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Submission

von

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10. Kapitel

Kurz nachdem Matthew das Badezimmer verlassen hatte und sich einen sich einen Tee kochen wollte, klingelte es plötzlich an der Tür und der Butler kam zu ihm mit der Information, dass Madame Blair ihn zu sprechen wünsche. Das machte ihn etwas stutzig. Zwar war die Familie Blair sehr einflussreich und gehörte zu den zehn reichsten Familien in New Babylon, aber für gewöhnlich hatten sie keinen Kontakt zur Cassian-Familie. Weder geschäftlich, noch privat. Doch Matthew war natürlich auch neugierig und wollte wissen, was das derzeitige Oberhaupt der Blair-Familie mit ihm besprechen wollte. Er empfing Madame Blair und ihren Mann im Salon und wies den Butler an, Tee zu servieren. Isabelle Blair war die älteste Tochter des alten Patriarchen Jean Blair und hatte pechschwarzes langes Haar, das sie zu einer kunstvollen und eleganten Frisur trug. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine ebenso schwarze Federboa, dazu auch Seidenhandschuhe. Ihr Mann Edward Blair war ein etwas blasser aber groß gewachsener Mann mit aschblondem Haar und dunkelgrünen Augen. Trotz seinem eleganten Anzug wirkte er etwas unauffällig, denn jene Person, die über die stärkste Ausstrahlung verfügte, war Madame Blair selbst. Sie ließ sich auf eines der Sofas nieder und hatte ein kühles Lächeln auf den Lippen. „Sehr nett, dass Sie mich unangemeldet empfangen, Mr. Cassian. Ich halte nicht sonderlich viel von Terminen und bin ein eher spontaner Mensch.“

Um das Bild einer wahren Femme Fatale zu unterstreichen, hatte Madame Blair eine kunstvoll verzierte schmale Pfeife, aus der sie gelegentlich einen tiefen Zug nahm. Es roch weniger nach Tabak aber nach Kräutern. Isabelle Blair hatte das Auftreten einer eleganten Geschäftsfrau, die ihre Reize zu nutzen wusste, um einen guten Deal zu machen. Und darin lag die Gefahr. Das Aussehen dieser Frau war lediglich ein Deckmantel um zu verbergen, dass sie unglaublich gerissen und erbarmungslos war. Sie war die größte Sklavenbesitzerin in Eurasien und hatte gleichzeitig einen hohen Verschleiß an eben jenen. Es war kein Geheimnis dass sie und ihr Ehemann ihr persönliches Vergnügen daraus zogen, ihre Sklaven zu foltern und sie zu zwingen, sich gegenseitig zu vergewaltigen und zu misshandeln. Hinter der Fassade einer schönen und unnahbaren Frau befand sich ein wahrer Abgrund und Matthew wollte sich lieber nicht vorstellen, welche Grausamkeiten sie ihren Sklaven antat. „Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuchs, Madame?“ fragte er direkt und hielt ihrem Blick stand. Wieder lächelte sie und blies eine kleine Rauchwolke aus.

„Ich hatte da einen hübschen jungen Sklaven im Auktionshaus ins Auge gefasst, den Sie mir bedauerlicherweise weggeschnappt haben. Da wir beide vernünftige Leute sind, möchte ich Ihnen ein Angebot machen. Einen volljährigen Sklaven zu erziehen, erfordert viel Mühe und Zeit und es gab auch bereits Patriarchen, die dieses Unterfangen unterschätzt haben. Erinnern Sie sich an Sir Birmington? Sein erster Sklave war 17 Jahre alt und tötete ihn, indem er ihm die Kehle durchbiss. Ich möchte Ihnen einen kleinen Freundschaftsdienst meinerseits erweisen, Mr. Cassian. Ich habe eine ganze Reihe von perfekt disziplinierten Sklaven, die sogar ihresgleichen töten würden, wenn man es ihnen befiehlt. Ich biete Ihnen im Austausch für den Jungen einen bereits abgerichteten Sklaven von mir an.“

