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No Princess

von

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Wo das Licht endet, beginnen die Schatten

Drei Wochen. Drei Wochen ist es her, seit Anna Kai das letzte Mal gesehen hat. Selbst wenn er nachts zu tun hatte und sein Handy normalerweise ausgeschaltet war – es war nicht normal, Kai nicht irgendwie zu erreichen. Im schlimmsten Falle wäre er nach ein, zwei Tagen einfach wieder aufgetaucht. Ab und an blieb Anna nachts wach, um nach dem Vampir Ausschau zu halten. Oft beobachtete sie Schatten, die im Garten oder auf der Straße aufflackerten und wieder verschwanden. Manchmal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber nie passierte tatsächlich etwas. Es war an solchen Tagen, dass Anna sich am frühen Morgen am Fenstersims wiederfand, verspannt durch die ungewohnte Schlafposition und frierend. Der Oktober brach an und die Sommersonne wärmte die Nacht nicht mehr.

Akira holte Anna nun jeden Tag von Zuhause ab und brachte sie auch wieder nach Hause, während Ren versuchte, die Situation in der Schule unter Kontrolle zu behalten. Diese hatte sich nämlich nicht zu Annas besten gewandelt: Die Schüler waren aufgebracht und verlangten die Auflösung von Annas Gang. Das bewegte sich noch in den Erwartungen der Königin: Eine Gang, die den Ruf hatte, ständig Leute zu verprügeln, hätte früher oder später aufgelöst werden müssen. Doch das war nicht das eigentliche Problem: Die Vorfälle häuften sich, in denen Anna heraus gefordert wurde. Nicht nur von den üblichen Idioten und Gangstern – Mittlerweile schlossen sich Mobs aus Schülern zusammen, um der Blondine aufzulauern. Alles hatte mit einer Ohrfeige begonnen und schien langsam in einen einseitigen Krieg auszuarten. Doch nicht nur Akira schien Anna nicht mehr von der Seite zu weichen – Auch Iori schien darauf erpicht, Anna nicht aus den Augen zu lassen. Es verging keine Sekunde, in der nicht einer von den beiden um sie herum schwirrte.

„Ich mag das nicht...“ murmelte Akira besorgt, als die beiden es gerade geschafft hatten, Iori abzuschütteln. „Ich glaube, Eve hat ihn auf dich angesetzt.“

Anna seufzte. Sie hatte Akira erzählt, was Eve gedacht hatte – Akira schien nicht besonders überrascht zu sein, dass Anna Gedanken lesen konnte – und es ließ sie das Gefühl nicht los, dass Eve wusste, was mit Adam passiert war.

„Wir können sie nicht fragen, wo Adam ist.“ flüsterte Akira leise und geleitete Anna in den Hintherhof, als hätte er geahnt, was sie vor hatte.

„Akira. Leute verschwinden. Nicht nur Mika und Adam, jetzt auch noch Kai! Ausgerechnet ER? Ich meine, er hatte eine Armee von Vampiren hinter sich und er ist nicht auf den Kopf gefallen. Wie sollten sie ihn bekommen haben?“

„Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“ schnauzte Akira und ging die Treppen des Hauptgebäudes hinunter. „Kai ist nun mal so. Und um ehrlich zu sein, gibt es nichts, was mich weniger stören würde, als wenn er den Platz räumt. Du erinnerst dich doch hoffentlich daran, dass das hier ein Wettbewerb ist?“ Anna schnaufte höhnisch auf.

„Ein Wettbewerb um eine falsche Königin, ja.“ hisste sie gehässig.

„Ob du eine echte oder falsche Königin bist, ist ohne Belang.“ Akira schmunzelte leicht. Sie hatten den Hof erreicht. Das Wetter wurde zunehmend schlechter. Graue Wolken verhangen den Himmel und ein gemeiner Wind fegte Anna durch die Haare, die sie sich zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Die beiden erreichten den Hinterhof und ein erneuter Schicksalsschlag ereilte sie: Die Basis, der Hinterhof, in dem sie immer rum lungerten, war mit rot-weißem Band abgesperrt worden. Der Baum, an dem alle gerne lehnten, Schatten im Sommer bot und angenehmen Windschatten im Herbst, war gefällt worden. Ein Stumpf blieb zurück. Das war alles. Der Rasen, auf dem Anna gerne saß, war ausgehoben worden. Einige Bauarbeitermaterialien lagen herum.

„Was zum Teufel…?“ fauchte Anna aufgebracht und trat gegen einen Zementmischer. Akira fuhr sich durch die Haare.

