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Alice in Magicland

Die Geheimnisse von Taleswood
von

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Die Schwebende Uhr

Sofort war jegliche Müdigkeit aus meinem Körper verschwunden. Ungläubig sah ich Coleman an. War das etwa ein schlechter Scherz? Die Schwebende Uhr stehlen...

„Bist du noch ganz dicht?! Warum sollte ich dir überhaupt dabei helfen, etwas zu klauen?! Und dann auch -“ Er war blitzschnell aufgesprungen und hatte mir die Pfote vor den Mund gedrückt.

„Nicht so laut... was ist wenn, uns jemand hört?“ Das war auch mein Plan. Und tatsächlich klopfte Fleur nur wenige Sekunden später an meine Tür.

„Alice? Ist alles in Ordnung?“

Sie kam herein und sah mich auf dem Boden sitzen. Doch von Coleman fehlte jede Spur. Ich suchte mein Zimmer ab, aber er war nicht da. Er konnte doch nicht gegangen sein... Wie hatte er das nur gemacht?

„Warum bist du denn nicht im Bett?“, fragte sie mit sanfter, aber besorgter Stimme und kniete sich zu mir.

„Er war gerade doch noch hier...“, murmelte ich verzweifelt. War es etwa doch nur Einbildung? Nein, dafür war es viel zu real gewesen.

„Wovon redest du? Hier ist niemand, außer uns beiden... Bist du vielleicht geschlafwandelt? Komm, ich helfe dir wieder ins Bett.“

„Bin ich nicht, bitte glaube mir. Ich weiß doch was ich gesehen habe. Er war hier! Der Kater der mich bestohlen hatte! Sieh doch nur, er hat mir sogar mein Medail-“

Verdammt, wo war es denn nur? Ich hatte es doch noch gerade bei mir! Fleur schaute mich mitleidig an. Sie hielt mich doch nicht etwa für verrückt? Wütend stieß ich sie weg und krauchte zu meinem Bett zurück, ganz gleich, was ich dabei für eine jämmerliche Figur machte.

„Bitte Alice, ich kann doch nichts dafür, dass hier niemand ist. Sei doch nicht so gemein zu mir“, flehte sie. Gemein? Wer unterstellte hier denn wem, einen Dachschaden zu haben? Doch gerade als ich ins Bett steigen wollte, spürte ich, wie sich ihre Arme um mich schlangen und sie ihr Gesicht an meinem rieb.
 

„Tut mir leid...“, flüsterte sie, „Bist du mir böse? Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Warum entschuldigst du dich denn, bevor du weißt, ob du was falsch gemacht hast?“, bemerkte ich sarkastisch.

„Ich will nicht wieder streiten... Ich will doch einfach nur mit dir zusammen sein...“

Seufzend verdrehte ich meine Augen. Mir war eigentlich auch nicht danach, wütend auf sie zu sein. Sie konnte doch auch nichts dafür, dass dieser Kater sich anscheinend unsichtbar machen konnte - oder warum auch immer er vom Erdboden verschluckt war. Etwas sagte mir, dass ich mir anhören sollte, worum er mich bat.

Ich ließ mir von Fleur ins Bett helfen und drückte sie an mich, so fest wie es mir mit meinen Verletzungen möglich war.

„Ist schon okay... leg dich wieder schlafen... mir geht es gut.“

„Bist du sicher? Wenn du möchtest, kann ich noch bei dir bleiben.“

Ich schüttelte den Kopf und küsste sie sanft. Rührend, wie sehr sie sich um mich kümmerte. Es war ihre Art, ihre Liebe auszudrücken.

„Ich komme klar. Ruh dich wieder aus.“

Sie nickte dankbar und verließ das Zimmer. Jeder konnte sehen, wie fertig sie war. Es war auch nicht in meinem Sinne, dass sie länger hier blieb, denn Coleman würde wohl nicht aus den Schatten treten, solange sie hier war.
 

Und meine Theorie bestätigte sich sofort, als es im Haus wieder ruhiger wurde.