Ach so war das also. Madame Blair hegte Interesse für seinen Jungen und wollte ihn aushandeln. Das erklärte natürlich warum sie zu ihm kam. Aber trotzdem gab es etwas, das ihn beschäftigte. Und natürlich sprach er es auch direkt an. „Warum interessieren Sie sich so sehr für den Jungen, Madame? Sie haben bereits eine Vielzahl von Sklaven. Was also macht ihn so besonders, dass Sie ihn unbedingt haben wollen?“

Für einen Moment wirkte die schwarzhaarige Schönheit überrascht über diese Frage, mit der sie anscheinend nicht gerechnet hatte. Aber dann schmunzelte sie amüsiert und zog die Augenbrauen hoch. „Er passt hervorragend in meine Sammlung. Mein Mann und ich haben neben unseren allgemeinen Sklaven eine Reihe von auserlesenen jungen Tramps, die wir für spezielle Events ausbilden wollen. Der Junge hat ein gutes Aussehen und ist nicht so zerbrechlich wie die meisten Sklaven, die wir ersteigern. Wir brauchen jemanden, der ein gutes Durchhaltevermögen besitzt.“

Doch irgendwie schmeckte Matthew die Sache nicht. Zwar war der Bengel, den er ersteigert hatte, nur ein Sklave, aber ihm missfiel der Gedanke, dass er in die Hände der Blair-Familie geraten würde. Auch wenn der Junge einiges an Kampfgeist und Ausdauer hatte, würde er nicht lange leben, wenn diese Frau seine neue Besitzerin werden würde. Und das passte ihm überhaupt nicht. „Tut mir leid, aber ich bin mit meinem Sklaven bereits mehr als zufrieden. Und ich habe auch nicht vor, ihn zu verkaufen.“

„Oh?“ bemerkte Madame überrascht und nahm einen weiteren Zug von ihrer Pfeife. „Kann es etwa sein, dass der Neffe des Präsidenten eine Schwäche für diesen kleinen Tramp hat? Wie skandalös.“

Bei diesen Worten zog Matthew die Augenbrauen zusammen und spürte einen leichten Anflug von Ärger. „Das Gleiche könnte ich auch von Ihnen behaupten, Madame. Ich bin über die Art, wie Sie Ihre Sklaven behandeln, im Bilde und lassen Sie mich Ihnen eines sagen: als Patriarch sehe ich mich auch als Ehrenmann und ich habe es nicht nötig, mich auf dieses Niveau zu begeben, auf welchem Sie und Ihre Geschäftspartner sich befinden.“

Das Lächeln der Frau in schwarz schwand und plötzlich sah sie ihn sehr ernst an. Doch dieser Ausdruck blieb nicht für lange, als sie geschlagen seufzte und den Rauch ausblies. „Tja, dann kann man nichts machen…“

Bei diesen Worten schaute Edward Blair seine Frau fragend an, so als warte er auf eine Art Zeichen oder Anweisung seiner Frau. „Isabelle…“

Doch sie hob nur die Hand und winkte ab. „Eine Lady sollte einem Ehrenmann nicht im Wege stehen. In dem Falle entschuldige ich mich für die Störung, Mr. Cassian und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag. Komm, Darling. Wir gehen.“

Doch Edward Blair sah für einen Moment sichtlich irritiert aus, dass seine Frau so schnell klein bei gegeben hatte, widersprach aber auch nicht und nickte nur. So standen sie beide auf und wurden von Matthew wieder zur Tür begleitet. Doch als der Butler ihnen bereits die Haustür öffnete, blieb Madame Blair kurz stehen und drehte sich ein letztes Mal zu Matthew um. „Ach ja, was ich noch vergessen hatte: Sie beschäftigen sich doch mit Archäologie und Historienforschung, richtig?“

