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Palast aus Eis

von

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Palast aus Eis

Maya stand vor dem Spiegel. Mit einem groben Kamm kämmte sie sich das Haar hin und her, unentschlossen, was sie damit anfangen sollte. Es hing ihr in wilden, straßenköterblonden Locken bis auf die Schultern herab und manchmal, das wusste sie, sah sie damit aus wie ein Wischmop. Was ihr jedoch nichts ausmachte. Sie liebte ihr wildes Haar, ungezügelt, mit eigenem Willen. Es sorgte dafür, dass sie nicht so brav aussah, wie ihre Mitschülerinnen, die jeden Morgen Stunden damit verbrachten sich ihr Haar zu verbrennen, es zu striegeln und zu zähmen. Dafür hatte sie gar keine Zeit. Sie schlief lieber noch eine Stunde länger und entschied sich dann meist für einen zackigen Haarreifen, damit sie wenigstens etwas sehen konnte. Heute jedoch… sie musste schon etwas mehr Zeit investieren, wenn sie auf das Fest wollte. Sie. Sie. Sie! Sie hatte tatsächlich eine Einladung bekommen! Sie war so aufgeregt! Seit fünf Jahren hatte sie darauf gewartet, hingehen zu dürfen und jetzt durfte sie. Sie konnte es noch gar nicht fassen, dass Keith sie tatsächlich gefragt hatte.

Natürlich hatte sie sich auch zuvor schon mit dem Gedanken geplagt, was wohl mit ihrem Haar anzustellen war und wie sie sich wohl kleidete, denn sie wäre ja ohnehin hin gegangen. Doch nun war das alles auf einmal noch wichtiger. Wenn sie mit ihm dort war…
 

Das Kleid war elegant, lang und dunkelrot. Es war zwar enganliegend, schnürte sie dabei jedoch nicht ein. Das konnte sie heute gar nicht gebrauchen. Als es an der Tür klingelte, stolperte Maya vergnügt los und riss dieselbe so rasant auf, dass die davor stehende Seline eine Augenbraue hochzog. „Kann es sein, dass du ein bisschen aufgeregt bist?“, fragte diese mit einem Lächeln auf den Lippen.

Maya verdrehte die Augen. „Wie kommst du nur auf sowas“, entgegnete sie mit Ironie, doch nicht gekränkt. Es war ja richtig. „Komm rein, du musst mir helfen!“ Und schon hatte sie ihre beste Freundin in die Wohnung und in ihr Zimmer gezogen. Nicht einmal fünf Minuten später hatte Seline ein Meer aus Ketten und Ohrringen um ihre beste Freundin ausgebreitet, und begann sie zu schminken und ihr die Haare zu zähmen, denn da Maya sich üblicherweise eher damit beschäftigte, sich über jene lustig zu machen, die ihre Zeit mit so sinnlosen Dingen wie Make-up verschwendeten, hatte sie natürlich nicht sonderlich viel Erfahrung mit demselben. Seline, die mit knapp einem Meter fünzig kaum an Mayas Haar herankam wenn diese stand, setzte sie in einen Stuhl und strich sich eine ihrer eigenen schwarzen Haarsträhnen aus den Augen, bevor sie begann. Beide Mädchen plapperten pausenlos über das bevorstehende Ereignis, malten es sich in allen Farben aus und hatten schon mindestens drei mögliche Verläufe des Abends durchdiskutiert, als sie schließlich zum Auto gingen und losfuhren.

In der Schule angekommen sprangen die Mädchen sofort aus dem Auto, verloren keine Zeit. Sie eilten zur Sporthalle, bemüht sich selbst nicht zu sehr zu verknittern. Als sie die Sporthalle erreichten, traten sie sofort hinein. Obwohl sie sich wirklich Mühe gaben, nicht allzu aufgeregt zu erscheinen, waren sie doch die ersten, die überhaupt angekommen waren und allein das verriet sie.