„Nichts, was wir machen können.“ murmelte er und betrachtete sich eine der Maschinen. „Scheint, als wollten sie hier irgendwas neues bauen.“

Schweigen trat ein. Nicht nur begannen ihre Freunde einer nach dem anderen zu verschwinden, nun wurde ihr auch noch einer der Orte geraubt, an dem sie sich wohl fühlte? Was folgte als nächstes?

„Guck' nicht so. Ist nicht so, als wäre Eve auch noch daran Schuld. Tatsächlich können wir nicht einmal davon ausgehen, dass sie an überhaupt etwas Schuld hat.“ Akira klang ruhig. Zu ruhig. Aber er hatte Recht – nichts wies daraufhin, dass Eve irgendetwas getan hatte. Außerdem: Warum sollte sie sich plötzlich für neue Schulgebäude einsetzen? Anna kletterte über das Absperrband und streichelte über den Baumstumpf. Es war wie eine frische Wunde, die immer noch blutete.

„Wie geht’s eigentlich deiner Blume?“ fragte Akira beiläufig und betrachtete die Königin dabei, wie sie ihren Erinnerungen hinterher trauerte.

„Gut, schätze ich. Blüht aber immer noch nicht.“

„Ist sie nicht einmal gewachsen?“ Akira klang überrascht. Anna schüttelte den Kopf. „Vielleicht verlierst du echt deine Kräfte. Vielleicht wird sie nie richtig blühen.“ Seine Worte waren wie Faustschläge – sie wollten Anna zerbrechen. Anna erhob sich wieder und streckte sich.

„Akira. Morgen möchte ich zu Tante und Onkel fahren. Ich habe lange genug versucht, mich davor zu drücken. Ich hab' das Gefühl, wenn ich jetzt nichts unternehme, verliere ich.“

„Was sollst du denn verlieren?“

„Alles.“

Es war nur ein Gefühl. Aber dieses Gefühl verriet Anna, dass sie lange genug ohnmächtig zugesehen hatte, wie sie alles und jeden verlor. Sie brauchte Adam – mehr als jeden anderen gerade. Sie wusste, wenn er da sein würde, würde sich der Rest von alleine klären. Die Blume, die nicht wuchs, wuchs. Mit Absicht hatte Anna Akira verschwiegen, dass sie weiterhin ihre Energie raubte. Nicht nur, um zu sehen, ob er Anna auch wählen würde, wenn sie keine Kräfte mehr hätte, aber auch aus Angst, er würde erneut wütend werden. Neben der Blume wuchs auch der Stein. Und so wuchsen auch die drei Wolfswelpen, die Anna mittlerweile bis zur Nase reichten. Alles wuchs und gedieh bei ihr Zuhause – selbst das Tattoo.

Die feine Linie, die sich auf ihrer Schulter ausgebreitet hatte, formte nun Pfeile. Striche. Sie zeigten irgendwo hin, verdichteten sich langsam. Anna wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, doch fand sie die selben Linien auch auf ihrer anderen Schulter. Langsam wurde es schwer, diese Tatsache zu verbergen. Vielleicht war es wie eine Krankheit. Wie fing es bei Charlotte an? Wurde sie auch langsam schwächer, als sie sich ihrem 18. Geburtstag näherte, weil ihr Herz sich keinen aussuchte, den es lieben konnte?

Anna biss sich auf die Unterlippe und drehte sich herum, dann knöpfte sie den Blazer ihrer Schuluniform zu.

„Willst du etwa, dass ich mit komme?“ fragte Akira verblüfft, als er Annas prüfenden Blick sah.

„Ja. Du, Ren und Mirai. Ich kann euch nicht aus den Augen lassen.“ erwiderte das Mädchen.

„Also ich hab' kein Problem damit. Was mit dem Affen und der Schlange ist, kann ich dir allerdings nicht sagen.“

„Dann geh' sie fragen. Ich muss zum Unterricht.“ Anna stopfte ihre Hände in ihre Jackentaschen, ehe Akira genervt und zähneknirschend Richtung Schülerratsraum ging.
 

„Oh, Annachen. Wie geht’s dir, Liebelein? Hast du noch jemanden verprügelt?“ Ioris Stimme drang wie ein Leuchtfeuer durch Annas Sorgen, als sie sich in ihren Platz fallen ließ. Sie würdigte ihn keines Blickes.