Matthew bejahte die Frage, wunderte sich aber warum Madame Blair plötzlich auf dieses Thema zu sprechen kam. Doch bevor er diesbezüglich eine Frage stellen konnte, kam sie ihm auch schon zuvor. „Tramps mögen zwar ungebildet sein und können weder lesen noch schreiben, aber sie scheinen sehr viel Wert auf ihren Namen zu legen. Es heißt, es steckt eine besondere Bedeutung hinter diesen Namen, welche allesamt noch aus der alten Welt stammen. Es scheint, als wüssten sie Dinge, die uns verschlossen bleiben, aber keiner von ihnen hat jemals sein Wissen offenbart. Aber vielleicht kennt ja ein interessierter Archäologe und Historienforscher einen Weg, einen Tramp zu überzeugen. Na dann, man empfiehlt sich…“

Damit verabschiedete sich das Ehepaar Blair und Matthew sah ihnen leicht irritiert nach und musste erst einmal darüber nachdenken, worauf Madame genau anspielen wollte.
 

***
 

Isabelle und Edward hatten sich in die Limousine gesetzt und waren bereits auf den Rückweg, da brach Monsieur Blair sein Schweigen und ergriff seine Frau am Arm. Er wirkte sehr beunruhigt und nervös im Gegensatz zu vorhin. „Isabelle, was sollte das vorhin? Ich dachte, unser Plan wäre gewesen, den Jungen mitzunehmen. Entweder auf deine Weise oder meine. Warum hast du ihn da gelassen und vor allem auch noch diesen Kerl auf die Spur der Tramp-Geheimnisse gebracht? Er ist ein Verräter.“

„Nein, ist er nicht“, widersprach Madame Blair ihm mit einem fast strengen Unterton in der Stimme und ihr Blick verfinsterte sich für einen kurzen Augenblick. „Und ich weiß genau, was ich tue, Darling. Immerhin bin ich diejenige, die hier die Kopfarbeit übernimmt. Die Sache ist ganz einfach die, dass ich meine Pläne kurzfristig geändert habe und wir uns deshalb erst einmal im Hintergrund halten und den weiteren Verlauf der Dinge abwarten werden.“

Edward hielt inne und ließ nun seine Frau los. Diese plötzliche Meinungsänderung kam für ihn absolut unerwartet. Dabei war sie es doch selbst gewesen, die zu ihm gesagt hatte, sie sollten den Jungen unbedingt mitnehmen. Entweder auf friedliche Art oder auf die seine eigene Weise. Und egal wie sehr er auch darüber nachdachte, so erschloss sich ihm einfach nicht, warum Isabelle plötzlich ihre Meinung geändert hatte, obwohl doch nichts Besonderes vorgefallen war. „Ja aber… du hast doch von Aaron gehört, was die Tramps vorhaben. Ich dachte, du hast eine Vereinbarung mit ihm, den Jungen von diesem Kerl wegzuholen, bevor Ari Amok läuft.“

„Aaron wird halt warten müssen“, erwiderte sie und blies seelenruhig den Rauch aus, den sie inhaliert hatte. „Das ist seine kleine Strafe dafür, dass er mich wieder bei diesem Spitznamen genannt hat. Und mir ist halt eine bessere Idee gekommen, als den Jungen einfach nur zurückzuholen: wenn wir Matthew Cassian als Mitglied für SEED gewinnen, könnten wir ihn als unsere Trumpfkarte nutzen, um die eurasischen Städte unter unsere Kontrolle zu bekommen.“

„Und warum hast du dann nicht gleich mit offenen Karten gespielt, wenn du willst, dass er SEED beitritt?“

