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Als Helden geboren

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
@Kiki: Es hat mal wieder viel zu lang gedauert, aber hier nun als Part 2 deines Weihnachtsgeschenks ein weiteres Kapitel :-* Komplett anzeigen

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Hütte

Es war wie ich vermutet und mehrmals erwähnt hatte eine reichlich dumme Idee mitten in der Nacht durch einen sumpfigen Wald zu staksen. Am Anfang war es halb so wild. Wir konnten uns über mehr oder weniger häufig bewanderte Trampelpfade bewegen, doch ab einem gewissen Punkt kamen wir nicht umhin, uns querfeldein durchzuschlagen, wenn wir dorthin gelangen wollten, wo sich angeblich ein kannibalischer Einsiedler eine Hütte errichtet hatte. Wir beide waren zwar mit einer Fackel ausgerüstet und machten alle paar Schritte wegweisende Markierungen in die Bäume, aber der Nebel war hier so dicht, dass man nicht einmal mehr seine eigenen Füße sehen konnte. Unsere Fackeln halfen dabei leider auch nur bedingt. Die feuchte Luft hatte meine Kleidung durchgeweicht, die wie eine zweite Haut an mir klebte, während meine Finger schon längst klamm vor Kälte waren. Das Vorankommen war zudem langsam und mühsam. Der Boden war an den meisten Stellen aufgeweicht und feucht, so dass wir jedes Mal mehrere Finger breit einsanken und uns mit klitschigen Lauten dem Sog dann wieder entziehen mussten. An anderen Stellen stolperte man regelrecht von einem Wurzelgeflecht zum nächsten. Zudem war es nicht unbedingt die einladendste Atmosphäre. Durch den wabernden Nebel und die zuckenden Flammen unserer Fackeln wirkten alle Schatten geradezu lebendig und die kahlen, hohen Bäume wie tanzende Gerippe. Ab und zu hörte man neben dem Klang unserer glitschigen Schritte und dem Rascheln von Geäst im Wind den Ruf nachtaktiver Vögel oder das Quaken einer Kröte.

Inzwischen bereute ich wahrlich, meinen Freund nicht doch einfach KO geschlagen und mit mir zurück zur Kaserne geschleppt zu haben. Nun war es dafür zu spät und da er mir ja mehrmals die Wahl gelassen hatte, verkniff ich mir weitere Beschwerden.

„Hey Arias“, sprach ich nach einer Weile behutsam, um die schaurige Stille zu durchbrechen, „Was meintest du vorhin in der Taverne, als du sagtest, dass du ein Held sein musst, weil du ‚Arias’ bist?“

Ich bemerkte, dass sich sein Rücken bei dieser Frage etwas verspannte, aber es bestärkte mich in der Annahme, dass es da etwas gab, das er mit sich herumtrug und bisher nicht mit mir geteilt hatte. Darum wollte ich es wissen. Immerhin waren wir beste Freunde und mir war es nicht genug, einer seiner Bewunderer zu sein, vor dem er den fehlerlosen, allwissenden, immer gut gelaunten Helden meinte mimen zu müssen. Ich wollte auch seine anderen Seiten kennen. Jede davon. Selbst die oder gerade die, bei denen er offenbar glaubte, sie vor allen anderen verstecken zu müssen.

„Das… ist nicht so einfach zu erklären…“, kam schließlich eine etwas zögerliche Antwort, ohne dass er sich zu mir umdrehte oder stehen blieb, „Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt erklären kann oder ob ich es selbst richtig verstehe…“

„Versuch es einfach. Bitte.“, bat ich ihn, denn es war mir wichtig. Mit jedem Wort, das er sagte, erschien es mir immer wichtiger, dass er mich an seinen scheinbar so verworrenen Gedanken teilhaben ließ. Vielleicht konnte ich ihm ja helfen oder ihn wenigstens besser verstehen.

Eine Weile gingen wir schweigend weiter durch den Matsch. Würde er nicht vorhaben zu antworten, würde er mir das sagen, so schien er allerdings nur etwas Zeit zu brauchen, seine Worte zu sortieren.