„Du begehrst also auch Frauen?“

Seine Gestalt erschien aus dem Nichts, als würde er aus einem pechschwarzen See auftauchen. Illusionsmagie. Eine andere Erklärung gab es nicht. Ich hatte noch nie einen Tiermenschen gesehen, der Magie beherrschte. Und dann gerade so komplexe. Das war beeindruckend, doch ich versteckte meine Bewunderung darüber.

„Meine Liebeleien gehen dich nichts an“, zischte ich. Das war wahrscheinlich meine aufrichtigste Antwort, die ich in Bezug zu dieser Beziehung je gegeben hatte.

„Sie ist ein Homunkulus, nicht wahr? Auch wenn sie hübsch anzusehen ist, wer will denn bitte mit so etwas zusammen sein? Aber deine Präferenzen interessieren mich nicht. Du hast sie weggeschickt... Willst du dir also anhören, was ich zu sagen habe?“

„Habe ich denn eine andere Wahl? Du hast mein Medium wieder an dich genommen, als Fleur das Zimmer betrat. Ich bekomme es wohl nicht für umsonst wieder.“

Er seufzte lautstark und legte mir die Kette in die Hand.

„Ich werde dich nicht erpressen. Wenn du mir nicht helfen willst, werde ich verschwinden und wir tun so, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Lass mir aber wenigstens die Möglichkeit, dir zu erzählen, was ich vorhabe.“

„Ich bin ganz Ohr.“ Obwohl meine Stimme ruhig klang, war ich unheimlich nervös. Ich hatte mich bisher nur als kleine Taschendiebin betätigt, Colemans Plan war eine ganz andere Liga. Obwohl er oberflächlich die zerbrechliche Erscheinung einer Katze hatte, war er trotzdem ein ausgebuffter Ganove, den man nicht unterschätzen durfte. Seine Augen hatten diesen unterkühlten Ton, der auf pure Berechnung aus war.

„Du fragst dich sicherlich, warum ich ausgerechnet die Schwebende Uhr stehlen will. Was weißt du über dieses Artefakt?“

„Nur dass es durch Magie in der Luft gehalten wird und schon ein paar hundert Jahre alt ist.“

„Ist ja nicht besonders viel... Gut, dann erzähle ich dir ein wenig. Die Schwebende Uhr ist ein arkanes Medium, ähnlich deines Medaillons. Das Größte, das je erbaut wurde. Du weißt, dass arkane Medien dafür da sind, um Magie besser zu kontrollieren?“

Blöde Frage, das hatte mir Jack bereits zum Anfang erklärt. Und mir war auch sofort bewusst, was das für die Uhr bedeutete. Je größer die Masse eines Mediums, desto stärkere Magie konnte damit im Zaum gehalten werden.

„Also willst du diese Macht für dich allein haben?“, konfrontierte ich ihn.

„Du meinst, weil ich Magie beherrsche? Dafür bin ich leider nicht gut genug.“

„Verkaufe mich nicht für dumm, Coleman. Du kannst dich unsichtbar machen, deine Fähigkeiten müssen gewaltig sein.“

Er lachte hämisch, holte etwas Tabak aus seiner Sakkotasche und drehte sich eine Zigarette.

„Mädchen, ich mache mir nichts aus solcherlei Dingen. Ich will diese Uhr auch nicht... Und auch nicht was da drin ist. Es ist ein Auftrag.“

„Für wen?“

„Das verrate ich nicht. Diskretion ist das A und O.“

„Dann will ich auch nichts weiter hören“, konterte ich und setzte eine desinteressierte Mine auf, auch wenn meine Neugier wahrscheinlich nicht zu übersehen war. Doch ich würde sicher nicht die Katze im Sack kaufen. Coleman schien eine Sekunde abzuwägen, ob er mit mir weiter feilschen, oder nachzugeben sollte. Er blies etwas Rauch aus. Durch den Geruch konnte ich erkennen, dass er scheinbar eine schärfere Marke konsumierte als Jack.

Wie er so dasaß, die Beine übereinander geschlagen, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet, wirkte er ein wenig wie eine moderne Variante des gestiefelten Katers.

„Es wird dir nicht gefallen. Sie hat mich bereits vorgewarnt, dass du nicht gut auf sie zu sprechen seist...“

Sie? Mir schwante Übles.

