Die Sache mit den BHs
Vielleicht muss ich sterben.
Die schiere Fülle an Angeboten macht mich ganz kribbelig und ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Weiß der Geier, wieso das so ein großes Ding für mich ist. Ich hab schließlich schon dutzende Teile an hübscher – sogenannter – Damenunterwäsche gekauft. Allerdings immer für untenrum. Spitzenhöschen und Tangas und süß bedruckte Panties in allen erdenklichen Formen und Farben. Und ich bin auch schon tausend Mal dumm dafür angeglotzt worden, bis alle mich beobachtenden Parteien wohl zu dem Fazit gekommen sind, dass ich Unterwäsche für meine Freundin kaufe.
Aber nein. Das ist alles für mich. Und wenn der komische Typ da hinten zwischen den Feinstrumpfhosen, der unglücklich neben seiner Freundin her schlurft, wüsste, dass ich gerade ein sehr Aufsehen erregendes pinkes Spitzenhöschen unter meiner schwarzen Hose trage, wäre er sicherlich entsetzt. Oder angeekelt.
Menschen mit Penis tragen ja meistens nicht unbedingt solche Unterwäsche – auch wenn sie das unbedingt häufiger sollten. Sieht nämlich zum Anbeißen aus. Besser als diese labberigen Boxershorts, die so viele Jungs immerzu anziehen.
Ich atme einmal tief durch und drehe den Kopf nach rechts. Lelo schaut mich aufmunternd an. Mein Freund ist der wunderschönste, wunderbarste, wundertolligste… Ja, ok. Lelo ist super. Und er ist einer der großartigsten Menschen auf der Welt. Und er geht zum allerersten Mal mit mir Unterwäsche kaufen und ich fühle mich gleichzeitig total kribbelig und wie ein überreiztes Nervenbündel.
Ich hab nämlich noch nie einen BH gekauft.
Wahrscheinlich vor allem, weil ich keine Brüste habe. Zumindest noch nicht. Ich denke immer noch ernsthaft darüber nach, ob ich irgendwann vielleicht mal welche haben möchte. Also, ich hab kein Interesse an Östrogenen oder daran, meinen Penis loszuwerden. Aber Brüste sind super.
Letzte Woche habe ich ein Tutorial auf Youtube gefunden, in dem gezeigt wurde, wie man auch mit flacher Brust, Silikonkissen und Haftstreifen ein Dekolleté basteln kann und seitdem kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich träume sogar häufiger von Brüsten, seit ich das gesehen habe.
Und nachdem ich es Lelo gezeigt habe und ihm klar geworden ist, wie aufgeregt ich deswegen bin und wie viel mir das bedeutet, hat er vorgeschlagen, dass wir zusammen meinen ersten BH einkaufen gehen.
Ugh. Ich liebe ihn.
Nicht, dass ich das schon laut gesagt hätte. Wir sind ein halbes Jahr zusammen und ich hab es schon mindestens siebenhundertundzweiundfünfzig Mal gedacht, aber nie laut gesagt. Und er auch nicht. Also ist vermutlich noch nicht die richtige Zeit gekommen.
Wie auch immer. BHs. Es gibt sie in tausend verschiedenen Formen und Farben und Größen und ich schaue mich ziemlich überwältigt um. Vielleicht ist Lelo genauso überwältigt wie ich.
»Welche Größe brauchst du denn?«, erkundigt er sich.
Ich habe vor diesem BH-Date mit meiner allerliebsten älteren Schwester gesprochen und sie hat mir dabei geholfen, meinen Umfang auszumessen. Die Cupgröße muss selbstredend nicht größer als A sein. Immerhin hab ich keine Brüste.
»80A«, flüstere ich voller Ehrerbietung und Lelo lacht leise und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann zieht er mich entschlossen zu einer Wand hinüber, an der gut zwanzig verschiedene Modelle in unterschiedlichen Farben hängen. Push-Up macht wahrscheinlich Sinn, auch wenn ich nichts zum Pushen habe. Aber wenn das Tutorial mich nicht angelogen hat, dann müsste das eigentlich funktionieren.
»Sobald wir hier wieder raus und zu Hause sind, müssen wir Sex haben«, murmelt Lelo, der mit leuchtenden Augen einen violetten BH mustert. Ich sehe in seinem Blick, dass er sich mich darin vorstellt. Mein Herz springt mir beinahe gegen den Kehlkopf.
»Ok«, fiepe ich und bin erstaunlich nervös dafür, dass ich sonst eher der Abgebrühte von uns beiden bin. Ich strecke meine Hand nach der Stange mit den violetten BHs aus und suche nach der richtigen Größe. Dann wende ich mich einem dunkelroten Exemplar zu, das ein entzückendes Schleifchen und einen Glitzerstein in der Mitte hat.
»Ich freu mich schon aufs Anprobieren«, sagt Lelo heiter.