„Mein Name ist das einzige, woran ich mich erinnere.“, begann er dann ungewohnt bedrückt klingend, „Nichts von meiner Familie, meiner Herkunft, meiner Vergangenheit… und egal wie sehr ich mich zu erinnern versuche, es…“, er stockte mit einem leisen Keuchen und ich registrierte eine Bewegung seiner freien Hand, die zu seinem Herzen glitt oder der Narbe der Verletzung, die sein Herz vor vier Jahren nur knapp verfehlt hatte. Schmerzte sie ihn etwa immer noch? War sie nicht längst verheilt?

„Es führt jedenfalls zu nichts.“, schloss er dann seinen Satz, „’Arias’ ist das Einzige, an das ich mich erinnern kann. Aber… es ist nicht nur die Erinnerung an den Klang meines Namens. Für mich bedeutet ‚Arias’ so viel mehr. Es bedeutet, wer ich bin… oder zumindest wer ich zu sein habe. Wer ich sein muss, um… keine Ahnung, etwas Schlimmes zu verhindern. Anderen in Not helfen zu können. Dass ich mutig, tapfer, stark, unfehlbar… eben ein Held sein muss!“

Betroffen blickte ich auf seinen Rücken und schämte mich beinahe, ihn nicht schon viel früher danach gefragt zu haben. Für mich war immer so klar gewesen, dass Arias’ Heldenallüren eben nichts anderes als Aufmerksamkeitssuche samt etwas Größenwahn waren. Aber langsam glaubte ich zu verstehen, was wirklich oder zumindest noch dahinter steckte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, es gänzlich nachvollziehen zu können, dass einem ein Name sagte, wer man zu sein hatte. Aber ich vermutete, dass egal, was Arias vor vier Jahren zugestoßen war und ihn beinahe das Leben gekostet hätte, es schrecklich gewesen war und nicht nur auf seinem Körper Narben hinterlassen hatte. Ein Teil in ihm nahm vielleicht an, dass er es hätte verhindern können, wenn er mehr der Held gewesen wäre, der er nun um jeden Preis sein wollte.

„Ich weiß, das klingt verrückt.“, meinte Arias nun noch und zuckte mit den Schultern, „Aber mein Name ist alles, was ich noch habe…“

„Nein, DAS klingt verrückt!“, protestierte ich sofort entschieden, schloss mit einem Schritt zu ihm auf und legte ihm meine freie Hand auf die Schulter, damit er mich endlich ansah, „Du hast auch mich! Und im Gegensatz zu deinem tollen Namen schreib ich dir nicht vor, wie du zu sein hast… oder zumindest nur manchmal.“

Unsere Blicke begegneten sich und etwas in mir regte sich als ich das Lächeln sah, das sich auf seine Lippen stahl. Doch ich konnte nicht lange überlegen, was ich fühlte, denn wir sollten unsere Unachtsamkeit sofort bereuen. Arias gab einen erschrockenen Laut von sich als sein Fuß offenbar ins Leere trat. Ich sah ihn nach vorne straucheln und festigte meinen Griff um seine Schulter schon reflexartig, aber selbst nach vorne in Bewegung gewesen hatte ich keinen stabilen Stand, um ihn zurückzuziehen und verlor nur selbst das Gleichgewicht. Auch mein Fuß trat ins Nichts, als hätte ich beim treppabwärts gehen eine Stufe übersehen und im nächsten Moment landete ich bäuchlings auf dem erdigen Grund eines Abhangs. Halb auf der matschigen Erde schlitternd und halb in unkontrollierten Purzelbäumen und Drehungen um mich selbst, verlor ich schnell die Orientierung und versuchte nur, irgendwo Halt zu finden und zugleich meinen Kopf und meine Gliedmaßen zu schützen. Doch erst wenige lange Sekunden später kam mein Körper wieder zur Ruhe, nachdem ich am Grund des übersehenen Abhangs angelangt war. Als ich die unbewusst geschlossenen Augen wieder öffnete, drehte sich immer noch alles um mich und der aufgewirbelte Bodennebel, der um mich herum waberte machte es nicht besser.

