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Alice in Magicland

Die Geheimnisse von Taleswood
von

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Schicksalsscherben

„Mit dieser Klinge... habe ich Claire getötet.“ Die Worte hallten als endloses Echo in meinem Kopf nach. Warum sagte er so etwas? Warum jetzt? Warum hier? Wozu hatte er mich vorher belogen, wenn er es mir jetzt so direkt sagte. War ich jetzt etwa auch dran? Ich fühlte mich, als hätte ich Blei im Magen, während ich langsam zurücktrat. Wem konnte ich denn noch trauen?

„Das ist nicht wahr...“, flüsterte ich. „Das ist nicht wahr!“

„Doch, es ist wahr!“, schrie Jack. „Claire war durchgedreht, sie war eine Gefahr für uns alle! Ich hatte keine verdammte Wahl!“

„Nonsens!“, keifte Coleman. „Claire war eine exzellente Magierin! Manche behaupteten, sie wäre sogar mächtiger als Mycraft gewesen! So jemand verliert nicht einfach die Kontrolle über seine Kräfte!“

„Ich schwöre euch, das ist die Wahrheit! Bitte glaube mir, Alice!“

Glauben? Warum sollte ich ihm glauben? Was glaubte dieser Kerl eigentlich, was ich für ihn war? Eine Buße für seine Sünden? Oder doch nur ein Ersatz für Claire? La Belle hatte von Anfang an Recht gehabt! Niemand in dieser Stadt ist frei von Sünde! Ich hockte mich hin und hielt mir die Ohren zu. Bitte... macht, dass dieser Horror endlich aufhört...

„Er lügt! Wenn Claire wirklich durchgedreht wäre, dann hätte er sie niemals aufhalten können! Was hat dich wirklich dazu gebracht, sie zu töten, Jacob?! War es Eifersucht?! War es Hass?!“

Bitte seid still...

„Ich habe Claire geliebt, verdammt! Ich wollte das nicht, aber es gab keinen Ausweg!“
 

„HALTET ENDLICH DIE KLAPPE!“ Mein Schreien zerriss ihren Streit und sorgte endlich für Ruhe. Wankend verließ ich den Pub, ohne die beiden noch einmal anzusehen. Ich brauchte Zeit für mich allein... und frische Luft. Mir war schwindelig und speiübel.

„Bitte warte, Alice!“ Jack versuchte mich an meiner Schulter festzuhalten, doch ich riss mich los.

„Lass mich in Ruhe!“

„Ich bitte dich, höre mir zu! Ich verspreche dir, zu allem eine ehrliche Antwort zu geben. Ich werde dich auch nicht mehr belügen.“

„Wirklich? Dann beantworte mir eins: Was bin ich für dich?“

Jack stand wortlos da und versuchte eine Antwort zu finden. Ich wartete eine Minute. Zwei. Drei. Ich wollte ihm glauben, ich wollte ihm all die Geheimnistuerei verzeihen und mir all seine Sünden anhören. Das war ich ihm schuldig. Doch ich wollte es wissen. Wie stand er zu mir?

„Bitte sag doch irgendwas... Bitte sei nicht nur stumm...“, flehte ich schon fast.

Es kam nichts. Er schaute einfach nur gen Boden und schwieg. Langsam füllten sich meine Augen mit Tränen.

„Alice... ich... das...“

„Geh weg...“

„Nein, warte...“

„Lass mich allein! ...bitte...“

Er zögerte einen Moment, doch verschwand dann wieder in den Pub.

Was ist in dieser Welt nur schiefgelaufen und warum musste ich ein Teil von ihr sein? Wieder lag alles, was mir jemals wichtig war, in Scherben. Meine Schritte hallten genauso von der Straße wider, wie damals. Damals, in jenem Albtraum - groß unterschied sich diese Zone davon nicht mehr... Ich wünschte mir einfach nur, von hier zu fliehen.

