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Via Inquisitoris - Cum tacent clamant

von

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arah starrte dem orangefarbenen Chevrolet nach. Sie brauchte diese beiden Frauen. Nach allen Überlegungen, allen Indizien, waren das die Mörderinnen der mittlerweile vermuteten mehr als fünfzig Opfer. Schon nach menschlichen Regeln gehörten sie aus dem Verkehr gezogen, wie viel mehr Loyra als Vampir. Die Regel der Unauffälligkeit besaß oberste Priorität und damit der Schutz des verborgenen Volkes. Seit Zehntausenden von Jahren lebten die Jäger versteckt unter ihrer Beute und es hatte sich stets als nützlich erwiesen diese eben nicht umzubringen und nicht darauf aufmerksam zu machen, dass sie Jagdwild war. Das erinnerte sie an diesen alten geschwätzigen Vampir in Wien. Vlad hatte gegenüber einem englischen Schreiberling ausgeplaudert, dass es Vampire gab – und dieser Mr. Stoker war begeistert gewesen, hatte jeden Unsinn, dem ihm Vlad erzählt hatte, mit den real im damaligen Kaiserreich Österreich umlaufenden Vampirsagen aus Ungarn und Rumänien verknüpft … .ah ... Sie musste sich beruhigen, wenn sie an Vlad dachte, obwohl sie zugab, dass er im 19. Jahrhundert weder mit Kino noch Internet rechnen konnte, geschweige denn auch mit der Tatsache, dass sich dieser Roman weltweit verkaufen würde.

 

Sarah zuckte zusammen, als sie erkannte, dass der Chevrolet wendete und zurückfuhr. Hatten die Beiden etwas vergessen – oder ein neues Ziel? Ja, erkannte sie keine Minute später, als sie etwas in ihrem Kopf spürte: den Angriff eines Vampirs, um sein Opfer bewusstlos zu machen. Diese elektrischen Wellen richteten bei ihr keinen Schaden an, aber sie musste jetzt rasch überlegen. Sie war allein, ohne Hilfe, unbewaffnet – sollte sie mitspielen oder hier auf der Straße sich auf einen Kampf gegen das Vampirbaby einlassen, zumal sie nicht wusste, wie stark Marianne auf dieser geistigen Ebene war?

Falsch, völlig falsch. Wie würde ein Mensch reagieren, der so attackiert wurde? Genauer gesagt, ein Mensch, der über gewisse Beeinflussungsmöglichkeiten verfügte, wie eine Mambo? Sie musste mitspielen, bis sie wusste, wer von diesen zwei Frauen die Dominate war. Mensch oder Vampir. Der Angriff musste von Loyra gekommen sein, Sarah konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch zu solch einer elektrischen Attacke in der Lage war, die ja eben die beiden Völker unterschied.

So blieb sie einfach stehen und versuchte verwirrt, hilflos, auszusehen. Der orangefarbene Chevrolet hielt vor ihr und Loyra stieg aus.

„Kommen Sie doch ein wenig“, sagte sie.

Beeinflussung, erkannte Sarah wieder, aber sie ließ sich zu der Hintertür schieben und stieg ein, legte sich, als sei sie müde, auf der Sitzbank nieder. Soweit sie wusste, fielen Menschen nach einem solchen Angriff in Ohnmacht, aber sie wusste ja nicht, wie das bei Mambos oder sonst wem war. Auch etwas, das der Hohe Rat einmal abklären sollte. Die Liste wurde immer länger.

Loyra stieg vorne wieder ein und Marianne fuhr an, nicht ohne einen Blick nach hinten zu werfen. „Sie ist jetzt weg“, sagte sie. „Hast du es bemerkt? Sie blieb einfach stehen. Eine wohl recht fähige Frau.“

„Ich hätte es fast nicht geschafft, Mama“, gab Loyra zu. „Das war ungewöhnlich.“

„Ja, ich musste dir eigentlich noch nie zuvor helfen. Nun, nie beim ersten Angriff.“ Marianne beschleunigte. „Gleich. Wir bringen sie hinaus nach Galveston, an den Strandteil, den wir erst vorgestern besuchten. - Oh, ihr Handy müssten wir noch wegwerfen.“

Ihr Handy! Sarah zuckte fast zusammen. Was war sie auch leichtsinnig gewesen, das nicht unverzüglich zu verbergen. Natürlich konnte das FBI sie vermutlich orten und Daniel würde das gewiss versuchen, wenn sie verschwunden war. Also brauchte sie es, sei es auch nur, um irgendwann, wenn der Kadash seine Pflicht erfüllt hatte, bei ihm anzurufen. Hastig konzentrierte sie sich und legte den mächtigen Bannkreis aus uralter Magie, den sie von ihrem Vorgänger gelernt hatte, und der gewöhnlich die Waffe des Inquisitors tarnte, über das kleine Mobiltelefon.

