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Wicked Rain

Silent Hill: Downpour x Deadly Premonition
von

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Kapitel 14: Es war nur ein blöder Albtraum (Teil 2)


 

Im Vorraum des Theaters gab es mehrere niedrige Lederbänke; auf einer davon saßen Murphy und Valeria und beobachteten die Polizisten. Sie waren nicht lange nach der Entdeckung der Leiche angekommen, gemeinsam mit einem Krankenwagen, der nichts mehr für Yolanda tun konnte.

Auf der Bühne arbeitete die Spurensicherung, deswegen hatten alle den Zuschauerraum verlassen müssen. Soweit Murphy es mitbekommen hatte, standen einzelne Gruppen im Gebäude verteilt, andere waren aufgrund des Platzmangels mit einigen Polizisten nach draußen gegangen. Dabei war Murphy aufgefallen, dass es in Strömen regnete. Obwohl die Einwohner der Stadt dieses Wetter fürchteten, blieb ihnen gerade keine andere Möglichkeit als sich dem auszusetzen.

Die sorgfältig vorbereiteten Getränke, hauptsächlich Sekt und Orangensaft, für den feierlichen Anlass, waren inzwischen zu Erfrischungen für die Traumatisierten geworden. Murphys Magen hatte schon beim Gedanken daran rebelliert, Valeria dagegen hatte erwidert, dass sie zu nervös wäre, um etwas zu trinken, als sie von einem befreundeten Kellner gefragt worden war.

Manchmal liefen Leute an ihm und Valeria vorbei, die einen von ihnen kannten und ihnen kurz zunickten, ehe sie rastlos weiter umhergingen. Unter all diesen Personen bemerkte Murphy auch Chad Bergen und Flynn Summers, den Verleger und den Journalisten, die Valeria ihm während der Galerieeröffnung gezeigt hatte. Der übergewichtige Chad rieb sich in unregelmäßigen Abständen die Hände, während der jung gebliebene Flynn ungeduldig mit der Spitze seines Schuhs auf den Boden tippte. Es sah aus als könnten sie es kaum erwarten, darüber einen Artikel zu schreiben. Glücklicherweise fehlte von ihrem Fotografen jedes Lebenszeichen, er war vermutlich nicht eingeladen worden – oder hatte freiwillig darauf verzichtet.

Immer wieder durften Personen nach Ende ihrer Aussage das Gebäude verlassen. Die meisten waren blass, hin und wieder hörte man ein leises Schluchzen, das genaue Gegenteil der beiden Journalisten. Murphy zweifelte nicht daran, dass einiges an Arbeit auf die Psychologen Greenvales zukäme. Manche Leute stolperten über die flache Stufe an der Ausgangstür, wo sie von Polizisten verabschiedet wurden, verbunden mit der Anweisung, vorsichtig zu fahren.

Je länger die Wartezeit dauerte, desto mehr lichtete sich die Menge. Dennoch schienen es weiterhin zu viel für die wenigen Polizisten zu sein.

„Glaubst du, der Mörder ist noch hier?“, fragte Valeria plötzlich.

Murphy sah zu ihr hinüber. Ihm war nicht bewusst, ob es am Licht lag, aber ihre Haut schien ein wenig strahlender als sonst, fast schon hypnotisch. Selbst ihr vor Sorgen zerfurchtes Gesicht wirkte gerade anziehend.

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete er. „So wie Yolanda aussah, müsste der Mörder auch voller Blut sein, so kann man sich nicht in der Menge verstecken.“

Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und löste dabei einige Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur, nur um dann an diesen zu ziehen. „Aber hätte das nicht irgendjemandem auffallen müssen? Man lässt sich doch nicht einfach so töten, oder? Man kämpft doch um sein Leben und macht Lärm.“

Natürlich tat man das – oder sollte es jedenfalls. Aber es gab so vieles, das man nicht bedenken konnte: ein Überraschungsangriff, ein Bekannter, bei dem man seine Vorsicht ablegte, und das waren nur jene, die ihm auf Anhieb einfielen.

