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Alice in Magicland

Die Geheimnisse von Taleswood
von

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Showdown - Teil 1

Blut... all das Blut, fließend über die schneeweiße Haut in schwungvollen Linien, wie Pinselstriche auf einer blanken Leinwand. Aber diese Leinwand war zerstört, von abgenutzten Klingen wutentbrannt auseinandergerissen. Die Linien verteilten sich über die aufgerissene Kleidung, folgten den Ranken bis zu ihrer Spitze und sammelten sich in Pfützen auf dem Boden.
 

In deinen Armen fühle ich mich sicher...
 

Wie dünne Finger fuhren die Ranken durch das lange, aschgraue Haar, welches zottelig und vom Blute verklebt hinab hing, verhakten sich mit ihren Dornen in der Kopfhaut und umschlungen den dünnen Hals, als würden sie gleich zudrücken wollen.
 

Für dich lasse ich mich auf dieses Abenteuer ein...
 

Der letzte Ton, ein erstickter Schrei – schmerzerfüllt nach Hilfe rufend – war ihren dünnen Lippen schon lange entwichen, so, wie die letzte Träne auch schon lange aus ihren einst warmen, violetten Augen geflossen war und die Amethyste schielten glasig leer nach oben, vor Schock weit aufgerissen.
 

Fürchtest du dich, Alice?
 

Ich fuhr hoch, schüttelte die Illusion von mir, bis aus Fleur wieder das junge Homunkulus-Mädchen wurde, welches dort aufgespießt an der Wand hing. Die Ranke hatte ihren Brustkorb durchbohrt und die Wunde wirkte fast wie eine eigene, gigantische, blutrote Blüte. Abseits der typischen Homunkulusmerkmale sahen sich die Frauen dabei nicht einmal annähernd ähnlich. Ich schlug mit beiden Händen auf mein Gesicht und unterdrückte das quälende Ziehen in meiner linken Brust.
 

Sie war nicht Fleur... Sie war nicht Fleur... Sie war nicht Fleur...

Sie. War. Nicht. Fleur.
 

Doch das änderte nichts an der Grausamkeit des Bildes, an dem abstoßend beißenden Geruch nach Chemie, der von den Leichen ausging und ich konnte es auch nicht unterdrücken, daran zu denken, dass La Belle mit uns beinahe genauso verfahren wäre. Diese Zerstörungswut... Die hätten wir zusammen niemals aufhalten können...

Fleur... Hattest du das etwa alles gewusst?
 

Thomas hatte sich übergeben. Ich hatte das Plätschern vernommen, das auf seine Würgelaute folgte, genauso wie das leise nach Luft Ringen und Fluchen zum Schluss. Nun stand er neben mir, blass, erschöpft und brachte kaum den Mut auf, die Fackel noch einmal zu heben.

„Gib sie mir.“

„Was?“

„Ist schon okay, Tom. Gib mir den Ast.“

Ich wollte schon danach greifen, doch er zuckte zurück, fuchtelte wohl etwas zu sehr damit und die Flamme erlosch. Finsternis umgab uns wieder und ich seufzte hörbar auf.

„Tut mir leid... Ich weiß, ich wollte mit und ich sollte mich nicht so anstellen, aber... Ganz gleich, wie oft ich Menschen schon sterben sah, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.“

„Hast du Angst?“

Er antwortete nicht, aber das musste er auch nicht. Wer hätte schon keine Angst, in solch einer Situation? Vom Geruch und dem Anblick ganz abgesehen.

„Es gibt nichts, wovor man Angst haben müsste, Kleiner. Sie sind tot und ihre Schlächterin auch. Alles was bleibt, ist ein grausiger Anblick, aber... es waren ja nicht einmal echte Menschen.“

Wieder wurde der Eingang erhellt, wieder zeigten die verzerrten Konturen ihre abstoßende Fratze. Coleman hatte eine Laterne gefunden – wahrscheinlich von den Rosenbögen – und drückte sie mir in die Hand.

Wie seltsam ruhig er blieb... Hatte er so etwas bereits erwartet? Oder berührte es ihn einfach nicht? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Der Kater näherte sich langsam der Szene, drehte sich nicht noch einmal zu uns, fixierte stattdessen eine der Toten, die an der Wand hing. Ich kannte das Mädchen vom sehen: Sie hatte Véronique bedient, als ich dieses Haus zum ersten Mal betreten hatte. Eine junge Frau mit kurzem, aschgrauem Haar, zerzaust und mit hellroten Sprenkeln versehen. Aus ihrem Brustkorb hatte sich eine Ranke gebohrt, ihren Weg nach oben gesucht und an ihrer Spitze blühte eine pechschwarze Rose.

„Ihre Augen... sie scheinen die Blüten zu fixieren. Irgendwie verrückt, wie gelangweilt sie dabei wirkt. Als wäre das Sterben an sich so eintönig gewesen, dass es sogar spannender war, dieser Rose beim Blühen zuzusehen.“

Coleman hob seinen Stock und tippte damit ihre Wange an. Sie war so starr, dass nicht einmal ihre Haut nachgab.

„So etwas macht man nicht, Mister Coleman“, schritt Tom entrüstet ein, traute sich aber kaum, den Blick dem Tatort zuzuwenden.

„Und warum nicht, Kleiner? Sie sind tot, sie wird es nicht stören.“

„Und was ist mit Respekt vor den Toten?“

„Vollkommen unnötig. Diese Wesen fürchteten den Tod nicht. Weder den anderer, noch den eigenen. Sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, was es bedeutet, zu leben. Seht es euch an. All dem Chaos zum Trotze; sieht es für euch so aus, als habe hier ein Kampf stattgefunden?“

Ich nahm allen Mut zusammen und trat noch einen Schritt vor. Ich war keine Polizistin, hatte aber eine ungefähre Vorstellung, welche Spuren es hinterlassen hätte, wenn die Homunkuli sich gewehrt hätten. Zumindest würde es nicht so aussehen.

