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Schwarzer Komet

Drachengesang und Sternentanz - Teil 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Puh! Ich weiß noch ganz genau, dass ich dieses Kapitel geschrieben habe, während ich im Schildkröteneinsatz war XD
Das habe ich immer mit meiner Arbeit an einem großen Referat abgewechselt. Aber es ging damals wirklich sehr schleppend voran, weil dieses Kapitel einfach so viele komplizierte Fragen aufwirft. Zugegebenermaßen habe ich in der handschriftlichen Version an einigen Stellen echten Blödsinn zusammen gerafft. Da habe ich beim Editieren einiges ausgebügelt ID"

Es ist immer noch an einigen Stellen kryptisch, denke ich, aber zumindest weiß ich jetzt bei allem selbst, was es damit auf sich hat XD"

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen

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Die Treppe, die den Turm hinauf führte

Im Herzen Jadestadts stand dessen Wahrzeichen. Ein massiver, runder Turm, hundert Schritt im Durchmesser und dreimal so viele in der Höhe, vom Sockel bis zum verspielten Spitzdach aus einem der kostbarsten Materialien, die Ishgar zu bieten hatte: dem Jademarmor, für den auch nach vielen Zyklen des Suchens nur ein einziger Steinbruch bekannt war. Seine Fassade war schlicht gehalten, stellte beinahe einen provokanten Gegensatz zu den spielerisch verzierten Stadtmauern dar. Als wollte man den Jademarmor an und für sich sprechen lassen.

Schon während ihrer vorausgegangenen Missionen in Jadestadt war Meredy sich nie völlig sicher gewesen, wofür dieser Turm stand. Sollten die Boscos mit dieser offenen Zurschaustellung von Reichtum provoziert werden? War es schlicht und einfach ein Geltungsbedürfnis gegenüber den anderen – sehr viel älteren – Fürstentümern mit ihren Wahrzeichen? Hatte man die Steinmetze Fiores zum Dienst in Jadestadt locken wollen? Oder die Bewohner ermutigen? Steckte einfach menschliche Hybris dahinter oder lag dem Turm die reine Freude an der Baukunst zugrunde?

Darüber wurde immer wieder spekuliert, denn obgleich er so viel geschaffen hatte, hatte der Stadtgründer und erste Fürst von Jadestadt kein Testament oder sonst irgendein Dokument hinterlassen, das darüber Aufschluss geben könnte.

Als sie das letzte Mal auf dem Rückweg von Bosco in Jadestadt Quartier bezogen hatte, hatte Meredy sich viele Gedanken darüber gemacht, ohne zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Sie hatte nur während ihres Aufenthalts immer wieder bemerkt, wie stolz die Bewohner Jadestadts auf ihre Heimat im Allgemeinen waren. Sie hatte das Leuchten in ihren Gesichtern gesehen, wenn sie zum Jadeturm geblickt hatten, und hatte gestaunt, wie nah der Fürstensitz dem einfachen Volk war.

Anders als der weitläufige Komplex des Kaiserpalastes mitsamt all seinen Anbauten, der in Crocus tatsächlich ein eigenes Stadtviertel darstellte, scharrte der Jadeturm um sich herum nur ein Wachhaus und einige Verwaltungsgebäude, an die sich beinahe nahtlos die normalen Stadthäuser anschlossen.

Nur im Süden des Turms – eben jene Richtung, in die sich auch die großen Flügeltüren öffneten – kam es durch einen großzügig angelegten Garten zu einer Unterbrechung im Stadtbild. Künstliche Gräben, überspannt mit vielen ornamentierten Brücken aus Marmor oder Sandstein, durchschnitten satte Grünflächen mit großen Palmen und Sträuchern. Üppige Blumenwiesen bildeten eine angenehme Abwechslung für den Betrachter und zahlreiche Bänke luden zum entspannten Verweilen ein. Die Ausmaße dieses Parks waren das Dreifache des Fürstengartens von Sabertooth, eine beinahe unwirkliche Oase inmitten der unwirtlichen Wüste – und das alles nur gespeist durch Brunnen, nicht wie in Sabertooth durch den Schlangenfluss.

Ein bisschen wirkte das alles auf Meredy so, als würden die Menschen hier in einer eigenen Welt leben, aber andererseits hatte sie im Verlauf ihrer Tätigkeit als Assassine oft genug Orte gesehen, die ihren eigenen Regeln zu folgen schienen. Selbst im Dorf der Eismenschen war das noch spürbar gewesen, obwohl dort alles in Trümmern gestanden hatte. Jadestadt war wohl einfach nur eine weitere Stadt mit Charakter in Fiore, erblüht unter den Freiheiten, welche die Unsterbliche Kaiserin jedem zu ermöglichen versuchte.

