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Alexandria, 2010

von

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Das Zimmer war spärlich ausgestattet. Aus einem kleinen eckigen Fenster an der rechten Wand drangen die letzten Sonnenstrahlen, die dämmriges Licht auf ein niedriges Podest in der Mitte des Raumes warfen. Mit roten Linien war ein Pentagramm darauf gezeichnet. Gerade Linien bildeten den fünfzackigen Stern, darum beschrieben Runen saubere Kreise. Ein kleineres Pentagramm befand sich am Rand des Raumes, worin Kitty stand. Sie überprüfte die Richtigkeit der Bannkreise nicht und vertraute blind darauf, dass nichts passierte. Auch das Räucherwerk ließ sie aus. Lediglich die Kerzen hatte sie an die für die Beschwörung zuständigen Orte, nämlich an den Ecken des Sternes, platziert und angezündet. Ein sanfter Geruch von Jasmin wehte durch den geschlossenen Raum. Er stammte noch von den Vorgängern. Eine kleine Lampe brannte an der kahlen Decke. An der Wand, unter dem Fenster, stand ein niedriger Tisch, auf welchem Räucherwerk und Schreibutensilien lagen.

Mit zittrigen Fingern hielt Kitty das Buch mit der Beschwörungsformel in der Hand. Sie kannte die Formel, hatte sie vor wenigen Jahren selbst einmal fehlerfrei ausgesprochen. Dennoch lag so viel Zeit dazwischen, und sie hatte Angst, einen Fehler einzubauen, der die Wesenheit kränken würde.

Sie riss sich zusammen und strich sich das weiße Haar aus der Stirn. Viel schlimmer als eine fehlerhafte Rezitation war eine korrekte Beschwörung ohne Wirkung. Das war es, was ihren Körper so lähmte und gleichzeitig das Herz so schnell schlagen ließ wie das einer Maus.

Sie holte tief Luft, dann sprach sie die Formel. Korrekt. Erst passierte nichts. Nervös fuhr sich Kitty mit der Zunge über die trockene Unterlippe. Ein Windhauch säuselte, der die Kerzen kurzzeitig aufflackern ließ. Ein Stückchen Kreide kullerte vom Tisch. Sonst geschah nichts. Sie wartete, schloss das Buch und ließ die Augen durch den leeren Raum schweifen. Das Licht flimmerte schwach, ihre Augenlider zuckten. Der Wind legte sich und Stille trat wieder ein.

Fast eine komplette Minute hatte die Frau starr in ihrem Pentagramm gestanden. Die Anspannung hielt sie von den Tränen ab, die ihr in die Augen zu steigen drohten. Einen letzten Versuch startete sie, indem sie den Namen der Wesenheit flüsterte: „Bartimäus?“

Kitty erhielt keine Antwort. Stattdessen wischte sie mit ihrem Jackenärmel über die feuchten Augen. Das Pentagramm war völlig leer und auch in den nächsten Sekunden regte sich nichts. Ihre größte Befürchtung wurde zur Realität. Nüchtern klemmte sie sich das Buch unter die Schulter, dann trat sie nach vorn. Bevor ihre Fußspitze jedoch den äußeren Rand ihres Pentagramms berührte, seufzte wieder ein leiser Windhauch.

Du willst doch nicht diesen dummen Fehler begehen und dein schützendes Pentagramm verlassen.

Die Stimme drang aus allen Richtungen. Tief, sanft, bedrohlich.

Kitty schreckte jäh zurück. Ihr Buch fiel dumpf auf den Marmorboden. „Bist du das, Bartimäus?“

Pss… versau mir nicht den Auftritt.

Sie unterdrückte ihr Lachen. „‘Tschuldige.“

Man merkt eben, dass du keine Zauberin bist. Willst einem Dschinn ins offene Maul laufen. Hast du dummes Kind nicht gelernt, dass wir alles tun, um euch hinters Licht zu führen? Jetzt sieh genau hin.

Im Pentagramm flimmerte kurzzeitig die Luft. Erst jetzt sah Kitty, dass sich dort etwas materialisiert hatte. Fast durchsichtig, fein wie ein Windhauch.

Die Luft verdichtete sich zu einem festen Körper, der allmählich menschliche Gestalt annahm. Ein junger, gut aussehender Mann in einem lädierten Anzug stand einsam in der Mitte des Raumes. Seine Hemdärmel waren angesengt, am Knie klaffte ein großes Loch und Brandflecken verunstalteten das Jackett. Sein Gesicht war schmal und blass, die schwarzen Haare kurzgeschnitten. Einzig die leeren Augen, in denen einsame Lichtpunkte ab und zu blitzten, verrieten den Dschinn.