„Sie... wirken, als wären sie aufgereiht und dann nacheinander hingerichtet worden...“

Sollte es mich nicht viel mehr schockieren, anwidern, traurig machen? In dem Moment, als ich es schaffte, die Diener nicht mehr direkt mit Fleur in Verbindung zu bringen, verlor ich für sie auch jegliche Empathie. Und die Szene an sich... stumpfte mit jeder Sekunde ab.

„Aufgereiht? Vielleicht. Aber wenn ich in ihre Augen sehe, dann glaube ich noch mehr, dass sie... bewusst zu diesem Schlachtfest gekommen sind. 'Lasst euch umbringen.' Das war ihr letzter Befehl und sie führten ihn gewissenhaft aus.“

„Hätten sie überhaupt ohne ihre Herrin weiterleben können?“

„... Ich weiß es nicht. Und es ist mir eigentlich auch egal. Sie waren nur Hüllen, nichts weiter.“

„... Ja... Du hast vermutlich Recht...“

„Wie könnt ihr so etwas sagen?! Sie sind vielleicht nicht geboren wie wir, aber sie waren noch immer Menschen!“

Ich sah zurück. Thomas stand noch immer im Vorgarten, war in der Finsternis nicht mehr als eine Silhouette, dennoch konnte ich mir gut vorstellen, wie gekränkt und wütend er über das war, was wir gerade sagten. Immerhin waren Lady Cat und Fleur die einzigen Homunkuli, die er gekannt hatte.

„Kleiner, abseits ihres Aussehens haben diese Dinger nicht einmal ansatzweise etwas mit euch Menschen zu tun. Die Tür des Docs hat mehr Charakter als diese armen Teufel zusammen.“

„...Er hat Recht, Tom.“

„Und was war mit Fleur?“

Als er ihren Namen erwähnte, keimte in mir ein Zorn auf, den ich ihm gegenüber noch nie gespürt hatte. Wie konnte er es nur wagen, sie alle in einen Topf zu werfen?! Er wusste doch gar nichts über diese Wesen! Ich stapfte zurück und funkelte ihn verächtlich an.

„Fleur hat mit denen hier nichts gemeinsam! Sie ist... Sie war... ein Mensch, wie du und ich! Aber die hier sind nur seelenlose Haussklaven, die uns zufällig ähnlich sehen. Nicht mehr...“

„Das gibt euch trotzdem nicht das Recht, so über sie zu reden! Sie haben sich das nicht ausgesucht! Sie wurden nicht gefragt, ob sie lieber im Mutterleib, oder im Reagenzglas geboren werden wollen! Selbst wenn sie sich dem nicht bewusst waren... So zerstörerisch mit dem Leben anderer umzugehen ist... doch unfassbar grausam... Wie könnt ihr nur so herzlos sein?! Warum ist euch das egal?!“

So wütend hatte ich Tom noch nie erlebt, so außer sich und zeitgleich scheinbar so... enttäuscht von mir? Bildete ich es mir nur ein, oder sprach er in diesem Moment besonders mich an?

Vielleicht hatte er Recht, vielleicht war ich wirklich herzlos gegenüber jenen Wesen, die ich nie wirklich gekannt hatte.

Ich hatte sie ja auch nicht verstanden, die Städter, die hinter Fleurs Rücken gelästert hatten. Aber wie konnte ich ihm nur deutlich machen, dass diese Situation damit rein gar nichts zu tun hatte? Dass diese Menschen... und meine Fleur... rein gar nichts gemeinsam hatten... Warum verstand er das denn nicht?
 

Coleman seufzte entnervt und steckte sich eine Zigarette an. Der scharfe Geruch des Tabaks verteilte sich im Korridor und überdeckte zumindest in Teilen den chemischen Gestank, den die Leichen ausstießen.

„Ihr zwei bereitet mir echt Kopfschmerzen. Wie kann man sich nur in so einer Situation über derlei Banalitäten streiten? Es tut mir ja leid um jeden Toten, aber so wie es jetzt aussieht, sind Tode unvermeidlich. Und dann trifft es doch besser diejenigen, die das nicht stört.

Wenn wir eines hieraus ziehen können, dann dass Véronique bei der Explosion viel mehr Glück gehabt hat als dein Vater. Das macht es nur noch verwunderlicher, dass ihr sie töten konntet.“

„... Es ist vielleicht besser, wenn man darüber nicht mehr redet...“, murmelte Tom und ging an mir vorbei, sah mich nicht einmal mehr an. Was meinte er nur damit? Vor jedem Homunkulus blieb er stehen, senkte traurig den Kopf und wenn ich seine Lippenbewegungen richtig interpretierte, dann schien er etwas in Richtung „Ruhe in Frieden“ zu sagen.

In meinem Hals steckte ein gigantischer Kloß, schwer wie ein Stein, wenn ich mir diese Szene ansah und auf einmal verließ mich jeder Mut, wieder dieses Haus zu betreten. Nur langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, denn das Bild vor meinen Augen verschwamm zu einem milchigen Einerlei. Tränen? Warum weinte ich denn? Als die salzigen Tropfen zwischen meine Lippen flossen und auf meiner Zunge versiegten, spürte ich, wie mir davon übel wurde.
 

Gesengten Hauptes schlich ich an den Leichen vorbei, folgte den beiden tiefer ins Haus, bis wir im großen Wohnraum standen. Bei meinem ersten Besuch war der Ort hell erleuchtet gewesen, dank des ausladenden, verzierten Kronleuchters. Nun lag alles in Finsternis, lediglich erleuchtet durch das Flackern unserer Laterne, die die Schatten zum Tanzen brachten und außer dem Knarzen des Bodens unter unseren Füßen, war es totenstill.

Es war seltsam kalt; fast war mir, als könnte ich meinen Atem sehen. Im Kamin lagen noch einige unverbrauchte Holzscheite. Ich schnippte kurz und blies die Flamme auf meinen Fingern in den Kamin. Der zusätzliche Schein half dabei, etwas mehr zu erkennen und sorgte dafür, dass meine Gänsehaut zurückging, doch er verlängerte auch viele Schatten, verlieh ihnen lange Finger und Klauen, als säßen mit uns einige riesige, dürre Bestien im Raum, pflanzten sich auf die großen Sofas, welche noch die Spuren der Dornen von jenem Abend in sich trugen.