Die Erinnerung an die Frau, der sie vor so langer Zeit die Treue geschworen hatte, ließ Meredys Eingeweide rumoren. Auch wenn sie immer noch überzeugt davon war, dass es richtig war, niemanden in das Geheimnis um die Zerstörung des Dorfs der Eismenschen einzuweihen, hieß das nicht, dass es sie kalt ließ. Sie verdankte der Kaiserin ein neues Leben fernab all der Gewalt und Grausamkeit, die ihr in Edolas widerfahren war. Mehr als das: Die Unsterbliche hatte sie und Jellal trotz ihrer Herkunft in allen Ehren und mit mehr Herzlichkeit aufgenommen, als sie ihnen je in Edolas widerfahren war. Diese Geste mit Pflichtverweigerung zu vergelten, nagte an Meredy.

Doch mehr noch als der Kaiserin fühlte sie sich den Eismenschen verbunden. Gray war wie ein Bruder und Lyons Bedeutung für sie ließ sich gar nicht in Worte fassen. Er war alles, was sie brauchte und wollte. Er war ihre Heimat, ihr Herz, ihr ganzes Sein. Wenn sie in seinen Armen lag, war alles, was man ihr angetan hatte, null und nicht. Er war es erst gewesen, der ihr geholfen hatte, die Wunden aus Edolas verheilen, ihre Narben verblassen zu lassen.

Sie konnte nicht klar definieren, wann dieser Entschluss in ihr heran gereift war, aber sie wollte eine Eisfrau werden, wollte an Lyons Seite in der Heimat leben, wollte irgendwann eine Familie mit ihm gründen…

Aber was sie vor allem anderen wollte, war, dass Lyon seinen Vater und seine Stammesgenossen wieder fand, damit er mit ihnen seine Heimat neu aufbauen und der stolze, aufrechte Eismensch bleiben konnte, den sie so sehr liebte. Für dieses Ziel war sie zu absolut allem bereit. Selbst wenn es bedeutete, ihr Leben zu riskieren…

Für die Dauer einiger Herzschläge gestattete sie sich, die Augen zu schließen und sich auf ihre Aufgabe zu besinnen. Sie vertrieb jeden Gedanken an Lyon und Gray, klärte ihren Kopf, beruhigte ihr Herz, konzentrierte alles auf das Hier und Jetzt. So hatte sie es sich vor langer Zeit angewöhnt, als sie noch nicht einmal gewusst hatte, was eine Assassine war. Das hatte ihr und ihrem Bruder solange geholfen, zu überleben.

Ruhig und gleichmäßig holte Meredy Luft, während sie von Schatten zu Schatten tauchte, an einer Registratur vorbei, weiter in den Sichtschutz der langgestreckten Bibliothek, die sich am Rande des Parks befand. Durch die deckenhohen Fenster erkannte Meredy Reihen um Reihen von massiven Regalen, alle gefüllt mit dicken Folianten und Schriftrollen. Das reinste Paradies für jemanden wie Levy.

Während sie am Rande des Platzes unmittelbar vor dem Turm entlang schlich, glitt ihr Blick immer wieder über die Fenster des Turms, suchte nach Anzeichen dafür, dass jemand sie beobachtete, huschte über jedes mögliche Versteck, das sie selbst für einen Hinterhalt verwenden würde.

Als sie das doppelflügelige Eingangstor des Turms erreichte, ohne auch nur die Spur einer Wache zu entdecken, wurde sie nur noch wachsamer. Das Tor war halb offen. Daneben lagen zu beiden Seiten Hellebarden, in deren Stiele oberhalb der lederumwickelten Griffe das Wappen Jadestadts geritzt worden war. Es wirkte beinahe, als hätten ihre Besitzer sich einfach in Luft aufgelöst.

Wofür hatte der Feind zur Verteidigung der Stadt eine Dämonenschar gegen das Sabertooth-Heer geschickt, wenn er das Innere der Stadt nun völlig unbeaufsichtigt ließ? Worum ging es hierbei wirklich? Die bisherigen Erkenntnisse ergaben einfach keinen Sinn, egal wie sehr Meredy es auch hin und her drehte. Das machte es auch völlig unmöglich, eine Verbindung zu Avatar und zu den Angriffen auf das Dorf der Eismenschen herzustellen.

Lautlos schlüpfte Meredy ins Innere des Turms und trat direkt in den Empfangs- und Ballsaal. Sie war hier schon zweimal drin gewesen, aber sie war immer noch beeindruckt von der Kunstfertigkeit, die allein in diesem Saal demonstriert wurde.