Der junge Engländer lächelte traurig.

„Hallo Kitty.“

„Nathanael.“
 

Kittys Stimme war kaum mehr als ein kläglicher Hauch, der im stillen Raum schnell verebbte. Ihre Hand griff unbewusst nach dem Engländer, der steif wie eine Salzsäule auf seinem Fleck verharrte. Er beobachtete jede Bewegung haargenau, als wartete er nur auf diesen einen Moment, dass Kittys Fingerspitzen endlich über den Rand des Pentagramms ragten.

Der Bann war gebrochen. Die Lichtreflexe in den dunklen Augen des Dschinns blitzten auf. Mit geschmeidigen Schritten trat er an die gealterte Frau. Es fiel ihr schwer, Blickkontakt zu halten, doch jetzt durfte sie keinesfalls unaufmerksam werden. Als die beiden nur noch eine Handfläche breit trennte, sprach Bartimäus leise: „Das sollte ich dir von ihm ausrichten.“

Er grinste, doch Kitty war danach nicht zumute. Sie wäre am liebsten wieder in Tränen ausgebrochen. Dennoch überschattete die Freude, dass Bartimäus überlebt hatte, für einen winzigen Moment alle schmerzlichen Erinnerungen, die sie mit ihm beschworen hatte.

Kitty blinzelte. Vielleicht schloss sie auch für einen Moment die Augen, um den Schock für verarbeiten. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand ein junger Ägypter gedankenverloren vor dem schmalen Fenster, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt.

„Das ist ja ein grauenvoller Ausblick“, bemerkte er. „Überall Hochhäuser und Straßen … Wo sind wir hier?“

Kitty hüstelte. „Alexandria.“

„Na, Donnerwetter! Wie viel sich in den letzten Jahrhunderten verändert hat.“

„Möchtest du dir die Stadt etwas ansehen?“ Sie wusste nicht, was sie sonst mit Bartimäus besprechen sollte. Sie wollte ihn nur einmal sehen. Darüber, was danach geschehen sollte, hatte sie nicht nachgedacht.

„Lieber nicht. Sonst findet vielleicht jemand heraus, dass ich noch lebe.“ Etwas Melancholisches lag in seiner Stimme, das jäh verebbte, als er Kitty breit grinsend musterte. „Jetzt erzähl mal über dich! Wie geht es dir und was treibst du so? Ich meine abgesehen davon, dass du dich mal wieder als dilettantische Zauberin ausgibst. Das Räucherwerk hast du komplett vergessen und ich wette, dass du bei den Pentagrammen Hilfe hattest. Sehr schwache Leistung, selbst für dich.“

Kitty stemmte die Fäuste in die Hüften und zog einen Flunsch. „Das ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich in einem Pentagramm stehe und das auch nur aus einem Grund.“

Sie kannten den Grund beide.

„Schätzchen, wir wissen beide, dass den großen Bartimäus von Uruk nichts so leicht umbringt“, sagte er lässig. „Dafür hättest du mich nicht beschwören brauchen.“

Seine Überheblichkeit ließ die Frau schmunzeln. Still beobachtete sie, wie seine Haare sanft mitschwangen, als er den Kopf neigte. Aus Langeweile hatte er Kittys Haltung nachgeahmt, die Fäuste in die Hüften gestemmt, zusätzlich mit dem Fuß auf den Boden tippend, als wartete er auf etwas.

„Dann sollte ich dich wohl wieder entlassen. War schön, dich noch einmal zu sehen“, sagte Kitty schließlich mit leiser, belegter Stimme.

„Na, das ging aber schnell.“ Freudig rannte der Dschinn in das große Pentagramm und ließ sich in einem eleganten Schneidersitz nieder. „Bin bereit.“

Kitty schlug das Buch auf, um nach der Entlassungsformel zu suchen. Etwas in ihr sträubte sich, Bartimäus so schnell wieder zu entlassen, doch sie wusste nicht, wie sie ihn noch halten konnte.

„Einen Moment noch!“ Der junge Ägypter sprang auf und schlenderte aus dem Pentagramm. „Ich glaub, ich will mir die Stadt doch einmal ansehen. Da können wir gleich noch ein wenig plaudern.“



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