Wenn ich nur daran dachte, dass sie mich reingelegt hatte... fest biss ich meine Zähne zusammen. Ich war blind gewesen. Mir hätte klar sein müssen, dass Fleur nicht in ernsthafter Gefahr gewesen war.

Nein, ich musste aufhören, mir Vorwürfe deswegen zu machen. Immerhin konnte man die Vergangenheit nicht ändern. Und doch schmerzte es, hier zu sein. Hoffentlich fanden wir schnell, wonach auch immer wir suchten.
 

Coleman hatte unterdessen angefangen, die unzähligen Buchrücken zu studieren und zog in regelmäßigen Abständen diverse Werke aus dem Regal und warf sie hinter sich. Tom sammelte sie auf, besah sich jeden Titel konzentriert und stapelte sie sortiert auf dem kleinen Beistelltisch. Das gelang ihm erstaunlich gut, auch wenn er nur wenig über die Thematik wusste. Ich gesellte mich zu ihm und las mit. Einige wissenschaftliche Arbeiten waren dabei, auch ein paar Enzyklopädien und Lexika, doch am häufigsten tauchten dicke Taschenbücher in rot-braunen Ledereinbänden auf. Auf jedem einzelnen prangerte eine Jahreszahl.

Tagebücher? Ich hatte vieles erwartet, aber nicht, dass Véronique La Belle Tagebücher schreiben würde und das machte mich umso neugieriger. Ich nahm mir das Oberste – drei Jahre jung. Es schien ein wenig abgegriffen, aber in gutem Zustand. Was trieb einen überhaupt dazu an, Tagebücher so offensichtlich zu platzieren? Auf der anderen Seite war La Belle niemand gewesen, die oft Besuch empfangen hatte und wenn doch, dann war man... mit anderen Dingen... beschäftigt gewesen.
 

Ich schlug das Taschenbuch etwa in der Mitte auf und seufzte: „Natürlich sind sie auf französisch.“

„Warum auch nicht? Welcher Idiot würde sich die Arbeit machen, private Gedanken in einer fremden Sprache niederzuschreiben?“ Coleman sortierte einen letzten kleinen Stapel in Thomas' Ordnung ein. Es waren um die dreißig Bücher, unmöglich die alle mitzunehmen, geschweige denn hier durchzuarbeiten.

„Du hast sie so schnell rausgenommen. Hast du gewusst, was sie sind?“

„Wie gesagt, ich war schon dann und wann mal hier. Als Geschäftspartner.“

„Komplize.“

„Ach, nenn's doch wie du willst, es ändert sowieso nichts mehr. Ich wusste nicht, dass es Tagebücher sind, aber mir ist der lederne Buchrücken schon früher aufgefallen.“

„Sie hat es ziemlich unregelmäßig geführt, wenn man auf die Daten achtet. Es ist auch nur etwa die Hälfte gefüllt, die Schrift wurde immer krakeliger. Naja, so können wir herzlich wenig damit... Warte mal!“

Ich hatte unterdessen immer wieder das Buch von vorne nach hinten durchflogen, da fiel mir aus dem Augenwinkel etwas auf. Eine Zeichnung, oder Skizze? Ich suchte genauer und stieß auf eine Doppelseite voller Skizzen und Notizen. Sie zeigten menschliche Anatomie, Organe und Zeichen wie Pentagramme und alchemistische Symbole, die ich aus anderen Büchern bereits kannte. Und die Skizze selbst erinnerte mich nur allzu sehr an das aufgespießte Mädchen im Flur. Doch etwas anderes verwunderte mich noch viel mehr: Die Notizen waren komplett in englischer Sprache verfasst.

„Das sieht mir nach einer Art Forschungsbericht aus? Was hat sowas in einem Tagebuch zu suchen?“

„Ruhe!“, befahl ich und begann, konzentriert dem Text zu folgen:
 

Experiment 028: Bise
 

Weiblich. Dünn. Jugendlich. Kaum Ähnlichkeit mit Zielobjekt.
 

Keine erkennbaren Charakterzüge. Indifferent gegenüber Verletzung und Erniedrigung. Folgsam. Zeigt gewisses Interesse an meiner Nähe. Durchschnittliche Intelligenz. Versteht klare Anweisungen, ist jedoch mit abstrakteren Dingen überfordert.
 

Vitalwerte normal. Durchschnittliche Lebenserwartung. Geschickt im Haushalt, ansonsten eher unbegabt. Geruchs- und Geschmacksnerven auf menschlichem Niveau.
 

Ergebnis: Experiment gescheitert, jedoch noch von Nutzen. Werde Testsubjekt vorerst als neues Hausmädchen behalten und weitere Tests durchführen.
 

„Das... Das ist eine Aufzeichnung über das Homunkulus-Mädchen da draußen...“

„Was? Zeig her!“ Der Kater riss mir das Tagebuch aus der Hand und überflog die Notizen.

„...Experiment 028? Ach du... heißt das etwa, sie hat mindestens 28 dieser Viecher erschaffen?“

"Ich bezweifle, dass sie alle lebensfähig waren. Oder sie wurden irgendwann... 'entsorgt'."

Auch Tom warf nun einen Blick auf die Doppelseite.

„Bise... Was heißt das?“

„Das... könnte ihr Name sein... Ein französischer Ausdruck vielleicht?“

Kaum hatte ich den Gedanken ausgesprochen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ein französischer Ausdruck als Name? Ich drückte Tom das Buch in die Hand und machte mich daran, den Stapel zu durchforsten. Sechs, acht, zehn Jahre in der Vergangenheit. Das Leder war rau und trocken, die Seiten leicht angegilbt und rochen salzig.