Prompt fuhr die Vampirin herum. „Mama, da war etwas ...“

„Was meinst du? Ich habe keine geistige Regung wahrgenommen Sie ist doch bewusstlos.“

Natürlich, dachte Sarah. Was auch immer Marianne für Fähigkeiten besaß – und das waren offensichtlich unmenschliche -, aber Loyra war das Mitglied der fortgeschrittenen Rasse und mochte auch schon die eine oder andere Lektion in Magie erhalten haben. Nur, wer von beiden war die Anführerin? Loyra sagte : „Mama“, aber das musste nichts heißen. Immerhin war Beryll Morris auch ein „Mama“ als Titel ihrer Lehrerin herausgerutscht.

„Ich kann es nicht beschreiben, ich habe so etwas noch nie gefühlt.“

„Hm. Vermutlich, weil sie wohl geistig recht stark ist. Aber sie hat keine Ahnung davon, wie sie ihre Fähigkeiten benutzen soll, sonst hätte sie zumindest versucht den Angriff abzuwehren oder ihn gar kommen gesehen.“

 

Gut, dachte die Inquisitorin, die aufmerksam und angespannt zuhörte, ohne sich zu bewegen. Zumindest war Marianne die Lehrerin. Und sie hatte vermutlich kaum eine Ahnung von den wahren Fähigkeiten eines Vampirs. Eine lange Weile herrschte Schweigen, aber Sarah vermutete, dass sie sich auf dem Highway befanden. Es ging schnurgerade aus nach Süden. Das musste die 45 sein, schließlich war Galveston erwähnt worden. Eines war jedenfalls klar. Die eine oder andere Frau auf den Sitzen vor ihr würde versuchen sie umzubringen. Mit dem Vampir, die noch ein Kind war, würde sie bestimmt zu Rande kommen. Nur, was konnte diese Mambo? Sie hatte etwas davon erwähnt, dass sie Loyra bei dem Überfall zu Hilfe gekommen war. War sie etwa auch ein veränderter Mensch, ein Mutant, der den geistigen Angriff des verborgenen Volkes beherrschte ohne ihn je gelernt zu haben? Waren das die Fähigkeiten der Mambos oder hatte sie das nur in besonderem Maß bekommen? Und nutzte das, um Loyra zu beeinflussen und ihre auch nur mögliche Konkurrenz aus dem Weg zu räumen? Dann war sie im Prinzip ein Fall für die menschliche Polizei – nur, Sarah konnte sich lebhaft vorstellen, wie Daniel auf den Vorschlag, dass die Opfer per elektrischer Geistattacke bewusstlos gemacht wurden, reagieren würde. Matho würde ihr wohl eher glauben.

Schlimmer noch, wenn das FBI erst einmal wusste, dass es Menschen mit solchen Fähigkeiten gab – wann würden die Vampire auffliegen? Die Regel der Unauffälligkeit ...

Nun, es gab wohl nur eine Lösung. Falls die Beiden versuchen würden sie umzubringen, müsste und würde sie sie töten. Falls ihr das gelang, gab sie mit plötzlicher Erkenntnis zu. Ja, sie war der Jäger der Jäger und besaß gewisse, ungewöhnliche, Fähigkeiten für einen Vampir, aber es waren zwei Gegnerinnen, ein Vampir und ein Mensch mit sicher ebenso ungewöhnlichen. Dennoch, beruhigte sie sich dann selbst, sie hatte mit viel älteren Vampiren geübt, und Wombat, der Älteste, der sich noch nicht zurückgezogen hatte, hatte ihr in einem wahren Crashkurs ziemlich viel vermitteln können. Das würde schon klappen. Im Notfall musste sie doch das FBI rufen, aber die strikte Regel verbot das eigentlich.

 

„Doch nicht Galveston?“ erkundigte sich Loyra, da das Auto von dem Highway fuhr.

„Nein“, erwiderte Marianne. „Ich habe mich umentschieden. Gib einmal ins Navi ein: 2022 County Rd 227, Freeport, TX 77541“

Loyra gehorchte. „Das ist das Brazoria Wildlife Refuge.“

„Ja. So viel Wasser und so viele Alligatoren. Die Dame hier darf wie immer laufen – wir holen uns unseren Anteil und dann wird sie verschwinden. Sie muss verschwinden.“

„Aber...“

„Sie ja. Wenn du glaubst, dass sie ungewöhnlich ist, und ich gebe dir Recht, ist sie besser im Magen der Alligatoren aufgehoben als an Land.“