„Ey, Bitch, er hat mit dir geredet!“ schnauzte eines der Mädchen leise. Anna sah auch sie nicht an. „Was ist los mit der?“

„Oh, ich glaube sie ist ein bisschen traurig, weil ihre Gang aufgelöst wird und sie merkt, dass sie alleine auf der Welt ist.“ lachte ein Mädchen feist und die anderen stimmten mit ein.

„Sagt sowas nicht. Sie ist nicht alleine – Sie hat ja mich.“ Eine große, kühle Hand legte sich auf Annas Kopf. Für eine Millisekunde dachte Anna, es sei vielleicht Kai. Vielleicht Adam. Aber mit einem enttäuschten Blick stellte Anna fest, dass die Realität gerade nur Iori für sie parat hielt. Lustlos seufzend wandte sie ihren Blick wieder ab.

„Sei nicht so.“ lächelte Iori süß und kniff dem Mädchen in die Wange.

„Lass' mich.“ Anna hatte mittlerweile sehr gut von Akira gelernt, wie man sein Desinteresse zum Besten gab.

„Hast du Pläne fürs Wochenende? Wie wär's mit 'nem Date?“ Seine Finger glitten über die in den Zopf geflochtenen Haare, hoben es an. Wenn er es noch mehr heben würde, würde man das Tattoo vielleicht sehen. Anna zog ihm den Zopf aus der Hand und wedelte abweisend mit der Hand.

„Ich hab' schon Pläne, sorry.“

„Mit deinem Freund?“ grinste Iori sofort breit. Anna schüttelte den Kopf.

„Mit meiner Familie.“

Das Wochenende brach an. Es war ein düsteres, windiges Wetter, das einem die Lust nahm, etwas draußen zu unternehmen. Ren hatte sich leider ausgeklinkt – er hätte zu viel mit den Prüfungen zu tun. Er war bereits im letzten Jahr der Schule und die Examen für den Abschluss und die Universitäten waren langsam fällig. Seitdem Anna schwächer wurde, schien er sich immer mehr von ihr abzukapseln. Anna war nicht blind. Also machten sie, Akira und Mirai sich alleine auf, um Annas lieber Familie einen Besuch abzustatten. Die Fahrt war lang. Sie war nicht einmal zu vergleichen mit dem Weg zu Mirais Wald – Die Bahn brauchte geschlagene acht Stunden, um am Ziel anzukommen. Die Sonne, hätte man sie gesehen, senkte sich bereits über die hohen, mit Nebel verschlungenen Berge. Oktober war letztendlich der Monat, der den Sommer komplett verabschiedete.

Der Weg durch die Hügel zum alten Haus war anstrengend. Oft wusste Anna nicht, wohin oder wie man da hin kam, doch letztendlich, nach mehreren Stunden (genervten) Suchens, hatten sie die bekannte Auffahrt erreicht. Doch etwas stimmte nicht – bereits unten am Hügel erkannte Anna, dass es nicht die selbe Atmosphäre wie sonst war.

Der Anstieg war nicht schwierig. Allerdings gestaltete er sich schwieriger, da das Herz in Annas Brust vor Aufregung fast explodierte. Langsam müsste das Haus in Sicht kommen. Langsam. Näher. Anna begann zu rennen. Adam musste da sein.

Kein Licht brannte. Alles war dunkel. Keine Sterne, kein Mond, keine Laterne, nicht einmal eine Kerze. Das Anwesen lag in absoluter Dunkelheit. Als Anna auf die Eingangstür zugehen wollte, hielt Mirai sie fest. Seine Haare hatten sich aufgestellt, als wäre etwas im Busch und würde lauern. Auch Akira schien das Gold in seinen Augen verloren zu haben – seine mörderische Seite machte Anstalten, auszubrechen. Anna sah sich um. Sie wusste nicht, wieso, konnte und wollte aber nichts sagen. Mirai ließ sie los.

„Wir müssen vorsichtig sein.“ flüsterte er leise. Beide anderen nickten.