„Hngh… Hey Lexi, alles klar bei dir?“, hörte ich kurz darauf die Stimme meines Freundes, während ich mich aufsetzte und zu orientieren versuchte. Der Abhang war recht steil, aber zumindest kein freier Fall und nur einige Schritt tief gewesen. Hätte also deutlich schlimmer kommen können, wenn wir statt einem kleinen Steilhang einen Abgrund übersehen hätten. Schmerzen spürte ich gerade keine, dafür schlug mir das Herz noch im ganzen Leib. Aber nach einer kurzen Kontrolle der Beweglichkeit meiner Gliedmaßen war ich mir sicher, dass ich lediglich mit ein paar Kratzern und blauen Flecken davon gekommen war.

„Ich denke schon. Was ist mit dir?“ Nachdem sich mein Drehwurm wieder etwas gelegt hatte, sah ich zu Arias, der unweit von mir entfernt am Boden im Nebel hockte. Der Himmel war recht klar, so dass auch der Mond sein fahles Licht spendete und meine Fackel, die nun neben mir am Boden lag, hatte die Rutschpartie glücklicherweise unbeschadet überstanden und brannte sogar noch. So konnte ich ihn gut genug erkennen, um ihn mit den Augen nach Verletzungen abzutasten.

„Du blutest!“, bemerkte ich erschrocken, nahm meine Fackel auf und eilte zu ihm herüber, wo ich sein Gesicht genauer in Augenschein nahm. Ich kniete mich zu ihm und fasste mit der freien Hand sein Kinn, um seinen Blick zu mir anzuheben und mir den blutigen Schnitt anzusehen, der sich diagonal von seiner rechten Braue über die Nasenwurzel bis unter sein linkes Auge zog.

„Und lebe trotzdem noch.“, entgegnete er mit einem beruhigenden Lächeln, während er sich mit dem schmutzigen Ärmel über den Schnitt wischte, „Ist nur ein Kratzer. Alles bestens.“

Zu meiner Erleichterung schien er damit ausnahmsweise Recht zu haben und es nicht nur herunterzuspielen, auch wenn er es so verschmiert hatte, dass es nun aussah, als habe er sich einer blutigen Kriegsbemalung unterzogen. Aber der Schnitt war nur oberflächlich und vermutlich nicht einmal tief genug um eine Narbe zu hinterlassen. Auch ansonsten schien er wie ich hauptsächlich Dreck oder harmlose Schrammen davongetragen zu haben. So atmete ich erleichtert auf und nachdem damit der Sorge genüge getan war, verpasste ich ihm einen recht groben Schlag gegen die Schulter.

„Ich dachte du weißt, wo wir lang laufen!“, beschwerte ich mich, war aber gerade zu erleichtert, dass ihm nichts Ernstes passiert war, als dass ich wirklich sauer sein könnte. So half ich ihm wieder auf die Beine und sah mir dann nochmal den Abhang an, den wir herab gerutscht waren. Bei der feuchten, glitschigen Erde würde es nicht leicht werden da wieder hochzuklettern.

„Hey, sieh mal!“, sagte Arias plötzlich und als ich tat wie geheißen, verwies er auf den schmalen Weg auf dem wir uns befanden.

„Toll, ein Pfad.“, erwiderte ich schulterzuckend und ahnungslos was er mir damit sagen wollte. Wobei es zugegebenermaßen das Vorankommen vereinfachen würde, auf einem einigermaßen befestigten Pfad zu laufen, statt weiter durch Matsch und Geäst.

„Kein Pfad“, korrigierte mich Arias begeistert, „Das hier…“, er gestikulierte auf die Schlucht, in der wir standen, „das ist eine Straße! Gerade noch breit genug für eine Kutsche. Mehr noch, diese Straße dürfte es gar nicht geben! Sie ist in keiner Karte verzeichnet, die ich bisher von dieser Umgebung gesehen habe und niemand im Dorf hat mir je davon erzählt. Da ist nur immer die Rede von der Handelsstraße, die durch das Dorf führt. Diese hier allerdings…“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, die ich offenbar nutzen sollte, um den Satz zu ergänzen, aber in Rätseln war ich nie gut und so sah ich ihn nur weiterhin ratlos an, bis er seufzte und fortfuhr, „Das hier ist eine Schmugglerstraße, Lexi! Und wir haben sie gefunden!“