Ziellos streifte ich durch die noch immer menschenleere Szenerie, betrat das Rathaus, die Kirche, Lady Foxtrotts Schneiderei, doch alle boten das gleiche Bild.

Die Kleider hingen wie in Stein gemeißelt an den Ständern und von den sonst so eifrigen Mitarbeitern fehlte jede Spur, als ich in den Laden der Füchsin trat. Ich erinnerte mich daran, wie auch sie mir damals etwas sagen wollte, bezüglich Mutter...

Hatte mich vielleicht jeder in Taleswood zum Narren gehalten?! Wie kam ich überhaupt auf die Idee, dies als mein Zuhause bezeichnen zu wollen?! Ich wollte diesen vermaledeiten Ort nicht mehr sehen... nie mehr...

Und so schlich ich leise schluchzend weiter, immer weiter in Richtung Stadtgrenzen, als ich in der Ferne die Brücke über dem Madcap River entdeckte. Und am Geländer – es war kaum richtig auszumachen, so als hätte man es mit einer Fata Morgana zu tun – stand eine Person. Je näher ich kam, desto klarer wurde, dass es weder Jack noch Coleman sein konnten, denn zu keinem passte die feminine Statur und als ich noch näher trat, erkannte ich La Belles langes schwarzes Haar.

Ein wenig mulmig war mir schon, doch je weiter ich schritt, desto mehr wurde mir klar, dass es sich nicht um die „echte“ Véronique handelte - wobei echt ein relativer Begriff war.

Die Erinnerung an ihr früheres Ich, starrte in einer Mischung aus Trauer und Verzweiflung auf die sich gleichmäßig bewegende Wasseroberfläche und ihre ewig gleich falsch schwimmenden Bewohner, so als würde sie darin die Lösung für all ihre Probleme suchen.

„Sie ist nicht böse... sie kann dir hier nichts tun... Aber du willst doch die Wahrheit erfahren, oder etwa nicht?“, machte ich mir in Gedanken Mut, während ich weiter zu ihr schritt.
 

„Oh... Miss Claire...“, begrüßte sie mich fast schon teilnamslos. In ihren blauen Augen spiegelte sich wieder, dass sie gerade ganz weit weg war. Ich blieb vor ihr stehen und schwieg. Sie würdigte mich nur eines kurzen Blickes, der von meinem Gesicht runter zu meinen Bauch ging und dort für einen kurzen Moment hängen blieb, bevor sie sich wieder dem Madcap River zuwandte.

„So langsam sieht man es...“

Ich schaute an mir hinunter, erkannte aber nichts. Doch mir war nach einer kurzen Bedenkzeit klar, was sie meinte. Wenn diese Erinnerung 1881 darstellte, dann war Mutter bereits mit mir schwanger. Wahrscheinlich wurde so etwas nicht abgebildet.

„Sie müssen nicht mit mir sprechen, Miss... Ich weiß, was alle über mich erzählen... Aber das ist der Preis...“

„ ...der sie auffressen wird.“ Der Übergang von Véronique zu ihrer Schwester war so fließend, dass ich ihn nicht bemerkte. Auf einmal stand Florence vor mir und beendete den angefangenen Satz so, als wäre er aus ein und demselben Mund gekommen. Ihre Gestalt hatte sich plötzlich gewandelt - und von der älteren zur jüngeren Schwester gewechselt. Ich versuchte meine Verwirrung um diese Eigenart runterzuschlucken und mich auf den Kontext zu konzentrieren. Wie auch immer diese Zone funktionierte, man würde mir keine Zeit lassen, mich an jene Gesetze zu gewöhnen. Aber es musste einen Grund geben, dass diese beiden zu genau diesem Zeitpunkt existierten.

„W-was meinen Sie mit auffressen?“

„Sie klammert sich schon lange an diesen letzten Strohhalm Hoffnung, dass ich noch zu retten wäre.“

„Sie sind sich da nicht so sicher, oder?“

Florence seufzte, lehnte sich ans Geländer und schaute gen Himmel.