„Wir wissen nicht einmal, wo genau sie getötet wurde“, gab er zu bedenken, auch wenn ihm selbst bewusst war, wie lächerlich das klang.

Sie alle hatten gesehen, wie Yolandas Blut noch frisch genug gewesen war, um auf die Tänzerin zu tropfen. Also musste der Tod im Theater geschehen sein, und die Polizei würde bald herausfinden, wo genau es passiert war. Aber er zweifelte daran, dass sie hinter das Wie kamen. Der Bogeyman war nur wenige Sekunden da gewesen, dann war er verschwunden. Murphy hatte deswegen nicht einmal Valeria fragen können, ob sie ihn ebenfalls sah. Doch wenn er damit im Zusammenhang stand … nein, das durfte er sich nicht einmal vorstellen.

„Erst Zandra“, sagte Valeria, während sie überraschend hart an ihren Haarsträhnen zog, „dann das hier. Glaubst du, das hängt irgendwie zusammen?“

Zandra war in einer Regennacht mit einem großen Hammer erschlagen worden, hatte die Nachbarin erzählt. Über Yolandas Todesursache wusste er nichts. War sie verblutet (das schien aufgrund der Menge durchaus wahrscheinlich) oder war sie erst gestorben, als sie gestürzt war?

Ein lautes Räuspern unterbrach ihr Gespräch. Eine Polizistin stand vor ihnen, sie war jung genug, dass Murphy für einen Moment glaubte, sie hätte die Uniform nur aus dem Kostümfundus des Theaters entwendet. Aber der Blick aus ihren braunen Augen war hart genug, dass er nicht einmal wagte, sie das zu fragen, das streng zurückgebundene braune Haar ließ sie noch autoritärer erscheinen. Valeria setzte sich aufrecht hin, den Körper so angespannt, dass er ihrem Beispiel unbewusst folgte.

Die Polizistin hob einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber. „Ich bin Deputy Jameson. Und Sie beide sind?“

Valeria antwortete sofort, ihre Stimme ließ jegliche Wärme vermissen. Er tat es ihr nach: „Charles Coleridge.“

Jameson notierte sich das. Dann fuhr sie fort: „Und wo waren Sie zum Tatzeitpunkt?“

Sie wussten ja nicht einmal, wann genau das gewesen war. Deswegen holte Valeria wohl weiter aus: „Wir sind zusammen hergefahren und direkt zu unseren Plätzen. Etwa fünfzehn Minuten vor der Vorstellung bin ich dann noch mal raus, um mein Make Up zu richten.“

Jameson hielt beim Schreiben inne und sah Valeria finster an. „Sie waren gerade erst gekommen. Was kann es da für einen Grund geben, sich neu zu schminken?“

Valeria deutete auf ihre Augen. „Ich habe mich an etwas Trauriges erinnert, da ist mein Mascara verlaufen.“

Jameson zog ihre Brauen zusammen. „Und wie lange waren Sie dann weg?“

„Nur ein paar Minuten. Ich wollte nicht riskieren, dass das Stück ohne mich anfängt.“

„Gibt es dafür Zeugen?“

Es waren die üblichen Fragen, die jeder Polizist einem Zeugen stellte, der möglicherweise auch als Täter in Betracht kam. Glücklicherweise ließ Valeria sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen dachte sie einen Moment nach, ehe sie nickte. „Fiona hat mich gesehen. Wir haben auch kurz miteinander gesprochen.“

Sommersprossen Fiona?“

Valeria nickte noch einmal. Jameson notierte sich das. Murphy fragte sich, von wem sie eigentlich sprachen, doch die angespannte Atmosphäre hielt ihn weiterhin davon ab, zu reden, sofern er nicht angesprochen wurde.