Wie auf Zehenspitzen begannen alle drei, um das Haus herum zu schleichen, um ein offenes Fenster oder eine unverschlossene Tür zu finden. Dann – tatsächlich – hatten sie eine gefunden. Sie führte zur Küche. Die Töpfe schienen schon länger nicht benutzt worden zu sein – Rost sammelte sich auf dem Metall an. Manches Geschirr, dass in der Spüle stand, hatte bereits Schimmel angesetzt. Es stank nach verrottetem Essen. Annas Magen drehte sich um. Unter einem Würgen versteckte sie ihr Gesicht in ihrem Schal, den sie nun noch fester band, damit sie ihn beim Laufen nicht halten musste. Es war schwierig die zwei Fremden durch die dunklen Gänge zu führen: Selbst im Licht kannte sich das Mädchen nicht im ganzen Haus aus. Noch schlimmer war allerdings, dass sie nicht einmal ansatzweise ihren Bruder spüren konnte. Auch die Schatten schienen nicht mehr hier zu hausen – Das, was dem Haus den Eindruck eines „Fluches“ gegeben hatte, war nun fast komplett erloschen. Als wäre eine dunkle Macht gewichen.

Ihre Schritte waren das einzige, was in diesem Haus Geräusche verursachten. Mirai und Akira warfen neugierige Blicke in die Räume und auch Anna untersuchte jeden einzelnen, mit der Hoffnung, Adam sei in einem von ihnen. Doch schon bevor sie eine der Türen öffnete war ihr oft schon klar gewesen: Adam war nicht da. Nervös drehte das Mädchen das Taschenmesser in ihrer Jackentasche. Sie hatte gehofft, es würde ihr Glück bei der Suche nach seinem Besitzer schenken, aber nichts.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“ flüsterte Mirai in Annas Ohr, als hätte er Angst belauscht zu werden. Es verpasste Anna eine Gänsehaut.

„Mein altes Schlafzimmer.“ erwiderte das Mädchen noch leiser. Doch die Gänge verharrten so still, wie als sie das Haus betreten hatten. Es war gruselig, wie still ein altes Haus eigentlich sein konnte. Allmählich kamen die drei jedoch in die Gänge, die dem Mond zugewandt waren. Das fahle Licht zwang sich durch die Wolken, beleuchtete den Boden durch die Fenster und gab den Blick in ein paar Räume frei. Anna hatte nie gewusst, dass das Anwesen so groß gewesen war.

„Wir sind da.“ murmelte sie leise und blieb vor einer Holztür stehen. Sie war schlicht, wahrscheinlich genau so wie das Innenleben des Zimmers – sie hatte es schließlich nie gesehen. Anna stieß die Tür auf. Das restliche Licht in diesem Haus schien darin aufgesaugt zu werden. Genau so wie Annas Tattoo reflektierte dieser Raum kein bisschen Licht – als würde er den ungebetenen Gast einfach vor der Tür stehen lassen.

„Da drin hast du geschlafen?“ japste Mirai erschrocken, wollte den Kopf durch den Türrahmen hindurch stecken, machte jedoch Halt. „Es ist verflucht.“ Anna seufzte und boxte dem Affenkönig unsanft mit dem Ellenbogen in die Magengrube.

„Es ist nicht verflucht, es ist nur ein Teil meiner Energie. Es ist harmlos. Guck.“ Anna machte einen Schritt ins Zimmer und sah sich um. Nichts als pure Dunkelheit. Doch mehr als das war es nicht. Sie drehte sich um und grinste die Tür an.

Diese fiel gerade sachte und mit einem leisen 'Klick' ins Schloss. Eiskalte Stille legte sich in den Raum. Die Temperatur schien um einige Grad Celsius gefallen zu sein. Anders konnte Anna sich die Gänsehaut in ihrem Nacken nicht erklären. Ihre Finger fuhren über das morsche Holz der Tür. Die Jungs hätten sie einfach eintreten können, doch taten sie es nicht. Dann ertönte eine Stimme. Eine Stimme, die Anna so eiskalt erwischte, wie das Poolwasser vor einigen Wochen.

„Hätte nicht gedacht, dass du wieder kommst.“

In einem Satz hatte Anna sich umgedreht. Nichts. Es war nur schwarz. Keine Kontur einer Person, die sich abhob, kein Schimmer von irgendwelchen Augen. Nicht einmal eine Präsenz. Und plötzlich schwieg die Stimme wieder. Etwas, das sich anfühlte wie eine Hand, bahnte sich den Weg in Annas Jackentasche. Es spielte mit dem Butterfly.

„Du hast es mitgebracht.“ Die Stimme kam nun aus einer komplett anderen Richtung. Der Blick des Mädchens folgte ihr sofort in die andere Ecke des Raumes, doch man konnte nichts sehen. Anna hob ihre Hand vor ihre Augen. Nein, selbst die konnte sie nicht sehen. Die Hand fuhr sofort zurück zur Tür, hielt sich fest. Schwindel breitete sich in Annas Kopf aus. War es Adams Stimme? Sie klang so verzerrt, so unecht. Als würden die Schatten mit ihr reden. Die Schatten, die ihr das letzte mal so gefährlich nahe gesagt haben, sie solle verschwinden. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.