„Ich werde sterben, Miss Claire... diese Gewissheit habe ich schon lange. Ihr Lehrmeister kann mich auch nicht davor bewahren, sondern nur Aufschub gewähren. Dafür mache ich ihm keine Vorwürfe... Ich würde mir nur wünschen, dass Véronique das endlich einsieht und anfängt, ihr eigenes Leben zu leben.“

„Sie will es einfach nicht verstehen!“, schrie La Belle. Wieder war der Wechsel so übergangslos und unscheinbar gewesen, dass ich ihn kaum bemerkt hatte. Waren das etwa Ausschnitte aus Gesprächen, die Mutter mit den Schwestern geführt hatte?

„Was ist denn schlimmer? Ein paar Jahre lang von der Gesellschaft bespuckt werden, oder ein ganzes Leben lang ohne sie zu sein?! Ich kann das aushalten! Ich liebe sie doch!“

„Véronique ist so unfassbar dumm... warum erkennt sie denn nicht, wie weh es mir tut, sie so leiden zu sehen?! Sie hat vorher nie geweint... Dieser Mycraft macht sie kaputt...“

Langsam fing in meinem Kopf an, sich alles zu drehen. Der ewige Wechsel zwischen den beiden Frauen, die sich indirekt beschuldigten, einander nicht zu verstehen, setzte einem klar denkenden Menschen mit der Zeit zu. Ich konnte nicht wissen, wie sich Mutter dabei gefühlt hatte, aber wahrscheinlich war es ihr selbst unangenehm zwischen ihnen zu stehen. War es das, was sie mir damit sagen wollte?

„Warum reden Sie nicht mit ihr?“, fragte ich Florence kleinlaut.

„Das habe ich doch schon hundertmal gemacht. Ich... ich weiß, sie hat panische Angst davor, allein zu sein... Aber ich kann es nicht ändern. Wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe?“

Ich schwieg und wartete ihre Antwort ab. Sie holte immer wieder Luft und setzte an, doch es fiel ihr schwer die Worte richtig zu formulieren.

„Véronique hat sich verändert...“

„Inwiefern?“

„Sie... Sie wirkt manchmal so boshaft und schreit mich ohne Grund an, manchmal höre ich eine unheimliche Mischung aus Kichern und Wimmern und manchmal ist sie wie in einer anderen Welt... So war sie vorher nie. Und ich habe das Gefühl, dass sie sich immer weiter von mir distanziert. Ich habe Angst, dass sie bei meinem letzten Atemzug nicht mehr um mich trauern würde.“

Mein Herz wurde schwer, bei diesen Worten. Ich musste daran denken, dass ihre Befürchtungen tatsächlich eingetreten waren. Ob sie die Verwandlung ihrer Schwester noch mitbekommen hatte? Wer war Mycraft und was hatte er mit den Menschen dieser Stadt gemacht? Jack, Coleman, die Polizei, die Foxtrotts... waren sie auch betroffen?

„Sie denken so viel über den Tod nach. Wie fühlt er sich an?“, fragte ich sie.

„Früher wollte ich vor ihm weglaufen, tat alles dafür, ihm von der Schippe zu springen. Doch mittlerweile ist mir klar, dass es eine Grenze gibt, wie weit man seine Würde verlieren darf, nur um zu überleben.“

„Sie... Sie erwarten ihn?“ Es fiel mir schwer, das auszusprechen. War ihr bewusst, was sie da sagte?

„Gewissermaßen. Keine Angst, ich wähle nicht den Freitod. Es ist nur... vielleicht wäre es für alle besser, wenn mein Leben schon vor einiger Zeit geendet wäre...“

Das konnte ich zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Dieses Gefühl hatte ich auch, bevor ich in jene Welt eintrat. Vielleicht wäre es besser, ich wäre nie nach Taleswood gekommen... Doch diese Frau war anders als ich. Sie bereute nicht ihr Leben. Sie ging nur mutig auf dessen Ende zu.
 