„Als ich fertig war, bin ich zurück zu unseren Plätzen. Da hab ich gemerkt, dass es Charlie“ – Valeria deutete mit dem Kopf in Murphys Richtung – „nicht gut geht.“

Jameson wandte sich ihm zu. „Was fehlte Ihnen denn?“

Ihr Blick erinnerte ihn unwillkürlich an den von Cunningham, seiner selbsterkorenen Nemesis, die ihn durch ganz Silent Hill verfolgt hatte. Seine Brust zog sich zusammen, erschwerte ihm das Atmen. Nach außen versuchte er dennoch, ruhig zu bleiben, um kein Misstrauen auf sich zu ziehen.

„Ich hatte leichtes Fieber und mir war übel. Nichts weiter Schlimmes.“

Als sie ihn mit gerunzelter Stirn musterte, korrigierte er seinen Gedanken: sie war nicht wie Cunningham – sie war wie ein Raubtier, das gerade seine Beute witterte, wild entschlossen, es bis ans Ende der Welt zu jagen.

Murphy erwiderte ihren Blick, sein Innerstes rumorte, wollte ihn dazu antreiben, aufzuspringen und wegzurennen, doch sein Gehirn sagte ihm, dass er sitzen bleiben musste, egal wie unangenehm es noch werden würde.

„Woher kam diese Übelkeit?“ Jamesons Stimme glich klirrenden Eissplittern.

Murphy zuckte mit den Schultern. „Ich bin während des Wartens eingeschlafen und hatte einen Albtraum. Vielleicht deswegen.“

Zumindest stand beides wirklich miteinander im Zusammenhang. Von den Monstern und dem Bogeyman erzählte er nichts, so etwas konnten Polizisten nicht verstehen oder glauben. Er glaubte es sich ja selbst nicht so ganz.

Endlich unterbrach Jameson den Augenkontakt wieder, um sich etwas zu notieren. „Wenn Sie das öfter haben, sollten Sie vielleicht mal im Krankenhaus vorbeisehen.“

„Bisher war es das erste Mal.“

Sie gab nur ein verstehendes Geräusch von sich, dann stellte sie eine weitere Frage: „Waren Sie dann bis zum Beginn der Vorstellung auf Ihren Plätzen?“

Murphy schüttelte mit dem Kopf. „Val, also … Valeria hat mich zur Toilette begleitet.“

Er dachte ungern daran zurück, wie er sich übergeben hatte. Zumindest war der Moment im Anschluss dafür sehr angenehm gewesen.

„Nach ein paar Minuten gingen wir zurück und trafen Adrian Bolton, er hat gefragt, ob wir seine Frau gesehen hätten.“

„Welchen Eindruck machte er auf Sie?“

Murphy dachte an den händeringenden Adrian zurück, der zwischen den beschäftigten Theatermitarbeitern absolut fehl am Platz ausgesehen hatte. Das beschrieb er der fleißig notierenden Jameson genauso. Offenbar gab er ihr damit neues Gedankenfutter, denn sie kümmerte sich gar nicht mehr um ihre Anwesenheit, während ihr Kugelschreiber rotierte. Genau genommen war sie so sehr darin vertieft, dass sie selbst nach einer Minute noch nicht nachließ oder auch nur den Blick hob.

Murphy und Valeria sahen einander an; er neigte den Kopf ein wenig, sie zuckte mit den Schultern. Ein anderer Polizist, der gerade ein junges Paar verabschiedet hatte, ging mit gerunzelter Stirn hinter Jameson vorbei. Als er ihren Eifer bemerkte, murmelte er etwas, das sich für Murphy verdächtig nach „Sie spinnt wieder rum“ anhörte.

„Ich darf also festhalten“, sagte Jameson schließlich, „dass Sie beide für kurze Zeit getrennt voneinander waren, was Zeugen bestätigen können. Und im Anschluss verließen Sie beide zusammen für mehrere Minuten den Saal, diesmal ohne Zeugen.“

Ihm gefiel nicht, dass es danach klang als wolle sie ihnen die Schuld in die Schuhe schieben. Keiner von ihnen hätte genug Zeit dafür gehabt – oder auch nur ein Motiv. Darauf wies er sie auch direkt hin, was von ihr mit einem „Das ließe sich ja noch finden“ quittiert wurde.

