Hals. Die Wucht genügte, ihn mitsamt seinem Stuhl kippeln zu lassen, doch er lachte nur.

„Vergesst ihr beiden Hübschen nicht etwas?“, säuselte Camilla just in diesem Moment.

Irritiert und beinahe synchron mit Elise blickte Leo auf. In seinem Augenwinkel sah er, wie Xander es ihnen gleich tat.

„Ich wüsste nicht, was“, antwortete Leo zögernd. Ihre Frage weckte das dumpfe Gefühl, tatsächlich etwas vergessen zu haben - etwas essentielles – doch das würde er nicht freiwillig zugeben.

Camilla indes genoss es sichtlich, dass alle Augen auf ihr ruhten. Betont lässig strich sie sich ein paar Locken aus dem Gesicht.

„Nun, Leo, mein Lieber, sag, hast du unsere Gäste auf deinem Weg hierher zufällig schon getroffen?“

Das dumpfe Gefühl wurde drängender, doch Leo konnte sich keinen Reim darauf machen - weder auf das Gefühl selbst, noch auf Camillas Frage.

„Nein, warum fragst du?“

Als spiele er ihr damit in die Hände, wurde ihr Lächeln noch etwas breiter.

„Erinnerst du dich etwa nicht mehr an unser kleines Experiment?“

Ihr kleines-

Oh.

Oh, verdammt.

Leo spürte, wie ihm die Gesichtszüge entglitten.

Elises Miene hellte sich, wenn möglich, noch mehr auf. Sie strahlte förmlich über‘s ganze Gesicht – doch damit war sie auch die Einzige. Neben ihnen vergrub Xander das Gesicht in seiner Hand. Er stöhnte leise.

„Stimmt!“, quietschte seine kleine Schwester begeistert. „Was denkst du, wer von Beiden wird es sein?“

Einen Moment lang war er versucht, es Xander gleichzutun, doch Elise hing ihm immer noch um den Hals. Missmutig starrte er stattdessen an die Decke.

„Keine von beiden, Elise. Wie ich dir bereits gesagt habe: Es ist nicht möglich.“

„Doch, ist es!“

„Elise-“

„Jetzt sei nicht so gemein zu unserer armen, kleinen Elise“, mischte sich nun auch Camilla wieder ein. Leo warf ihr einen finsteren Blick zu, doch sie lächelte nur, als sei sie sich keiner Schuld bewusst.

„Sag schon, wer von beiden wäre dir lieber?“, fuhr sie fort. „Prinzessin Sakura ist eine wirklich süße, kleine Prinzessin, aber ihre Schwester hat Feuer. Und du magst doch Rothaarige.“

Nur Elise zuliebe verzog er nicht das Gesicht.

Er wusste, Camilla meinte es nicht böse. Er wusste auch, seine Schwester vermisste Selena so schmerzlich, wie er es noch immer tat. Dennoch - allein die Implikation, er könnte sich in Prinzessin Hinoka verlieben, weil sie Selena ähnlich erschien, widerte ihn an. Die kurzen Gespräche, die er bislang mit ihr geführt hatten, machten es nicht besser.

Nein, wenn Leo nach seinen bisherigen Eindrücken ging, schnitt Prinzessin Sakura eindeutig besser ab. Nicht zuletzt, weil sie noch nie versucht hatte, ihm mit einem Naginata den Schädel zu spalten und ihn entsprechend auch nicht ständig daran erinnerte.

„Ist das nicht vollkommen irrelevant?“, fragte er. „Für das Experiment, meine ich.“

Nicht für die Wahl seiner zukünftigen Ehefrau – auch wenn es für selbige nach dem gestrigen Tag nicht viel besser stand, als um die Sache mit der Erbse.

„Aber es macht die Sache spannender, wenn du auf ein Ergebnis hoffst, oder?“

Leo seufzte erneut. Er brauchte auf kein Ergebnis hoffen. Er kannte es auch so. Und selbst wenn seine Schwestern aus irgendwelchen, ihm unerfindlichen Gründen recht behielten und sich eine der hoshidischen Prinzessinnen wider erwarten an der Erbse unter ihrer Matratze stören sollte - er hatte besseres zu tun, als irgendeinem Aberglauben zu vertrauen.

„Nein“, antwortete er, „für mich macht es keinen Unterschied. Aber wenn du es so siehst - auf wen hoffst du, Camilla? Du kannst mir nicht ernsthaft weismachen, dass du ausgerechnet auf Prinzessin Hinoka setzt.“

Noch bevor Camilla ihm antworten konnte, fiel Niles' Schatten auf den Tisch vor ihm, während sein Getreuer sich zu ihm beugte.

„Doch, tut sie, Mylord“, flüsterte er ihm zu. Selbst mit gesenktem Tonfall gelang es Niles, die Worte zu säuseln. „Der Einsatz ist höher.“

Beide Geschwister tauschten einen Blick. Camillas strahlendes Lächeln verdüsterte sich nur um eine Nuance und Leo zog die Augenbrauen nur wenige Millimeter zusammen - doch es genügte, um die Fronten zu klären.

„Ihr widert mich an“, raunte Leo seinem Untergebenen zu, darauf bedacht, das nur Niles ihn hörte. „Alle beide.“

In seinem Augenwinkel sah er, wie Niles' Lächeln bei jedem seiner Worte breiter wurde. Daran änderte auch der finstere Blick, den Leo ihm zuwarf, nichts. Entnervt brach er den Augenkontakt ab.

„Ihr ehrt mich zu sehr, Mylord“, flüsterte Niles, kaum, dass Leo sich von ihm abgewandt hatte. Leo reagierte nicht auf ihn - was Niles seinerseits ignorierte. „Bitte bedenkt jedoch folgendes: Eure Schwester hat recht. Es macht das Ergebnis spannender, wenn Ihr auf ein bestimmtes Ergebnis hofft. Also? Was glaubt ihr, wer wird die Erbse spüren? Prinzessin Hinoka oder Prinzessin Sakura?“

Leo verdrehte die Augen.

„Niles …“

Niles lachte.

„Oh, nein, nein, nein, Mylord“, antwortete Niles amüsiert. „Ich habe hervorragend geschlafen.“

Selbst Elise, für die ihre geflüsterte Unterhaltung mittlerweile offenbar laut genug war, um sie mitanzuhören, kicherte.

„Du weißt, wie ich das meine!“

Niles blieb unbeeindruckt.

„Weiß ich das, Mylord?“, raunte er, laut genug, damit alle am Tisch ihn hörten. „Wenn Ihr nicht auf eine der Prinzessinnen hofft, auf wen hofft Ihr dann?“

Auf Ruhe, Frieden und ein anderes Thema, dachte Leo genervt. Erst im zweiten Moment realisierte er Niles' Implikation. Alarmiert hob er den Kopf.