„...aber ich habe mir La Belles Vorhaben angehört und -.“

„Ist mir egal!“, gab ich energisch zurück, „Mit diesem Monster will ich nichts zu tun haben.“

„Warum? Weißt du, warum sie verstoßen wurde? Hat dir Jack jemals etwas davon erzählt?“

Ich hielt inne. Wir hatten tatsächlich nur einmal über sie gesprochen; nach dem Vorfall im März. Ich erinnerte mich daran, was Jack mir gesagt hatte. Sie sei eine Verräterin, unberechenbar und brandgefährlich und ich sollte mich von ihr fernhalten. Doch als ich ihn fragte, was sie denn getan hätte, winkte er nur ab.

„Bitte glaube mir, Alice. Diese Frau führt nichts Gutes im Schilde. Halte dich einfach von ihr fern.“ Das war alles, mehr konnte ich ihm nicht entlocken. Doch es hatte mir gereicht, immerhin war ich mir die Gefahr, die von ihr ausging, bereits bewusst. Und was sie Fleur angetan hatte, konnte ich nicht verzeihen. Hätte ich vielleicht doch hartnäckiger bleiben sollen?

„Wenn du willst, kannst du es aus ihrem Mund hören. Noch diese Nacht. Dann kannst du selbst entscheiden, ob du uns helfen willst, oder nicht.“

Uns... er stand also hinter ihrem Plan. Eigentlich ist ja der Freund meines Feindes mein Feind, doch er schien mir nicht bösartig zu sein. Aber vielleicht war es doch nur eine Falle...?

Ich sollte ablehnen, ich sollte ihn des Hauses verweisen, mich schlafen legen und niemals wieder darüber nachdenken... zumindest versuchte meine Intuition mir genau das einzureden.

„Angenommen – rein hypothetisch – ich wäre interessiert: wie stellst du dir vor, in meinem Zustand auch nur aus der Haustür zu treten?“

„Gutes Argument... dann werde ich dich tragen müssen.“

„Was?! Das meinst du doch nicht -“

Mit einer lockeren Bewegung hob er mich an Kniekehlen und Rücken hoch und sprang vom Balkon. Er bewegte sich pfeilschnell durch die Nacht und es hatte nicht den Anschein, als würde mein zusätzliches Gewicht ihn auch nur in irgendeiner Weise beeinträchtigen. Und das, obwohl er sogar ein paar Zoll kleiner war als ich. Anfangs war ich etwas nervös, doch Coleman ließ nicht eine Sekunde locker und seine angenehme Wärme sorgte dafür, dass ich trotz meines dünnes Negligés nicht fror.

Wenn ich nach vorne schaute, sah ich im Dunkeln nur vereinzelt die Bäume des Waldes oder ein Paar leuchtende Augen an uns vorbeirauschen, der einzige Indikator für Colemans rasante Geschwindigkeit. Obwohl er scheinbar einen gigantischen Bogen ging, um Taleswood zu vermeiden, dauerte es nur eine Viertelstunde, bis wir an unserem Ziel ankamen. So lange brauchten wir normalerweise, nur um in die Stadt zu kommen. Beeindruckend.

„Da wären wir,“ murmelte der Kater mit einer leichten Nervosität. Auf einem Hügel stand ein kleines, einstöckiges Haus, das auf dieser baumlosen Lichtung durch den fahlen Schein des Mondes erleuchtet wurde. Die Fenster waren teils rund, teils eckig und das leicht überwucherte Dach hatte keine gerade, sondern eine fast schon wellenförmige, asymmetrische Form, die an der Hinterseite mit dem Boden abschloss, während die Vorderseite gen Himmel zeigte.

Der Weg über das windschief eingezäunte Grundstück führte in regelmäßigen Abständen durch wild wachsende Rosenbögen, an deren Spitze kleine Laternen hingen. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn irgendwie kam dieses Häuschen meiner Vorstellung eines klassischen Hexenhauses extrem nahe; ganz im Kontrast zu den meisten anderen Gebäuden in Taleswood, die nichts märchenhaftes an sich hatten. Doch mir war dennoch bewusst, wer hier wohnte.