Sie tippte sich mit dem Kugelschreiber gegen das Kinn. „Vielleicht war es ja aber auch Mr. Bolton. Der Ehemann ist doch meistens der Hauptverdächtige.“

Das lag also an ihrer Einschätzung? Etwas, was man in Krimis gesagt bekam?

Murphy ärgerte sich ein wenig, dass er sich davon überhaupt hatte beeinflussen lassen. Valeria senkte den Kopf und legte sich eine Hand vor die Augen, scheinbar genauso genervt wie er.

Bevor einer von ihnen etwas dazu sagen konnte, trat Deputy Eden Darcy an Jameson heran und tippte ihr auf die Schulter. „Liebes, bist du schon fertig mit den beiden? Wir brauchen deine Hilfe noch bei einigen anderen Leuten.“

Einen kurzen Augenblick lang wirkte es als wolle Jameson widersprechen, doch dann gab sie seufzend nach. „Okay, ich komme ja schon.“

Davor wandte sie sich aber noch einmal Murphy und Valeria zu: „Falls sich etwas ergibt, werden wir Sie noch einmal zu einer Befragung einladen. Es wäre gut, wenn Sie dann kooperieren.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, klappte sie ihren Block zu und stolzierte davon. Selbst das erinnerte an den ein oder anderen Fernsehdetektiv, wenn auch nicht unbedingt die guten.

Valeria seufzte erleichtert. „Sie ist ganz schön … überschwänglich, was?“

„Sie ist eben noch jung“, sagte Eden. „Und das ist der erste Mordfall, bei dem sie auch ermitteln darf, da ist sie sehr aufgeregt und will alles richtig machen.“

Dafür wirkte sie ziemlich einschüchternd. Aber aus Sicht eines Polizisten war bei einem solchen Fall natürlich jeder ein Verdächtiger, besonders wenn er derart suspekt war wie Murphy. Zum Glück hatte sie ihn nicht nach einem Ausweis oder Führerschein gefragt.

„Dürften wir dann jetzt gehen?“, fragte Valeria. „Charles fühlt sich nicht sonderlich gut.“

Eden nickte. „Natürlich. Wir melden uns, falls noch etwas sein sollte.“

Sie bedeutete dem Polizist am Eingang, dass sie beide gehen könnten, was sie auch sofort in die Tat umsetzten. Inzwischen nieselte es nur noch ein wenig. Auf dem stark geleerten Parkplatz standen Leute mit Regenschirmen, die sich neben ihren Autos mit Polizisten unterhielten. Als sie an ihnen vorbeiliefen, bemerkte Murphy, dass jeder einzelne einen ernsten, fast wütenden, Gesichtsausdruck hatte. Das veranlasste ihn dazu, keinen von ihnen zu grüßen, nicht einmal den ihm bekannten Sheriff, der ihn ohnehin nicht beachtete.

Sie erreichten den Lincoln ohne richtig nass zu werden. Valeria hielt allerdings noch einmal inne, statt einzusteigen. „Bist du wirklich in der Lage zu fahren?“

Murphy dachte einen Moment darüber nach. „Nun, ich muss so oder so noch ins Hotel weiterfahren ...“

„Du kannst auch auf meinem Sofa schlafen“, sagte sie sofort. „Nur um sicherzugehen. Es ist schon spät, und was, wenn du noch einmal so einen Anfall bekommst?“

Diese Möglichkeit musste er natürlich in Betracht ziehen. Selbst wenn er sich im Moment gut fühlte, bedeutete das gar nichts, denn vorhin war es ihm auch gut gegangen. Valerias Apartment war vielleicht nicht weit weg, das Hotel aber schon, und nach dem Fieber, dem Übergeben und dem Warten fühlte er sich tatsächlich müde genug, dass er direkt einschlafen könnte, wenn er nicht aufpasste.

„Okay, dann fährst du.“ Er griff in seine Tasche und zog den Ring heraus, an dem er alle für das Hotel wichtige Schlüssel befestigt hatte. Hoffentlich würde Polly sich keine Sorgen machen, wenn er erst am Morgen zurückkam.