„Die Auswahl beschränkt sich bei diesem Experiment auf Prinzessin Hinoka, Prinzessin Sakura und einen Fehlschlag, Niles“, antwortete er, die Augenbrauen zu einem Strich zusammengezogen.

Neben ihm richtete Niles sich auf.

„Natürlich, Mylord.“

Er lächelte.

Es war ein Lächeln, das Leo das Blut in den Adern gefrieren ließ. Jedes einzelne der feinen Härchen in Leos Nacken stellte sich auf.

„Niles.“

„Mylord?“

„Was hast du–“

Was auch immer er hatte fragen wollen - es blieb ihm im Halse stecken, als hinter der Eingangstür Stimmen laut wurden. Er erkannte nur eine von ihnen.

Sie gehörte Prinz Ryoma.

„Danke, ich finde den Weg“, hörte Leo ihn noch sagen, dann wurden die Flügeltüren aufgestoßen.

Neben Leo setzte Xander sich gerader auf. Leo folgte seinem Beispiel. Er spürte, wie Elise ihre Umarmung löste, sah ihr jedoch nicht dabei zu, wie sie sich auf ihren Stuhl setzte. Zu beschäftigt war er damit, dem hoshidischen Prinzen dabei zuzusehen, wie er das morgendliche Hofprotokoll zum Teufel jagte.

Gerade wedelte er einen der Diener, die ihn erst am Eintreten hatten hindern wollen und nun versuchten, ihm einen Platz zuzuweisen, fort. Leo konnte nicht hören, was Ryoma ihm genau sagte, doch das blasse Gesicht des Dieners sprach Bände.

„Guten Morgen, Xander - ich meine, natürlich, König Xander“, grüßte er gut gelaunt. Wie selbstverständlich - und wahllos - ließ Prinz Ryoma sich auf einen der freien Stühle fallen. Er erwischte Azuras heute früh freien Platz.

Leo zog die Brauen zusammen und linste im Augenwinkel zu seinem großen Bruder. Wenn diesem Ryomas Verhalten sauer aufstieß, so zeigte er es nicht. Lächelnd nickte er erst Ryoma und dann dessen Schwestern zu.

„Guten Morgen, Prinz Ryoma“, grüßte er zurück. Immer noch lächelnd signalisierte er den Prinzessinnen mit einem Wink, sich ebenfalls zu setzen. „Prinzessin Hinoka? Prinzessin Sakura? Ich wünsche Euch ebenfalls einen schönen Morgen. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht?“

Ein Blick in die Runde bestätigte Leo, dass Xander der einzige war, dem das Verhalten nicht befremdlich vorkam, abgesehen von Elise vielleicht, die Prinzessin Sakura gerade freudig zuwinkte.

Ihm gegenüber schürzte Camilla die Lippen. Selbst die beiden hoshidischen Prinzessinnen, die in der Tür stehen geblieben waren, wirkten verunsichert - wenn man bei dem finsteren Blick, den Prinzessin Hinoka jedem Nohren im Raum zuwarf, von ‚verunsichert‘ sprechen mochte, zumindest.

„Ich habe geschlafen Stein“, warf Ryoma ein. „Aber mir war, als hätte ich heute früh jemanden schreien gehört. Ist alles in Ordnung?“

„Oh, das war nur Leo“, antwortete Elise strahlend. „Setzt du dich zu mir, Sakura?“

Leo sah, wie Sakura nickte, doch er hatte dafür keinen Blick. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Gern wäre er unter dem neugierigen Blick, den Ryoma ihm zuwarf, im Erdboden versunken. Die Steinfliesen taten ihm den Gefallen nicht.

„Es besteht kein Grund zur Sorge“, presste er zwischen den Zähnen hindurch, ohne den Blick zu heben. „Es freut mich zu hören, dass Ihr eine angenehme Nacht hattet.“

Ein Stuhl kratzte über Stein. Im Augenwinkel sah Leo gerade noch, wie sich auch Prinzessin Hinoka setzte.

„Mir sind nohrische Betten zu weich“, verkündete sie im Brustton der Überzeugung. Einen kurzen Blicktausch mit ihrem Bruder fügte sie hinzu: „Aber für ein paar Tage wird es gehen.“

Du siehst nicht so aus, als würde es gehen, dachte Leo.

Allerdings sah Hinoka ohnehin so aus, als wäre sie jetzt lieber irgendwo, nur nicht in Nohr. Neben ihr huschte ihre Schwester auf den Platz, den Elise ihr angeboten hatte. Die beiden Mädchen begrüßten einander leise.

Am anderen Ende des Tisches lehnte sich Camilla weiter vor. Leo beobachtete sie dabei, wie sie Hinoka noch einen Moment lang musterte, ihre Aufmerksamkeit dann aber ruckartig zu Sakura verlagerte. Sie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, doch Leo konnte die Hintergedanken in dahinter förmlich sehen.

Unweigerlich folgte er Camillas Blick. Wenn Prinzessin Hinoka gut geschlafen hatte - und offenbar hatte sie das, wenn sie nicht mehr, als weiche Matratzen zu beklagen hatte - blieb nur noch Sakura, die ihn von seinem Wettsieg trennte.

„Prinzessin Sakura? Ihr habt uns noch nicht erzählt, wie Eure Nacht war. Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen?“

Die Angesprochene zuckte zusammen, als habe Camilla sie angeschrien.

„I-i-ich?“, fragte sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Camilla an und öffnete den Mund, ohne, dass ein Ton heraus kam. Hilfesuchend sah sie in die Runde. Als sie merkte, dass auch Camillas Geschwister auf ihre Antwort warteten, schluckte sie mehrfach.

„I-ich habe g-gut geschlafen“, nuschelte sie, so leise, dass Leo sie kaum hörte. „E-es i-ist so r-ruhig, in d-der Nacht. I-in Schloss Shirasagi h-hört man immer jemanden.“

Leo hätte gerne die Gründe dafür erfragt, doch dafür war er zu erleichtert. Neben ihm sackte Elise ein wenig in sich zusammen. Sie lächelte noch, doch Leo sah, wie der Elan aus ihr wich, während die Erkenntnis einsickerte.

Sein Mitleid hielt sich, zumindest für den Moment, in Grenzen. Triumphierend schaute er über den Tisch zu Camilla.

Ha! Er hatte es ihnen gesagt!

Seine Schwester erwiderte seinen Blick. Ihr Lächeln wirkte wie festgefroren, was er als zusätzlichen Pluspunkt verbuchte. Nicht, dass er es ihnen - Elise. Camilla. Niles. Vor allem Niles - gerade jetzt unter die Nase reiben konnte. Doch er wusste, seine Gelegenheit würde kommen. In seinen Gedanken bildeten sich freudig die ersten Formulierungsmöglichkeiten.