Während auch die Innenwände des Turms aus dem kostbaren Jademarmor bestanden, war der Boden ausgelegt mit einem komplizierten Muster aus unterschiedlich großen, schwarzen und weißen Marmorplatten. Die Wände waren teilweise mit detailreichen Reliefen versehen, die zwölf tragenden Säulen in die Form von Tamariskenstämmen gemeißelt, an den Füßen Wurzeln angedeutet, an den Kapitellen Geäst mit Zweigen und Blättern. Jede Säule sah anders aus, sodass der Eindruck eines Tamariskenhains entstehen konnte. Durch große, südwärts gelegene Fenster flutete Licht in den Saal, ihre Rahmen in die Form von Strauchwerk gemeißelt.

Lebensgroße Gemälde der bisherigen sechs Fürsten hingen an den Wänden, jedes flankiert von je zwei Statuen, der eines Kriegers und der eines Steinmetz’. Die freien Stellen waren von Knüpfteppichen geschmückt, deren Kunstfertigkeit Sabertooth als Herkunftsort vermuten ließ. Auf ihnen waren Impressionen der Wüstenlandschaft und von Jadestadt zu sehen.

Besonders beeindruckend war ein Gemäldeteppich, der an allen Seiten je drei Mannslängen messen mochte und eine Komplettansicht der Stadt von eben jenem Aussichtspunkt aus zeigte, von dem aus Meredy vor kurzem noch auf die Stadt geblickt hatte. Das Bild wirkte beinahe lebensecht. Ein Paradebeispiel für die unübertroffene Kunstfertigkeit der Teppichknüpfer von Sabertooth.

Oberhalb der Gemälde und Wandteppiche lief ein Fries die gesamte Wand entlang und zeigte Wüstenszenen. An jedweder sinnvollen Stelle waren Lichtlacrima eingefügt worden, zweifellos Geschenke aus Heartfilia, mit dem Jadestadt seit seiner Gründung die Freundschaft pflegte. Wertvolle Bänke aus Magnolia und kristalline Kronleuchter aus Clover belegten weitere Bündnisse.

Doch trotz dieser vielen wertvollen Geschenke blieb das vorherrschende Motiv der Jademarmor. Stolz auf die eigenen Fortschritte? Oder Überlegenheit? Oder schlicht die Liebe für die Steinmetzarbeit? Die Bedeutung all dessen war genauso schwer zu definieren wie die des Turms an und für sich. Meredy fragte sich, ob der Stadtgründer das sogar beabsichtigt hatte.

Darauf bedacht, immer eine Wand im Rücken zu haben, schlich sie zur ebenfalls marmornen Treppe und folgte dieser nach oben ins Audienzzimmer, das in einem ähnlich prachtvollen Stil gehalten wurde. Dem folgten drei Etagen mit fürstlichen Gästequartieren, ein Bankettsaal, die fürstliche Privatbibliothek und schließlich die Privatgemächer der Fürstenfamilie.

Als Dienstmagd verkleidet, hatte Meredy diese Räumlichkeiten schon einmal eingehend untersucht, kurz nachdem Hisui als neue Jadefürstin vor sechs Zyklen inthronisiert worden war. Seitdem hatte sich wenig verändert. Die Staffelei an einem deckenhohen Südfenster kündete vom Kunstsinn der Frau und in den Regalen waren einige neue Bücher und Schriftrollen dazu gekommen.

Auf dem Schreibtisch stapelten sich ungewöhnlich viele Unterlagen. Vielleicht Kalkulationen, wie die vielen Evakuierten zu versorgen waren. Alles sah so aus, als wäre es vor kurzem noch benutzt worden. Nichts ließ auf eine Belagerung schließen.

Meredy runzelte die Stirn. Das passte nicht mit dem zusammen, was Libra erzählt hatte. Hatte die Jaderitterin gelogen? War sie eine Verräterin und hatte das Heer von Sabertooth fortgelockt? Aber wo waren dann Hisui und ihre Untertanen? Und was hatten die Dämonen wirklich vor?

Weiter schlich Meredy, spähte in die Schlafgemächer, die genauso verlassen wie der Rest des Turms waren, die Laken noch tadellos über den dicken Matratzen ausgebreitet und glatt gestrichen, die Kissen aufgeschlagen, alles bereit dafür, sich zur Ruhe zu betten.

Meredy war bereits auf halbem Weg zum Klosett, als sie von oben Stimmen hörte, die sich langsam näherten. Sie verschwand im Schatten eines bodenlangen Wandvorhangs und lauschte auf zwei Schrittfolgen.