„Geh zu Charlotte.“

Ehe Anna sich versah, stand sie vor der Tür. Niemand war da. Sofort drehte sie sich um, riss am Türknauf, doch die Tür blieb verschlossen. „Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit.“ hallte in den Ohren des Mädchen wieder. Als würden ihre Füße den Weg kennen rannte sie los. Es war erneut dieses Gefühl, als wäre Gefahr unmittelbar vor ihr. Die Schatten, die ihr zu fliehen geraten haben, sagten ihr nun, dass etwas mit Charlotte war? Was geschah hier? Waren die Schatten nun Freunde oder nicht? Anna keuchte. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Alles schien kälter zu sein, als vorher. Selbst die Hitze, die sich unter ihren dicken Klamotten ansammelte, verblasste sofort in der Umgebung. Der Schweiß hatte nicht einmal mehr Zeit zu fließen.

Nach Atem ringend erreichte sie die Stelle. Sie erkannte sofort die kristallartigen Gebilde, die Spinnennetze aus Haaren. Tatsächlich nahm Charlottes Sarg fast den ganzen, riesigen Raum ein. Anna stemmte die Handflächen auf ihre Knien, um die Brust zu entlasten und besser Luft holen zu können. Das Miasma in diesem Raum war unerträglich und sonst hatte sie eigentlich nie Probleme damit gehabt. Doch was ihr wirklich den Atem verschlag, waren die zwei Gestalten vor dem Kristall. Mirai und Akira starrten wie hypnotisiert in Charlottes Augen. Mirais grüne, wilde Augen verloren an Glanz. Akiras goldgelbe Augen schienen wie ein milchiges Grau. Sofort ging Anna einige Schritte auf die beiden zu, breitete ihre Arme aus und stieß die Männer ein paar Meter von Charlotte weg. Etwas näher und sie wären vielleicht gestorben, so dachte Anna sich.

„Was macht ihr hier?“ schnauzte das Mädchen sofort leichenblass.

„Was?“ Mirai, wie aus einer tiefen Trance gerissen, wandte seinen Blick nun Anna zu. „Anna, wer ist das?“ fragte der Junge sofort. Anna schluckte.

„Das ist Charlotte oder?“ Akira, der von Annas Gewalt auf den Boden geworfen wurde, erhob sich.

„Woher…?“ Verwundert blickte sie den Jungen an. Verdammt, Akira. Was war er? Anna drehte sich um und schaute in das tote Gesicht einer vergangenen Königin.

„Ja, das ist sie. Sie hat niemandem zum Lieben gefunden und die Macht hat sie … naja.“

„Getötet?“ fragte Mirai scharf nach, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Ich glaube irgendwie nicht, dass sie tot ist.“ Sie hob ihre Hand. Die weißen Augen Charlottes starrten in ihre. Sofort wusste Anna, wie Charlotte es geschafft hatte, die beiden in ihren Bann zu ziehen. Es war schier unmöglich, nicht in diese toten, gruseligen Augen zu blicken.

„Fass' sie nicht an.“ Eine Hand legte sich auf Annas Handgelenk. Eine warme, bekannte Hand. Akira zog Anna von den Glaskristallen weg. „Das bringt nichts Gutes.“

„Ich wollte nicht...“ Hastig steckte Anna ihre Hände wieder in ihre Jackentaschen. In einer fand sie das Butterfly wieder. „Was macht ihr überhaupt hier? Wieso habt ihr nicht gewartet?“

„Ich weiß nicht.“ Mirai schaute Akira an, doch auch dieser zuckte mit den Schultern. „Irgendwie waren wir plötzlich hier.“ Sofort erinnerte sich die Blondine daran, wie auch sie manchmal dem Flüstern gefolgt war. Keine Worte, keine Wünsche oder Befehle. Es war mehr ein Gefühl gewesen. Ein Gefühl nach Verlangen. Erneut drehte sich Anna der toten Königin zu.

„Meint ihr, ich ende auch mal so?“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern erstorben, während ihre Hände sich langsam aus den Jackentaschen lösten.

„Natürlich nicht.“ murrte Mirai sofort. Er hatte sich der schwarzen Haut gewidmet.