Sie kamen genau bis zu Prinz Takumi, der in diesem Moment die Türen zum Speisesaal aufstieß. Ein Diener - der gleiche, der bereits Ryoma hatte einweisen wollen - rief ihm hinterher, doch der Prinz hörte ihn nicht einmal. Wutentbrannt stapfte er durch den Raum. Sein Zopf, sonst so ordentlich gebunden, peitschte wie ein langes Krähennest hinter ihm her. Leo sah die dunklen Ringe unter seinen Augen bereits an der Tür.

Vor dem Tisch blieb Takumi stehen.

„Wenn das ein Scherz ist“, knurrte er, „ist es ein verdammt schlechter!“

Er holte aus und warf.

Ein, zwei, drei, vier kleine Kugeln kullerten über den Tisch. Kleine, grün-gelbe Kugeln.

Eine davon blieb vor Leos Teller liegen.

Leo erstarrte.

Ihm war, als starre die Kugel zurück. Dumpf hörte er Elises überraschtes „Oh“ und das Klirren von Xanders Rüstung. Seine Wangen brannten vor Scham.

Er musste nicht fragen, was passiert war. Leo konnte es sich denken – und er hätte es wissen müssen. Verhindern müssen.

Langsam, ganz langsam, sah er zu Takumi auf.

Das kleine runde Ding vor seinem Teller …

Es war eine Erbse.

Nothing but cinders!

Die Erbsenprobe war ein voller Erfolg.

Für die hoshidisch–nohrischen Beziehungen, nicht für Leo.

Im Nachhinein konnte er nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was Prinz Takumi – und dessen ältere Schwester – davon abgehalten hatte, ihm noch am Frühstückstisch die Gurgel umzudrehen. Er wusste nur, dass die Stimmung plötzlich gekippt war, zumindest plötzlich für ihn, und dass er seitdem mehr Gemüsewitze zu hören bekommen hatte, als er an einem Tag verkraften konnte.

Gehen ein Pfirsich, ein Rettich und eine Erbse ins Kasino …

Mit mehr Wucht, als unbedingt notwendig gewesen wäre, schloss Leo die Bibliothekstüren hinter sich – schloss sich ein, schloss alle anderen aus.

Camilla und ihre unverhohlen gute Laune.

Prinzessin Hinoka, die ihre unterschwelligen – und nicht ganz so unterschwelligen – Feindseligkeiten gegen Zoten über Tomaten eingetauscht hatte.

Elise, die nach einem kleinen Exkurs in die nohrische Märchenwelt zu viele neue Freunde hatte.

Prinz Ryoma und sein Lachen.

Xander.

Niles.

Corrin.

Alle.

Fertig mit dem Schloss, dessen Bewohnern und der Welt, lehnte er sich gegen die schwere Holztür. Auf der anderen Seite hörte er Schritte vorbei eilen, doch sie interessierten ihn nicht. Nicht, solange sie ihn nicht behelligten und das würden sie nicht tun. Nicht jetzt. Nicht hier.

Einen Moment lang ließ er den Raum auf sich wirken. Die Abendsonne tauchte die Bibliothek in gewohnt verwaschenes Licht, das bunte Muster auf den Boden warf. Staubpartikel flimmerten in der Luft, dort, wo das Licht sie traf.

Betont langsam atmete Leo aus.

Zu spät bemerkte er die Person, die ihn von einem der Bücherregale aus beobachtete. Ihr Gesicht war im Gegenlicht kaum auszumachen, doch das musste er auch nicht. Das Haar hätte Leo überall wiedererkannt. Lang und zu einem hohen Zopf gebunden leuchtete es im Licht, das durch die Buntglasfenster fiel, wie eine Krone aus rot und violett.

Es war sein Gegenüber, das die Stille brach.

„Der Erbsenprinz“, der Unmut in seiner Stimme war förmlich greifbar, „und auf der Flucht, huh?“

Leo verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Prinz Takumi“, stellte er fest, nicht erfreuter, als sein Gegenüber. „Mir war nicht bewusst, dass Ihr lesen könnt.“

Beide Prinzen tauschten einen langen Blick.

Leo nahm sich die Zeit, den hoshidischen Prinzen skeptisch zu beäugen. Von seinen leuchtenden Zopf standen noch immer einzelne Strähnen ab, so, als habe er sie nach der letzten Nacht nicht richtig glätten können. Seine Kimono wirkte im Abendlicht fast grau.

„Ihr wollt, dass ich verschwinde.“

Es war keine Frage.

Die erste Antwort, die, die er nicht aussprach, lautete: Ja.

Ja, Leo wollte, dass er verschwand. Es war nicht einmal etwas persönliches, nicht nur zumindest. Die Bibliothek war seit jeher sein Rückzugsort gewesen. Der Ort, an dem ihn niemand suchte, wenn er in Ruhe gelassen werden wollte. In diesem Moment hätte jeder gestört.

Prinz Takumi störte nur besonders.

Leider war die Wahrheit nicht so einfach.

Sie enthielt Witze über Erbsen, die dunklen Ringe unter Prinz Takumis Augen und mehr als eine Verpflichtung.

„Was ich persönlich will, ist unerheblich“, entschied er, auch wenn er fürchtete, dass diese Entscheidung ihm noch Nerven kosten würde. „Ihr erinnert Euch an den Rundgang gestern?“

Er sah kaum, wie Prinz Takumi die Augenbrauen zusammen zog, doch er spürte, wie sein Blick skeptischer wurde.

„Ihr sagtet, die Bibliothek stünde jedem im Schloss offen.“

Leo nickte knapp.

„Und ich meinte es so. Es gab in Schloss Krakenburg schon immer Bibliotheken. Einzelne Zimmer, in denen dieses oder jenes Familienmitglied seine private Sammlung aufbewahrte. Häufig blieben diese Sammlungen auch über ihren Tod hinaus erhalten, doch erst Prinzessin Cassia brachte sie alle hier zusammen. Sie war es auch, die entschied, dass dieser Ort jedem offen stehen solle, dem es nach Bildung verlangt. Seitdem gab es immer jemanden, der sich um die Bücher hier kümmert.“

„Und jetzt seid derjenige Ihr.“

„In der Tat.“ Er warf einen Blick auf die Regale, die er sortiert hatte, die Lücken, die er gefüllt hatte. Hier hatte Brynhildr ihn erwählt. Auch Jahre später erfüllte ihn der Raum mit Stolz, aber auch mit Verantwortung. „Ich werde Cassias Frieden nicht brechen. Also ... bleibt, wenn Ihr wollt.“

Prinz Takumi verlagerte das Gewicht – unbewusst – in Richtung Regal. Überraschung spiegelte sich in seiner Haltung.