Während unserer kurzen Reise dachte ich auch über Colemans Rolle nach. So sehr ich ihm auch misstrauen wollte, er strahlte eine unheimliche Menge positiver Energie aus, die meine Zweifel an ihm ins Wanken brachten. Ich konnte nur hoffen, dass er im Zweifel entweder auf meiner Seite, oder zumindest neutral war.

Mit jedem Schritt, den wir der Haustür näher kamen, konnte ich meine Angst weniger unterdrücken. Der Anblick ihres Wutausbruchs – auch wenn er nur wenige Sekunden andauerte – hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Ich musste aufpassen, was ich sagte.

„Bevor du anklopfst“, hielt ich meinen Begleiter auf, „will ich, dass du mir versprichst, mich wieder sicher nach Hause zu bringen, egal wie ich mich entscheiden werde.“

Der Kater nickte mir ruhig zu und trat ein paar Mal gegen die Tür, da er mich zum Klopfen nicht absetzen wollte. Man würde erwarten, dass es zu solch später Stunde eine gewisse Zeit dauern würde, bis jemand auf unsere Anwesenheit reagierte, doch stattdessen öffnete uns nur wenige Sekunden später ein junger Mann.

„Sie wünschen?“

Ich erkannte sofort, dass er ein Homunkulus war: weiße Haut, aschgraues, strubbeliges Haar, violette Augen. Anscheinend sahen sie alle so aus. Doch etwas unterschied ihn signifikant von meiner Liebsten zuhause. Sein Blick war leer und seine Stimme besaß nicht den Hauch von Charakter. Das waren also richtige Homunkuli: willenlose, blankpolierte Arbeitssklaven.

„Wir sind mit der Herrin des Hauses verabredet“, sagte Coleman mit einem Hauch von Abscheu in seiner Stimme. Er konnte wohl mit diesen Wesen genauso wenig anfangen, wie der Rest von Taleswood.

Ich versuchte dem Diener in die Augen zu sehen, doch egal wie sehr ich mich anstrengte, er besaß keinen Funken Seele. Er war nur eine Hülle mit einer Spur Intelligenz... Doch das bestätigte mich nur noch mehr darin, dass Fleur nicht zu ihnen gehörte.
 

Der Diener führte uns durch einen Korridor, so voll gestellt mit Bücherregalen und ausgestopften Tieren an der Wand, dass Coleman seitwärts gehen musste, um mich weiterhin tragen zu können. Mittlerweile war mir meine Wehrlosigkeit wirklich peinlich geworden und ich hoffte nur, dass sie mir nicht auch noch eventuell zum Verhängnis würde.

La Belle erwartete uns bereits in ihrem Salon, am Kamin. Der Raum war geräumig, aber nicht einmal annähernd mit dem Saal zu vergleichen, den wir zuhause hatten. Er besaß ein langes Sofa sowie einen Sessel. Des weiteren sah ich einige abstrakte Gemälde an der Wand und eine kleine, unauffällige Bar, die sich in der hinteren Ecke versteckte. Auf der anderen Seite befand sich ein rechteckiger Portalspiegel, der von einem Engel und einem Dämon gehalten wurde – beide nur mit einem Lendenschutz bedeckt.

Das Auffälligste war der schmiedeeiserne Kronleuchter, der sich wie Geäst über die gesamte Decke hinweg zog und mit so vielen Öllampen ausgestattet war, dass es wohl einige Zeit dauerte, alle abends anzuzünden – dafür hatte sie ja die helfenden Hände. Außer einigen dekorativen Blättern, war das Ding allerdings absolut schmucklos und – für eine Frau, die ansonsten scheinbar sehr viel wert auf Eleganz legte – relativ zweckmäßig. Selbst Jack hatte einen größeren Hang zur Ästhetik.

„Sie konnten sie also nicht allein überzeugen?“ La Belle lag auf dem Sofa, vertieft in ein Buch; das lange schwarze Haar kunstvoll hochgesteckt und mit nicht mehr bekleidet, als einem dunkelgrünen Morgenmantel, der so locker und freizügig an ihr lag, dass sie eigentlich auch direkt nackt sein könnte. Ein dünnes Homunkulus-Mädchen mit schulterlangem, offenem Haar stand neben ihr und schenkte ihr gerade ein Glas Wein ein. Ihre Herrin schickte sie mit einer lockeren Handbewegung weg.