Plötzlich krümmte sich Florence und fing wieder an zu husten, lauter und stärker als jemals zuvor. Sie griff nach dem schmiedeeisernen Geländer, doch hatte keine Kraft mehr und fiel nach vorn. Ich hielt sie noch fest, doch sie endete trotzdem auf allen Vieren, das Gesicht nach unten gerichtet. Das wäre es gewesen: Florence stirbt vor meinen Füßen. Doch nach einer mir ewig erscheinenden Minute, schien sie sich tatsächlich wieder zu erholen. Langsam half ich ihr hoch. Sie war schweißgebadet und noch blasser als zuvor. Ein paar Blutflecken klebten an ihrem Ärmel und an der Schürze ihres Kleides.

„Ich hatte schon Sorge, Sie würden nicht mehr zurückkommen“, witzelte ich zynisch. Sie lachte einmal kurz.

„N-noch ist es nicht soweit. Sagt mir, Miss Claire... Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass mich Mycraft retten könnte?“

Ich kannte ihn nicht. Was sollte ich denn sagen? Aber ich wusste, dass er es nicht mehr geschafft hatte. Florence war tot. Nur deshalb gab es Fleur in meiner Welt.

„Ich... ich glaube Sie haben nicht mehr viel Zeit...“, antwortete ich traurig. Sie war doch nur eine Erinnerung! Warum tat es dann so weh, ihr das zu sagen?

„Verstehe... Das heißt, ich habe auch keine Zeit mehr, das hier zu bereuen.“

Mit diesem Satz wandte sie sich schnell zu mir und küsste mich sanft auf den Mund. Mein Herz machte einen Aussetzer: Ihre dünnen Lippen waren so unheimlich warm und gaben bei der Berührung ein vertrautes, leichtes Zucken von sich, das ein Kribbeln in meinem Bauch hervorrief. Es war eine Mischung aus schüchterner Zurückhaltung und lustvollem Verlangen. Fleur... Fleur küsste genauso...

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So fühlte es sich also an, überrumpelt zu werden.... Florence sah mich mit hochroten Wangen an und versuchte krampfhaft erklärende Worte zu finden:

„Verzeiht... ich... das... wenn Sie mich nun schlagen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Wa- Was war das denn?“ Ich konnte meine Frage kaum hören, weil mein eigener Herzschlag sie übertönte.

„Wissen Sie, mein Leben war kurz, aber das heißt nicht, dass ich es nicht erfüllt gelebt habe. Ich habe das Klavierspielen sowie einige Fremdsprachen erlernt. Ich war außerhalb von Frankreich und habe viele interessante Personen getroffen. Alles was mir noch fehlte, war mein erster Kuss...“

„U-und den wollten Sie von mir?“

„Sie haben mir als einzige ruhig zugehört. Aus kindlichem Humor getrieben, dachte ich gerade spaßeshalber darüber nach, wie es wohl wäre, wenn Sie das wären. Und auf einmal zog es genau hier... “

Sie legte eine Hand auf ihre linke Brust. „Verrückt, nicht wahr?“

Ich schüttelte den Kopf und lächelte sie an.

„Eigentlich ergibt erst dadurch vieles Sinn“, murmelte ich.

„Verzeihung, haben Sie was gesagt?“

„Nicht so wichtig. Ich bin dir nicht böse, Florence. Wie... Wie hat es sich denn angefühlt?“

Sie kicherte verlegen und spielte mit ein paar Strähnen ihres Pferdeschwanzes.

„Ich bin mir nicht sicher... aber es war nicht unangenehm, auch wenn alle sagen, dass solch eine Liebe falsch sei... Ich bin froh, dass du so nicht reagiert hast.“

Es war verrückt so etwas zu denken, aber etwas in mir sagte, dass sich Fleur vielleicht in mich verliebt hatte, weil ein Teil von ihr sich an diese Erfahrung mit Mutter erinnerte. Aber war das denn möglich? Besaß sie vielleicht wirklich einen Teil von Florence' Seele?