Vermutlich wäre es klüger gewesen, den Prinzen mit den Büchern allein zu lassen. Es gab in Cassias Bibliothek kein Buch, das er nicht lesen durfte, höchstens solche, die er nicht lesen konnte. Die Gefahr, dass er etwas stehlen oder zerstören konnte, war zwar gegeben, aber vernachlässigbar gering. Entsprechen wäre es für Leo einfach genug gewesen, sich ein Buch für die Nacht zu greifen und sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. Nur … er war nicht bereit, dem Hoshiden einfach so das Feld zu überlassen.

Kurzentschlossen trat Leo in den Raum.

Er spürte Prinz Takumis skeptischen Blick auf sich, ignorierte diesen für den Moment jedoch. Bedächtig schritt er an der nächsten Regalreihe entlang und einmal zwischen den Tischen hindurch. Jeder Schritt war eine lieb gewonnene Routine.

An seinem Tisch angekommen musterte er die Bücher, die er wegzuräumen nicht gewagt hatte. Er hatte sich letztendlich zwar Elises und Xanders Sticheleien gefügt und zumindest den Großteil wieder zurück in die Regale geräumt, es jedoch nicht übers Herz gebracht, den Tisch komplett zu leeren. Sein Blick glitt über die beiden Geschichtsbücher, die er sich zu lesen vorgenommen hatte. Am dritten Buch, das aufgeschlagen vor seinem Sitzplatz lag, blieb er hängen. Eines der Buntglasfenster warf grünes Licht auf die Seiten, doch er erkannte das Bild, das der Autor gezeichnet hatte, trotzdem. Es zeigte ein Mädchen auf einem Bett mit dutzenden Matratzen. Langes, wirres Haar umrahmte ihr Gesicht und dunkle Ringe hingen unter ihren Augen. Nur die Erbse fehlte in diesem Bild – etwas, von dem Leo wusste, dass der Autor es auf den folgenden Seiten nachholte.

Die Prinzessin sah Takumi, abgesehen von den Augenringen, nicht einmal sonderlich ähnlich. Leo konnte sie, ihr Bett, die Matratzen trotzdem nicht mehr sehen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fragte er sich, welcher Teufel ihn geritten hatte, dem Experiment zuzustimmen – und ausgerechnet Niles die Ausführung zu überlassen.

Ein Blick über seine Schulter verriet ihm, dass Prinz Takumi sich wieder dem Bücherregal zugewandt hatte. Schweigend beobachtete Leo ihn für eine Weile. Den Kopf zur Seite gelegt, las sein Gast die Titel auf den Buchrücken. Im Licht der Buntglasfenster konnte Leo sehen, wie er beim Lesen stumm die Lippen bewegte. Bei einigen Titeln zog er Stirn kraus, bei anderen fuhr er sachte über das alte Leder. Jede seiner Bewegungen wirkte bedächtig, so, als sei es nicht sein erster Ausflug in einer Bibliothek, doch sie waren nicht routiniert genug, um über die Anspannung in seinen Schultern hinwegzutäuschen.

Leo schlug das Buch zu.

Nicht ohne eine gewisse Befriedigung registrierte er, wie Prinz Takumi in seinem Augenwinkel zusammenzuckte. Einen Augenblick lang strichen seine Hände über den Ledereinband, dann griff er nach dem Buch und verließ den Tisch.

Ein paar Schritte später blieb er neben seinem Gast stehen, der ihn argwöhnisch beobachtete.

„Hier“, murrte er und hielt ihm das Buch entgegen.

Sein Gegenüber senkte den Blick. Als er sprach, trof seine Stimme förmlich vor Argwohn.

„Was soll ich damit?“

Leo verdrehte die Augen. Es war nicht schwer, sich für schuldig an dem Frühstücksdebakel zu fühlen und an der durchwachten Nacht des Anderen, aber der missbilligende Tonfall half.

„Seite dreiundvierzig bis siebenundfünfzig.“

Takumi musterte ihn einen Moment lang. Im bunten Licht war es schwer zu erkennen, doch Leo glaubte zu sehen, wie er langsam rot wurde.

„Das kann ich nicht lesen.“

„Nicht?“, echote Leo, doch einen Moment später dämmerte ihm die Erkenntnis. „Ihr sprecht kein Nohrisch.“

Nohrisch war selbst für Leo kaum mehr, als eine Zweitsprache. Schon vor Generationen, in Zeiten, in denen die Spannungen geringer gewesen waren und in denen der Handel florierte, hatte sich zwischen den Ländern eine Gemeinsprache etabliert. Zwar waren diese Zeiten längst dem Krieg zum Opfer gefallen, doch die gemeinsame Sprache war geblieben. Nur auf lokaler Ebene, in den Dörfern und den Slums von Windmire, hatte sich das Nohrische als Umgangssprache erhalten. Dort und in der Literatur.

Cassias Bibliothek war voll mit nohrischsprachigen Werken.

Das Buch in Leos Hand war keine Ausnahme.

Beide Prinzen sahen einander an. Mittlerweile war sich Leo sicher, dass sein Gegenüber rot war, wie eine Tomate. Auch sein finsterer Blick sprach Bände. In Leos Mundwinkel zuckte es.

„Es enthält Bilder.“

Zugegeben, nett war das nicht – und es traf augenscheinlich die gleiche Kerbe, in die Leo bereits einmal geschlagen hatte. Die und einen wunden Punkt.

Der Blick, den Prinz Takumi ihm zur Antwort zuwarf, sprach Bände. Genauso, wie das missmutige „Hrmpf“, mit dem er sich wieder dem Buchregal zuwandte und das Beben in seinen Schultern. Die dunklen Ringe unter seinen Augen, die all das noch finsterer wirken ließen, halfen nicht. Wenn Leo sein Temperament richtig einschätze, fehlte nicht mehr viel, um ihn zu Explosion zu treiben. Es war verlockend.

Es war auch gegen seine Absprache mit Xander.

Gegen seine Absprache mit Xander und gegen sein Gewissen, dass ihn daran erinnerte, wer an dem ganzen Dilemma Schuld war. An dem Dilemma mit der Erbse. An dem Dilemma mit Niles. An dem Feuerzauber.

Leo presste die Lippen zusammen. Schließlich siegte die Vernunft. Er ließ das Buch sinken.

„Es ist das Märchen“, sagte er in die Stille. „Das, von dem Elise Euren Schwestern heute früh erzählt hat.“

Wenn Takumi ihm zuhörte, so zeigte er es nicht. Hätte er mit seinem Blick Papier entzünden können, vermutlich hätte das ganze Regal gebrannt, so grimmig fixierte er einen der dicken Wälzer vor sich.