„Falls du überhaupt eine Königin bist...“ grinste Akira sofort. Dieses Grinsen wich ihm, noch während er die Worte sprach. Ein langer, schmaler Finger erhob sich, ausgehend von Annas Hand. Sofort wurde Akira kreidebleich. Er streckte seinen Arm aus, um Anna erneut wegzuziehen, doch zu spät. Es war eine minimale, fast liebevolle Berührung, vorsichtig in ihrer Gestalt, als Anna mit dem Finger über das kühle Glas fuhr. Wie Sandkörner begann das Glas in feinem Staub auf den Boden zu fallen. Zuerst war es wenig, doch es breitete sich aus wie eine Seuche: nach und nach zerfiel das ganze Glas, samt Körper, Haaren und Augen, in winzige kleine Körner und baute Türme aus Sand auf dem Boden auf. Eine Staubwolke erhob sich und brauchte einige Minuten, um sich wieder zu legen.

Ächzend verhielten sich die drei Anwesenden den Mund.

„Was hast du getan?“ Mirai klang geschockt.

Charlotte war tot. Sie war immer tot gewesen. Nicht einmal ein Körper blieb von ihr zurück. Anna starrte auf die Berge von durchsichtigem Sand. War es das, was sie lernen sollte?

„Ich...“ begann sie, doch sie musste nicht einmal nach den Worten suchen, die sie brauchte. „Ich brauche keine Relikte. Und die Welt braucht keine andere Königin.“

Wieso hatte sie sich jemals so schwer damit getan, das zu sagen? SIE war die einzige, warhaftige, schwarze Königin. Niemand würde ihr den Thron stehlen. Niemand ihre Macht. Als würden ihre Worte mit ihrem Herz resonieren, füllte Wärme sie aus. Als hätte sie etwas gefunden, was sie vor Jahren verloren hatte. Es war ein merkwürdig befriedigendes Gefühl.

„Heute können wir hier schlafen.“ Anna unterbrach die schweigenden Minuten und streckte sich. Mirai und Akira sahen sich beide nachdenklich an, dann seufzte Mirai.

„Ich nehme an, du hast Adam nicht gefunden?“ fragte er vorsichtshalber nach.

„Nein. Aber dafür etwas anderes.“

„Was denn?“ wollte Akira nun mit einem Grinsen wissen, als wäre er ganz der Alte. Und es steckte Anna an. Sie fühlte sich gut.

„Ist egal. Lasst uns schlafen gehen, wir müssen morgen früh wieder los.“
 

Die drei schliefen in einer der großen Hallen im Innenleben des Anwesens. Da der Raum so gut von Mauern und anderen Räumen geschützt war, war es relativ warm und behaglich. Nichts hatte sich verändert – die Dekoration, Bilder und Wandteppiche hingen immer noch an Ort und Stelle. Seufzend ließ Anna sich an einer der Wände sinken, während Mirai und Akira aus ihren Taschen Sachen kramten. Alles, was man als Decke oder Kopfkissen halt benutzen könnte. Während die Jungs das „Bett“ vorbereiteten, sah Anna sich um. Sie hatte noch nie irgendwo anders in diesem Haus geschlafen, als in eben jenem Zimmer. Tatsächlich fragte sie sich gerade, ob sie heute Nacht überhaupt ein Auge zu kriegen würde. Würden die Schatten kommen? Würde Charlottes Fluch sie ereilen?

Das Mädchen stand auf, ging zu der Matratze aus Klamotten hin und legte nun auch ihre Jacke dort ab, um sich darauf fallen zu lassen. Mirai, der – aus welchem Grund auch immer – eine Decke mitgebracht hatte, legte sich zu ihrer Linken und deckte die beiden zu. Auch Akira ließ sich neben Anna nieder und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Die beiden redeten, doch ihre Worte rauschten an der Königin vorbei wie das Wasser eines kleines Baches über Steine. Warum hatte diese Stimme, die so vertraut nach Adam geklungen hatte, sie zu Charlotte geschickt? Eigentlich hätte Anna sich mehr erwartet. Vielleicht, dass Charlotte quietsch lebendig aus dem Glas sprang oder ihre Macht auf die Blondine übertragen würde. Wärme legte sich um Annas Schultern. Wann hatte sie ihre Augen geschlossen? Akiras Hand kraulte ihren Rücken. Mirais lag auf ihrer Hüfte. Ihr Körper war Akira zugewandt. Es war einfacher auf der Seite einzuschlafen, so wie Zuhause. Sein Atem kitzelte ihre Stirn, Mirais ihren Nacken. Hoffentlich würden sie das Tattoo nicht entdecken. Der Rollkragenpullover schenkte Anna Wärme und Schutz vor neugierigen Blicken, dennoch kugelte sie sich bei Akira in den Armen ein. Er war ungewöhnlich warm, wie eine Standheizung. Wie Feuer selbst. Ein angenehmes und beruhigendes Gefühl. Nun rückte auch Mirai näher – Anna spürte, wie sein Herz gegen ihren Rücken schlug. Die beiden redeten immer noch, es lenkte das Mädchen vom Einschlafen ab.