Meine Hände zitterten, befeuchteten das Papier mit Schweiß, während ich durch das Buch blätterte, hin und her, in der Hoffnung, die richtige Stelle zu finden. Dann hielt ich inne. Die Schrift wirkte unsicher, als hätte sie gezittert, während sie die Worte zu Papier brachte.
 

Eperiment 013: Fleur
 

Weiblich. Schlank. Erscheinung einer jungen Erwachsenen. Außer Haut-, Haar- und Augenfarbe nicht vom Zielobjekt zu unterscheiden.
 

Wirkt schüchtern und verängstigt. Reagiert auf unterschiedliche Eindrücke mit passenden Emotionen. Überdurchschnittliche, gar menschliche Intelligenz. Erkennt sich selbst als eigenständiges Wesen und kann mit philosophischen Fragen genauso umgehen wie mit Logik.

Scheint mir zu gehorchen, jedoch nicht aufgrund bedingungsloser Loyalität. Testsubjekt hinterfragt meine Anforderungen und kooperiert erst nach einer ausreichenden Erklärung des Vorgehens.

ALS TESTSUBJEKT DAMIT NUTZLOS
 

Vitalwerte sehr hoch. Hautzellen regenerieren sich bei kleineren Wunden spurlos in überdurchschnittlicher Geschwindigkeit. Testsubjekt kann nicht mit normalen Maßstäben untersucht werden. Größere Gewalteinwirkung nötig, um akzeptable Ergebnisse zu erhalten.

Ergebnisse lassen folgende Hypothese zu: Testsubjekt könnte die normale Lebenserwartung eines Homunkulus um 10, vielleicht sogar 20 Jahre übersteigen.

Alle Sinne auf normalen Niveau. Beherrscht mehrere Sprachen und scheint großes Interesse an Musik zu besitzen.
 

Testsubjekt erkennt sich selbst nicht als Zielobjekt an, besitzt auch bei Bewusstsein keine Verbindung zu den Erinnerungen des Zielobjekts, obwohl es bekannte Charaktereigenschaften und Talente besitzt, beziehungsweise zu imitieren versucht. Je länger wir miteinander arbeiten, desto größer wächst ihr Vertrauen in meine Forschung.

Im Unterbewusstsein scheint jedoch eine schwache Verbindung zu bestehen, basierend auf Aufzeichnungen während der Ruhephasen.

Das Testsubjekt

Experiment 013

Fleur hat in unregelmäßigen Abständen schwere Albträume, an die sie sich nach dem Erwachen jedoch nicht erinnert. Sie fängt während des Redens an zu stammeln, oftmals undefinierbar, doch ihre Reaktionen zeigen großes Leid an. Ich werde dies weiter beobachten und herausbekommen, ob ich ihr helfen kann und versuchen, die restlichen Stränge der Verbindung zu kappen.
 

Ergebnis:Das Testsubjekt erreicht nicht die volle Erwartung und ist als Misserfolg zu definieren.

Fleur ist ein Durchbruch in meiner Forschung. Sie ist dem Menschen ähnlicher, als jedes Testsubjekt vor ihr und dabei absolut lebensfähig. Auch wenn der erhoffte Erfolg noch immer ausbleibt, stellt sie einen Meilenstein dar, auf dem man aufbauen kann und ich hoffe, dass sie mich bei meiner Arbeit unterstützt.

Experiment 013 entwickelte sich in die falsche Richtung und wird nicht zum erwünschten Ergebnis führen. Die Vertiefung der Forschungsarbeit ist unsinnig und das Testsubjekt sollte beseitigt werden.

Ganz gleich, wie Experiment 013 definiert wird, Fleur ist zu menschlich und sie erinnert mich zu sehr an meine Schwester. Sie zu beseitigen ist mit Mord gleichzusetzen.

Das Ergebnis darf nicht verfälscht werden. Menschliche Schwäche würde mich von meinem Ziel abbringen. Ich muss

Ich darf nicht

Ich muss sie
 

Ich kann nicht.

Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.

Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.

Ich kann nicht. Ich kann nicht.
 

Ich will nicht.
 

Die letzten Worte verloren sich in einem Geäst aus verlaufener Tinte, überschrieben die Skizzen, sodass man sie darunter kaum erkennen konnte. Es klang, als hätte sie mit sich selbst darum kämpfen müssen, was mit Fleur passiert wäre.

„Das erklärt, wie es zu diesem Massaker da draußen kommen konnte...“ Toms Stimme klang heiser, als wagte er kaum zu flüstern. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein... Das erklärt gar nichts. Zwischen diesem Eintrag und heute liegen zehn Jahre. Es klingt fast, als hätte in diesem Zeitraum die Véronique, welche Fleur beschützen wollte, irgendwann aufgehört zu existieren.“

„Sie redet von ihrer Schwester... Weißt du etwas darüber?“

„Mehr als ich will, Coleman. Magie ist mächtig, aber selbst für Magie ist etwas so Endgültiges wie der Tod unumkehrbar.“

„Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass sie in den Jahren etwas dazugelernt hat.“

„Vielleicht wollte sie aber auch nie eine zweite Fleur erschaffen...“

Als die Worte in meinem Kopf herumgeisterten, wurde ich nachdenklich. Sollte sie wirklich kein Interesse daran gehabt haben, wofür brauchte sie dann meine Hilfe? Schnell griff ich wieder das letzte Tagebuch und schlug es hinten auf, suchte nach Worten, Begriffen, die ich vielleicht auch so verstehen könnte.

Tatsächlich machte sich ein Wort ganz besonders oft in den hinteren Einträgen bemerkbar: L'anomalie. Das konnte kein Zufall sein. Leider verstand ich sonst kein Wort, aber es musste etwas damit zu tun haben und es würde erklären, warum sie auf Jacks Hilfe pochte. Dachte sie vielleicht...?
 