Wenn sie sich überhaupt daran erinnert, dass ich da sein müsste.

Mit leuchtenden Augen kam Valeria um den Wagen herum. Sie griff bereits nach dem Schlüssel, doch er brachte ihn noch einmal außerhalb ihrer Reichweite und sah sie streng an. „Du musst aber vorsichtig fahren. Denk daran, dass es das alte Auto von Mr. Oxford ist.“

Und er könnte in seinem ganzen Leben nicht mehr genug Geld verdienen, um es zu ersetzen, genauso wenig wie Valeria.

„Keine Sorge, ich bin eine echt gute Fahrerin.“ Sie dachte kurz nach. „Jedenfalls nachts. Da ist es mir zu gefährlich, schnell zu fahren.“

Er gab ihr den Schlüssel, dann umrundete er selbst den Wagen, um auf der Beifahrerseite einzusteigen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er dabei, wie Sheriff Dean Summers sie beide beobachtete, mit einem Blick, der Murphy einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Erst als er auf dem weichen Sitz saß und er den Nieselregen ausgesperrt hatte, fühlte er sich wohler. Die Müdigkeit traf ihn dabei auch mit voller Wucht; spätestens nun hätte er eingesehen, dass er nicht mehr fahren konnte.

Valeria gab ihm ihre Clutch – „Zum Festhalten“ – kaum, dass sie selbst eingestiegen war. In aller Ruhe stellte sie den Rückspiegel ein, obwohl Murphy überzeugt war, dass sie selbst nur noch einmal einen genauen Blick auf den Sheriff werfen wollte. Schließlich startete sie den Motor, und seufzte zufrieden. „Oh ja, dieses Auto hat nur darauf gewartet, dass ich es fahre.“

Trotz des verspielten Tons ihrer Stimme war sie noch blass, aus der Nähe betrachtet funkelten ihre Augen auch gar nicht so aufgeregt, wie es ihm zuvor vorgekommen war.

Murphy wartete, bis sie mit dem Wagen den Parkplatz verlassen hatte – wobei sie darauf achtete, nicht zu nah am Sheriff vorbeizufahren – und auf die kurvige Straße einbog, ehe er sie darauf ansprach: „Das ist bestimmt das erste Mal, dass du so eine Leiche gesehen hast, oder?“

Sie sah stur geradeaus, ihre Mundwinkel zuckten. „Überhaupt irgendeine Leiche. Normalerweise halte ich mich von Toten fern.“

Er wünschte, er könnte das auch noch von sich behaupten.

Die Scheinwerfer schnitten durch die Dunkelheit, vereinten sich mit den Lichtkegeln der Straßenlaternen, nur um alles jenseits davon in eine unnatürliche Schwärze zu tauchen. Hin und wieder glaubte Murphy, darin Formen oder Bewegungen zu erkennen, aber das war nicht möglich, er war nur müde und noch von dem gesamten Abend beeinflusst.

„Weißt du“, begann Valeria plötzlich, „es ist schon seltsam. Die ganze Zeit war die Stadt die Ruhe selbst, aber kaum tauchst du auf, passieren direkt zwei Morde.“

Er löste sich vom Fenster und sah zu ihr hinüber. „Du denkst doch nicht etwa, dass ich der Mörder bin?“

Zu seiner Erleichterung schmunzelte sie. „Klar, genau deswegen nehme ich dich mit zu mir nach Hause, damit du mich im Schlaf umbringen kannst. Brillante Schlussfolgerung. Nein, ich will nur sagen, dass du ziemlich viel Pech an dir kleben haben musst.“

„Da würde ich nicht mal widersprechen.“

Und gleichzeitig war da auch so viel Glück, das ihn begleitete. Versuchte das Universum nur, sich wieder auszugleichen? Oder war das alles nur ein sehr dummer Zufall?