„Verdammt, ich glaube ich verliebe mich gerade! Das geht doch nicht, du bist doch verheiratet!“, fluchte sie auf einmal und raufte sich die Haare. Ich kam nicht umhin, von ihrem Verhalten amüsiert zu sein. Sie war wirklich niedlich. Wenn sie doch nur niemals aufgehört hätte, zu existieren...

Ich beugte mich zu ihr, küsste sie schnell auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr:

„Keine Sorge. Wir sehen uns irgendwann in anderer Form wieder.“

„Dann freue ich mich schon darauf...“ Mit diesen Worten löste sie sich langsam auf und verschwand im Nichts. Währenddessen fing sie an schwach vor sich hin zu summen. Eine vertraute Melodie... Ein altes Volkslied...

Ich fiel auf meine Knie und hielt meine Brust. In meinen Ohren hallte noch etwas das Summen nach, dann hörte ich eine Stimme... leise... weit, weit entfernt...

„Florence ist tot. Sie ist heute morgen nach einem Anfall nicht mehr aufgewacht... Ich... ich konnte nichts dagegen tun! Aber wisst ihr, Miss Claire... Noch ist nicht alles verloren... auch wenn ich nicht so fähig bin wie Sie, ich werde meine kleine Schwester wiedersehen! Koste es, was es wolle!“

Das war La Belle. Sie hatte also die Verwandlung ihrer großen Schwester nicht mehr miterleben müssen. Aber wie weit war Véronique nur gegangen, um sie zurückzuholen?

Obwohl ich Florence nicht wirklich kannte, machte sich eine unfassbare Traurigkeit in mir breit... Mutter... hattest du vielleicht etwas für sie empfunden?
 

Ich stand auf und wandte mich in Richtung Stadt. Noch immer war sie wie ausgestorben. Auch die Zeit hielt nach wie vor an, doch das war mittlerweile Nebensache. Wo sollte ich als nächstes lang? Ich ließ mich von meiner Intuition treiben und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Diese Erinnerung war ein Trümmerfeld, allerdings konnte ich nicht sagen, ob das meine Schuld war, oder sie von Anfang an so gewesen ist. Nichtsdestotrotz gab es Ausschnitte, die zumindest teilweise intakt waren. Wenn ich diese fände, vielleicht würde sich so ein Teil des Puzzles vervollständigen, das Taleswood darstellte. Die Einsamkeit störte mich mittlerweile kaum mehr. Denn während ich durch die verlassenen Straßen schritt, konnte ich mich von einem Gedanken nicht trennen:

War Véronique vielleicht noch zu retten? Konnte ich irgendetwas dafür tun, dass sie wieder zur Besinnung brachte? Doch dafür musste man zunächst wissen, wie Mycraft sie so verdorben hatte. „Verflucht, was denkst du denn da?! Überleg doch nur, was sie dir angetan hat!“, versuchte ich mir lauthals einzureden, doch mir war nur allzu bewusst, dass die Welt nicht einfach nur schwarz oder weiß war. Dennoch konnte ich ihre bisherigen Taten nicht außer Acht lassen. Eine Zwickmühle.
 

Ich seufzte und schaute zum ersten Mal, seit ich losgelaufen war, nicht mehr auf den Boden. Ich hatte mich von meinen Füßen treiben lassen und sie hatten mich tatsächlich zurück zur Kirche geschickt. War hier also die nächste Erinnerung?

Diese Antwort sollte sich durch ein lautes „Hey Claire!“ hinter mir ergeben. Ein Mädchen in einem rotbraunem Kleid und einer dicken Brille auf der Nase schaute mich grinsend an. Ihr blondes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, die über ihre Schultern hingen. Sie konnte elf maximal zwölf Jahre alt sein. Aber diese Erscheinung... Keine Frage, das war Doktor Engels – naja wahrscheinlich war sie zu diesem Zeitpunkt eher noch unter ihrem Spitznamen bekannt.