An den Umkleiden hängen Schilder, die mich darauf aufmerksam machen, dass ich lediglich fünf Teile mit in eine der Kabinen nehmen darf. Also muss Lelo draußen auf einem schwarzen Hocker Platz nehmen und einen Berg aus ungefähr 15 BHs halten, während ich die erste Fuhre mit in die Kabine nehme.
Um mein Seelenheil zu wahren und nicht im Angesicht meiner nicht-vorhandenen Brüste in Tränen und Dysphorie auszubrechen, habe ich die besagten Silikonkissen in meinen Hosentaschen in den Laden geschmuggelt und fülle jetzt die ausgewählten BHs damit. Das Neonlicht in der Kabine macht scheußliche Dinge mit meiner Haut, aber ich bin zu hypnotisiert von dem Anblick in einem der Spiegel, um mich daran zu stören.
Das Dunkelrot sieht auf meiner blassen Haut ziemlich gut aus und das Glitzersteinchen zwischen den Cups funkelt mich aufmunternd an. Mein Herz hämmert so doll gegen meinen Brustkorb, das ich Angst habe, meine Rippen könnten jeden Augenblick gesprengt werden. Ich unterdrücke den wahnwitzigen Impuls sofort meine Eltern anzurufen und sie anzubetteln, mit eine Brust-OP zu bezahlen.
Tief durchatmen.
»Hast du einen an?«, kommt Lelos gespannte Stimme von draußen und ich muss mich dreimal räuspern, bevor meine Stimme wieder funktioniert.
»Ja«, gebe ich schließlich krächzend zurück und ich höre ein Rascheln draußen, das mir sagt, dass Lelo aufgestanden ist und den Berg an Unterwäsche irgendwo abgelegt haben muss.
»Darf ich schauen?«, fragt er und ein Unterton in seiner Stimme schickt mir einen heißen Schauer den Rücken hinunter. Ich versuche ein paar Mal tief durchzuatmen, um das Lampenfieber zu vertreiben, das mich gerade überkommt, aber es klappt nicht. Da hilft nur Augen zu und durch.
»Ok«, sage ich und meine Stimme klingt definitiv eine Oktave höher als sonst.
Die Tür geht ein Stück weit auf und Lelo schiebt sich sehr diskret in die Umkleidekabine. Seine Augen huschen hinunter zu meinem ziemlich schmächtigen Oberkörper, der mit dem dunkelroten BH ziemlich fremd und ungewohnt aussieht. Die Silikonkissen in den Cups helfen, damit ich mich nicht lächerlich fühle.
Lelo schaut mich an wie das achte Weltwunder.
»Oh«, sagt er ausgesprochen hingerissen.
Im nächsten Augenblick finde ich mich an eine der Wände der Umkleide gedrückt und Lelos Lippen auf meinen wieder. Meine Güte. Ich nehme an, dass ich diesen BH dringend kaufen sollte. Wir küssen uns ganze fünf Minuten, bevor er sich atemlos von mir löst und mit vorsichtigen Fingerspitzen sachte den oberen Saum des BHs nachzieht. Ich glaube, ich sterbe gleich an Herzversagen.
»Wir sollten öfter Unterwäsche einkaufen gehen«, flüstert er. Seine Augen sehen aus, als würden sie mich gleich aufessen. Mir ist ziemlich heiß.
»Unbedingt«, gebe ich mit kratziger Stimme zurück und betrachte mich noch einmal im Spiegel. Lelo mustert mich mit einem zärtlichen Lächeln.
»Du bist wunderschön«, wispert er mir ins Ohr und ich bekomme eine Gänsehaut. Womit hab ich so einen wahnsinnig liebevollen Sonnengott verdient? Bevor ich noch vor lauter Liebe zergehe und die bösen drei Worte sage, scheuche ich ihn wieder nach draußen und nehme behutsam die Kissen aus den Cups, um den nächsten BH anzuprobieren.
Eine Stunde später verlassen wir den Laden, ich mit einer kleinen Plastiktüte in der einen und Lelos Hand in der anderen Hand. Ich habe beschlossen, dass ich nicht direkt am Anfang meiner BH-Karriere vollkommen durchdrehen und zehn Stück kaufen sollte – einmal ganz abgesehen davon, dass die Dinger schweineteuer sind. Deswegen habe ich mich auf drei BHs beschränkt. Es könnte durchaus die schwierigste Entscheidung meines Lebens gewesen sein.
Der dunkelrote, der violette und ein türkiser BH haben es in meine Plastiktüte geschafft und warten nun darauf, nach Anleitung eines Youtube-Videos gefüllt zu werden.
»Leider musst du warten, bis ich das alles fertig gemacht hab, bevor du Sex haben kannst«, erkläre ich Lelo. Lelos Daumen streicht mir sachte über den Handrücken und ich fasse es nicht, wie verteufelt aufgeregt ich bin, endlich nach Hause zu kommen und das alles auszuprobieren. Ich würde am liebsten losrennnen, will mir aber auch noch etwas Würde bewahren.
»Keine Sorge. Ich kann sehr geduldig sein«, meint Lelo schmunzelnd und ich gluckse heiter.