„Eigentlich ist es eine ziemlich lächerliche Geschichte. Ein Prinz sucht nach einer Ehefrau und reist deshalb von einer potentiellen Verlobten zur nächsten. Keine entspricht seinen Ansprüchen. Zurück daheim klopft während eines Unwetters ein Mädchen an das Schlosstor und er lässt sie ein. Sie genügt den meisten seiner Ansprüchen, aber er will nur eine wahre Prinzessin heiraten. Um zu prüfen, ob sie wirklich eine ist, legt er eine Erbse unter ihre Matratzen und ...“

Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Schließlich brach er ab – er musste nicht aussprechen, was dann passierte. Sie kannten den Teil, beide, viel zu gut.

Neben ihm hatte Prinz Takumi sich nicht einen Millimeter gerührt. Er starrte noch immer auf den Buchrücken von Ton und Glas – die Artefakte des Eisklans.

„Und Ihr spielt den Firlefanz jetzt nach.“

Selbst beim Sprechen biss Prinz Takumi die Zähne so fest aufeinander, dass Leo ihn kaum verstand.

Leo verzog das Gesicht. Er wusste, dass er rot wurde und er hasste es.

„Natürlich nicht!“, fauchte er. „Die Geschichte ist bloßer Humbug, aber sie ist beliebt beim nohrischen Adel. Elise mag sie auch.“

Sein Gegenüber musste ihm nicht sagen, dass er ihm nicht glaubte. Das wusste Leo auch so. Er sah es in dem verächtlichen Blick, den Takumi ihm zuwarf und in der Art, wie er die Fäuste ballte. Und das Schlimmste war – er konnte es ihm nicht einmal verübeln. Immerhin überlegte er tatsächlich, eine seiner Schwestern zu heiraten – wenn auch ganz sicher ohne Erbse.

Er ließ den Kopf hängen und schwieg.

Auch für Takumi war das Antwort genug. In seinem Augenwinkel beobachtete Leo ihn dabei, wie er seinen Blick schließlich von dem Wälzer über Töpferkunst losriss und erneut damit begann, die Buchrücken zu lesen. Er übersprang diverse Bände, etwas, zu dem die nohrische Sprache sicher ihren Teil beitragen mochte. Die Sprache und Leos Anwesenheit.

Spätestens, als er sich zu den unteren Regalreihen kniete, wurde Leo klar, dass er hier kein Buch finden würde – und vielleicht auch gar nicht mehr wollte.

Er wollte es ihm verübeln, doch wenn er ehrlich war, konnte er es nicht. In Hoshido wäre es ihm sicher nicht anders ergangen. Wenn man ihn überhaupt in die Bibliothek gelassen hätte.

Nach dem, was auf den Lavafeldern geschehen war ... vermutlich eher nicht.

Die Lavafelder …

„Es tut mir leid.“

Takumis Kopf ruckte hoch. Er starrte ihn an, doch Leo wich seinem Blick aus.

„Wie bitte?“

„Es tut mir leid“, wiederholte Leo. Seine Stimme hörte sich selbst in seinen Ohren erbärmlich kleinlaut an. „Ich glaube nicht an dieses Märchen. Ich meine ... eine Prinzessin, die eine Erbse unter einem dutzend Matratzen spürt? Die dadurch beweist, dass sie eine Prinzessin ist? Das ist doch bescheuert. Ich wollte Elise und Camilla nur beweisen, dass das Schwachsinn ist. Also habe ich Niles angewiesen, Erbsen unter den Betten von Prinzessin Sakura und Hinoka zu verteilen. Es war ein Fehler und ich hätte nicht ausgerechnet Niles schicken sollen. Ich wollte niemandem den Schlaf rauben. Euren Schwestern nicht und Euch auch nicht.“

Wenn Takumi mit etwas gerechnet hatte – dann nicht damit. Leo sah, wie er die Augenbrauen zusammen zog. Die ganze Geste wirkte misstrauisch, doch im schwächer werdenden Licht war es schwer zu erkennen.

„Solltet Ihr Euch nicht für andere Dinge entschuldigen?“, fragte er leise.

Dieses Mal erwiderte Leo seinen Blick.

„Mich für Dinge zu entschuldigen, die ich nicht bereue, wäre scheinheilig. Doch das seht Ihr sicher ähnlich, oder, Prinz Takumi?“

Einen Augenblick lang sahen sie einander nur an. Dieses Mal war es Takumi, der die Augen niederschlug.

„Ich habe Albträume.“

Überrascht zog Leo die Augenbrauen hoch. Skeptisch musterte er sein Gegenüber, doch der hielt den Blick gesenkt. Mittlerweile war das Sonnenlicht, das durch die Fenster flutete, zu schwach, um sein Haar leuchten zu lassen.

„Immer, seit dem Krieg. Schon davor. Gestern Nacht …“

Er zuckte mit den Achseln, unfähig oder unwillig, es auszusprechen.

„Die Betten hier sind mir zu weich. Ich dachte, ich könnte ein paar der Matratzen zur Seite legen, dabei habe ich die Erbsen gefunden. Ich dachte, einer Eurer Diener hätte sein Mittagessen in mein Bett geschüttet. Ich … jedenfalls … ihr habt recht. Ich habe diese Erbsen nicht gespürt.“

„Oh.“

Leo musterte den Prinzen mit neuem Interesse. Ohne den Lichtschein wirkte er noch miserabler, als beim Frühstück. Dass er immer noch kniete, machte die Sache nicht besser.

„Ihr– ihr müsst mich also nicht heiraten. Allein der Gedanke ist bescheuert.“

Leo verschränkte die Arme vor der Brust.

Die Idee, die sich gerade formte, war in der Tat bescheuert. Mit Sicherheit würde er sie noch bereuen – aber Takumi sah aus, als könne er ein paar Lacher gebrauchen. Und weniger Albträume, aber was den Kampf gegen selbige anbelangte, hatte Leo nicht erst seit seiner Mutter ein paar Tricks auf Lager.

„Ich finde, wir sollten es tun“, sagte er, mutiger, als er sich fühlte.

Das erntete ihm die gewünschte Aufmerksamkeit. Takumi blickte auf – wenn auch nur, um Leo anzustarren, als habe er den Verstand verloren.

„Jetzt schaut mich nicht so an“, antwortete er der stummen Frage in Takumis Blick. „Ich meine, wir sollten so tun, als ob. Nach dem Desaster heute früh glauben doch sowieso alle, sie wüssten alles besser. Und ich habe zumindest mit Camilla und Niles noch eine Rechnung offen. Ihr nicht?“

Takumi verzog den Mund. Im Dämmerlicht war die Bewegung kaum zu erkennen, doch Leo glaubte zu sehen, wie sein Gegenüber Niles' Namen wiederholte. Er wirkte ziemlich grimmig dabei.