„Hallo...Gretchen?“, begrüßte ich sie vorsichtig. Ich hoffte, damit nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, auch wenn mir Coleman sagte, dass meine Worte diese Welt sowieso nicht beeinflussen könnten. Doch scheinbar lag ich richtig, denn das Mädchen blies beleidigt ihre Backen auf und meinte:

„Hört endlich auf mit diesem dummen Spitznamen! Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“

Dann schüttelte sie den Kopf und holte aus einer kleinen Umhängetasche eine Phiole mitsamt einer milchigen blassroten Flüssigkeit raus.

„Was soll das sein?“, fragte ich, denn mir war kein Zaubertrank dieser Konsistenz bekannt - vorausgesetzt, dass es einer war.

„Natürlich ein echter Liebestrank“, verkündete sie grinsend und schüttelte die Phiole locker zwischen ihren Fingern. Der Inhalt gab ein leicht rosafarbenes Leuchten von sich. Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

„Du weißt schon, dass es so etwas wie einen Liebestrank nicht gibt, oder?“

Selbst ich wusste, dass es maximal einige aphrodisierende Mixturen gab, allerdings keinen Trank, der wahre Zuneigung erzeugen konnte. Es war schlichtweg unmöglich, so eine tief sitzende Emotion künstlich zu erschaffen. Greta sah das hingegen etwas anders.

„Aber natürlich gibt es so etwas! Du siehst es doch direkt vor dir!“

„Also gut ich spiele mal mit“, sagte ich mit einem sarkastischen Lacher. „Und für wen ist dieser 100%ig funktionierende Liebestrank?“

„Natürlich für Jack, das weiß du doch!“ Sie umklammerte die Phiole fest und bekam ein leichtes Glänzen in den Augen.

„Mit diesem Trank werde ich endlich seine unterdrückten Gefühle befreien und er kann mich endlich als Frau sehen und nicht als kleine Spielkameradin.“

Nur mit Mühe konnte ich mir das Lachen verkneifen. Greta machte nicht nur eine wirklich putzige Figur dabei, wie sie über Jack schwärmte, es war auch wirklich amüsant zu sehen, dass ihre einseitige Beziehung nun schon seit über 15 Jahren ging, wobei... eigentlich war das ziemlich traurig... Doch man sollte einem kleinen Mädchen nicht die Hoffnung nehmen.

„Also gut, das ist also ein echter Liebestrank?“

„Absolut. Verwechselung ausgeschlossen.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich habe noch nicht ein einziges Alchemiebuch gelesen, das die Herstellung eines Liebestranks erklärt. Genau genommen, kenne ich nur welche, die davon abraten.“

Das kleine Mädchen stemmte die Arme in die Hüfte, beugte sich nach vorne und schaute mich siegessicher an.

„Tja, meine liebe Claire, du magst ja gut in Magie und so sein, aber halt immer noch nicht so gut wie der Meister selbst.“
 

Mycraft hatte ihn gebraut? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Gretas geistiger Schaden! Lag es wirklich an diesem Gebräu?! Und wenn ja, warum? Warum tat man einem kleinen Mädchen so etwas an?!

„Greta, warte!“ Doch sie war bereits verschwunden. Schnell schaute ich mich um, suchte nach ihr. Sie musste doch wieder auftauchen, oder etwa nicht? So funktionierte diese Welt doch!

Doch es war jemand anderes, der mich zu sich rief. Ein junger Mann mit kurzem dunkelbraunen Haar, nicht viel älter als ich selbst in der Wirklichkeit. Ich erkannte die Gesichtszüge und die Statur sofort, auch wenn sie sich in den Jahren stark verändert hatten.

Jacks Anblick – auch wenn es nur sein ehemaliges Ich war – verpasste mir ein ungutes Gefühl in der Magengrube.