Isabelle seufzte und klopfte nun den Tabak ihrer Pfeife im Aschenbecher aus. Zwar liebte sie ihren Mann über alles und er war eine wirklich treue und loyale Seele, aber er gehörte leider nicht zu der Sorte Menschen, die komplizierte Pläne schmieden oder verstehen konnten. Er war ein etwas einfach gestrickter Mann, dementsprechend war sie stets diejenige, die sich um die Pläne und die Leitung von SEED kümmerte. Für gewöhnlich vertraute er ihr auch blind und hinterfragte sie nie, aber anscheinend wollte er es wirklich wissen. Auf der einen Seite konnte sie seine Reaktion verstehen, denn sie befanden sich momentan in einer etwas schwierigen Situation. Ari Descartes war niemand, der einfach nur leere Drohungen aussprach. Wenn er damit drohte, Gomorrha eigenhändig in Schutt und Asche zu legen und jeden Patriarchen zu töten, dann würde er es auch tun. Und genau das mussten sie verhindern. Trotzdem durften sie nichts übereilen, ansonsten würden sie sich viele Chancen verbauen. „Er ist noch nicht soweit. Hätten wir ihm von SEED erzählt, wäre unser ganzer Plan in Gefahr geraten. Aber wenn wir uns erst einmal im Hintergrund halten und der Sache ihren natürlichen Lauf nehmen lassen, dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem er sich uns bereitwillig anschließt. Er ist kein Verräter und er ist auch gewiss nicht wie die Kunden im Auktionshaus. Vertrau mir ruhig, Darling. Ich habe nicht umsonst ein drittes Auge für die wahre Natur der Menschen.“

Madame Blair lächelte zufrieden und konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen. Es war wie Aaron bereits gesagt hatte: die ganze Situation war eine einzige Ironie. Aber genau darin lag ihre Chance. Wenn sie es ganz geschickt anstellte und alles so verlief wie geplant, dann würden sie nicht bloß allein den Jungen bekommen, sondern auch ein sehr hilfreiches Mitglied. Und dann brauchte sich SEED nicht mehr länger vor der Öffentlichkeit zu verbergen und im Geheimen agieren um nicht von der Regierung entdeckt zu werden. Dann konnte Projekt Kanaan in die nächste Phase geleitet werden und SEED würde die Kontrolle über Babylon, Sodom, Gomorrha und die anderen Städte Eurasiens übernehmen. Dann musste sie nicht mehr länger in diese schmierigen Auktionshäuser und Bordelle gehen, um sich Sklaven zu kaufen. Das einzige Problem war allerdings Ari. So wie sie gehört hatte, war er drauf und dran, einen Krieg anzuzetteln, um seinen Schützling zu retten. Was war dieser Kerl aber auch für ein hitzköpfiger Idiot. Selbst der Waffenstillstandsvertrag, den er mit den Patriarchen geschlossen hatte, war ausgekochter Schwachsinn gewesen und es hatte sie bis heute gewundert, warum Aaron ihn nicht besser unter Kontrolle hatte. Dabei war er doch derjenige unter den Tramps, der den Verstand für höhere Pläne besaß. Aber anscheinend konnte man einem solch aggressiven Hitzkopf nicht mit Vernunft kommen.

„Und was sagen wir Aaron?“ wurde sie schließlich gefragt. Doch Madame Blair lehnte sich mit einem selbstsicheren Lächeln zurück und schaute zum Fenster hinaus. „Überlass das ruhig mir. Und ein bisschen Arbeit darf er sich auch mal zur Abwechslung machen. Immerhin profitiert er von SEEDs Plänen genauso wie wir. Da darf er sich auch etwas einfallen lassen, um diesen Idioten ruhig zu halten.“

„Ich hoffe es. Wenn die Prodigies Sodom und Gomorrha angreifen, haben wir ein gewaltiges Problem.“

Ja, das stimmte allerdings. Doch sie war sich sicher, dass Aaron niemals zulassen würde, dass es dazu kam. Selbst wenn er gegen Ari kämpfen müsste. Trotzdem hoffte sie, dass es nicht dazu kommen würde. Denn sie glaubte kaum, dass Aaron selbst mit seiner Telekinese etwas gegen Aris Knochenpanzer ausrichten konnte. Wenn der Kerl erst einmal loslegte, konnte ihn nicht einmal eine ganze Armee aufhalten. Das wussten auch die Patriarchen und das war auch der Grund, warum niemand es wagte, den Waffenstillstandsvertrag zu verletzen. Und auch wenn Madame Blair diesem Vertrag nichts abgewinnen konnte, wusste sie, dass die Dinge viel schlimmer werden würden, wenn dieser Hitzkopf Ari einen Angriff startete und der Waffenstillstand somit aufgehoben war. Und das würde einen neuen Krieg geben, der wahrscheinlich mehr Opfer fordern würde als die rote Seuche. „Nur Geduld, mein Lieber. Wenn es etwas gibt, was wir beide sehr gut können, dann ist es, Menschen zu manipulieren, oder nicht? Und dies ist eine einmalige Chance für uns, deshalb werde ich sie auch ergreifen. Fürs erste werden wir mit den anderen Mitgliedern das weitere Vorgehen besprechen und sie über den Stand der Dinge informieren.“
 