„Und was machen wir jetzt damit?“, fragte ich ernsthaft verwirrt, denn selbst nach der Erklärung, war ich mir nicht sicher, was daran nun so toll sein sollte. Aber für Arias war diese Entdeckung, die er in seinen Karten einzeichnen konnte, offenbar schon Lohn genug und so verkniff ich mir den Kommentar, dass uns diese Straße in unserem eigentlichen Anliegen kein Stück weiter brachte, geschweigedenn dass es ratsam wäre, mit einer solchen Entdeckung hausieren zu gehen. Genau genommen dürften wir ja nicht einmal hier sein, sondern müssten in der Akademie brav in unseren harten Betten liegen.

„Wir folgen ihr.“, entschied Arias zuversichtlich und verwies in eine Richtung dem Straßenverlauf entlang, „In dieser Richtung müsste ohnehin die Hütte liegen und vielleicht handelt es sich dabei nur um ein Versteck und Rastplatz für Räuber und Schmuggler statt dem Heim eines Kannibalen.“

„'Nur'...“, wiederholte ich schnaubend und war mir nicht ganz sicher, ob diese Theorie es besser machte. Aber wir setzten uns wieder in Bewegung und das Vorankommen war auf der Straße deutlich angenehmer. Der Boden weniger schlammig und nicht von pflanzlichen Stolperfallen übersät. Der Nebel war auch hier recht dicht und hüllte alles unterhalb unserer Knie in weißen Dunst, der mich angesichts der unbekannten Bedrohung, die hier lauerte etwas nervös machte. Die Straße hatte eine leichte Steigung nach oben, so dass sich die Steilhänge links und rechts von uns mit jedem Stück zurückgelegter Strecke wieder an unsere Höhe anpassten. Doch wir waren noch nicht weit gekommen als die nächste unerwartete Entdeckung unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ein Pferdewagen stand inmitten der Straße und je näher wir ihm kamen, desto stärker nahm ich einen widerwärtigen, modrigen Geruch wahr. Beim Nähertreten war auch deutlich, woher dieser rührte. Das Pferd, das ursprünglich an den Wagen gespannt war, war nicht mehr viel mehr als ein abgenagter, madenzerfressener Kadaver. Die Augen waren wohl von Vögeln ausgepickt worden und auch ansonsten hingen nur noch wenige Fleischfetzen an dem Gerippe, an denen sich nun die kleinsten Aasfresser labten. Offenbar verkam in diesem Wald nichts, wenn einen der Tod ereilte.

„Wo ist der Fahrer?“, fragte ich leise, doch kaum ausgesprochen fürchtete ich, die Antwort bereits zu kennen. Mein Blick fiel auf einen undefinierbaren Haufen ein paar Schritt weiter die Straße entlang, der leicht über den Bodennebel herausragte. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend näherte ich mich dem Etwas, das den gleichen übelkeiterregenden Geruch verströmte wie der Pferdekadaver. Und ich sollte Recht behalten. Der durch meine Bewegungen aufgewirbelte und verdrängte Nebel offenbarte mir den Fahrer des Wagens, für den unverkennbar jede Hilfe zu spät kam. Ein abgenagtes, zerfressenes Gerippe, dem schwerlich anzusehen war, wie er zu Lebzeiten mal ausgesehen hatte. Seiner in Fetzen liegenden Kleidung und dem wie zum Schrei aufgerissenen Kiefer war allerdings zu entnehmen, dass sein Ende qualvoll und blutig gewesen war.

„Von irgendwas muss er angegriffen worden sein.“, murmelte ich, als ich Arias’ dumpfe Schritte und das Rascheln seiner Kleidung zu mir aufschließen hörte, „Oder wahrscheinlich sein Pferd zuerst, so dass er glaubte, fliehen zu können, während sein Angreifer abgelenkt war, aber weit ist er nicht gekommen…“

„Weil es nicht nur EIN Angreifer war.“, meinte Arias, der nun neben mir stand und ich sah überrascht zu ihm. Ich wusste nicht, ob es mich mehr irritierte, dass er etwas in der Hand hielt, das wie eine scharfkantige anthrazitfarbene Scherbe aussah oder aber, dass zum ersten Mal in dieser Nacht, so etwas wie Besorgnis in seiner Miene zu erkennen war.