„Das glaubt uns doch ohnehin keiner. Wir sind uns nicht einmal ähnlich.“

„Da behauptet Euer Bruder anderes.“

„Mein Bruder glaubt auch an die Geschichte von Orihime.“

Leo schnaubte. Noch war er nicht bereit, jetzt schon klein beizugeben.

„Mein Bruder nicht“, erwiderte er. Das Xander die Geschichte nur nicht glaubte, weil er sie nicht kannte, würde er seinem Gegenüber allerdings nicht auf die Nase binden. „Außerdem frage ich mich mittlerweile, ob sie nicht doch recht haben.“

„Und woran wollt Ihr das festmachen? Daran, dass wir beide Suppe mögen? Es sind ja nicht mal die gleichen Sorten.“

Suppe?

Wie zum Geier kam Takumi ausgerechnet auf Suppe?

Strategiespiele, ja. Geschenkt. Davon hatte Ryoma ihm vor ein paar Monaten erzählt, aber Suppe?

Im ersten Moment konnte Leo sich wirklich keinen Reim darauf machen, wie Takumi ausgerechnet darauf kam. Im zweiten überlegte er, ob er nach dem Rezept fragen sollte. Im dritten verwarf er – vorerst – beide Gedanken.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein“, verneinte er den Vorschlag. „An dem Fakt, dass wir uns beide ausgerechnet in einer Bibliothek verkriechen.“

Vor ihm zog Takumi eine Augenbraue hoch, skeptisch, doch Leo ahnte, dass er die Verbindung zog.

„Ich würde auch ein einzelnes Buch nehmen“, antwortete er vage.

„Oder einen kleinen Stapel, da bin ich mir sicher. Aber wenn das Desaster groß genug ist, dann bevorzugt Ihr eine Bibliothek. Also? Seid Ihr dabei?“

Takumi erwiderte seinen Blick.

„Ich habe tatsächlich noch eine Rechnung offen“, gestand er leise. „Was habt Ihr vor?“

Leo hielt ihm eine Hand hin.

„Oh, ich dachte, du könntest mir bei der Planung helfen.“

Vielleicht hätte er nicht in die persönliche Anrede verfallen sollen, doch es fühlte sich passend an. Vor seinem inneren Auge streckten sich Pläne aus. Im ersten Schritt würde er ein passendes Buch brauchen. Ein Buch und heiße Schokolade. Und vielleicht auch noch dieses Suppenrezept.

Takumi beäugte ihn kritisch – dann schlug er ein und besiegelte damit ihren Packt.

„Einverstanden.“

„Perfekt.“ Leo nickte zufrieden. „Aber zunächst … besorgen wir dir ein erbsenfreies Bett.“

Ugh, not again!

„Takumi“, fragte Leo japsend, „ist das Klee in deinen Haaren?“

Takumi hatte keine Zeit, um es zu überprüfen. Er war zu beschäftigt damit, sich gegen die Tür in seinem Rücken zu pressen. Angestrengt lauschte er nach dem Geräusch von hohen Absätzen auf Mamor.

„Kann sein“, antwortete er, als er nichts hörte. „Was war das?“

„Camilla. Glaube ich.“

Neben ihm stützte sich Leo auf seine Oberschenkel und holte ein paar Mal tief Luft. Er sah fertig aus. Zu fertig für den kurzem Weg von Katharinas Gärten bis hier – wo auch immer hier war.

„Du solltest mehr Kondition haben.“

Leo schnaufte unbegeistert. „Ich bin Reiter, kein Fußsoldat.“

„Und ein Prinz, huh?“, erwiderte er trocken.

Für einen Moment starrten sie einander an, Leo mit finsterem Blick, Takumi mit hochgezogener Augenbraue.

Leo war der Erste, der lachte. Es war nur ein leises Lachen, doch es ließ die feinen Härchen auf Takumis Oberarmen kribbeln.

Noch vor ein paar Tagen hätte er sich nicht träumen lassen, dass man ihn und den nohrischen Kronprinzen allein in einem Raum lassen konnte, ohne das Schlimmste befürchten zu müssen. Nicht zuletzt, weil er mit einem gewissen Groll nach Nohr gereist war, sauer wegen der Sache mit Kamui, sauer wegen des Krieges, sauer wegen dem Feuerzauber. Nie hätte Takumi geglaubt, dass er ausgerechnet mit Prinz Leo auf einen grünen Zweig kommen würde – und doch war irgendwo zwischen Cassias Bibliothek und heißer Schokolade ein Knoten geplatzt.

Grinsend erwiderte er Leos Lachen.

„Immerhin hat es gereicht, um die Mädchen abzuhängen“, sagte er schließlich.

Leos Blick huschte zur Tür. Erst, als auch er nichts hörte, nickte er.

„Weil Elise im Gegensatz zu dir nicht durchs Blumenbeet gestürzt ist.“

„Ich hatte es halt eilig“, murrte Takumi. „Elise hat mich nur gefragt, ob sie mir die Haare flechten darf. Konnte ich ahnen, dass–“

„-sie über dich herfallen, wie ein paar Harpyien?“

Missbilligend schüttelte Leo den Kopf. Sein Blick sprach Bände. Ja, schien er ihm sagen zu wollen. Das und noch mehr. Camilla war schon so, da war ich drei.

Vermutlich war Elise kaum einen Deut besser.

Dennoch nickte Takumi nur dumpf. Zur Antwort seufzte sein Begleiter schwer.

„Ich dachte, Camillas Sticheleien wären Warnung genug gewesen.“

„Hinoka hat mich feige genannt.“

Jetzt, wo die akute Gefahr hoffentlich in einem anderen, weit entfernten Gang verschwunden war, fasste er sich doch ins Haar. Vorsichtig tastete er über seinen Pony. Da war noch alles in Ordnung - aber auch nur da. Die Mädchen hatten seinen Zopf gelöst. Der Flechtzopf, den ihm Elise stattdessen gebunden hatte, saß viel tiefer. Takumi tastete nach den kurzen Strähnen, die für einen im Nacken gebundenen Zopf zu kurz waren, ertastete allerdings etwas ganz Anderes. Es war flach, nachgiebig und nicht sehr groß. Unter seinen Fingern fühlte es sich glatt und klamm an.

Kurzentschlossen zog er daran und musterte das Ding. Es war ein Stengel mit vier gleichförmigen, fast runden, grünen Blättern.

„Du hast recht“, murrte er unglücklich. „Sie haben mir Grünzeug ins Haar gebunden.“

Neben ihm nickte Leo.

