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Der Schwarze Fleck

von

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Kapitel 1 - Begegnungen

Alexej streckte sich gähnend. So jung und schon Rückenschmerzen – ein weiterer Beweis dafür, dass ihm ein reiner Bürojob nicht guttat. An der Decke hing die kahle Glühbirne, die bereits bei seinem Einzug vor zwei Jahren dagewesen war; ihr Licht blendete grauenhaft, aber die Sonne hatte sich schon vor Stunden verabschiedet. Ebenso wie seine Sekretärin. Vermutlich war abgesehen von ihm und der Wache am Eingang niemand mehr im Bürotrakt.

Ein Klopfen lenkte seine Aufmerksamkeit auf die offene Tür. „Ragnar.“

„Störe ich?“

„Nah. Eigentlich ist dein Timing perfekt.“ Und eigentlich hätte ihn die Wache über den Besucher informieren müssen. Alexej schob den Gedanken beiseite. Das war eben Ragnar. Großgewachsen, mit breiten Schultern und dunklen Haaren, die gerade lang und unordentlich genug waren, um den Anschein völligen Desinteresses zu erwecken, zog er mühelos die Blicke der Frauen auf sich. In Jeans, die Lederjacke locker über die Schulter geworfen und ein selbstsicheres Lächeln auf den Lippen, sah er aus, wie das wandelnde Klischee eines Typen, der sich jeden Abend eine andere mit nach Hause nahm. Lediglich die um seinen Unterarm geschlungene Gebetskette störte dieses Bild.

„Hältst du dich eigentlich an alle Gebote deines Ordens?“

Ragnars Lächeln wurde breiter. „Wenn du schon direkt bist, dann bitte auch richtig. Ja, ich halte mich an die Gebote meines Ordens. Auch an das der Enthaltsamkeit.“

„Trauriges Leben.“

„Und dennoch bist du derjenige von uns beiden, der ständig jammert.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er zum Thema kam. „Du sagst, du hättest etwas für uns.“

Alexej nickte. „Allerdings. Muss nur noch schnell zusammenräumen. Setz dich. Im Kühlschrank sind Getränke.“ Er deutete auf den kleinen, unter einem Beistelltischchen versteckten Kühlschrank, den er sich vor ein paar Monaten geleistet hatte.

Ragnar lehnte sich gegen die Lehne des gelben Sofas, das zusammen mit dem Kühlschrank seinen Weg ins Büro gefunden hatte, sah aber davon ab, sich etwas zu Trinken zu nehmen.

Rasch sammelte Alexej die Steckbriefe der neuen Insassen ein, die heute auf seinem Schreibtisch gelandet waren und warf sie auf den kleinsten Stapel, der trotzdem schon jetzt gefährlich schief stand. Irgendwann würde er den Mist mal einordnen müssen. Aber nicht heute. Oder morgen.

Seinen Pc würde er auch nicht mehr benötigen – wenn sie mit dieser Sache fertig waren, galt es, den kläglichen Rest des Abends zu genießen. Er beendete sämtliche Programme und Geordies All because of you erstarb mitten im Refrain. Jetzt noch Schlüssel und Keycard und … Keycard. Gerade war sie noch da gewesen. Hastig suchte er den Schreibtisch ab, während er nach seinem Telefon griff und blind die dreistellige Durchwahl eintippte. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Wache im Sondertrakt.

„Bereitet sie wie besprochen vor.“ Alexej legte auf, ohne sich zu verabschieden. Er hatte seine Keycard erspäht; sie lag ganz unschuldig direkt vor seiner Nase. „Dann mal los.“ Ragnars amüsiertes Lächeln ignorierte er gekonnt.

Die Wache am Eingang des Verwaltungstrakts grüße Alexej höflich. Als sie jedoch Ragnar bemerkte, schloss sie abrupt den Mund. Alexej überlegte, seiner Mutter unter die Nase zu reiben, dass ihre Sicherheitsvorkehrungen nicht halb so gut waren wie sie dachte, entschied sich letztlich aber dagegen. Das einzige, das dabei rauskäme, war noch mehr Kontrolle und eine arbeitslose Wache.

Der Kies knirschte unter ihren Füßen als sie den Hof überquerten. Ein unbarmherziger Nordwind riss das letzte bisschen Wärme fort.

„Zeit für ein kurzes Briefing“, beschloss Alexej. „Wir haben zwei Kandidaten. Der Erste – Henrik Ackermann – ist so klischeehaft, dass ich es selbst kaum glauben kann. Diverse Körperverletzungsdelikte, das letzte mit Todesfolge. Das hat ihm eine offizielle Verurteilung eingebracht, der er sich aber entzogen hat. Nicht die hellste Kerze auf der Torte, dafür Begabung zu erhöhter Körperkraft. Wir haben ihn schnell aufgespürt, aber es hat drei meiner Männer gebraucht, um ihn zu überwältigen. Einer liegt mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus. Sieht aus als wäre er aus dem vierten Stock gefallen.“ Er machte eine kurze Pause, damit Ragnar die Information sacken lassen konnte. „Den zweiten habe ich selbst eingefangen.“