„Das ist ein Teil einer Eierschale. Ich schätze es waren etwa vier Eier.“, erklärte er mir auf meinen fragenden Blick hin, „Dieser Mann muss ein Schmuggler oder Hehler gewesen sein. Es ist verboten, Dinge aus den Niemandslanden über die Grenze zu bringen und diese Eier stammen von dort, ebenso wie ein paar andere Sachen, die er da auf dem Karren hatte. Wahrscheinlich hat dieser arme Narr die Eier für kostbare Edelsteine oder Metalle gehalten, sonst wäre er sicherlich vorsichtiger gewesen und wäre nicht von seiner eigenen Handelsware überrascht worden. So war das sein Tod und hier in den Wäldern lebt und wächst nun etwas heran, das nicht hierher gehört…“, er betrachtete die Eierschale und verzog angestrengt das Gesicht, „Ach, verflucht! Wenn mir nur einfallen würde, um was für Kreaturen es sich handelt! Aber ich krieg’s nicht zu fassen!“

Ich nickte sacht und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Fragen wie, woher Arias wusste, dass diese anthrazitfarbenen Dinger Eierschalen waren oder dass diese aus den Niemandslanden stammten, stellte ich mir schon lange nicht mehr. Die Antwort darauf lag schließlich in seiner unbekannten Vergangenheit verborgen und ich sah keinen Grund an seinem Wissen zu zweifeln.

„Dann haben wir nun also den Ursprung für die Vermissten gefunden. Und die Bestätigung, dass hinter der Sache mit den Monstern etwas Wahres dran ist…“, fasste ich beklommen zusammen und konnte mich nicht wirklich darüber freuen, der Lösung des Rätsels näher gekommen zu sein. Es war nicht gerade beruhigend zu wissen, dass in diesen Wäldern vier Wesen lebten, die kaum aus dem Ei geschlüpft schon hungrig und stark genug waren, ein Pferd und einen erwachsenen Mann niederzustrecken. Und wie lange war dieser Mann schon tot? Der erste Vermisste des Dorfes war der Jäger gewesen, der seit etwa zwei Wochen verschollen war. Dieser Schmuggler weilte allerdings schon länger nicht mehr unter den Lebenden. Diese Geschöpfe hatten also seit ihrem ersten Mord etwas Zeit gehabt, zu wachsen. Machte es das Überleben für die Vermissten somit nicht noch unwahrscheinlicher? Und was war mit uns? Mit einem Mal fühlte ich mich hier wie auf einem Präsentierteller. Mein Blick glitt zu dem blutverschmierten Gesicht meines Freundes. Ob diese Monster der Niemandslande Blut witterten? Oder andere Raubtiere des Waldes? Wir sollten hier besser nicht länger verweilen als nötig.

Also setzten wir unseren Weg fort. Es fühlte sich zwar falsch an, die Kadaver nicht wenigstens zu begraben, aber mitten in der Nacht, ohne die richtige Ausrüstung und während unbekannte Monster womöglich gerade auf der Jagd waren, wäre das keine gute Idee.