Ich schreckte hoch, sah mich um. Hatte ich etwas gehört? Das Fenster! ...Nichts. Es klang wie... Schritte? Nein, Coleman hätte sie schon längst gehört. Dennoch... ich hielt den Atem an und lauschte. Das Knistern des Feuers und das gelegentliche Umblättern der Seiten dominierten die Geräuschkulisse. Außer ihnen hörte ich lediglich meinen eigenen, zittrigen Atem.

Mir wurde flau im Magen. Das konnte ich mir nicht eingebildet haben, aber... Die anderen beiden, waren weiterhin in die Lektüren vertieft, schlugen Bücher auf und wieder zu... wonach genau suchten wir eigentlich nochmal?

Dieser verdammte Eintrag... Ich ließ mich auf dem Sofa nieder und legte meinen Kopf in meine Hände.

„Hey!“, Thomas sah auf und schaute uns fragend an. „Habt ihr was gehört?“

„Was?“

„Ich... Ich meinte, ich hätte ein Geräusch gehört... Schritte... Vielleicht.“

„Ja! Ja, ich auch!“

Der Kater hingegen ignorierte unseren Aufruhr, blieb weiter in den Büchern vertieft.

„Mister Coleman, Sie müssen doch auch was vernommen haben, oder nicht?“

„Etwas... vernommen? Nein, ich glaube nicht, Kleiner. Macht euch keine Sorgen, das sind die Bilder der letzten Stunde, die machen einen fertig...“

„Und dich nicht?“

„Doch, ob du's glaubst oder nicht, Alice, aber an mir geht der scheiß Flur auch nicht spurlos vorbei!“, antwortete er gereizt. Was war denn mit dem Kater auf einmal nur los?

„Aber anders als ihr, habe ich schon ein paar Jahre länger in diesem Drecksloch verbracht... Irgendwann stumpft man ab...“

„Aber es können sich doch nicht zwei Menschen zeitgleich Schritte eingebildet haben. Jetzt lausch doch mal!“

Er atmete tief ein und aus, schloss seine leuchtenden, gelben Augen und spitzte die Ohren. Ich tat es ihm nach... doch es kam einfach kein neues Geräusch auf.

„Ja... tut mir leid, ich hör noch immer nichts. Ist bestimmt nur eure Einbildung.“

„Willst du uns sagen, dass wir verrückt werden?!“

„Ich habe überhaupt nichts in dieser Richtung behauptet! Ganz ehrlich, Leute, sucht die passenden Bücher zusammen und wir sind schnell genug wieder aus diesem Spukschloss raus!“

„W-warum nehmen wir nicht einfach alle mit?“, schlug Thomas vor und ich merkte, dass auch ihm die Situation nicht geheuer war.

„Kleiner, wie willst du diese Stapel unbemerkt durch die Stadt schleifen?! Haben wir Rucksäcke dabei? Nein! Also bleiben sowieso nur eine handvoll Bücher zur Auswahl.“

„W-Wir könnten doch im Haus nach Taschen suchen.“

„Oh ja, bitte, wenn dir sonst nichts besseres einfällt...“

Mit jeder Sekunde wurde unser samtpfotiger Begleiter aggressiver, wandte sich mehr von uns ab. Das gefiel mir nicht.
 

„...Alice, was wird das, wenn es fertig ist?“

Unbeeindruckt sah mich Coleman an, blickte nicht einmal in die aufkommende tiefblaue Flamme, die mittlerweile meine ganze Hand umschloss und mit der ich wie eine Pistole auf ihn zielte. Diese Coolness... nur gespielt. In Wahrheit war er nervös. Ich sah es in seinen Augen. Das war nicht der gleiche Coleman, der mich durch den Spiegel gezwängt und mir etwas von Freundschaft eingeredet hatte.

Tom schaute mich mit großen, angsterfüllten Augen an, wie damals, als Dean ermordet wurde. Nun war es an mir, ihm ein Alles-wird-gut-Lächeln zu schenken.

„Vielleicht irre ich mich... Aber warum willst du uns so dringend davon abhalten, von hier zu verschwinden?“

„Ich... Das ist lächerlich, ich halte niemanden davon ab, wenn du gehen willst, dann geh. Ich dachte nur, du willst der Stadt helfen.“

„Und ich dachte für einen Moment, das würdest du auch wollen, aber dann ist mir was eingefallen, was ich über dein süßes, befelltes Gesicht schon ganz vergessen hatte: Du bist ein Gauner. Und du leidest mehr unter diesem Fluch, als du es andere wissen lassen möchtest, stimmt's?“

Coleman verzog keine Miene, doch er konnte nicht verbergen, wie er versuchte den Brocken in seinem Hals zu schlucken, oder wie seine Ohren sich langsam anlegten und die Augen schmaler wurden. Aber dann... formte sein Maul ein missmutiges Lächeln und er ließ das Buch in seiner Hand sinken.

„... Hast du ernsthaft geglaubt, ich wäre von mir aus lebend aus der Salem-Villa gekommen? Mit der Schusswunde?“

„Sie haben dir ein Angebot gemacht?“

„Deinen Kopf gegen meinen. Nimm's mir nicht übel, ich mochte dich wirklich, aber mit einer Schrotflinte vor der Nase ist man erstaunlich kooperativ.“

„Du... hast uns verraten!?“ Meine Zähne mussten bald brechen, so fest, wie ich sie aneinander presste. Immer lauter wurde mein Atem und ich spürte, wie mein Medaillon zu glühen anfing.

„Wir hatten von Anfang an keine Chance, Alice! Nicht gegen diese Leute! Bitte mach keine Dummheiten, dann kommt wenigstens Thomas lebend aus dieser verfluchten Stadt!“

„Jetzt tu doch nicht so, als würdest du dich ernsthaft für uns interessieren!“

„Ja, jeder ist sich selbst der Nächste, aber glaub mir, ich wollte nicht, dass es so weit kommt!“

„Lügner... Lügner, Lügner, Lügner! Alles Lügner, jeder einzelne von euch! Wann hört ihr endlich damit auf?!“

Da war es wieder... Dieses Gefühl... Dieser Blutdurst, der Wille, den Mistkerl bezahlen zu lassen, der mein Leben in eine Hölle verwandeln wollte. Brennen sollte diese kleine Ratte, sich winden in den Flammen...
 

Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach mich und kaum eine Sekunde später traf mich etwas an der Schulter. Das Feuer in mir erlosch, es wurde schwarz und zurück blieb ein durchdringender, pulsierender Schmerz, der meinen Oberarm durchzog und mir den Atem raubte. Schreiend hielt ich mir die Quelle meines Schmerzes, spürte wie warmes Blut herausquoll. Ich wurde angeschossen. Und als ich wieder zu Coleman sah, erkannte ich eine kleinen Revolver in seiner Pfote.

„Sorry, Alice... Aber wenn du mich jetzt umbringst, dann war mein Verrat völlig umsonst...“

Mehrere Männer stürmten den Raum, umringten uns. Tom wurde sofort bedroht und angeschrien, er sollte sich auf den Boden knien. Als ich mich aufrichtete, rammte mir jemand einen Kolben gegen meinen Hinterkopf, packte mich am Kragen und zerrte mich zu sich. Ich sah die Waffe nicht, aber mir war klar, dass auch auf mich eine gerichtet war.

„Meine Herren, reizen Sie Alice nicht zu sehr. Sie ist jung, aber auch junge Magier sind unberechenbar. Und dieses Exemplar hat bereits mehr als genug Leute auf dem Gewissen.“

Floyd... Natürlich war es Floyd, dieser Drecksack. Mit seinen Lederhandschuhen fuhr er sich über seinen grauen Schnauzer und kaute auf seiner Pfeife herum. Verdammtes, siegessicheres Grinsen. Wie lange hatten diese beiden das schon geplant? Der Polizeichef kniete sich zu mir, hob grob mein Gesicht, sodass ich ihm in seine Augen sehen musste.

„So ein hübsches Ding... fast so schön wie deine Mutter. Eigentlich wäre es eine Verschwendung, dich direkt dem Meister zu überlassen.“

Ich sammelte den verbleibenden Speichel in meinem Mund und spukte ihm ins Gesicht. Er sollte es nur wagen, mich anzufassen, aber meine Aktion entlockte ihm nur abfälliges Gelächter. Er stand wieder auf und wischte sich die Spucke aus seinem Gesicht.

„Ich muss zugeben, ich hatte nicht erwartet, dass Sie Ihr Wort halten, Katze.“

„Tja... jetzt beweisen Sie, dass Sie Ihres halten können, Bulle.“

„Nicht so eilig. Ein Versprechen kann jeder Vollpfosten halten, aber Loyalität...“

„Interessiert mich einen Scheiß, die Geschäftsbedingungen waren eindeut -“

Ein Warnschuss aus dem Revolver des Comissioners unterbrach den Kater, der darauf wie angewurzelt stehen blieb.

„Einem Kriminellen sollte man niemals vertrauen, solange er sich nicht bewiesen hat. Ich kann nicht garantieren, dass sie uns nicht hintergehen.“

„Oh bitte, was hätte ich denn davon?“

„Erzählen Sie es mir. Aber ich kenne eine Lösung. Wissen Sie, als Polizisten sind uns bei gewissen Dingen die Hände gebunden. Zum Beispiel, wie mit Zivilisten verfahren wird, die die Staatsgewalt behindern...“

„Kommen Sie zu Punkt.“

Ein zweiter Warnschuss.

„Nicht... Unterbrechen! Aber gut, wenn Sie es schnell haben wollen...“

Der Comissioner ging zu Thomas, packte ihn an den Haaren und zerrte ihn vor Coleman. Nein...

„Erschießen Sie ihn.“

„W-Wie bitte?“

„Nuschel ich etwa? Erschießen Sie den Bastard vor ihren Füßen. War das jetzt deutlich genug?“

„I-ich kann doch nicht...“

„Shirley!“ Floyd winkte den Wachmmann zu sich, der gerade noch hinter Thomas stand.

„Wenn der Flofänger sich weigert, dann töten sie ihn und danach den Jungen.“

Thomas hatte die Augen fest geschlossen. Sein Atem bebte und seine Stirn war schweißnass.

Nein... Nein, nein, nein...

So wird diese Geschichte nicht enden... Mein Atem wurde ruhiger, kontrollierter. Ich konzentrierte mich auf diw Magieströme in mir und um mir herum. Langsamer, immer langsamer bewegten sie sich, wurden von einem strömenden Fluss zu einer zähen Masse.

„Also... Ich soll das Arschloch vor mir erschießen? Mit dem größten Vergnügen...“
 

Ich riss die Augen auf. In Zeitlupe hob Coleman seine Pfote und zielte... nicht auf Tom, sondern auf den Comissioner. In Zeitlupe? Die Zeit... verging tatsächlich langsamer, doch nicht für mich. Diese Situation... hatte ich schon ein paar mal erlebt, doch zum ersten Mal hatte ich einen Zeitsprung bewusst ausgelöst.

Niemals hätte der Wärter so schnell reagieren können, wie ich aufgesprungen war und ihm die Schrotflinte abgenommen hatte, selbst mit nur einem Arm.

Mein Blut kochte wieder... War ich etwa doch ein Monster? Gefiel es mir gerade wirklich, diese Menschen zu töten? Und wenn schon. Sie hätten doch mit uns auch nicht besser verfahren.

All das ging mir durch den Kopf, während ich die Waffe anhob und abdrückte.
 

Blitzartig riss mich der Rückstoß zurück, presste alle Luft aus mir, zerriss die Wunde an meinem Oberarm. Hunderte Kugeln flogen mir um die Ohren, erfüllten die Luft mit dem Geruch von Schießpulver. Der Zeitsprung war bereits wieder vorbei.

Ich wirbelte herum, legte die Schrotflinte an und drückte ein zweites Mal ab. In einer roten Wolke wurde auch der zweite Wachmann vom Schrot erfasst, bevor er die Situation verstehen konnte und stürzte mit einem erstickten Schrei nach hinten.