„Ich habe es nicht einmal versucht. Es ist Ihr Auftrag, Véronique. Ich wurde angeheuert ihn auszuführen, nicht um neue Leute zu rekrutieren.“ Coleman setzte mich vorsichtig auf dem Sessel ab und ging dann zur Bar. La Belle legte das Buch auf den kleinen Tisch vor ihr und begutachtete mich.

„Manche Menschen kann nicht einmal ein Unfall entstellen, nicht wahr? Selbst im Anblick des Todes warst du noch immer hübsch anzusehen, petite Alice Maeldun.“

Maeldun? Was war das für ein Name? Oder doch nur eine französische Floskel? Doch etwas anderes war mir gerade noch wichtiger.

„Also waren wirklich Sie es gewesen, welche die Erstversorgung übernahm.“

„Immerhin war es auch meine Kutsche, vor die du gelaufen bist. Ich erwarte von dir keinen Dank, solange du keine Entschuldigung erwartest. Immerhin warst du es, die nicht aufgepasst hat.“

Die war lustig. Wenn ihr Auftrag nicht gewesen wäre, hätte ich überhaupt nicht blind durch die Straßen diesem spitzohrigen Dieb hinterherjagen müssen. Doch ich wollte die Stimmung nicht kippen lassen.

„Hat Coleman dich eingeweiht?“, fragte sie, nachdem ich ihr keine weitere Antwort gab.

„Ich weiß, dass Sie die Schwebende Uhr begehren, doch ich wüsste gerne warum und was das Ganze mit mir zu tun hat. Sie müssen schon wirklich verzweifelt sein, ausgerechnet mich um Hilfe zu bitten.“

Sie nahm einen großen Schluck Wein und schaute das Glas melancholisch an.

„Ja... 'verzweifelt' trifft es ganz gut... Ich will ehrlich zu dir sein, Alice. Es gibt gute Gründe, warum mich die Einwohner von Taleswood nicht gerade lieben. Leider vergessen sie nur allzu gern, dass sie selbst Dreck am Stecken haben.“

„Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie ein Sündenbock sind?“

„Mais non, ein Sündenbock wäre unschuldig und das bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass auf Jack und viele andere das Gleiche zutrifft.“

Ich verstand kein Wort, von dem, was sie mir sagen wollte und musste wohl auch ziemlich ratlos ausgesehen haben. Was meinte sie mit „Unschuld“? La Belle seufzte und wandte sich an ihren Geschäftspartner:

„Sie haben ihr ja wirklich nichts erzählt.“

„Ich habe es Ihnen gesagt, das ist Ihr Job, nicht meiner.“

„Nun gut... Sagt dir der Name Alexander Mycraft etwas?“

Ich nickte langsam. Jack hatte seinen Lehrmeister einmal erwähnt. Hatte er nicht gesagt, dass er verrückt war?

„In dieser Uhr steckt sein Erbe und sein Wissen, denn vor 17 Jahren ist sein Geist darin gefangen worden. Ich brauche es...“

„Und weiter?“

„Tut mir leid, das ist vorerst alles, was ich dir sagen werde. Bring mir die Uhr und du bekommst die ganze Geschichte zu hören, was es mit diesem Gebilde auf sich hat.“

„Dann ist dieses Gespräch beendet. Ich bin es leid, diese ganze Geheimnistuerei mitzumachen. Niemand spricht Klartext mit mir, erzählt mir, was mit meinen Eltern passiert ist, oder woher diese Zwietracht kommt. Coleman, bitte bring mich Heim.“

La Belles boshaftes Grinsen sah ich nur eine Sekunde aus dem Augenwinkel, bevor eine riesige Ranke hinter meinem Sitz hervorkroch und mich an ihn fesselte. Die Dornen drückten sich in mein Fleisch und ich spürte, wie mein warmes Blut aus den Wunden herunterlief.

„Was soll das, Véronique?! Ich werde nicht -!“, hörte ich Colemans Stimme, doch er wurde von meinem Schmerzensschrei unterbrochen, während die Ranken sich fester zogen.