Erleichtert stellte Maya fest, dass einiges geschehen war mit der Halle. Sie hatte sich also ganz unnötig den Kopf darüber zerbrochen, ob eine Sporthalle wohl wirklich ein geeigneter Ort sein konnte. „Sieh mal die türkisblauen Schleifen dort drüben an dem Tisch!“, flüsterte sie ehrfürchtig und zeigte auf ein unter einer Decke verschwundenes Lehrerpult, das für die Feier in eine Art Redner- und Musikpult umgewandelt worden war. Dort hinter wurde der Blick frei auf lange wallende Vorhänge, die aus der Sporthalle einen Raum für Festlichkeiten zauberten und die Leitern und Sportgeräte, die an der Wand hingen, sowie den Abstellraum ohne Ausnahme verbargen. Im oberen Bereich hatten auch diese einen hellblauen Ton, der dann zum Boden hin in ein sanftes Weiß auslief. Vom Pult ausgehend hatte man einen guten Überblick über die Halle, die wie die meisten Sporthallen, eher pragmatisch als besonders schön und einladend geschnitten war. Doch, dachte Maya als sie beobachtete, wie Seline vorsichtig über die Schleife strich, so war die Halle wirklich schön. Gehüllt in blaues Dämmerlicht, erschien sie wie ein Eispalast, ein Effekt, der durch die silbernen Lichterketten an den Wänden sogar noch verstärkt wurde, die im Saal wie Sterne erstrahlten. Lediglich gegen die Sportfeldmarkierungen auf dem Boden konnte man nicht viel tun, doch Maya hoffte, dass die Aufmerksamkeit durch das gedimmte Licht ohnehin in andere Richtungen gelenkt wurde.

„Ist es nicht großartig?“, fragten Seline und Maya wie aus einem Mund, als sie an das Musikpult herantraten und dort in die desinteressierten Augen des Schulhausmeisters blickten, der zunächst noch nicht einmal begriff, dass die Frage an ihn gerichtet gewesen war.

„Ehm…“, stammelte er und wirkte, als blickte er sich zum ersten Mal überhaupt um und als gefiele ihm wirklich nicht, was aus seiner Halle geworden war, „ich denke, es ist wohl in Ordnung“, brummte er zur Antwort in seinen Bart hinein. Statt sich jedoch mit der Inneneinrichtung zu befassen, beschäftigte er sich weiter mit der Anlage. Natürlich würde es jemanden geben, der sich um die Musik kümmerte – in Anbetracht der Tatsache, dass die Schule nicht sonderlich viel Geld für so etwas erübrigen konnte, war dieser jemand niemand anderes als eben dieser Hausmeister, der für den Job freiwillig gemeldet worden war – und für den Fall, dass jemand etwas über das Mikrofon sagen wollte, sollte er es schließlich auch angeschlossen haben.
 

„Wieso geht es nicht los?!“

Inzwischen waren Maya und Seline nicht mehr die Einzigen, die ungeduldig in der Halle auf- und abliefen. Zwar waren einige Gäste schon angekommen, doch der Saal war noch immer recht leer – zu leer, wenn man bedachte, dass das Fest seit einer Stunde in vollem Gang hätte sein sollen. Die Musik lief. Doch die meisten Gäste fehlten. Maya hätte sich nicht so sehr dafür interessiert – doch auch Keith war nicht da.

„Er wollte sich hier mit mir treffen“, wiederholte sie zum sicher zwanzigsten Mal, „Vor genau 43 Minuten!“ Die Kleinere schüttelte den Kopf. „Die Uhr zu hypnotisieren wird ihn auch nicht schneller herbringen“, gab Seline gelassen zurück, allerdings war auch sie nervös. Immer wieder blickte auch sie auf die Uhr, doch auch das half nicht. Die Gäste blieben aus. Und niemand kannte den Grund. Nervös blickte Maya auf ihr Handy. „Meinst du ich sollte ihm schreiben?“, fragte sie, was ihr jedoch wiederrum einen durchdringenden Blick einbrachte. Sie stockte. „Was denn?“

„Entspann dich“, bestimmte Seline. „Er ist sicher bald hier.“

Maya wusste, dass sie das nur sagte, weil sie es hören musste. Sie wusste es, und sie war dankbar dafür. „Wo bleiben denn alle?“, fragte sie wieder, „Wieso geht es denn nicht los?!“

Es war ganz und gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Eine weitere halbe Stunde später hatte sie immer noch nichts von Keith gehört. Seline hatte aufgegeben ihr gut zuzureden, denn sie wollte es nicht länger hören. Stattdessen erinnerte sie ihre Freundin nun fortwährend daran, dass sie ihr Make-up nicht verschmieren sollte, denn Maya war dazu übergegangen nervös an ihrer Lippe zu spielen. Eine ärgerliche Angewohnheit, die mit Lippenstift nicht erfreulicher wurde.