Eine war energisch, herrisch, jeder Schritt erbarmungslos, völlig desinteressiert an allem, was in den Weg zu geraten drohte. Ein Kriegsherr, gewohnt zu befehlen, gewohnt an den Kampf auf Leben und Tod, gewohnt an den Sieg, die vollkommene Unterwerfung des Feindes. Die andere Schrittfolge war spielerisch und leichtfertig, aber die Hüpfer waren gleichfalls rücksichts- und bedenkenlos. Anders als der kalten Grausamkeit der Ersten hafteten dieser ein gewisser Sadismus und eine Häme an, die Meredy unangenehm berührten. Gleichwohl war auch vor den ersten schrill bettelnden Worten der Hüpferin unverkennbar, wer hier höher im Rang stand.

„Meisterin Kyouka, bitte lasst mir nur einen von ihnen!“

„Still!“, herrschte die Kyouka Genannte, ihre Stimme tief und voller Härte. Die Andere winselte wie ein getretener Hund. „Schlimm genug, dass wir in dieser stinkenden Menschensiedlung ausharren müssen, du wirst keinen Einzigen von ihnen in den Wahnsinn treiben.“

„Aber Meisterin Kyouka, sie werden doch sowieso bald sterben. Der Herr braucht sie nicht mehr“, greinte die Hüpferin. Beinahe klang sie nach einem schmollenden Kleinkind, wenn da nicht diese grauenhafte Menschenverachtung in den Worten mitschwingen würde. Meredy musste sich wirklich zusammenreißen, um ihren Ekel in den Griff zu bekommen.

„Der Herr will, dass wir die Soldaten von Sabertooth hier binden. Dafür müssen wir sie weiterhin im Ungewissen lassen. Deine Opfer neigen dazu, außer Kontrolle zu gehalten, Lamy!“

Lamy seufzte laut, als wäre sie fürchterlich vom Schicksal geplagt. „Es ist nicht meine Schuld, dass die Menschen so fragil sind!“

„Du wirst keinen anrühren“, erwiderte Kyouka und ihre Worte klangen absolut.

„Warum kann Meisterin Seilah die Soldaten da draußen nicht auch einfach unter ihre Kontrolle bringen?“

„Sich auf solch einen niederen Verstand zu konzentrieren, erfordert auf seine Art auch Anstrengung. Und bei so vielen Menschenwürmern umso mehr. Sie hat schon genug zu tun.“

„Hat sie deshalb auch die Wüstenratte verloren?“

Kyoukas Züchtigung kam beinahe ohne Vorwarnung. Meredy hörte nur, wie sie härter auftrat, dann war das schmerzhafte Ratschen ihrer Füße – oder Klauen? – auf dem blank poliertem Boden zu hören, ehe ihr Schlag Lamy traf. Die andere Dämonin war nicht darauf vorbereitet und stieß einen gepeinigten Schrei aus. Meredy konnte anhand der Geräusche nur Vermutungen anstellen, aber sie hatte den Eindruck, dass ein normaler Mensch unter Kyoukas Schlag wahrscheinlich zusammen gebrochen wäre.

„Merke es dir gut, Unwürdige: Seilah hat das Menschenweib laufen lassen, weil es nichts mehr wert war. Wichtig war nur, dass das Mischlingsgezücht nach Sabertooth kam und seine Aufgabe erfüllte.“

Damit musste Libra gemeint sein, überlegte Meredy, und wenn dem so war, dann war von Anfang an geplant gewesen, das Heer von Sabertooth fortzulocken – und das konnte nur bedeuten, dass…

Vor Meredys geistigem Auge tauchten die vielen tausend hoffnungsvollen Gesichter der Flüchtlinge auf, die Sting und Rogue in Sabertooth begrüßt hatten. Die Männer, Frauen und Kinder, die so viel Vertrauen in ihre Fürstin und in die legendären Klauen setzten. Die Soldaten, die vor den Toren von Jadestadt ihr Leben gelassen hatten im Vertrauen darauf, durch ihr Opfer ihre Familien in der Heimat zu schützen…

Und Meredys Freunde, die in Sabertooth zurück geblieben waren, alte wie neue. Levy, die sich so viel Mühe gab, auf ihre Weise zu helfen. Und Juvia, die gar keinen Grund gehabt hatte, sich ihnen anzuschließen, und nun dennoch die Stellung hielt.

Ein hohles Gefühl machte sich in Meredy breit. Waren ihre Freunde in Sabertooth womöglich in größerer Gefahr als sie hier in Jadestadt?