„Bleib auf deinem Platz, Katze! Und lass dir bloß nicht einfallen, Magie zu benutzen, sonst zieh ich dir das Fell über die Ohren! Du hast sowieso keine Magie, die der meinen überlegen wäre!“

Ihre Stimme war wieder ganz anders. Das war ihr boshaftes, mörderisches Ich.

„Nun gut, Alice... Du siehst, wozu ich fähig bin, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass ich dich brauche.“

„W-wozu? Was hab ich Ihnen denn jemals getan?“, keuchte ich, kaum fähig Luft zu holen. Doch ich merkte, dass sie mich nicht umbringen wollte. Sie wollte mich nur quälen.

„Du bist einfach nur die Tochter der falschen Mutter. So etwas passiert manchmal. Dein Blut ist mit der Uhr verbunden.“

„Ich habe mit ihr doch gar nichts zu tun!“

„Sie wurde von einem Vorfahren erbaut und versiegelt! Und dieses Medaillon ist der Schlüssel zu dem Wissen darin! Aber scheinbar muss ein Mitglied der Maeldun-Familie den Schlüssel benutzen. ICH brauche das Wissen von Mycraft und DU wirst es mir besorgen!“

„Bring mich doch um! Ich werde nicht - “ Die Ranke zog sich so eng, dass ich spürte, wie sie langsam anfing, meine Innereien zu zerdrücken und die Dornen rissen meine Haut durch die Bewegung weiter auf. Der Schmerz war unerträglich.

„Ich werde dich nicht töten, du machst dir das zu einfach! Aber... was wäre, wenn Fleur...“

Sie wusste von uns? Woher denn nur?! Das war keine leere Drohung, sie würde einen Weg finden, Fleur in ihre Falle zu locken. Ich wollte ihr nicht helfen, doch mir blieb keine Wahl. Tränen liefen mir über das Gesicht. So fühlte es sich also an, erpresst zu werden.

„Sie haben gewonnen...“, schluchzte ich.

„Sprich lauter, Mädchen! Ich verstehe kein jämmerlich!“

„Ich helfe Ihnen, okay?! Nur tun Sie ihr bitte nichts!“

Die Ranke löste sich von mir und ließ mir wieder Luft zum atmen. Mein Negligé hatte einen dicken Blutfleck und mein Körper war übersät mit offenen Wunden. Mir war eiskalt und es tat alles weh. Véronique beruhigte sich wieder. Sie erhob triumphierend ihr Weinglas und leerte es in einem Zug. Mein Hass gegenüber ihr wuchs rasant an.

„Nun gut, kommen wir zu den Vereinbarungen. Ihr zwei werdet die Kugel zu mir bringen, ich nehme die Macht an mich und werde die Uhr danach vernichten. Natürlich steht euch nach wie vor eure Belohnung zu, ich bin ja kein Unmensch. Das Miezekätzchen bekommt seine ausgemachte Bezahlung und Alice... du willst doch sicherlich hören, wie Jack deine Mutter ermordet hat, oder?“
 

Für eine Sekunde schien es mir, als würde mein Herz stehen bleiben. Nein, sie musste lügen. Das konnte, durfte nicht die Wahrheit sein! Sie wollte mich doch bestimmt nur leiden sehen!

„Du musst mir nicht glauben, aber ich belüge dich nicht. Er hat Claire auf dem Gewissen und alle haben es gewusst. Bring mir die Uhr und ich erzähle dir alles, was du hören willst. Und zwar die Wahrheit und nichts, als die Wahrheit.“

Ich sollte protestieren doch meine Stimme versagte, während sich meine Augen weiter mit Tränen füllten. Wieso passierte mir denn nur so etwas immer wieder? Immer wenn ich dachte, dass mein Leben sich zum Besseren wenden würde, zerbrach meine Welt wieder.

„So oder so wirst du sie mir bringen, denn wenn nicht... wirst du es bereuen... Und jetzt geht und kommt erst wieder, wenn ihr alles erledigt habt.“

Ich spürte, wie Coleman mich langsam wieder auf den Arm nahm und hinaustrug. Er schwieg, doch auf seinem Gesichtsausdruck war seine Wut mehr als eindeutig zu erkennen. La Belle wollte noch meine Wunden heilen, doch ich weigerte mich. Vielleicht bestand so ja die Chance, dass ich heute Nacht sterben würde und damit diesem Albtraum entrinnen konnte.
 