„Lass uns gehen“, beschloss sie schließlich, nachdem sie noch ein letztes Mal auf ihre Uhr gesehen hatte, „mir ist die Lust vergangen.“ Sie griff nach der Hand ihrer Freundin und eilte in Richtung Tür. Wie sollte man denn ein Schulfest feiern, wenn fast niemand da war? Das war doch lächerlich. Es war genau so absurd, wie die Vorstellung ihres kleinen Bruders, sie würde ihm ihren Laptop zu Weihnachten schenken, weil er ja nun 10 Jahre alt war und sie ihn schließlich schon zwei Jahre hatte. Lange genug, wie er fand. Sie nicht. Lächerlich. Sie hatte tanzen wollen. Tanzen mit Keith, der sie eingeladen hatte, nachdem sie sich so lange danach gesehnt hatte. Es hatte wie ein Ball werden sollen. Ein Traum in Eis in der Halle, die leuchtete wie ein Polarlicht in der Nacht. Absurd.
 

Maya war so enttäuscht, dass sie fast stolperte, als Seline sich an ihr festhielt. Sie wollte sich gerade zu ihr umdrehen um sie zur Rede zu stellen, weshalb sie wollte, dass sie fiel, als sie erneut fast stolperte. Dieses Mal konnte sie sich nicht einreden, sie wäre geschubst worden. Dieses Mal spürte sie, wie die Füße unter ihr den Halt suchten und nicht fanden. „Was zum… ?!“ Sie stieß die Worte aus, achtete jedoch nicht auf eine Antwort. Erschrocken blickte sie auf den Boden vor ihren Füßen. Dies war der Boden, der die Sportfeldmarkierungen in der Halle hätte ersetzen müssen, der der wunderschönen Aufmachung der Halle gerecht geworden wäre. Dieser Boden bestand aus blankem Eis. Ihre Augen weiteten sich. Es war spiegelglatt. Und sie trug Schuhe, die einer Eisprinzessin sicher gerecht geworden wären, sich allerdings alles andere als dafür eigneten um auf Eis zu stehen. Oder zu laufen. Oder zu tanzen.

„Wann ist das passiert?“, fragte sie durcheinander und auch ein wenig panisch. Vorsichtig setzte sie einen Fuß nach vorn und testete ob sie sicher würde stehen können. Sie konnte nicht.

„Das muss gewesen sein, gleich nachdem wir hier waren. Jetzt wissen wir, weshalb niemand kommt“, gab Seline zurück und stieß mit ihrem Absatz in den Boden um sicherer zu stehen. Sie schmiss sich den Riemen ihrer Tasche über den Kopf, sodass sie beide Hände frei hatte und blickte auf die Straße hinab. Die Sporthalle befand sich auf einer Erhöhung – ein Hindernis, das kaum zu überwinden war.

Das Eis war kaum zu sehen, so klar war es. Es war kaum zu erkennen, doch unwiderruflich da. Und ein einziger Blick in ihre mausgrauen Augen genügte, damit Maya wusste, dass Seline wusste, dass sie eine Idee hatte. Die Größere drehte sich um und blickte zurück zur Schule. Sie waren hier, sie konnte zurück in die Halle gehen und warten, bis der Boden wieder aufgetaut war. Sie konnte warten, bis sie wieder würde laufen können, ohne sich dabei die Füße in ihren Schuhen zu brechen. Oder sie konnte…
 

„Maaaayaaaa!“ Seline konnte nicht fassen, was sie sah. „Maya du bist verrückt!“

„Ich weiß!“, rief diese ihr zu, hielt aber nicht inne. Sie lief an dem verlassenen Musikpult – der Hausmeister hatte offenbar beschlossen, dass für wenige Gäste auch eine Playlist ausreichend war – vorbei und schnappte sich das Mikrofon. Dann richtete sie das Wort an die wenigen Gäste, die es tatsächlich geschafft hatten, vor dem Eiseinbruch hier zu sein.