„Klee“, verbesserte er ihn betrübt. „Soweit ich weiß, heißt das so viel wie ‚Sei mein!‘ oder so einen Käse. Pflanzensprache hat mich noch nie interessiert.“

„Sei ... mein?“

„Ja. Camillas Idee, da wette ich mit dir.“

Die Erinnerung an Camilla kam wieder hoch. An das Getuschel der Mädchen in den Gärten. An Sakuras hochroten Kopf. An Hinokas Sticheleien. An Camillas wissendes Lächeln ...

Takumi schluckte unwillkürlich.

Sich Katharinas Gärten zeigen zu lassen, war ein Fehler gewesen. Einer, den er hoffentlich nicht wiederholen würde. Vermutlich sollte er einfach alle Orte, die ihre Schwestern toll fanden, meiden.

Skeptisch sah er sich um.

Nein, der Raum, in den sie sich geflüchtet hatten, wirkte nicht wie ein Ort, die die Mädchen toll fanden. Zugegeben, er kannte Elise noch nicht lange – aber er kannte Sakura lange genug. Und mit den zugezogenen Vorhängen wirkte der Raum viel zu finster, mit den massiven Steinwänden viel zu trist, um Sakuras Interesse zu wecken. Die an den Wänden hängenden Schwerter und die monströse Äxte, die höchstens Camilla spannend gefunden hätte, taten ihr übriges.

Neugierig löste Takumi sich von der Tür und trat in den Raum. Sein Weg führte ihn zu einer von knapp zwei Dutzend Vitrinen, die sich in zwei langen Reihen durch den Raum zogen. Auf einem dunklen Kissen – rot, violett, bei den dürftigen Lichtverhältnissen war der Farbton kaum auszumachen – ruhte ein silbernes Diadem.

„Wo sind wir hier, Leo?“

Leo antwortete nicht sofort, doch Takumi hörte, wie er sich ebenfalls bewegte. Seinen Schritten folgte ein leises Klirren, dann Knistern.

Gänsehaut kroch über seine Arme. Instinktiv fuhr Takumi herum, doch es war nur ein Schwefelholz, das sein flackerndes Licht auf Leos Gesicht warf. Auf das Feuer konzentriert, hielt er das Holz gegen die erste Kerze eines Leuchters, bis auch sie brannte.

Über die Flammen hinweg spähte Leo im Augenwinkel zu ihm. Ihr Blickkontakt dauerte nur einen Wimpernschlag lang, doch er genügte. Sie wussten beide, dass er das gleiche mit Magie viel schneller hätte erledigen können. Sie wussten beide, dass er es nicht tun würde.

Mit jeder weiteren Kerze, die aufflammte, beruhigte Takumis Puls sich etwas mehr. Schließlich, als jede von ihnen brannte, ergriff Leo den Leuchter und trat zu ihm.

„Das hier ist die Trophäenkammer.“

„Oh.“

Mit neuem Interesse blickte er zu der Vitrine vor ihm, zu den Äxten und den Vorhängen.

„Ganz schön finster für so einen Ort, findest du nicht?“

Neben ihm schüttelte Leo den Kopf, doch sein Blick sprach nicht von Missbilligung.

„Es heißt, Licht wecke die Toten“, antwortete er ihm. Bevor Takumi die nächste Frage stellen konnte, fuhr er fort: „In Nohr gibt es den Glauben, dass der Tod an einem Zimmer haften bleibt, wenn in ihm jemand stirbt. Aus diesem Grund werden solche Räume in Schloss Krakenburg nicht weiter genutzt. Man zieht die Vorhänge zu und verschließt die Türen.“

„Also ist hier drin jemand ...?“

Leo warf ihm einen verdatterten Blick zu, dann lachte er leise.

„Nein. Nein, nicht doch. Aber das muss man von außen nicht sehen.“

„Also nutzt ihr den Aberglauben, um Diebesgesindel von diesem Raum fernzuhalten. Hilft es denn?“

Neugierig trat Takumi zu der nächsten Vitrine, um auch in diese zu spähen. Leo folgte ihm wie ein flackernder Schatten. Der Dolch unter dem Glas wirkte unspektakulär, trotz – oder gerade wegen der Aufmachung auf dem viel zu großen Kissen – unspektakulär. Unzufrieden trottete er weiter.

„Nun, den letzten, der es bis vor diese Türen geschafft hat, habe ich selbst aufgehalten.“

„Hast du? Was hast du mit ihm–“

Der Rest der Frage blieb ihm im Halse stecken, kaum dass Takumi die dritte Vitrine erreichte. Auf dem Kissen lag kein Diadem und auch sonst kein Schmuck. Es war auch keine Waffe oder irgendetwas, das Takumi in eine Ausstellung getan hätte. Es waren Kugeln. Kleine, ein bisschen eingedellte Kugeln. Sie hätten aus Gold sein können, doch dafür hätten sie im Licht der Kerzen glänzen müssen.

Takumi hätte sie für einen Irrtum gehalten, wäre nicht ihre Anordnung gewesen. Das jemand sie angeordnet hatte, stand außer Frage. Takumi erkannte einen Penis, wenn er ihn sah, und das war eindeutig und ohne Zweifel ein Pimmel. Ein dämlicher, aus Erbsen geformter ... Pimmel.

Er warf Leo einen skeptischen Blick zu, doch der war so blass, wie Takumi sich fühlte.

Schweigend griff Leo nach dem Zettel, der unter der Vitrine klemmte.

„Was ich mit ihm getan habe?“, fragte er. Beinahe, als sei es seine Antwort auf die Frage, hielt er Takumi den Zettel entgegen. „Ich fürchte, das verzeihst du mir nicht.“
 

 

[RIGHT]Sehr geehrter Mylord Leo, Sehr geehrter Mylord Takumi,[/RIGHT]

[RIGHT] [/RIGHT]

[RIGHT]ich habe mir erlaubt, zusammenzutragen, was Ihr zurückgelassen habt.[/RIGHT]

[RIGHT] [/RIGHT]

[RIGHT]N.[/RIGHT]



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Kommentare zu dieser Fanfic (25)

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Von:  mor
2016-11-11T09:58:05+00:00 11.11.2016 10:58
*Lach*
Leo scheint es wohl mitlerweile zu bereuen Niles als Getreuen zu haben ^^
Antwort von: Arcturus
11.11.2016 20:25
Ach was, das täuscht. Er würde ihn nicht hergeben, nicht mal gegen Gold. (Aber davon hat er auch genug.)