„Hast du Gretchen irgendwo gesehen?“, fragte er besorgt. Ich schüttelte schweigend den Kopf und versuchte mir klarzumachen, dass es nur eine Erinnerung war, so wie Véronique. Selbst wenn sie mir böse gesinnt waren, konnten sie mir nichts tun. Sie waren nicht real. Doch es fiel schwer das zu akzeptieren, wenn man in ihre lebhaften Gesichter sah.

„Sie... ich glaube, sie hat uns zusammen gesehen. Sie meinte nur, ich hätte schon vom Liebestrank genommen und bräuchte nicht noch ihren... Verstehst du, was sie meinte?“

Wieder schüttelte ich den Kopf, doch zeitgleich keimte in mir eine böse Vorahnung auf. Warum klang es so verdächtig danach, als hätten Mutter und Jack eine Affäre gehabt? Jack griff nach meiner Hand, die ich sofort wieder zurückzog. Für einen kurzen Moment schaute er mich verwirrt an. Es musste ihm vorkommen, als würde ich ihn ablehnen. Vielleicht war dem auch so... oder ich wollte gerade einfach nicht in seiner Nähe sein - ganz gleich, aus welchem Zeitalter er stammte.

Er atmete ein paar mal tief durch und antwortete mir mit einer ernsten Stimme, die seiner echten so ähnlich war, dass es mich ängstigte:

„Wenn du mich fallen lassen willst, dann tu es. Das ist dein gutes Recht. Ich habe nie etwas für dich getan, was mir die Erlaubnis gegeben hätte, dich zu besitzen. Aber es wird unsere Verbindung zueinander nicht aufheben und das weißt du.“

Was für eine Art von Folter war das? Der echte Jack war nicht hier, er konnte es nicht sein. Warum also fühlte sich dieser Satz so an, als wäre er nicht nur für Claire, sondern auch für mich bestimmt gewesen? Oder war es nur das, was ich daraus hören wollte?

„Jedenfalls bitte ich dich darum, mir zu helfen Gretchen zu suchen, bevor sie sich noch was antut. Es ist unser beider Verantwortung.“

Mit diesen Worten zerrte er mich am Arm durch die gesamte unbelebte Stadt, bis er mir nichts, dir nichts verschwand und ich wieder einmal alleine dastand, in einer kleinen dunklen Gasse. Doch ich war mittlerweile an derlei Tricks gewohnt. Ruhig suchte ich die Umgebung ab, nach irgendjemanden, der vielleicht mein nächstes Bruchstück sein könnte.
 

Und da sah ich sie sitzen, an der Wand gelehnt mit der leeren Phiole neben sich... Ihr Schluchzen war kaum zu überhören.

Ich fühlte mich schlecht, auch wenn ich es nicht war, die all ihre Träume zerstört hatte. Nein, in Wahrheit konnte niemand etwas dafür... Es hat wohl einfach nicht sein sollen. Langsam näherte ich mich ihr und legte meine Hand auf ihren Kopf.

„Claire...“ Sie schaute mich mit ihren großen, verheulten Augen an. Ihre Brille saß schief und war mit ihren Tränen benetzt.

„Ich... ich habe sie ausgetrunken... Ich dachte, so finde ich vielleicht jemanden, den ich genauso lieben kann, wie Jack dich liebt. Aber... Aber...“

Sie umfasste die Phiole und warf sie wütend gegen die Wand. Hätte Greta etwas stärker geworfen, dann wäre sie wohl zerbrochen.

„Nicht einmal das kann ich... Und dieser Liebestrank? Du hattest Recht, er war Mist! Der Meister hat mich belogen!“

„Aber was war es denn dann?“

„Weiß ich nicht... ist mir auch egal. Wenn ich so gut wäre wie du, oder wie Sam und Jack, dann hätte er das wahrscheinlich nicht gemacht. Er dachte wohl, ich sei zu dumm, um das zu wissen. Stimmte ja auch...“

„Wir alle fangen mal bei null an. Wenn ich eines gelernt habe, dann dass Magie Zeit braucht um sich zu entwickeln. Es ist nicht deine Schuld.“

Es schockierte mich, dass Mycraft in Kauf nahm, dass einer seiner Schüler das Zeug zu sich nahm, unwissend, was die Konsequenzen sein könnten. Doch wahrscheinlich gehörte das zu seinem Plan.