Dieses Mal warf mich der Rückstoß zu Boden, ich prallte mit dem Kopf auf. Mein Schädel dröhnte und in meinen Ohren klingelten die unzähligen Schüsse. Mir war speiübel, doch das Adrenalin in meinem Körper hielt den Würgereiz zurück und den Schmerz in einem erträglichen Maße.

Unsicher rappelte ich mich auf, wollte gerade zu Tom sehen, doch ein plötzlicher Stoß gegen meine Rippen warf mich wieder zu Boden. Stoßhaft flog alle Luft aus mir, als ich wieder auf das Parkett knallte. Ich hustete.

Eine Hand packte mich am Schopf, drehte mich um. Die Fratze des Comissioners war zu einem gequälten Grinsen verzogen und schweißgebadet. Blut floss aus seiner rechten Schulter, während er mit einer Hand meinen Hals zudrückte und mit der anderen zittrig seinen Revolverlauf gegen meine Stirn presste. In seinen Augen spiegelte sich ein durchgedrehtes Leuchten.

Ich ächzte, kämpfte, rang nach Luft, die nur in winzigen Zügen sich in meine Lungen füllte.

„Nur ein jämmerlicher Schultertreffer! Dafür verschwendet er seine einzige Chance...“, murmelte Floyd und kicherte grimmig.

„Du miese Schlampe hast meine Jungs gekillt. Scheiß auf Mycraft, soll er deine Seele aus der Hölle holen. Aber den Ärger wirst du in deinen letzten Sekunden mit Spaß wettmachen.“

Meine Lungen brannten wie Feuer. Wenn ich länger so wenig Luft bekam, würde ich in Ohnmacht fallen. Warum nur... Warum konnte ich keine Magie wirken? Panisch griff ich nach oben, schlug nach seinem Gesicht, konnte aber einfach keine Kraft aufwenden. Floyd zerrte an meiner Hose, versuchte sie runterzureißen. Windend und tretend kämpfte ich dagegen an, versuchte aus seinem Griff zu entkommen.

Ich spürte seinen erregten, nach Tabak stinkenden Atem in meinem Gesicht, während mein Augenlicht immer schwächer wurde und mich meine Kraft in meinen Armen verließ.

Langsam... wurde ich schwach... und müde... nein... so wollte ich nicht sterben...
 

Eine ganze Reihe von Schüssen löste sich. Die Hand um meinen Hals zuckte, wurde schwächer, ließ los und der riesige Körper über mir fiel zur Seite. Meine Lungen füllten sich so rasant mit Luft, dass ich mich daran verschluckte. Mir war schlecht und schwindelig, aber ich lebte noch.

„Alice!“

Tom lehnte sich über mich, half mir, aufzustehen.

„Alice, bist du okay?!“

Ich konnte noch nicht reden, schaffte es aber zu nicken. Tom drückte mich an sich. Sein Körper bebte und ich hörte das Schluchzen in meinen Ohren.

„So ein Glück, so ein Glück. Bitte... Bitte verzeih mir, dass ich nicht schneller reagiert hatte. Es ging alles so plötzlich und ich war einfach wie erstarrt und...“

„Tom... es... ist alles okay... dank dir... aber es war verdammt knapp...“

Langsam beruhigte sich meine Atmung wieder und ich realisierte, wie viel Glück wir gerade hatten. Aber wir lebten noch, alles andere war Nebensache.

„Was... Was ist mit Coleman?“

Tom löste sich von mir und machte die Sicht zum Kater frei. Oder was von ihm noch übrig war. Vor mir lag ein durchlöcherter Haufen Fell, aus dessen leuchtendem Paar Augen langsam das Leben entwich. Aber nicht, solange ich noch nicht ihm das Fell über die Ohren gezogen habe.

Langsam rappelte ich mich auf und taumelte auf den Kater zu. Ich zählte mindestens fünf Einschusslöcher und auch aus seinem Maul tropfte das Blut.

„Freut mich, dass ihr überlebt habt“, ächzte er und zwang sich zu einem schwachen Lächeln.

„Wer's glaubt.“

„Ich zwing dich nicht dazu, aber es ist... wahr. Das hier... ist nur gerecht... Eigentlich... habe ich nie wirklich daran geglaubt, dass ich diesen Verrat überleben würde.“

„Beantworte mir nur eins: Warum hast du uns erst hierher geführt? Warum hast du uns nicht schon bei unserer Ankunft verpfiffen?“

Mit zittriger Pfote griff der Kater unter seine Weste und holte ein kleines, pechschwarzes Buch heraus, das er mir entgegenhielt. Vorsichtig nahm ich es an mich. Der Einband war verziert mit Säulen und Knoten und im Inneren fanden sich unzählige Zauber, Forschungsergebnisse, Rezepte und mehr.

„Ist... das das Buch, das du Mycraft damals gestohlen hattest?“

„Sein Grimoire... Das hatte... La Belle... die ganze Zeit... Ich wollte es als... Druckmittel gegen Mycraft, aber... dafür... ist es zu spät... vielleicht... hilft es euch ja... weiter...

Und noch etwas... Alice... Thomas... es tut mir... unendlich... leid...“
 

Mit diesen Worten entschlief der beschuhte Kater. Seine Glieder erschlafften und sein Kopf fiel zur Seite. Ich weiß, ich sollte ihn abgrundtief hassen, verachten, aber... es brachte ja doch nichts, Groll gegen die Toten zu hegen. Und wenn ich ehrlich darüber nachdachte, konnte ich ihn auch verstehen. In dieser Stadt trug jeder sein eigenes Päckchen und nur wenige konnten sich auf die Hilfe Fremder verlassen. Umso wertvoller war es, wenn man einen wahren Freund besaß.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Phinxie
2017-04-20T12:02:34+00:00 20.04.2017 14:02
Was habe ich mich gefreut, als dieses Kapitel kam <3

...ich habe das Gefühl, du wirst schneller, weil immer so gespannt darauf warte xD

Aber jetzt zur Kritik:
Ich muss sagen, dass mir der Inhalt dieses Mal sehr gut gefallen hat. Gerade die Beschreibung der Umgebung, wie die Homunkulus-Mädchen alle getötet worden waren... Das war wirklich gut geschrieben, wahrscheinlich sogar mit das Beste, was ich jemals von dir lesen durfte.
Des weiteren fand ich den Tagebucheintrag - bzw, den Bericht - von Fleur sehr interessant. Ich mag vor allem die durchgestrichenen Sätze, die zum Ende hin immer mehr und mehr werden, was auf Veroniqués Gefühlslage sehr gut passt. Zumindest kann man sich vorstellen, wie sich die Frau vor zehn Jahren gefühlt hat. Ich frage mich, was geschehen ist, dass sie sich so stark gewandelt hat.