„Aber weißt du“, fuhr sie ernst fort, „manchmal habe ich das Gefühl, dass etwas in dieser Stadt nicht stimmt. Nicht nur wegen der roten Bäume oder dem Regenmantelmörder. Es ist auch der Regen selbst.“

Bei dieser Erwähnung erinnerte er sich an seine eigene Erfahrung, die er einmal während des Regens gemacht hatte. „Spürst du auch diese seltsamen Aggressionen, wenn es regnet?“

Einen kurzen Moment sah sie ihn mit großen Augen an, ehe sie ihren Blick wieder auf die Straße lenkte. „Ja, genau! Also, nicht immer. Als wir gerade draußen waren, fand ich es okay. Aber wenn es sehr viel regnet, werde ich wirklich wütend, wenn ich zu lange draußen bin, obwohl es keinen Grund gibt.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Alle anderen meinen, sie bemerken das nicht.“

„Vielleicht weil sie alle schon so lange hier sind.“ Er kannte die einzelnen Lebensgeschichten nicht, aber irgendwie bezweifelte er, dass man so skurril werden konnte wie etwa Keith Ingram, wenn man nicht sein ganzes Leben in Greenvale verbracht hatte. „Wenn sie schon immer daran gewöhnt sind, und es bei Regen vermeiden, nach draußen zu gehen, bemerken sie das sicher nicht mehr.“

Die Straße war sein bestes Argument, denn sie war vollkommen verlassen, während sie in Richtung des Apartmentgebäudes fuhren. Murphy kannte viele Städte, und in den meisten herrschte ununterbrochen Leben, selbst in regnerischen Nächten, und wenn es sich dabei nur um ein paar umherziehende Obdachlose handelte. Aber hier fehlte das alles. Es ließ Greenvale wie ein lebensgroßes Modell erscheinen; wie eine dieser Städte, die in den Wüsten gebaut worden waren, um dort Atomtests durchzuführen – aber irgendwie hatte man Greenvale vergessen und dann waren Leute eingezogen, hatten sich in ihrer Skurrilität vereint und es war zu einer richtigen Stadt geworden, die sich nur noch nachts an ihre eigentliche Bestimmung erinnerte.

Sie schwiegen den restlichen Weg, bis sie auf dem Parkplatz vor dem Gebäude hielten. Von dem streunenden Hund war nichts mehr zu sehen, was Murphy nur recht war. Genau wie die Tatsache, dass er sich bald schlafen legen konnte, denn seine Augen waren inzwischen derart schwer, dass er sogar im Auto übernachtet hätte, wäre da nicht Valerias Angebot.

Kaum war der Motor aus, nahm sie ihm ihre Clutch wieder ab und stieg aus. Er folgte ihr mit wesentlich weniger Enthusiasmus, sein ganzer Körper flehte ihn um eine Erholungspause an. Dazu kam noch der Rückenschauer, als er wieder den Nieselregen auf seinem Gesicht spürte.

Valeria verriegelte die Türen des Lincoln und gab Murphy den Schlüssel zurück. „Das war wirklich aufregend~. Aber nächstes Mal wäre es mir auch recht, wenn niemand sterben müsste, wenn wir damit fahren.“

Murphy nickte nach hinten. „Vielleicht ist ja das Auto der eigentliche Todesbote.“

„Das ist eine großartige Theorie“, sagte sie bestimmt. „An der sollten wir dranbleiben.“

Sie stiegen die äußere Treppe hinauf. Murphy atmete auf, als sie endlich wieder unter dem Dach standen, obwohl sein Jackett ohnehin bereits feucht genug war.

Valeria schloss die Tür auf, trat dann als erstes ein und schaltete das Licht ein. „Herzlich willkommen in meinem kleinen bescheidenen Reich~.“

Das Wort Klein beschrieb es wirklich gut: das Apartment bestand aus einem Raum, der als Wohn- und Schlafzimmer diente. Ein Sofa stand an einem Fenster gegenüber der Tür, nach rechts gerichtet, so dass man einen Wandschirm – mit einem Kirschbaum-Muster – und einen Fernseher betrachten konnte, der an der Zimmerwand dahinter angebracht worden war. Links vom Sofa gab es eine Tür, die zur Feuerleiter führte, direkt daneben eine kleine Kochnische mit einem eigenen Fenster.