„Verzeiht, Meisterin Kyouka!“, quietschte Lamy noch schriller als vorher. „Ich krieche im Staub zu Euren Füßen, bitte tötet mich nicht!“

Die andere Dämonin schnaubte verächtlich und ein weiterer Schlag oder Tritt schien Lamy zu treffen, denn sie wimmerte gepeinigt.

„Du bist nicht einmal das wert, Lamy. Halte dich fern von den Menschlingen und wage es ja nicht, Seilah zu stören. Wenn der Herr mit Plutogrimm in Sabertooth fertig ist, kannst du dich zuerst um die Soldaten draußen kümmern.“

„Darf ich dann auch mit dieser Fürstin spielen, die sie die Wüstenlöwin nennen?“

„Was auch immer“, schnaubte Kyouka wieder und setzte sich in Richtung der Treppe in Bewegung. Lautes Rascheln verriet, das Lamy sich hastig aufrichtete, um ihrer Meisterin zu folgen.

Angestrengt lauschte Meredy den Schrittfolgen der beiden Dämonen, verfolgte, wie sie die Treppen hinunter stiegen und schließlich den Turm verließen. Selbst danach wartete die Assassine noch eine ganze Weile, ehe sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen.

Ihre Hände fühlten sich schwitzig an und ihr wurde schwindelig. Eine furchtbare Angst bemächtigte sich ihrer – zu groß und zu reißerisch, um sie mit Ruhe zu ersticken. Angst um Juvia und Levy, die sich, wenn Meredy die Worte der beiden Dämonen richtig deutete, bald dem Anführer von Tartaros gegenüber sehen würden. Angst um Lyon, der in einer Stadt unterwegs war, in der sich eine Dämonin befand, die allem Anschein nach in der Lage war, Menschen zu manipulieren…

Prioritäten setzen, ermahnte Meredy sich selbst und atmete zittrig ein und aus. Erst eine Nachricht an die Wüstenlöwin schicken, dann Lyon suchen, dann von hier verschwinden!

Sachte nickte sie sich selbst zu und zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Gürteltasche, während sie die letzte Treppe nach oben aufs Dach des Turms stieg.
 

Seit er ohne Meredy in der Stadt unterwegs war, hatte Lyon mehr denn je das Gefühl, über einen Friedhof zu marschieren. Weder Mensch noch Tier war zu sehen – abgesehen von den Fliegen, die sich über das vergammelnde Essen hermachten. Selbst die Ratten und Vögel, die man bei solch einem Festmahl erwarten könnte, hielten sich fern. Lyon lief es trotz der Hitze immer wieder eiskalt den Rücken hinunter.

In den Kasernen hatte er keine Menschenseele vorgefunden, nur auffällig viele Parallelen zur Kaserne von Crocus. Der Stadtgründer und –planer hatte die Kaiserstadt entweder selbst besucht oder sich militärische Berater von dort hinzugeholt. So oder so, die Kaserne war ausgesprochen effektiv angelegt. Die Versorgungswege waren breit genug für zwei Fuhrwerke, die Lager von mehreren Seiten begehbar, die Übungsplätze vielseitig, die Ställe hell und geräumig. Alles war hervorragend in Stand gehalten worden und Lyon würde einen Sold darauf wetten, dass der Verwaltungsapparat hier genauso tadellos funktionierte wie in Crocus.

Es wurde gern unterschätzt, weil es im Vergleich zu so ziemlich allem anderen, was mit dem Militär zu tun hatte, so unspektakulär aussah, aber der Krieg aus Papier und Tinte war mindestens genauso fordernd wie der mit dem Schwert. Materialbeschaffung, Rekrutierung, Auszahlung von Sold, Dienstpläne, Baumaßnahmen… Das alles trug genauso sehr zum Erfolg einer Armee bei wie die Übungen auf dem Sand.

Die Gedanken an all das hatten Lyon zumindest für eine Weile von seinen Sorgen um Meredy und Gray ablenken können, aber irgendwann ertappte er sich doch wieder dabei, wie er sich fragte, wie es den Beiden ging.