„Ich dachte, deine Zeiten als aktiver Kopfgeldjäger wären vorbei?“

„Sind sie eigentlich auch“, murrte Alexej. „Aber gelegentlich übernehme ich den einen oder anderen Auftrag, bevor mir die Decke endgültig auf den Kopf fällt. Jedenfalls sah es zunächst nach einer kleinen Sache aus. Privatauftrag. Der Gute hat irgendwelche strenggeheimen Daten aus seiner Firma mitgehen lassen und teuer an die Konkurrenz verkauft. Fanden die nicht so witzig und haben ein hübsches Sümmchen für seine Ergreifung und Aufbewahrung gezahlt. Nicht einfach aufzuspüren, aber kein Kämpfer. Ich dachte, er sei ein ideales Trainingsobjekt für unsere Neulinge. Bis der Junge, den ich vorgeschickt hatte wie ein Sack umgefallen ist. Hat mir ‘nen ordentlichen Schrecken eingejagt.“

Sie hatten den Hof durchquert und standen wenige Meter vor der Seitentür, die sie zunächst in den Zwischen– und von dort in den Sondertrakt führen würde. Alexej hatte Lust sich eine Zigarette anzustecken, sah aber davon ab. Auch wenn Ragnar nie ein Wort darüber verloren hatte, wusste er, dass der Rauch ihn störte. Also verdrängte er das Bedürfnis und erzählte weiter. „Ich hab mich dann persönlich drum gekümmert. Es war offensichtlich, dass der Typ keine Kampferfahrung hat und ich hab die ganze Zeit seine Hände im Blick behalten. Keine Waffe, keine verdächtigen Bewegungen. Trotzdem hab ich mir einen elektrischen Schlag eingefangen als ich ihn überwältigen wollte. Nicht stark genug, um mich auszuknocken – zum Glück hatte ich Lederhandschuhe an – aber spürbar.“

„Der Typ – wie ist sein Name? – kann also Strom produzieren?“

„Cornelius … Irgendwas. Und ja, kann er. Haben unsere Tests später bestätigt. Nicht tödlich, aber es reicht, um einen Gegner für kurze Zeit außer Gefecht zu setzen. Wenn er eben nicht gerade Schutzkleidung trägt.“

Alexej zog seine Keycard durch den Scanner und wartete, bis das kleine Lämpchen von rot auf grün gesprungen war, bevor er sich gegen die Tür stemmte.

„Mir wird gerade klar, dass ich noch nie hier war“, stellte Ragnar fest und sah sich um. Der Geruch nach Gummi und Desinfektionsmittel hing in der Luft und überlagerte wenigstens teilweise Alkohol, Erbrochenes und menschliche Ausdünstungen. Der PVC-Boden wies Flecken unbekannten Ursprungs auf, ganz egal wie viele Reinigungsaufträge Alexej vergab.

„Das sind die Aufbewahrungszellen“, erklärte er und gestikulierte über den Gang, an dessen Seiten sich Zelle an Zelle reihte. „Hier landet jeder, der aufgesammelt, aber noch nicht offiziell verurteilt wurde. Die meisten sind Durchlaufposten. Säufer, Hitzköpfe, Obdachlose. Gelegentlich minderjährige Ausreißer. Alles, was man nachts so trifft und nicht guten Gewissens auf der Straße lassen kann. Außerdem solche, für die ein Privatauftrag eingegangen ist, die Auftraggeber sich aber letztlich doch dagegen entscheiden zu zahlen. Die bleiben bei uns, bis die vierzehn Tage Bedenkzeit verstrichen sind.“

Zügig liefen die beiden durch den Gang, der Lärm, der aus den Zellen drang machte jeden weiteren Gesprächsversuch zunichte. Plötzlich merkte Alexej, dass Ragnar zurückgefallen war. Als er sich umdrehte, sah er seinen Freund stocksteif in der Mitte des Gangs stehen und in eine der Zellen starren. Es war unmöglich, seine Mimik zu deuten, aber das stets freundliche Lächeln war verschwunden.

Mit wenigen Schritten schloss er zu ihm auf und versuchte zu erkennen, wer Ragnars Aufmerksamkeit erregt hatte.

Es war eine junge Frau. Den Körper hatte sie in einen dunklen Mantel gehüllt – das sprach dafür, dass man sie erst vor ein paar Stunden hierher gebracht hatte – nur ihr Gesicht war zu erkennen. Sie war attraktiv, wenn auch ein eher spezieller Typ, würdigte Alexej aber keines Blickes. Ihre Augen waren fest auf Ragnar geheftet.

Dieser hatte es geschafft, sich aus seiner Starre zu lösen und auch sein typisches Lächeln war wieder zurück. „Ich habe noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen“, erklärte er. „Aber wenn du Beistand brauchst, komme ich danach gerne wieder hierher.“

Die Frau lächelte nur, zog die Kapuze ihres Mantels tief über die Stirn und sank zurück in die Schatten.

Ragnar zuckte mit den Schultern. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte er seinen Weg fort.



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