***
 

Es hatte sehr lange gedauert, bis Ari sich endlich einigermaßen beruhigt hatte. Doch es hatte trotzdem viele Schäden gegeben. Da er seine Wut einfach nicht unter Kontrolle bekam, hatte er die Gruppe, die mit Jace zusammen die Medikamente stehlen gegangen war, grün und blau geschlagen. Und nachdem er genug Dampf abgelassen hatte, war er alleine losgezogen und zum Memorial Hill gegangen, ein Ort außerhalb von Babylon. Auf einem großen Hügel hatten sie im Laufe der Jahre ihre toten Kameraden begraben. Prodigies und Tramps. Wann immer er sich einsam fühlte, kam er hierhin. Im Laufe der Jahre waren dort Sträucher und Bäume gewachsen und es gab hier nirgendwo einen Grabstein. Dennoch wusste Ari die meisten Namen von jenen, die hier begraben waren. Die meisten von ihnen waren seine engsten Freunde gewesen, mit denen er damals geflohen war. Und unter einem ganz bestimmten Baum lag sie begraben. Auch wenn sie schon seit 18 Jahren tot war, kam er trotzdem oft hierher um zu reden. Sei es, weil er niemandem sonst seine schwache Seite offenbaren wollte, oder weil er selbst nach all dieser Zeit nicht akzeptieren konnte, dass sieben seiner engsten Freunde während der Blutnacht grausam sterben mussten. Und das Schlimmste an ihren Tod war gewesen, dass sie allesamt grausam ermordet worden waren, weil sie versucht hatten, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Ein einziger Verrat war nötig gewesen, um sieben seiner Freunde zu töten, die mit ihm damals aus dem Institut geflohen waren, den dritten Weltkrieg und die Hungerkrise überlebt hatten. Und Ari hatte sich geschworen, dass er nicht zulassen würde, dass sich so etwas jemals wiederholte.

Als er den Memorial Hill bestieg, blieb er oben auf der Spitze stehen, wo ein Kirschbaum wuchs. Obwohl es bereits kalt geworden war, trug er immer noch Früchte. Unter diesem Baum lag Lia begraben. Egal wie sehr sie in der Vergangenheit auch gestritten oder sogar gekämpft hatten, er hatte sie um ihre Charakterstärke bewundert. Und insgeheim hatte er gehofft gehabt, dass sie es schaffen würde, Frieden zwischen Tramps und Patriarchen zu schließen. Während sein Wunsch nur das Abschotten von der ganzen Welt und jedem Patriarchen beinhaltete, hatte sie an die Zukunft geglaubt. Ihr Traum war ein besseres Leben für die Tramps indem sie Frieden mit den Patriarchen schloss und dafür kämpfte, dass Tramps offiziell Menschenrechte zugesprochen bekamen. Umso bitterer war es für ihn gewesen, dass sie von jenen Menschen verraten wurde, denen sie geholfen und denen sie vertraut hatte. „Lia…“