Etwas kitzelte Anna am Nacken. Ihre Hand zuckte sofort zur Stelle und kratzte sie. Plötzlich fing es an zu jucken. Seufzend fuhren ihre Fingernägel über ihren Rücken, doch das Jucken stoppte nicht. Anna setzte sich auf, um ihren Pullover auszuziehen. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und begann zu kratzen. Ihr Blick wanderte durch den stillen und leeren Raum. Irgendwie schien er nun, im Mondlicht, heller zu sein. Ihr Blick wanderte über den Boden zu ihren Beinen, die unter der Bettdecke lagen. Das Jucken verschwand nicht. Ächzend kratzte Anna ein bisschen stärker. Nur sie lag hier, allein in der Stille. Wäre es nicht so hell gewesen, hätte man meinen können, sie wäre in ihrem alten Schlafzimmer gewesen. Man hörte das Reißen von Haut. Wo kam dieses Geräusch her? Plötzlich hörte es sich so an, als würde man seine Hände in einen Topf Fleisch tauchen und darin wühlen. Eisen lag in der Luft. „Ob Kai sich so sein Abendessen vorstellt?“ dachte Anna sich und atmete den Blutgeruch ein. Oder vielleicht die Wölfe? Seufzend ließ das Mädchen ihre Hände sinken. Sie dachte eigentlich, sie wäre alleine hier gewesen. Die leuchtend weiße Matratze sah unter dem Mond aus wie frisch gefallener Schnee. Das Mädchen betrachtete ihre Hände. Irgendetwas steckte unter ihren Fingernägeln. Müde begann sie, das Fleisch unter den Nägeln heraus zu pulen. Doch das Blut störte – ihre Finger waren glitschig davon. Die schneeweiße Matratze färbte sich in der Farbe von Annas Blut. Mit einem Blick nach hinten wusste Anna, dass die Quelle ihr eigener Rücken war. Er war komplett aufgerissen. Lose Fleisch- und Muskelstücke hingen aus zwei tiefen Löchern heraus. Man konnte sehen, wie das Blut mit jedem weiteren Herzschlag schwallartig aus den Wunden schwappte. Anna blickte zurück in ihre Hände. Dort lag es – ein Herz, fast schwarz aufgrund der feinen Linien, die es durchzog. Die Linien bildeten abstrakte Formen und Muster, erzählten Anna eine fremdsprachige Geschichte. Anna blickte wieder auf. Der Mond war erloschen, der Raum war dunkel. Nicht nur dunkel – das einzige, was Anna noch erkennen konnte, war der pochende Muskel in ihren Händen. Ihre Finger vergruben sich in das pulsierende Fleisch.

„Wenn du nicht wärst...“ murmelte das Mädchen vor sich her und drückte zu. „Wenn du nicht wärst.“ Ihr Körper vibrierte kurz unter dem sanften Rütteln an ihrer Schulter. Anna schlug die Augen auf und sah sich um – es war Morgen. Akiras goldgelbe Augen strahlten mehr als die Sonne. Er hob einen Finger an die Lippen, grinste und deutete auf den immer noch schlafenden Mirai. Anna folgte seinem Deut und blieb still. Mirai schlief wie ein Stein. Ihre Augen wanderten wieder zu Akira, welcher hellwach schien. Hatte sie geträumt? Oder war das der Traum? Unweigerlich schlossen sich Annas Augen wieder. Ihre Hände waren kalt und trocken. Ihr Rücken schmerzte nicht. Die Matratze war keine – es war ein wilder Haufen aus Kleidungsstücken. Natürlich hatte sie geträumt, dachte sie sich. Akiras Hand legte sich neben Annas Gesicht ab und brachte die Königin dazu, wieder die Augen zu öffnen. Rote Haare fielen ihr ins Gesicht, kitzelten ihre Nase. Warme, weiche Lippen legten sich auf ihre. Akira küsste sie. Vielleicht schlief sie also immer noch. Annas Hand krabbelte unter der Bettdecke hervor, wanderte den starken, warmen Arm hinauf und legte sich auf Akiras Wange. Wie konnte er nur so warm sein? Seine Finger glitten durch ihren Pony, wanderten ihre Schläfe hinab, streichelten sie. Noch für einen kurzen Moment lagen seine Lippen auf ihren. Akira schmeckte gut. Wenn das auch ein Traum war, bevorzugte sie diesen. Seine Präsenz entfernte sich langsam von ihr und Anna hielt die Augen geschlossen. Sie wurde wieder müde.