Während wir wieder durch den Wald in Richtung Taleswood gingen, tauschten wir kein einziges Wort miteinander aus. Coleman sprintete nicht, so wie zuvor, sondern lief ein normales Tempo. Es war noch immer mitten in der Nacht, doch am Horizont konnte man langsam die ersten Sonnenstrahlen sehen. Als wir den Rand der Stadt erreichten, ließ er mich auf dem Boden nieder und warf mir sein Sakko über. Das Material war warm und bequem, doch konnte mein Frösteln nicht unterdrücken.

„Bitte verzeih“, flüsterte er mit verbitterter Stimme, „Das ist alles meine Schuld. Wenn ich dich nicht mitgenommen hätte... Ich war mir sicher, dass sie gute Absichten hatte. Ich war wohl blind. Beschämend, insbesondere für eine Katze.“

„Du kanntest sie?“

„Sie war Mycrafts Mätresse... Eigentlich viel zu jung für ihn, doch er hatte ein Faible für blutjunge Mädchen. Sie schien aber nur an seinem Wissen über Homunkuli interessiert zu sein.“

„Woher weißt du das so genau?“

„Weil sie mich einmal angeheuert hatte, aus seinem Arbeitszimmer ein Buch zu stehlen. Ich wurde dabei viel zu leicht erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Ich dachte, sie hätte mich reingelegt, aber anscheinend hatte ich einfach die Polizei unterschätzt, oder besser gesagt: Ich habe Mycraft unterschätzt. Er arbeitete mit der Polizei zusammen, nein, kontrollierte sie schon viel eher und gab ihr die Macht, die sie brauchte, um mich zu schnappen. Véronique half mir zu fliehen, deswegen dachte ich, sie würde auf der guten Seite stehen... am Ende haben wir alle unsere eigenen Motive.“

„Was meinst du mit 'Er kontrollierte die Polizei'?“

„Das weiß ich selbst nicht so genau. Es war, als wären sie seine Schachfiguren. Und sie ist ihm anscheinend auch verfallen. Ich bin direkt nach meinem Ausbruch aus dieser Stadt verschwunden, um meinen Pelz zu retten, daher kann ich dir leider nichts über die Krise von 1881 erzählen... Ich weiß nur, dass es etwas mit dieser Uhr zu tun hatte.“

Es schien mir nicht so, als würde auch nur ein Rätsel sich auflösen, ohne drei weitere zu erschaffen. Mycraft... ein mächtiger und einflussreicher Magier... was hatte er mit dieser Stadt gemacht? So sehr es mir auch missfiel, La Belle kannte die Antworten auf all das. Ich musste ihr sowieso helfen, also konnte ich auch meinen Vorteil daraus ziehen.
 

Als wir am Kirchplatz ankamen, rotierte die Uhr so ruhig wie immer um ihre eigene Achse. Niemand war in der Nähe. Es war fast schon zu einfach. Coleman suchte den Ring aus Steinen ab, denn dort befand sich laut ihm eine spezielle Einkerbung für das Medaillon. Er fand sie schnell wieder und brachte mich an den passenden Platz.

„Du steckst das Medaillon in diesen Schlitz und wir sehen was passiert.“

„Du hast keine Ahnung, was passiert?“

„Wenn alles glatt geht, wirst du damit die Barriere auflösen und wir können die Kugel mitnehmen.“

„Und wie stellst du dir das vor?! Das Ding wiegt locker fünf Tonnen!“

„Das lass mal meine Sorge sein.“

Ich starrte nervös auf die Vorrichtung. Sie war auf den Punkt genau dafür gemacht, das Medaillon wie einen Schlüssel hineinzuschieben. Aber was, wenn ich damit alles nur noch schlimmer machte? Es konnte doch alles mögliche eintreten. Vielleicht ist das auch ein Selbstzerstörungsmechanismus, wer wusste das schon. Ich war langsam absolut fertig mit den Nerven und wollte eigentlich nur noch nach Hause...