Ari legte eine Hand auf den Stamm des Baumes und senkte den Blick. „Was soll ich bloß tun? Du hast mich zwar gebeten, die anderen zu beschützen und keine Rache für euren Tod zu üben. Aber… hast du eigentlich eine Ahnung, wie schwer es für mich ist zu wissen, dass ihr nie wieder zurückkommt und diese verdammten Schweine, die euch das alles angetan haben, immer noch leben? Ich habe wirklich ein Bestes gegeben, glaub mir. Aber… Ich kann es einfach nicht ertragen, diese Grausamkeiten mit anzusehen. Du hast zwar immer gesagt, dass wir Frieden mit den Patriarchen schließen und nicht in der Vergangenheit leben sollen. Aber wie soll ich nach vorne sehen, wenn so viele Tramps immer noch zu leiden haben? Die Menschen werden sich niemals ändern. Sie waren schon in der Vergangenheit selbstsüchtig und grausam und sie werden es auch immer sein. Sie sind alle von Grund auf verdorben und hätte ich gewusst, dass sie so undankbare und hinterhältige Verräter sind, hätte ich sie schon damals die Stadt angegriffen und jeden einzelnen von ihnen getötet. Aber ich habe es nicht getan und warum? Weil du mich angefleht hast, es nicht zu tun. Aber ich bin nicht wie du! Ich kann und will ihnen nicht verzeihen. Weder, dass sie uns damals zu lebenden Waffen gemacht haben, noch dass sie tausende von Kindern und Babys für ihre kranken Experimente geopfert haben, geschweige denn diesen Verrat von vor 18 Jahren. Ich habe es dir doch immer wieder gesagt, dass deine Wunschträume dich irgendwann noch ins Grab bringen würden. Doch ich habe nie gewollt, dass das tatsächlich passiert. Verdammt noch mal! Warum musstest du uns alle alleine zurücklassen, obwohl du wusstest, wie sehr wir dich brauchen? Ich war noch nicht einmal in der Lage, Jace zu beschützen, wie soll ich da mein Versprechen halten, keine Rache an den Menschen zu verüben, die ihn gefangen genommen haben? Der Junge ist wie ein Sohn für mich! Ich habe ihn großgezogen und ihn im Arm gehalten, wenn er geschrien hat. Ich habe ihm das Sprechen und Laufen beigebracht und ihn für seine Prüfung als Namensträger vorbereitet. Und ich war es auch, der ihm den Namen Jace gegeben hat. Aber diese verdammten Schweine haben ihn mir weggenommen, genauso wie sie mir so viele meiner Freunde genommen haben! Wie kannst du von mir verlangen, ihnen einfach zu verzeihen, wenn sie mir jeden Menschen nehmen, der mir wichtig ist? Ihr seid meine Familie… Jace ist meine Familie… Wieso bin ich dann nicht in der Lage, sie zu beschützen, obwohl mir jeder sagt, dass ich der Stärkste bin? Scheiß auf Stärke! Scheiß auf meine gottverdammten Kräfte wenn sie mir nicht einmal geholfen haben, euch zu retten! Nicht einmal mein Versprechen gegenüber Emily konnte ich halten und habe sie sterben lassen. Sie hat mir vertraut und ich konnte sie nicht retten. Ich kann niemanden beschützen, egal was ich auch tue.“

Schluchzend fiel Ari auf die Knie und er spürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Das Atmen fiel ihm schwer und egal wie sehr er auch versuchte, stark zu bleiben, er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Wie sehr wünschte er sich, dass Lia noch ein einziges Mal zu ihm sprechen würde. Egal wie heftig sie sich kurz vor ihrem Tod gestritten hatten, er vermisste es, wie sie sich über alles hinwegsetzte, was er sagte und ihm stets zu sagen pflegte „Du bist ein verdammter Vollidiot, Ari! Dein Starrsinn wird uns hier kein Stück weiterbringen.“

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter und erschrocken fuhr er auf. Für einen Moment ihn der Gedanke, dass sie ihn gehört hatte und tatsächlich ein letztes Mal zurückgekommen war, um mit ihm zu reden. Doch es war nicht Lia, sondern Aaron. Trotzdem überkam ihn Erleichterung als er ihn sah und kaum, dass er wieder auf den Beinen war, schloss er ihn auch schon in die Arme. „Aaron, du bist schon wieder zurück? Wie ist es gelaufen? Hast du Jace befreien können?“