Die Fackel in der linken Hand und mein Schwert einsatzbereit in der rechten lauschte ich auf Geräusche, die Gefahr ankündigten. War da nicht gerade etwas gewesen? Ein verdächtiges Rascheln und Knacken von Ästen? Vielleicht wurde ich auch nur paranoid, denn inzwischen alarmierte mich jedes raschelnde Gebüsch. Es kam mir so vor, als würden wir aus dem Unterholz beobachtet, verfolgt oder gar umzingelt werden. Denn es kam von allen Seiten. Vermutlich also nur der Wind. Aber wenn nun ein Angriff erfolgte, wäre es meine Aufgabe, mich und Arias zu verteidigen, denn dieser hantierte mit Karte und Kompass herum und gemeinsam mit seiner eigenen Fackel blieb keine Hand frei um eine Waffe zu halten. Inzwischen hatten wir uns darauf geeinigt, noch diese Hütte zu suchen, die – wenn sie existierte – hier in der Nähe sein müsste, um dann dort die restliche Nacht zu verbringen. Offenbar hatte er endlich eingesehen, dass es zu gefährlich war, diese wahnwitzige Suche des Nachts fortzusetzen und ein wenig Tageslicht ungemein hilfreich wäre. Es gefiel mir nicht besonders, weil das bedeuten würde, dass unser Verschwinden aus der Akademie spätestens morgenfrüh auffliegen würde. Die Konsequenz wären Strafarbeiten wie verlängerter Latrinenputzdienst und vermutlich auch körperliche Züchtigung, um uns Gehorsam einzuprügeln. Schließlich war das nicht unser erster Regelverstoß. Dennoch besser als hier draufzugehen. Erstmal hatte es größere Priorität die Nacht zu überstehen und sollte es diese Hütte geben, dann war es zumindest eine Zufluchtsmöglichkeit. Nach Arias' Schmugglertheorie war die Geschichte von dem Kannibalen vermutlich ohnehin nur ein Gerücht, das Dorfbewohner davon abhalten sollte, sich der Hütte zu nähern. So konnte das diebische Gesindel mit seiner Beute und seinen illegalen Waren dort in Ruhe rasten und Unbeteiligte liefen nicht Gefahr als unerwünschte Zeugen beseitigt zu werden. Was bedeuten würde, dass die Hütte die meiste Zeit leerstand. Blieb nur zu hoffen, dass sie das gerade auch tat.

„Da ist sie!“, verkündete ich leise als ich durch das Unterholz nach einigen Schritt abseits der entdeckten Straße tatsächlich eine Hütte auf einer kleinen Lichtung erkannte. Silbriger Mondschein strahlte auf das Spitzdach einer Blockhütte, etwas größer als die üblichen Jagdhütten. Manch mehrköpfige Familie in Städten und Dörfern musste mit weniger Platz auskommen. Arias steckte Kompass und Karte weg und wir gingen auf die Lichtung zu. Gerade als wir uns aus dem Schatten der dicht beieinander stehenden Bäume lösen wollten, packte mich Arias plötzlich am Ärmel.

„Alexiel!“, rief er zeitgleich alarmiert aus, was schon genügt hätte, mich sofort inne halten zu lassen.

„Was denn?“, die Anspannung war ansteckend und schlug sich auch in meiner Stimme nieder, doch statt einer Antwort, sah Arias sich kurz suchend um, ehe er einen langen Stock ergriff und mit diesem vor mir auf dem Boden herumstocherte. Mit einem hörbaren Knacken brach der Stock entzwei als eine von Blättern und Moos verdeckte Bärenfalle zuschnappte. Der Gedanke, dass dieses Knacken um ein Haar mein Schienbeinknochen hätte sein können ließ mich unwillkürlich schlucken.

„Dachte, das interessiert dich vielleicht.“, meinte Arias grinsend und ich nickte nur matt mit einem leisen Dank.

„Was macht dieses Ding überhaupt hier?“, wollte ich dann irritiert wissen, „Irgendwelche Räuber und Schmuggler würden doch keine Fallen auslegen oder?“

„Ja, kommt mir auch etwas seltsam vor.“, stimmte Arias mir stirnrunzelnd zu, „Auch dass diese Hütte noch so gut in Schuss ist. Keine Vegetation am Holz oder Schäden durch Stürme oder ähnliches, zumindest soweit sich das von hier sagen lässt. Vielleicht wohnt da ja doch ein Kannibale, der das Häuschen instand hält?“, das Grinsen kehrte belustigt zurück, während er den kaputten Stock wegwarf und weiter auf die Lichtung trat. Nach kurzem Zögern schloss ich zu ihm auf und stieg über die Falle hinweg näher auf das vielleicht doch nicht ganz unbewohnte Haus zu.