Auch wenn es sein Vorschlag gewesen war und er immer noch wusste, dass es das Vernünftigste war, die Trennung von Meredy bereitete ihm Bauchschmerzen. Die Chancen, dass sie im Turm einem der Dämonen begegnete, waren beängstigend hoch. Lyon wünschte sich, er hätte damals in Boscun darauf beharrt, dass Meredy nach Crocus zurückkehrte. Oder dass sie in Malba weiter nach Informationen suchte, statt mit in den Süden zu kommen. Dass sie einfach irgendwo anders war als hier, wo hinter jeder Ecke der Tod lauern könnte. Wie könnte Lyon jemals weiter machen, wenn er Meredy verlieren sollte? Alles könnte er hinter sich lassen – sogar seine wahre Natur als Eismensch –, aber nicht sie

Zitternd stützte der Weißhaarige sich an einer Werkstattwand ab und schloss die Augen, um sich all die Lektionen über Besonnenheit ins Gedächtnis zu rufen, die er jemals gehört hatte. Von seinen Eltern – die Erinnerung an seine Mutter versetzte ihm einen grauenhaften Stich im Herzen. Von Ur und von Ausbilder Rob – der Gedanke verursachte einmal mehr das bohrende Gefühl von Schuld in seinen Eingeweiden. Er versuchte, die Personen hinter den Lektionen vollkommen auszublenden und sich nur auf die Worte an und für sich zu konzentrieren, damit er wieder klar denken konnte.

Er durfte hier nicht in Panik verfallen. Wenn jemand unbemerkt an Dämonen vorbei kam, dann Meredy. Er hatte ihr seinen Rücken anvertraut und sie ihm den ihren. Damit Meredy nicht noch mehr Gefahren auf sich nehmen musste und um Stings und Rogues Heimat zu retten, musste Lyon sich zusammenreißen und seinen Beitrag leisten!

Das Zittern blieb, als Lyon sich seinen Weg durch das Netz aus Lagern und Werkstätten suchte, aber er hielt seine Angst in Schach, konzentrierte sich auf seine Umgebung, eine Hand immer an seinem Breitschwert.

Selbst im Nordviertel setzte sich das penible Straßenraster fort, aber hier ergab das sogar noch mehr Sinn als im Rest der Stadt. Die soliden Straßen erleichterten den Transport der Waren, die strikte Durchnummerierung der Werkstätten und Lager ermöglichten eine schnelle Zustellung. So abstrakt Lyon der Gedanke einer Planstadt vorher auch vorgekommen war, jetzt musste er sich doch eingestehen, dass sie ihre Vorteile hatte.

Als er sich dem Steinbruch näherte, konnte er ein gedämpftes, monotones Brummen vernehmen, das er nicht zu definieren wusste. Er hatte bisher noch nie einen Steinbruch vom Nahen gesehen, aber diese Laute waren ihm unerklärlich. Es schien zu gleichmäßig und zu leblos, um von einem Menschen oder Tier zu stammen, und es passte zu keiner der Apparaturen, die man erwarten würde.

Bevor er den Sichtschutz der letzten Werkstatt verließ, zögerte Lyon wieder, die Hand nun fest um den Schwertgriff gelegt. Das Brummen war hier lauter denn je, aber immer noch unverständlich. Trotz der furchtbaren Wüstenhitze verspürte Lyon eine Gänsehaut.

Es kostete ihm eine Menge Überwindung, aus dem Schatten der Schmiede heraus zu treten und zu einem Kran hinüber zu gehen, der am Rande des Steinbruchs stand und einen perfekten Sichtschutz darstellte. Zumindest vom Steinbruch aus konnte Lyon so nicht gesehen werden, aber er war sich unangenehm bewusst, dass er hier ansonsten wie auf dem Präsentierteller stand.

Noch einmal holte er Luft, dann lehnte er sich langsam um den Kran herum und blickte in den Steinbruch hinunter. Das Bild, das sich ihm bot, war unbegreiflich.

Hunderte, aberhunderte, nein, tausende Menschen saßen, standen und lagen zwischen und auf den kostbaren Marmorbrocken und den Arbeitsgeräten. Männer und Frauen, Alte und Junge, Zivilisten und Soldaten quer durcheinander. Keiner war gefesselt, nur einige wenige Soldaten waren verletzt, aber niemand rührte sich vom Fleck. Sie alle blieben, wo sie waren, und murmelten unablässig vor sich hin. Das war der Ursprung des Brummens.

Lyon spürte, wie ihm die Übelkeit hoch kam. Er ging in die Knie und spie sein Frühstück wieder aus, würgte und würgte und hatte doch die ganze Zeit das Gemurmel der Gefangenen im Ohr.

Als sein Magen sich endlich wieder beruhigt hatte, stemmte er sich mühsam in die Höhe und blickte wieder in den Steinbruch hinab. Die Gefangenen waren in einem miserablen Zustand, aber er konnte zwischen ihnen keine Leichen entdecken. Wie war das möglich? Sie wurden wahrscheinlich schon seit mehr als zwanzig Tagen so gefangen gehalten. Sie müssten allesamt verdurstet sein. Oder wenn sie doch irgendwie mit Wasser versorgt wurden, was war mit Nahrung? Und wenn sie schon so lange so da standen, müssten viele längst einen Hitzschlag erlitten haben. Es ergab keinen Sinn!