Der Zurückgekehrte klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und wirkte ein wenig überfordert mit der Situation. „Würdest du mich erst mal loslassen? Ich… ich kriege keine Luft…“

Sofort lockerte Ari seine Umarmung und Aaron taumelte benommen zurück, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Auch wenn er sich über diese Geste freute, sein Körper war wesentlich fragiler als der eines normalen Prodigy und Ari hatte ihm mit solch einer Umarmung schon mal sogar zwei Rippen gebrochen. Bevor er aber wieder zu Wort kam, wurde er wieder mit Fragen gelöchert, die sich hauptsächlich um Jace drehten. Doch Aaron musste seine Ungeduld bremsen und erklärte ihm „Ich habe ihn noch nicht gefunden, aber ich habe trotzdem schon mal eine gute Nachricht: ich habe ihn in keinem der Bordelle finden können, was heißt, dass er an einen Patriarchen versteigert wurde. Ich werde zwar noch etwas Zeit brauchen, um seinen derzeitigen Besitzer aufzuspüren, aber zumindest sitzt er nicht in diesen Höllenlöchern fest.“

Aris aufblühende Euphorie erlosch sofort wieder als er hörte, dass Jace noch nicht gefunden wurde. Es wäre zu schön gewesen um wahr zu sein. Und wieder überkam ihn die Furcht, dass für Jace jede Hilfe zu spät kommen könnte, während er hier herumsaß und nichts tat. „Er wurde an einem Patriarchen verkauft? Wie sollen wir ihn dann finden? Er könnte überall sein!“

„Überlass es ruhig mir, Ari!“ beruhigte sein Freund ihn und nahm seine Hand. „Ich schaffe das schon. Gib mir nur ein wenig Zeit um ihn zu finden.“

„Zeit… Zeit… Wir haben keine Zeit. Je länger wir warten, desto mehr muss Jace durchleiden. Was ist, wenn sie ihn vollständig brechen oder er stirbt?“

„Jetzt beruhige dich doch“, unterbrach Aaron ihn mit strenger Stimme, packte seinen Freund an den Schultern und rüttelte ihn kurz durch. „Jace wird nicht sterben. Hast du die Vereinbarung vergessen? Die Patriarchen wissen, dass sie gegen uns keine Chance haben und werden es nicht wagen, auch nur einen Tramp zu töten. Du weißt, was sie mit Tramps machen, die für sie nicht mehr von Nutzen ist: sie schicken sie ins Ghetto in Sodom. Heißt also im Klartext: wenn der Patriarch, der Jace gekauft hat, kein Interesse mehr an ihn hat, wird er folgende Möglichkeiten haben: entweder verkauft er ihn ans Bordell, er verkauft ihn an einen anderen Patriarchen oder er schiebt ihn nach Sodom ab. In dem Fall hätte ich ein großes Problem weil es umso schwerer wird, seine Spur weiterzuverfolgen. Aber solange Jace noch im Besitz des gleichen Patriarchen ist, sollte es lediglich ein paar Tage brauchen, bis ich ihn finde. Keine Angst Ari, ich werde nicht zulassen, dass Jace stirbt. Aber ernsthaft, du siehst furchtbar aus und du solltest aufhören, dir solche Vorwürfe zu machen. Du trägst nicht die geringste Schuld daran, was damals passiert ist. Es war nicht deine Schuld!“

Ari senkte den Blick und wagte es nicht, seinem Freund in die Augen zu sehen. „Wie viel hast du mitgehört?“

„Genug…“ antwortete Aaron und strich ihm zärtlich durchs Haar. „Ich verstehe wie du dich fühlst. Und keiner verlangt von dir, dass du den Patriarchen alles verzeihst. Aber die Menschen, die uns damals zu dem gemacht haben was wir jetzt sind, sind schon lange tot. Es sind 200 Jahre vergangen und wir können nicht ewig in der Vergangenheit leben. Manchmal denke ich, wir sollten alles hinter uns lassen, New Babylon verlassen und woanders einen Neuanfang machen. Vielleicht haben wir dann ein besseres Leben und müssen nicht mehr von den Patriarchen stehlen, um zu überleben.“