Vielen Dank jedenfalls, dass du bei der Fic dabei warst. Vielleicht sieht man sich bei der nächsten Fates-Story mal wieder. :)

lG
Arcturus

PS: Ich habe das Ende vielleicht noch ein bisschen editiert. ^^~
Antwort von:  mor
14.11.2016 16:40
Das Ende kamm zu Früh, ich hätte zumindest einen Epilog erwartet
Von:  mor
2016-11-08T15:06:56+00:00 08.11.2016 16:06
Na ob die beiden auffliegen werden? ^^
Von:  _Delacroix_
2016-11-08T13:56:46+00:00 08.11.2016 14:56
Ja, man hätte sich denken können, dass Niles die Sache ein bisschen übertreibt. Eigentlich ist es pures Glück, dass Odin nicht mehr da ist, weil sonst hätten die Hoshiden vermutlich auf einem Erbsenberg schlafen müssen und das hätten dann sicher auch Corrin und Ryoma bemerkt. 
So aber blieb Takumi der Einzige, weil er es als einziges für nötig hielt das Bett auseinander zu nehmen. Eigentlich tut er mir fast schon ein bisschen leid. Er ist da in was reingetapst, ohne es wirklich zu wollen. Und jetzt, jetzt muss er vermutlich Nohrisch lesen lernen. Und sei es nur, damit er das dämliche Märchen nochmal nachrecherchieren kann.
Immerhin, wer weiß was ihm Leo sonst erzählt.
Das könnte ja wirklich sein, vor allem im Rahmen der Racheplanung, die ohnehin zurückzuschlagen droht. 
*hust hust hust*
Antwort von: Arcturus
11.11.2016 20:26
Jep, mit Odin Dark wäre das noch 1000% erbsiger geworden. Und darker.

Was das Nohrisch anbelangt - Leo bringt es ihm sicher bei. Und die Racheplanung... Oh well.
Antwort von:  _Delacroix_
11.11.2016 20:29
Vermutlich, vermutlich.
Aber ich sehe, du hast den Epilog nachgeschoben und Niles hat in Sachen Dreistigkeit noch mal eins drauf gesetzt. XD
Antwort von: Arcturus
11.11.2016 20:30
Hat er. Natürlich hat er. xD
Immerhin musste die Erbse doch noch ins Museum. Oder so ahnlich.
Von:  Zaziki
2016-11-07T06:47:55+00:00 07.11.2016 07:47
Ich habe so gehofft, dass das passiert, und es ist tatsächlich eingetreten, ja!! :'D
Ich liebe diese Geschichte einfach, und jedes Kapitel bisher war ein Genuss zu lesen. Ach nein, wie soll ich es nur bis zum nächsten Kapitel aushalten? XD
Einfach wundervoll!!
Antwort von: Arcturus
08.11.2016 09:17
Das freut mich zu hören. :)
Und das nächste Kapitel ist ja schon da.
Von:  catgirl13
2016-11-06T11:37:51+00:00 06.11.2016 12:37
ICH HABS GEWUSST XD
Antwort von:  mor
06.11.2016 15:32
Ich auch ^^
Niles ist der Brüller ^^
Antwort von: abgemeldet
06.11.2016 23:49
Nein warum hatte ich genau das selbe geahnt? xD
Antwort von: Arcturus
08.11.2016 09:16
Zugegeben, bei gewissen Getreuen muss man halt immer mit dem schlimmsten rechnen.
Und bevor wer fragt: Ja, auch Ryoma und Corrin haben Erbsen abbekommen. Und sie verschlafen.
Von:  mor
2016-11-04T14:33:47+00:00 04.11.2016 15:33
Niles und sein unverschämtes Mundwerk ^^
Er ist und bleibt mein Lieblings Cara aus Fire Emblem Fates ^^
Antwort von: Arcturus
06.11.2016 11:33
Niles hat was, ja. Er gehört definitiv auch zu meinen Lieblingen. :D
Von:  mor
2016-11-02T16:44:04+00:00 02.11.2016 17:44
^^ jepp ^^ das zweite Kappie gefählt mir auch ^^
Antwort von: Arcturus
04.11.2016 09:47
Hey,

das freut mich zu hören.

lG
Arcturus
Von:  Zaziki
2016-11-02T15:41:06+00:00 02.11.2016 16:41
Diese Fanfiction ist wirklich sehr schön geschrieben, ich genieße jeden einzelnen Absatz! Die Interaktionen zwischen den Geschwistern (insbesondere die nonverbale) sowie Leos Gedankengänge sind einfach köstlich!
Mach so weiter, ich kann das nächste Kapitel kaum erwarten~
Antwort von: Arcturus
04.11.2016 09:46
Hey,

danke für deinen Kommentar. Ich hoffe, dir gefällt auch das neue Kapitel. :)

lG
Arcturus
Von:  _Delacroix_
2016-10-31T14:42:48+00:00 31.10.2016 15:42
Das ist sie also, die explodierte Fic, an der ich völlig unschuldig bin. 
Eigentlich wollte ich sie ja in Ruhe lesen, wenn sie komplett ist, aber mit Blick auf die Halloween-Aktion, piepe ich lieber doch gleich mal und gehe mit gutem Beispiel voran. 
Tatsächlich hat mir Camilla in dem Kapitel am besten gefallen. Sie und ihre charmante Art durch Türen zu kommen, die eigentlich geschlossen bleiben sollten. Und natürlich Ruby Glimmer. *hust*
Das Niles dazu neigt, zu machen was er gerade will, das musste ich schon am eigenen Leib erfahren. Ich fürchte, er ist einfach so ein Chara, der plötzlich mit ner bösen Überraschung um die Ecke kommt und "Tada" schreit. Insofern, mach dir nichts daraus, es war wohl in dem Moment vorprogrammiert, in dem klar wurde, dass er auftauchen würde.^^
 
Antwort von: Arcturus
02.11.2016 09:34
Komplett unschuldig, Ro, komplett unschuldig. :)

Komplett wird sie voraussichtlich nächste Woche sein.
Und ja, Ruby Glimmer musste sein. Ein Hoch auf die Schmiede. :D

Und Niles ... ja.
Ich war ja schon froh, dass er etwas an hatte, als er mir vor die Nase sprang und "Tada!" rief. *hust*

Danke jedenfalls, für deinen Kommentar. :3
Antwort von:  _Delacroix_
02.11.2016 14:18
Ich kann auch mit nem unbekleideten Niles leben... Bei den anderen Charas bin ich mir da nicht sicher. ;-)
Von:  mor
2016-10-31T09:53:28+00:00 31.10.2016 10:53
Das Kappie macht Neugierig auf mehr ^^
Antwort von: Arcturus
02.11.2016 09:18
Hallo,

danke für den Kommentar. Ich hoffe, dir gefällt Kapitel 2 auch.

lG
Arcturus


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