Vorsichtig schob ich die Kette hinein. Als sie komplett einrastete, hörte ich ein gewaltiges Dröhnen über mir. Die Sphäre hatte aufgehört sich zu drehen, und begann, auseinander zu klappen und einen hellblau leuchtenden Kern freizulegen. Wir starrten ihn völlig perplex an, unfähig zu begreifen, was gerade passierte. Noch bevor wir reagieren konnten, wurden das Licht immer heller, ja schien uns geradezu einzusaugen.

Obwohl wir noch immer fest auf dem Boden standen , fühlte es sich so an, als würden wir uns fortbewegen, immer näher an die Lichtquelle heran, bis sie uns selbst überstrahlte.
 

Nur langsam machte ich meine Augen auf und sah, dass ich unter einem Baum lag. Die Sonne brannte auf mich herab. Der Wind säuselte einem ins Ohr, im Chor mit hunderten Vögeln. Wo war ich nur? Ich sah an mir herunter und bemerkte nicht nur, dass mein Arm wieder in Ordnung war, alles schien wieder gesund zu sein! War das nur ein Traum? Und warum fühlte sich dieser Körper so fremd an? Ich schaute mich um und sah Coleman in der Sonne schlummern. Das Gras um ihn war saftig grün und besaß ein paar Gänseblümchen. Wir waren anscheinend auf einem Hügel. Mein Blick ging in Richtung Horizont und ich erkannte tatsächlich Taleswood, doch etwas schien anders zu sein.

Ich ging zum Kater und rüttelte ihn wach. Er konnte sich nur langsam von seinem Schlaf lösen und schaute mich mit einem Paar großen Katzenaugen an.

„A-Alice bist du das?“, fragte er verunsichert.

„Was soll die Frage? Natürlich bin ich es.“

Er neigte skeptisch den Kopf zur Seite.

„Merkwürdig... Ich... ich spüre deine Aura, aber du siehst nicht aus wie sie... Du... du siehst aus wie Claire.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Phinxie
2016-04-20T14:47:14+00:00 20.04.2016 16:47
Interessantes Kapitel :3
Also scheint Belle tatsächlich eine böse Person zu sein - naja, zumindest ist sie äußerst unangenehm. Im Übrigen, bei der Szene, wo Belle die Ranken heraufbeschwört... meintest du statt 'geknebelt' eventuell 'gefesselt'? Das würde nämlich besser passen, weil wenn Alice geknebelt worden wäre, dann könnte sie nicht mehr sprechen ;)

Und dass mit Jack etwas 'falsch' ist, habe ich mir schon fast gedacht. Aber dass er Claire umgebracht haben soll... seltsam. Vielleicht aus Eifersucht? Immerhin hat er sie geliebt, richtig?
Ich bin mir schon fast sicher, dass Alice das wohl in den nächsten Kapitel herausfinden wird... Ich meine... Eine Uhr - also ein Träger von Zeit und dazu noch magisch - und Colemans letzte Worte am Ende des Kapitel deuten für mich darauf hin, dass sie wohl in die Vergangenheit gereist ist, oder zumindest etwas ähnliches.
Hoffentlich werden im nächsten Kapitel ein paar Fragen, die sich jetzt aufgetan haben, beantwortet :3

Antwort von:  Lazoo
20.04.2016 18:24
Ja ich meinte eher gefesselt, danke für die Korrektur^^ Unangenehm ist leicht untertrieben Aber ich finde es interessant, dass du ihr anscheinend glaubst... so wie sie drauf ist, könnte ich mir auch vorstellen, dass sie es gewesen ist... ;)
Antwort von:  Phinxie
20.04.2016 18:28
Ich bin ein Mensch, der stets versucht, hinter die Fassade von Menschen zu blicken. Und ich habe das dumpfe Gefühl, das Belle zwar eine arg unangenehme Person ist, sie aber eventuell nicht wirklich die 'Böse' ist, wie du gerade versuchst, sie darzustellen - ich warte im Endeffekt nur auf einen enormen Wendepunkt der Geschichte, der den Leser schocken soll und alles um 180 Grad dreht, sodass selbst der Leser nicht mehr weiß, wer gut und wer böse ist ;)

Wenn dem nicht der Fall ist, dann hast du mich erfolgreich hinters Licht geführt... xD


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