Bei mir in der Wohnung angekommen, schnappe ich mir Tape, die neuen BHs und die selbstklebenden Silikonkissen und verschwinde im Badezimmer. Lelo kann sich solange an meinen Computer setzen oder lesen oder…
Ich starre in den Spiegel und betrachte meine flache Brust, bevor ich anfange. Zwischendurch habe ich das dringende Bedürfnis, mir Lauras Laptop zu schnappen und das Tutorial noch mal anzuschauen, aber schließlich sitzt alles, wie es sitzen soll und ich fische nach dem dunkelroten BH in der Tüte und ziehe ihn sorgfältig über mein geschaffenes Werk. Ich sehe erleichtert, dass er die Silikonkissen fast komplett bedeckt und…
Tatsächlich. Ein Dekolleté.
Ich starre mich und meine falschen Brüste in dem wunderschönen BH an und würde gerne vor Begeisterung anfangen zu weinen. Stattdessen fische ich nach einem T-Shirt, das ich irgendwann mal sehnsüchtig mit der Aussicht auf vielleicht in ferner Zukunft vorhandene Brüste gekauft habe. Es ist schlicht und schwarz, bedeckt den BH und den Rest der Silikonkissen und als ich es anhabe, sieht es tatsächlich einfach aus, als hätte ich Brüste.
Ok, vielleicht verdrücke ich wirklich zwei Freudentränen allein im Bad vorm Spiegel mit meinen Brüsten, aber das muss ja keiner wissen. Ich wische sie fort, atme ein paar Mal tief durch und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Lelo hockt auf dem Bett und liest in einem meiner Terry Pratchett Bücher.
Als ich mein Zimmer betrete, schaut er auf und seine Augen huschen sofort hinunter zu meinem Ausschnitt. Ich sehe, wie er die Luft einzieht und seine Augen ein bisschen größer werden. Er streckt die Arme nach mir aus und ich schließe hastig die Tür hinter mir ab und gehe hinüber zum Bett, bevor ich mich mit den Knien darauf nieder lasse und zu Lelo hinüber krabbele.
»Du bist der erste Mensch, der mir in den Ausschnitt starrt«, sage ich halb spaßend, halb ernst und Lelos Blick flackert hoch zu meinem Gesicht. Holy Shit.
»Ich fühle mich sehr geehrt«, sagt Lelo. Wahrscheinlich fühlt er sich wirklich so. Ich muss lachen und schaue mir selbst in den Ausschnitt. Den ich habe. Jetzt. Ich sehe von hier oben sogar ein kleines bisschen von dem wunderschönen BH und mir ist schon wieder nach weinen zumute.
»Komm her«, sagt Lelo und breitet seine Arme aus. Ich lasse mich in eine Umarmung fallen und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals.
»Wenn wir Sex haben, muss ich den BH anlassen«, informiere ich Lelo.
»Ok.«
»Vielleicht kann ich ihn nie wieder ausziehen.«
Lelo lacht. Dann schweigt er eine Weile lang und ich atme gegen seinen Hals und spüre das Tape und die Kissen und die Träger des BHs auf meiner Haut. Ich könnte schreien vor lauter Glück.
»Weißt du was?«
»Hm?«
»Ich liebe dich.«
Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke und reiße meinen Kopf so heftig hoch, dass ich Lelos Kinn einen Haken verpasse.
»Oh! Entschuldige! Oh nein! Das tut mir so leid, herrjee…«, sage ich hastig und schaue, ob ich ihm ernsthaft wehgetan habe, aber Lelo lacht einfach nur. Und lacht und lacht und lacht sein wunderbares Lachen und seine drei Worte klingen mir noch in den Ohren und ich fasse es nicht, dass er mich jetzt schon zum hundertsten Mal zum glücklichsten Menschen auf dieser beknackten Erde gemacht hat.
»Mit dir wird’s nie langweilig«, sagt Lelo und reibt sich amüsiert seinen Kiefer. Ich habe definitiv Tränen in den Augen.
»Ich dich auch«, schniefe ich. Lelo blinzelt.
»Oh, ich…«
»Ich dich auch! Ich liebe dich auch. Ganz doll. Ah, ich brauch ein Tempo. Meine Wimperntusche…«
Lelo lacht erneut und er klingt mindestens genauso glücklich wie ich mich fühle. Lelo kramt mir ein Taschentuch vom Nachtschrank und mustert mich, als wäre ich das Schönste, das er je gesehen hat.
»Tut’s noch weh?«, frage ich kleinlaut, nachdem ich mir die Nase geputzt habe.
»Es wird gleich weniger wehtun, wenn du mir deinen BH noch mal zeigst«, meint er verschmitzt. Ich muss lachen und werfe das Taschentuch beiseite. Scheiß drauf, ob meine Wimperntusche noch sitzt. Mit einer fließenden Bewegung ziehe ich mir das Shirt über den Kopf und dann habe ich zum ersten Mal Sex mit Brüsten und mit hundert geflüsterten »Ich liebe dich«.