Obwohl keiner der Gefangenen noch irgendetwas um sich herum wahrzunehmen schien, hielt Lyon sich weiterhin halb hinter dem Kran versteckt, während er versuchte, die Menschen zu zählen. Während der Exerzierübungen in der Kaiserlichen Armee hatte Lyon auch gelernt, mit einem Blick auf eine feindliche Gruppe deren ungefähre Kopfzahl einzuschätzen. Hier war das schwieriger. Die Gefangenen hatten sich nicht gleichmäßig verteilt, das Gelände war unübersichtlich und die Liegenden und Sitzenden oder auch die Kinder konnten leicht übersehen werden. Letztendlich schätze Lyon die Zahl auf sechs- bis sechseinhalbtausend ein. Bei viertausend Einwohnern machte das zweitausend oder mehr Flüchtlinge aus den Wüsten- und Steinbruchsiedlungen. Das stimmte ungefähr mit den Zahlen überein, die Lyon in Sabertooth aufgeschnappt hatte. Das wiederum hieß, dass es bei der Besetzung von Jadestadt kaum Verluste gegeben haben konnte.

Lyon erinnerte sich an ein Seminar über Spekulative Magie. Es war bekannt, dass entsprechend begabte Windmagier dazu in der Lage waren, Tiere zu kontrollieren. Diese spezielle Form der Windmagie, bei der dem Opfer Sinnesreize übermittelt wurden, welche es lähmen oder nach dem Willen des Magiers bewegen konnten, wurde Herdenmagie genannt. Die Anwendung am Menschen – dann Telepathie genannt – war laut dem Kaiserlichen Gesetz verboten, aber in dem Wissen, dass sich nicht jeder an dieses Gesetz hielt, hatte man in dem Seminar damals auch über Telepathie und ihren Kriegseinsatz gesprochen. Die Grenzen von Telepathie hingen stark davon ab, wie viele Menschen in welcher Weise manipuliert wurden. Dass diese Menschen hier nur apathisch herum stehen sollten, machte es vermutlich einfacher für den Winddämonen, der sie kontrollierte, aber ihre schiere Menge musste eine unglaubliche magische Kraft kosten.

Lyon brummte unwillig. Das alles ergab nicht den geringsten Sinn! Was hatten die Dämonen mit diesen Menschen vor? Als Geiseln waren sie doch nur sinnvoll, solange man von ihnen wusste. Und wenn die Dämonen tatsächlich alle Menschen in der Stillen Wüste auslöschen wollten, ergaben ihre bisherigen Maßnahmen wenig Sinn. Sie verhielten sich bei weitem nicht so zerstörerisch, wie Lyon es nach Levys Zusammenfassung des Buches dieser Windpriesterin erwartet hatte.

Hielt jemand sie an der Kandare? Aber wer und warum? Was war das Ziel des Ganzen? Und… steckte derjenige auch hinter dem Angriff auf Lyons Heimat und hinter der Finanzierung von Avatar? Hing das alles auch irgendwie mit dem zusammen, was die Drachenreiter zusammengeführt hatte? Wer hatte so viel Macht, um Drachenartige aus dem Gleichgewicht zu bringen, und so viel Ressourcen, um in allen Ecken Fiores derartigen Schaden anzurichten?

Lyon wünschte sich, er könnte mit den Anderen darüber reden. Wenn sie nur alle gemeinsam darüber nachdachten und ihre Erkenntnisse kombinierten, fanden sie vielleicht endlich eine richtige Spur.

Um Lautlosigkeit bemüht, zog Lyon sich in den Schatten der Werkstätten zurück und schlug dann einen weiten Bogen in Richtung des Südtores, wo er sich mit Meredy treffen sollte. Er hoffte, dass sie eindeutigere Informationen hatte, vielleicht sogar endlich handfeste Hinweise.

Vor allem aber hoffte er, dass es ihr gut ging und dass sie Jadestadt endlich wieder verlassen konnten. Sein Gefühl sagte ihm, dass es hier nur immer gefährlicher wurde. Ohne mehr Rückendeckung wollte er sich nicht mit dem Dämon anlegen, der all diese Menschen unter seiner Kontrolle hielt.