Eine Sache:
"Der letzte Ton, ein erstickter Schrei – schmerzerfüllt nach Hilfe rufend – war ihren dünnen Lippen schon lange entwichen, so, wie die letzte Träne auch schon lange aus ihren einst warmen, violetten Augen geflossen war und die Amethyste schielten glasig leer nach oben, vor Schock weit aufgerissen."
Verstehe ich das richtig, dass sie Amethyste als Augen besaßen, oder ist das einfach nur eine Umschreibung für ihre besonders violetten Augen? Das würde ich eventuell noch einmal deutlicher machen, ansonsten gefällt mir der Satz sehr gut ^^

Colemans Verrat...
Muss zugeben, irgendwie hat mich das jetzt nicht so schockiert xD
Wahrscheinlich, weil ich selbst so ein Mensch bin, der solche Sachen schreibt und es deswegen schon beinahe erwarte xD Deine Welt ist nun mal dunkel, und keine Friede-Freude-Eierkuchen Welt. Da ist ein Verrat auch nur die Spitze des Eisberges :'D
Es kam zwar überraschend, war aber wirklich so ein "Ah, okay. Naja, irgendetwas musste ja in die Richtung kommen." Und es erklärt auch das gereizte Verhaltes unseres beschuhten Katers ;)

Alles in allem habe ich bei diesem Kapitel nichts groß zu meckern. Mir hat die aufgebaute Stimmung gut gefallen und auch die Action-Szene war nicht schlecht beschrieben (zugegeben, ich habe nicht wirklich verstanden, wie genau Alice' Zeitsprung vonstatten gegangen ist. Ist sie in die Zukunft gehopst, hat sie die Zeit verlangsamt...?) Aber es ist teilweise auch schwer, etwas verständlich für jede Person zu beschreiben, was im eigenen Kopf so verdammt logisch erscheint.
Wäre lieb, wenn du mir das mal erklären könntest mit dem Zeitsprung ^^
Ansonsten finde ich es schön, dass Alice auch mal ein bisschen ihre Magie einsetzt xD

Ich muss da immer an eine Szene aus Harry Potter denken:
"Mach ein Feuer, Hermine!"
"Ja, aber ich habe doch keine Streichhölzer..."
"BIST DU EINE VERDAMMTE HEXE ODER WAS?"
xD
Sorry, der musste sein. Aber jede Hexe, die irgendwie hilflos da sitzt und nichts tut, da fragt man sich als Leser irgendwann wirklich, ob die Magie vom Autor schlichtweg vergessen worden ist, oder ob die Protagonisten zu blöd sind, sie einzusetzen.
Auf jeden Fall, schön, dass du die Magie mehr herein gebracht hast :)
So etwas würde ich mir definitiv häufiger wünschen, gerade bei Kämpfen^^

So, und jetzt wünsche ich dir noch einen schönen Tag und ich freue mich selbstverständlich auch schon auf das nächste Kapitel :3
Antwort von:  Lazoo
20.04.2017 14:29
VielenDank für das ausführliche Feedback.
Ich gehe mal von oben nach unten durch:

-Die Amethyste sind tatsächlich nur eine Metapher und ich wusste eigentlich nicht, wie ich die noch deutlicher machen sollte, immerhin wurde auf die Augen der Homunkuli nun wirklich oft genug eingegangen und wären es tatsächlich Amethyste, dann hätte ich das auch so deutlich gemacht.

-Wenn du Colemans verrat als zwar überraschend, aber erwartbar einstufst, dann ist das gut :) Es muss ja nicht immer gleich jeder Plot-Twist zu einem "OMG! WTF!" führen. Und wenn der Leser sagt: "Gut, das habe ich schon irgendwie erwartet", dann ist mir das lieber als wenn er sagt: "Okay, das war überhaupt nicht absehbar und fühlt sich an, wie an den Haaren herbeigezogen."


-Hmm... ja... der Zeitsprung... Ich gebe zu, ich bin nicht gut mit Action-Szenen (zumindest nicht so gut, wie ich gerne wäre). Obwohl ich jetzt nicht der Meinung bin, dass es so unverständlich war.
Vielleicht ist auch der Name unglücklich gewählt. Für den Magier wird die Zeit um ihn verlangsamt, in der er sich jedoch frei bewegen kann. Für alle Außenstehenden wirkt es dann tatsächlich eher wie ein Sprung durch Raum und Zeit, denn er verschwindet an Punkt A und Taucht auf an Punkt B. ODer bewegt sich zumindest so schnell, dass man es als Sprung bezeichnen könnte.
Die Frage, ob der Magier nun tatsächlich durch die Zeit springt, oder die Zeit selbst selbst verlangsamt wird, ist nicht so ganz eindeutig zu beanntworten. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte.
Jack hatte so etwas mal in einem der ersten Kapitel gemacht um Fleur vor einem Sandwich-Desaster zu bewahren. Das zeigt auch, dass die Zeitspanne für so etwas sehr gering ist und außerdem gerade bei jemand Ungelernten wie Alice sehr viel magische Energie verbrennt.

Ansonsten freue ich mich, dass du dich auf das nächste Kapitel freust :) bin gespannt, wie dir das Ende gefallen wird.


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