„Da ich allerdings bezweifle, dass sich hier allzu oft Menschen her verirren, dürfte der arme Kannibale schon ziemlich verhungert sein.“, fuhr Arias fort und machte damit deutlich, dass er die Menschenfresser-Geschichte für ebenso unwahrscheinlich hielt wie ich. Nichts desto trotz ließen mich die Indizien, dass das Haus eventuell doch bewohnt war, wachsam werden. Weitere Fallen hatten wir auf der Lichtung vermutlich nicht mehr zu befürchten, denn hier schien der Mond hell genug, um einen Laubhügel oder sonstige Auffälligkeiten sofort zu sehen. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass die Fenster der Hütte von innen verrammelt waren und auch dieses Holz sah noch relativ frisch aus. Allerdings dennoch nicht im besten Zustand, denn tiefe parallel verlaufende Furchen verliefen durch das Holz. Womöglich Kratzspuren von diesen neuen Monstern, die hier irgendwo herumliefen? War es möglich, dass die vermissten Personen dort drinnen vor der Bedrohung Zuflucht suchten und...

Die sich öffnende Tür des Hauses ließ meine Gedanken abreißen. Wir waren noch ein paar Schritt von dem Haus entfernt und hatten noch nicht mal Gelegenheit zu klopfen, sofern wir das überhaupt vorgehabt hätten. Schon reflexartig fasste ich mein Schwert fester und meine Augen weiteten sich bei dem, was ich erblicken konnte.

„Was bei allen Göttern...“, murmelte ich und starrte auf das Ungetüm, das dort im Türrahmen erschien.

Das silbrige Licht erhellte das seltsam verzerrt wirkende Gesicht. Es war menschenähnlich, mit zwei Augen, einer Nase und einem Mund, aber alles reichlich schräg und völlig asymmetrisch. Wo das eine Auge beinahe herauszuquällen schien, war das andere klein und lag tief in der Höhle. Der Mund enthüllte einen schiefen Überbiss mit gelben, chaotisch angeordneten Zähnen. Ein ähnliches Bild zeigte sich in der Statur. Generell war das Ding ziemlich riesig, sicher über zwei Schritt groß und kräftig, aber buckelig und etwas unförmig, als wären an manchen Stellen zu wenig, zu viele oder unnatürlich verwachsene Knochen in seinem Skelettbau. Und während der rechte Arm vor Muskeln zu strotzen schien, war der linke verkürzt und unpassend hager. Auf dem Kopf befanden sich ein paar vereinzelte Büschel, fahles, dunkles Haar.

Einen Moment lang war ich durch diesen Anblick wohl zu abgelenkt, denn erst als das Ungetüm mit unartikuliertem Gebrüll nach draußen auf uns zu humpelte, bemerkte ich die Armbrust in seiner starken Hand. Der andere Arm wedelte hektisch hin und her und das Herz sackte mir in die Hose, als dieses Ding noch im Laufen die Armbrust anhob und auf meinen besten Freund richtete, der selbst zu perplex wirkte, um sich zu rühren.

Ich sah wie sich der unförmige Finger des Monsters auf den Abzug legte und für einen weiteren Gedanken blieb keine Zeit. Getrieben von Todesangst um meinen Freund, handelte mein Körper wie von selbst.
 

Letzte Entscheidungsfrage:

a) Armbrust umlenken

b) Arias zu Boden reißen



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  xXKikiXx
2018-12-27T17:25:01+00:00 27.12.2018 18:25
Ach wo soll ich da bloß anfangen😁
Wie immer einfach grossartig. Du triffst Lexi einfach einmalig gut. Besser könnte ich ihn selbst nicht schreiben. Seine Hektik, seine Sorge, seine Unbeholfene Art gelegentlich.
Ich bin so hin und weg😍😍😍😍 ach ich liebe es einfach nur wie die beiden hier agieren.
Es macht so Freude das zu lesen.
Vielen vielen vielen Dank dafür
Dreimal schon gelesen und einfach nur begeistert.
Wenn ich nur wüsste wie ich mich entscheiden soll?

Hm....

Ich denke er wird mal mutig sein und die Armbrust rumreissen😘👍😍
Also Antwort (a) bitte😍😍😍


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