Als er das Brummen der Gefangenen nicht mehr hören konnte, kam ihm die Stille der Stadt erdrückend vor. Seine Schritte schienen aller Vorsicht zum Trotz zu dröhnen. Sogar seine Atemzüge waren zu laut. Hinter jeder Ecke rechnete er mit einem ganzen Trupp Dämonen.

Aussichtslos.

Lyon stockte der Atem und er blieb wie festgefroren stehen. Vor seinem inneren Auge tauchte Meredy auf. Sie lag am Boden und krümmte sich immer wieder zusammen. Ihre schlanken Finger krallten sich um die Fugen des Pflasters. Sie drückte ihre Stirn auf den Boden, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war.

Dieser Kampf ist vergeblich, flüsterte eine samtige Stimme in Lyons Kopf. Sie war weiblich, beinahe sinnlich zu nennen, doch in ihr klang etwas schneidend Kaltes mit. Keine Gnade, kein Mitleid. Nur gleichgültige Grausamkeit. Ihr könnt nicht entkommen, könnt euch nirgends verstecken. Ihr seid allesamt dem Tode geweiht.

Meredy krümmte sich noch mehr zusammen und presste sich die Hände auf die Ohren. Lyon streckte die Arme aus, bereit, seine Freundin an sich zu ziehen, willens, sie mit seinem eigenen Leben zu beschützen…

Jämmerlich!

Die Arme griffen ins Leere, bekamen weder samtig weiche Haut noch seidige Haare zu fassen. Blinzelnd strich Lyon sich über das Gesicht. Das war falsch. Ein Trugbild. Er rief sich die Gefangenen im Steinbruch wieder in Erinnerung. Sie wurden von einem Winddämon kontrolliert. Wer wusste, was sie sahen und hörten, während sie dort standen und stumpfsinnig murmelnd ins Leere starrten…

Mit einem Ruck setzte Lyon sich wieder in Bewegung und zwang sich dabei, in Etappen zu denken, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. So war er in der Kaiserlichen Armee auf die Konfrontation mit einem Telepathen vorbereitet worden. Telepathen durchforsteten die Gedanken ihrer Opfer nach Ängsten und benutzten diese als Hebel. Man konnte seine Ängste nicht verstecken, aber man konnte ihre Hebelwirkung schwächen, indem man sich auf klare, wichtige Gedanken konzentrierte. Keine komplizierten Pläne, keine Fragen, keine Spekulationen.

Lyon musste zum Tor. Darauf konzentrierte er sich. Er blickte weder nach links noch nach rechts, lauschte nicht, suchte nicht. Es ging nur darum, weiter nach Süden zu gehen. Am Rande seines Gesichtsfeldes erkannte er irgendwann den Garten von Jadestadt. Er hatte also die Südhälfte der Stadt erreicht. Jetzt war es nicht mehr weit bis zum Tor, wo hoffentlich Meredy auf ihn war-

Aussichtslos. Die Stimme klang beinahe amüsiert. Als wäre Lyons Versuch, ihrem Einfluss zu entkommen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Kein Menschengewürm kann mir entgehen. Die Lehren eurer Magistri verstehen nichts von wahrer Macht. Ich habe schon Menschen versklavt, als sie das erste Mal einen Fuß auf unseren Grund und Boden gesetzt haben…

Wieder tauchte Meredy vor Lyons inneren Augen auf. Sie trug nur ein Leinenhemd und Lederhosen, ihre Haare waren offen, ihre Züge jünger, weniger kontrolliert. Tränen rannen in Strömen über ihre Wangen, ihre Augen waren voller Horror und Scham, während ihre Lippen sich unablässig bewegten.

Armes, gebrochenes Geschöpf…, spottete die Stimme.

Lyon öffnete die Lippen zum Protest, doch er erstarb, als er in der Vision sah, wie er selbst die Arme hob, um Meredy zu berühren, sie vorsichtig zu trösten, und wie sie davor zurück schreckte. Das war sein schlimmster Alptraum. Egal wie lange das schon her war, egal wie nahe er Meredy nun war, diese Erinnerung machte ihm auch heute noch zu schaffen. So wichtig dieser Schritt damals auch für sie Beide gewesen war, es blieb eine Tatsache, dass Meredy damals vor seinen Augen zerbrochen war und dass er nichts – absolut nichts! – für sie hatte tun können…

Lyon spürte vage, wie sich sein Körper bewegte, aber seine Gedanken kreisten einzig und allein um Meredy und seine schmerzhafte, verdammenswerte Hilflosigkeit.

Irgendwo in der Ferne glaubte er, jemanden seinen Namen rufen zu hören, aber das ging unter im Gewisper der Stimme…



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