„Ja... nicht meine Schuld... Sondern ihre... ist doch so, oder Karl? Richtig, es ist Claires Schuld!“

„G-Gretchen? Ist alles in Ordnung?“

Mit einem unheimlichen Glühen in den Augen starrte sie mich wütend an. Ihre Lippen formten sich zu einem verdrehten Grinsen und sie begann an ihren Zöpfen zu zerren. Ich bekam es mit der Angst zu tun und wich zurück.

„Er hat Recht! Du bist eine Hure, Claire! Du hast deinen Ehemann betrogen! Du bist Schuld an all dem, nur du und niemand sonst!“

Ehe ich mich versah, verschwand nicht nur Greta vor meinen Augen, auch der Rest der Welt versank in ewiger Dunkelheit. Es stimmte also... Jack war Mutters Liebhaber. Und so sehr ich mir auch wünschte, sie dafür zu verurteilen... Ich durfte nicht vergessen, dass ich kein Stück besser war.

„Sieh nur Mutter... Wir gleichen uns sogar in diesem Punkt...“, lachte ich verächtlich. Aber auch wenn Greta sicherlich allen Grund hatte, sie zu hassen... So wie sie reagiert hatte, wurde sie definitiv manipuliert. Karl war kein angeborener Fehler, er wurde ihr eingepflanzt. Aber mit welchem Ziel?

Doch ich hatte keine Zeit mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Wo war ich nur? In welche Richtung ich auch sah, erwartete mich gähnende Leere. Von Coleman oder Jack fehlte jede Spur.

Alles was ich hörte, war mein eigener Atem... und die vertraute Melodie einer Spieluhr irgendwo weit in der Ferne. Es war ein altes Volkslied... Erst summte ich es nur mit. Es gab mir den Mut, durch diese Finsternis zu wandern, wobei ich versuchte auszumachen, aus welcher Richtung die Musik kam. Doch nach einiger Zeit reichte mir das nicht mehr ich fing an vorsichtig mitzusingen:
 

„Alas my love, you do me wrong...“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Phinxie
2016-06-01T17:47:07+00:00 01.06.2016 19:47
So, endlich habe ich es geschafft, dieses Kapitel zu lesen.
Ich fand es unheimlich interessant, mehr über Claires Vergangenheit zu erfahren - und wahrscheinlich war das auch für Alice ein ziemlicher Schock. Gerade die Anfangsszene hat mir sehr gut gefallen, ebenso wie das Gespräch mit Gretchen.
Der enizige Kritikpunkt, der mir aufgefallen ist, ist der, dass du bei dem Gespräch mit La Belle/Florence und Claire diese ganzen Absätze gemacht hast (damit meine ich jetzt die leere Zeile). Das hat mir irritiert, weil ich glaubte, eine neue Szene beginnt, obwohl es noch die alte war. Das solltest du ändern, um Verwirrung vorzubeugen.

Und ansonsten... Ein sehr tolles Kapitel!Gerade die Verbindung von Fleut-Florence hat mich äußerst neugierig gemacht...!

Nymphy^_^
Antwort von:  Lazoo
01.06.2016 19:56
Danke für den Hinweis :) ich habe die Absätze etwas reduziert damit sie mehr Sinn ergeben. Einen habe ich allerdings dennoch drin gelassen, damit der Abschnitt nicht ZU lang wird ;)

Freut mich aber, dass dir das Kapitel ansonsten zugesagt hat. So langsam wurde es auch Zeit, dass mal ein paar Fragen beantwortet werden;)


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