Doch hier verfinsterte sich Aris Miene augenblicklich. „Warum sollten wir wegziehen? Wir haben schon hier gelebt lange bevor diese Bonzen diese Stadt aufgebaut haben. Wenn hier jemand verschwinden sollte, dann die!“

Aaron seufzte geschlagen bei dieser Antwort. Was hatte er auch anderes erwartet? Egal was auch passierte, Ari würde niemals auf den Gedanken kommen, die Tramps auszusiedeln, auch wenn das Leben hier für sie immer schwieriger wurde. Sein Stolz verbot es ihm einfach, vor den Patriarchen klein bei zu geben. Und so stur wie er in dieser Hinsicht war, so stur war er auch mit seinen eigenen Schuldgefühlen. „Okay. Aber du solltest trotzdem aufhören, dich so sehr zu quälen. Egal was du getan hättest, du hättest Lias Meinung nicht ändern können. Sie hatte ihren eigenen Kopf, genauso wie du. Aber sie ist tot und sie kommt nicht mehr zurück, genauso wenig wie die anderen, die wir verloren haben. Ich liebe dich, Ari. Und ich kann es nicht mit ansehen, wie du dich quälst. Du musst akzeptieren, dass sie nicht mehr zurückkommen und für jeden irgendwann mal die Zeit kommt. Ich bin da für dich, wenn du mich brauchst. Und ich stehe dir immer zur Seite, um dir zu helfen. Aber ich bin nicht Lia und ich will auch kein Ersatz für sie sein.“

„Was?“ fragte Ari und war sichtlich fassungslos. „Aaron, du weißt, dass ich dich niemals als ein Ersatz für Lia gesehen habe. Ich liebe dich so wie du bist und du weißt, dass das mit mir und ihr nie und nimmer gut gegangen wäre. Wir waren einfach zu verschieden und wir wussten es beide. Und wenn wir miteinander geschlafen hatten, waren wir uns ebenso einig, dass es dumme Ausrutscher und Momente der Schwäche waren. Wir haben uns die meiste Zeit nur gestritten und du weißt, dass es einfach nur kompliziert war. Sie hat ihr wahres Glück mit Marco gefunden und ich mit dir. Es ist nur…“

„Es hat dich so hart getroffen, weil sie sogar stärker war als du“, ergänzte Aaron und nickte. „Ja, das hatte niemand sehen können. Aber ich kann nicht mit ansehen, wie du dir selbst nach all diesen Jahren noch die Schuld gibst. Du bist nicht allein, Ari. Ich bin immer noch da und Chris und Thomas sind auch da für dich. Du musst diese ganze Last nicht alleine tragen. Komm, lass uns zurück nach Hause gehen. Morgen mache ich mich wieder auf den Weg, um nach Jace zu suchen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Langsam wird es interessant. Zwar wissen wir jetzt, dass Isabelle Blair Lady Raven ist und für SEED arbeitet, aber die genauen Ziele sind immer noch unklar oder weil Aaron mit einer sadistischen Sklavenbesitzerin gemeinsame Sache macht. Mir tut vor allem Ari leid, der keine Ahnung hat, dass der Mensch, den er liebt, ihn belügt und verrät während er selbst mit der Angst lebt, noch mal jemanden zu verlieren, der ihm wichtig ist. Auch wenn er stark ist, seine posttraumatische Belastungsstörung macht es ihm unmöglich, mit der Situation umzugehen. Auch wenn er unfassbar stur und verbittert ist, tut er mir schon ziemlich leid Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  wasabi
2017-11-05T13:35:09+00:00 05.11.2017 14:35
Oh man. Na da bin ich ja echt mal gespannt, wie es weiter gehen wird ... recht kompliziert, denn wie du schon sagst, Ari kann einem leid tun!!!
LG
wasabi
Von:  Sumino
2017-09-15T06:57:45+00:00 15.09.2017 08:57
Da trieft der spruch 'Liebe ist Schmerz' genau


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