Valeria beeilte sich, alle Vorhänge zuzuziehen. „Tagsüber geht es, aber nachts fühle ich mich immer beobachtet.“

Deswegen war das Fenster neben der Tür wohl auch mit dem Kunstdruck eines von oben betrachteten, dichten Waldes verhangen worden. Gerade wenn man auf dem Sofa saß, wollte man nicht von zwei möglichen Seiten gesehen werden können.

Sie deutete auf eine Tür neben dem Wandschirm. „Du kannst dein Jackett im Bad aufhängen, dann dürfte es morgen wieder trocken sein. Leider hab ich keine Schlafsachen für dich … aber zumindest eine Decke und ein Kissen. Oh, und nimm dir direkt ein Handtuch, damit du dich nicht doch noch erkältest.“

Sie sagte das alles so schnell, dass Murphy befürchtete, sie würde sich verschlucken. Glücklicherweise geschah das nicht, dafür lächelte sie ihn ein wenig verlegen an.

Selbst das Betrachten ihrer Wohnung änderte nichts an seiner Müdigkeit, deswegen folgte er ihrer Aufforderung schweigend.

Das Bad war nur ein kleiner Raum, kaum größer als eine Abstellkammer, deswegen bestand es wohl nur aus einer Toilette, einem Waschbecken mit Spiegelschränkchen darüber und einer Dusche. Selbst die kleine Heizung und die Handtuchstange darüber wirkten platzraubend.

Er hängte das feuchte Jackett über die warme Heizung, dann widmete er sich erst einmal dem Spiegel. Mit gerunzelter Stirn stellte er fest, dass er übermäßig blass war. Hatte er so auch in Silent Hill ausgesehen, unter all dem Schmutz, durch den er gegangen war? Oder war es hier anders, weil nicht sein Leben auf dem Spiel stand?

Vielleicht bin ich wirklich nur krank.

Insofern erschien ihm Jamesons Vorschlag, ins Krankenhaus zu gehen, gar nicht so abwegig. Seit seinem Aufenthalt in Silent Hill war er schließlich nicht mehr von einem Arzt untersucht worden. Allerdings hatte das auch seine guten Gründe: Wenn jemand einen Ausweis sehen will? Oder meine Sozialversicherungsnummer wissen will?

Das machte aber auch einen möglichen Besuch im Sheriff Revier gefährlich. Bislang war er nicht darauf angesprochen worden, aber irgendwann müsste er ihnen etwas zeigen, das seine Identität bestätigte.

Darüber muss ich nachdenken, wenn ich wacher bin.

Er wusch sein Gesicht mit warmen Wasser, um die Kälte des Regens loszuwerden, dann griff er sich eines der Handtücher, um sich damit auch die Haare abzutrocknen. Valerias Geruch strömte in seine Nase und ließ ihn tief durchatmen. Sofort fühlte er sich mit wohltuender Ruhe durchflutet. Alles könnte gut werden, er müsste nur mit Valeria darüber sprechen, bevor er am Morgen ins Hotel fuhr.

Mit der Ruhe kehrte auch die Müdigkeit mit aller Macht zurück und verlangte sofortigen Schlaf.

Als er das Bad verließ, legte Valeria gerade noch ein Kissen auf das nun ausgezogene Sofa. Sie lächelte ihm entgegen. „Hey. Wenn du fertig bist, kannst du dich schon mal hinlegen. Du siehst jedenfalls aus, als könntest du es brauchen.“

„So fühle ich mich auch.“

Er setzte sich auf das Sofa, zog seine Schuhe aus und legte sich hin, wobei er sich direkt in die Decke hüllte. Dabei erfüllte ihn eine Wärme, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie wurde dann noch verstärkt, als Valeria sich ein wenig vorbeugte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte.

„Schlaf gut, Murphy.“

Er bedankte sich murmelnd, die Augen bereits geschlossen. Das Letzte, was er hörte, bevor er endgültig einschlief, war Valerias leises, verzücktes Lachen, das ihn bis in seine Träume begleitete.
 



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