Danke, dachte Sarah, der diese Aussicht mehr als missfiel. Als Vampir war sie stärker als ein Mensch, zugegeben, aber ein Rudel Krokodile, oder Alligatoren, war nichts, woraus sie sich freuen würde. Marianne war wirklich eine reizende Person. Aber, Moment mal. Diese hatte soeben bestätigt, dass sie an ihr, der Inquisitorin, etwas besonderes wahrnehmen konnte, das sie von den anderen Opfern unterschied. Wie fähig war diese Mambo? Zumindest war sie es in vollkommen anderer Art als Beryll Morris und Sarah vermutete langsam, dass sie, womöglich durch die ungewöhnlichen Fähigkeiten ohne jede Anleitung, verrückt geworden war. Größenwahnsinnig oder was auch immer. Sie war keine Psychologin. Jedenfalls schien eindeutig sie das verwirrte Vampirkind angelockt zu haben und zu benutzen. Womöglich war Musa zu jung und zu unerfahren gewesen um sein „Kind“ fest an sich zu binden, obwohl er Rat bei älteren Vampiren gesucht hatte. Nun, gleich. Sie war der Kadash und sie musste diese Sache regeln. Nur wie? Marianne war ein Mensch und unterstand eigentlich nicht der Rechtsprechung des Inquisitors. Aber, ließe sie selbst da Daniel und seine Kollegen die Arbeit machen, flöge auch auf, dass es Menschen, Wesen, mit derartigen geistigen Fähigkeiten gebe. Denkbar, dass das die Runde machen würde, und Geheimdienste aller Welt sich auf die Jagd nach solchen Leuten machen würden. Alle Vampire wären damit in Gefahr missbraucht zu werden. Das konnte und durfte sie als Kadash nicht zulassen. Also war Marianne auf jeden Fall der menschlichen Gerichtsbarkeit entzogen. Überdies – sie war definitiv eine Mörderin, und, nach vampirischen Maßstäben gemessen, eine Kindesentführerin. Wieweit Loyra bei den Morden freiwillig oder gezwungen mitmachte, würde sich hoffentlich noch zeigen. Sarah reizte es nicht noch ein Kind umzubringen, das im Laufe der kritischen Jahre verrückt geworden war. Die Acatiu-Sache in Rumänien war schlimm genug gewesen. Allerdings war das Amt des Inquisitors genau aus diesem Grund, dieser Gefahr heraus, geschaffen wurden.

Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Sie musste abwarten was geschah. Das Handy war verborgen, leider lag auch die Waffe des Kadash in ihrem Hotelzimmer unter Bannkreisen. Aber Loyra wäre nicht das Problem, eher Marianne mit den ungewohnten, untrainierten, unbekannten Fähigkeiten.

 

Falsch. Sie hatte ein Problem. Da saßen vor ihr ein Vampirbaby und eine Menschenfrau mit unerwarteten, ungewöhnlichen, Fähigkeiten. Sie war der Kadash und verantwortlich für das Überleben des Volkes. Diese Beiden hatten mehr als genug Menschen umgebracht – aber, berechtigte sie das einzugreifen? Zu töten? Ein Kleinkind und einen Menschen?

Sarahs Gedanken wanderten zurück, Monate, zu einer Terrasse auf einer australischen Farm.

Wombat hatte in die Nacht gesehen.

„Liebes Kind, ich bin mir nur zu bewusst, dass Sie nie gefragt wurden ob Sie die Bürde des Kadash tragen wollen. Ich wurde es ebenfalls nie und ich fürchte, niemand je zuvor. Denn jeder, der intelligent und verantwortungsbewusst ist, das Amt zu übernehmen, würde es auch ablehnen. Sie sagten, dass Sie nach dem Töten es bereuen, ja, körperlich empfinden. Das ist auch gut so. Mir ging es nicht anders. Würde jemand ein Leben nehmen ohne es zu bereuen, wäre er ja nicht besser als die Gebissenen oder die Armen, die verrückt wurden. Es ist nicht ohne Grund, dass das Amt des Inquisitors so respektiert von unserem Volk wird. Man ist einsam – und schuldbeladen. Die Last der Entscheidung über Leben und Tod. Und ich, jetzt Sie, müssen entscheiden, ob der Tod dieses einen Lebewesens andere rettet oder nicht, vor allem, ob unser Volk dadurch sicher ist oder nicht. Ich fürchte, jeder begeht da einen Fehler, ich in den letzten Jahrtausenden bestimmt. Aber man muss auch lernen mit den Fehlern zu leben, mit den Selbstvorwürfen. Wichtig ist jedoch, dass Sie eine Entscheidung treffen können.“

 

Mehr als fünfunddreißig, eher fünfzig, menschliche Frauen ermordet. Ein Vampirbaby ohne Meister. Eine Menschenfrau mit unerwarteten und unbekannten Fähigkeiten.Sarah, noch immer scheinbar bewusstlos, seufzte innerlich. Einfachste Lösung schien die Zwei umzubringen. Aber …

Ja, aber.

Die einfachste Lösung war nicht unbedingt die wahre. Ob ihr Vater, Lord John, sich je auch solche Gedanken gemacht hatt? Was richtig und falsch war? Er war so alt, so erfahren … Und doch, auch er war mal jung und unerfahren gewesen. Er hatte auch einen Weg suchen müssen. Für sie war es nur schwerer, jede ihrer Entscheidungen wog nun schwerer. Der Weg des Inquisitors. Via Inquisitoris. Wohin sollte er führen? Jeder Kadash hatte das vermutlich für sich allein entscheiden müssen.

Quo vadis, Inquisitorin? Leben schützen, in dem man mordet?

 
 



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