Als Anna das nächste Mal die Augen öffnete sah sie sich zuerst um. Zu ihrer Linken Mirai, zu ihrer Rechten Akira. Beide schliefen noch fest. Wahrscheinlich war es der nächste Morgen, doch um sicher zu gehen kniff die Blondine sich in die Wange. Schmerz breitete sich in dem weichen Fleisch aus. Erst streckte sie sich, dann gähnte sie und begann, unsanft ihre beiden Freunde zu wecken.

„Kommt, steht auf, wir müssen los.“ gähnte das Mädchen verhalten und kletterte auf ihre Füße, ehe sie anfing, Mirai und Akira schroff von den Klamotten zu rollen, um sie zu falten. Mirai gähnte laut und auch Akira schaffte es langsam, aufzustehen.

„Was war eigentlich gestern in deinem Raum?“ fragte er und riss seinen Mund weit hinter seiner Handfläche auf.

„Hm?“ Noch immer verschlafen musste Anna erst einmal überlegen, was überhaupt passiert war. „Es hat sich irgendwie wie Adam angefühlt… Aber irgendwie auch nicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat mir dieses Etwas dann gesagt, zu Charlotte zu gehen.“

„Vielleicht waren es die Schatten, von denen du mal erzählt hast?“ murmelte der Rotschopf.

„Möglich, aber es ist nicht weiter wichtig. Wir müssen nach Hause.“ Anna war voller Tatendrang. Hier konnte sie nichts mehr finden, was ihr helfen könnte. Nicht heute. Außerdem war der Weg nach Hause lang und anstrengend, es wäre also besser, sie würden so früh wie möglich los gehen. Nun streckte sich auch Mirai und offenbarte seine gut trainierte Brust.

„Na dann...“ säuselte er verschlafen und stand auf.
 

Der Weg nach Hause war einfacher, als gedacht. Immerhin hatten die drei jetzt das Licht der Sonne auf ihrer Seite. Die Stadt, von der aus die Bahn fahren würde, war nach einer Stunde erreicht. Auch die Zugfahrt war entspannt. Gegen frühen Abend, als sich die Sonne gerade senkte, kamen sie endlich wieder in ihrer Heimatstadt an. Anna wollte es eigentlich nicht, aber die Jungs bestanden darauf, sie nach Hause zu bringen. Was, wenn jemand auf der Lauer liegen würde, um sie zu entführen oder schlimmeres? Sie konnte es ihnen nicht aus dem Kopf schlagen. Redend und lachend liefen sie hintereinander her, während sie den Weg zu Annas Haus verfolgten. Die Straßen waren wie ausgestorben, mit einem Schlag erleuchteten die Straßenlaternen, um die Nacht willkommen zu heißen. Allmählich kam Annas Haus in Sicht und die drei verlangsamten ihr Tempo.

„Na dann sehen wir uns morgen in der Schule.“ grinste Mirai und streichelte selbstgefällig über Annas Kopf. Diese erwiderte das Grinsen und knuffte ihn sanft mit der Faust in die Magengrube.

„Jap.“ Anna drehte sich um, um durch ihr Gartentor zu schreiten. Ihr Blick fiel auf das geöffnete Tor. Verfolgte den kleinen Steinweg, der durch den Rasen zur Haustür führte. Die Haustür… Schlechte Energie lag in der Luft. Anna schaute sich um. Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf Mirai und Akira, die auch aufhörten zu reden. Es roch so wie in der Küche bei Tante und Onkel. Verrottete Speisen. Altes Geschirr. Aber Annas Mutter würde ihre Hausarbeit nie so vernachlässigen. Anna wandte sich wieder dem Haus zu, vor allem ihrem Zimmer. Die Fenster waren fest geschlossen, die große Knospe ihrer Pflanze stand still und starrte aus dem Zimmer. Annas Augen wanderten die Hauswand hinunter. Es war so still, es war gruselig. Sie konnte nicht viel erkennen, aber die Haustür stand offen.



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