„Maya hör auf! Mach dich nicht lächerlich!“ Seline riss ihr das Mikrofon aus der Hand, ehe sie einen Ton hervor gebracht hatte. Es brachte ihr Aufmerksamkeit, die sie hatte vermeiden wollen. Doch Maya blieb unbeirrt.

„Die Party ist zu Ende!“, rief sie vergnügt und erschrak dabei fast, wie laut ihre Stimme aus den Lautsprechern tönte. Dann lief sie hinter das Musikpult auf die Wand zu und stieß die Vorhänge zur Seite. Sie schlüpfte hindurch und trat zwischen die Regale in denen wie gewöhnlich Sportgeräte standen. Sportgeräte und – sie lächelte. Schnell schlüpfte sie noch einmal aus dem Abstellraum hinaus und schnappte sich eine große Tischdecke von einem der Tische. Dann lief sie erneut zu dem Regal. Sie schmiss alle Sportschuhe, die sie finden konnte auf die Decke und hüllte sie in diese ein, sodass sie sie hinter sich her ziehen konnte. Dann trat sie wieder an das Mikrofon und hielt ihre Beute empor. „Jeder, der es satt hat darauf zu warten, dass niemand mehr kommt, der kann nun mit mir kommen. Verlassen wir diesen fantastischen Ort der Stoffbahnen und betreten den eigentlichen Eispalast.“ Mit diesen Worten stieß sie ihre viel zu unbequemen und absolut ungeeigneten High Heels von sich und schlüpfte in ein Paar Sportschuhe, von denen sie wusste, dass sie passten. Wenn auch nicht zu ihrem Kleid.

„Maya!“, rief Seline wieder. Dieses Mal gelang es ihr, sie festzuhalten. „Was ist nur in dich gefahren?“ Sie war verwirrt, unentschlossen zwischen Entsetzen und Belustigung. Die andere lächelte nur. „Ich werde mich amüsieren“, gab sie zurück. „Dort draußen ist ein Paradies aus Eis. Hast du gesehen, wie die Bäume glitzern? Dort wo das Wasser die Nadeln der Tannen gefroren hat?“ Es war wunderschön. Und sie würde sich amüsieren. Dafür war sie schließlich gekommen. Absurd? Vielleicht. Lächerlich? Auf keinen Fall. Und kein unnötiger Style würde sie davon abhalten, Spaß zu haben.
 

Als sie dieses Mal die Sporthalle verließ, war sie vorbereitet. Zwar waren auch Sportschuhe nicht gerade rutschfest, doch würde sie sich nicht sofort die Füße brechen. Sie schlidderte auf den Weg hinaus, wacklig zunächst, doch dann schon nicht mehr so sehr. Es war wie Schlittschuhlaufen nur ohne Kufen. Man musste sich nur einmal überwinden. Man musste nur einmal ausbrechen und sich erlauben, lächerlich auszusehen. Man musste sich nur einmal gestatten Spaß zu haben. Denn das war alles andere als lächerlich.

Nach und nach kamen auch andere Gäste hinaus, hangelten sich mühevoll vorwärts. Ein paar von ihnen waren ihrem Beispiel gefolgt und hatten die Sportschuhe der Schule an den Füßen, wenige weitere trugen sie in den Händen, unsicher, welches die beste Idee war. Seline hatte noch immer ihre eigenen eleganten Stiefel an, zog jedoch die Decke mit den Schuhen hinter sich her. Sie selbst lief neben dem asphaltierten Weg über die gefrorene Erde und nutzte ihre schmalen Absätze zur Absicherung ihrer Schritte. Erst der ungläubige Blick, den sie dafür von der Größeren erntete, bewirkte, dass auch sie ihre Schuhe tauschte. Maya rannte auf sie zu, lachte, stieß sie dabei fast um und warf ihr bei der Bremsung ihre Haare ins Gesicht. Bevor die Freundin protestieren konnte, hatte sie sie mitgezogen, auf die eisige Straße, den Weg zum Parkplatz hinab. Und sie lachte. Über ihnen brachen sich Sterne einen Weg durch die Wolken, neben ihnen glitzerten die Bäume. Und vor ihnen auf dem Parkplatz standen ihre Freunde. Allen voran Keith, der strahlte, sobald er sie erblickte. Und Maya hatte längst erkannt: Die Party war noch nicht vorbei. Sie fing gerade erst an. Und es konnte noch immer wie ein Ball werden. Ein Traum aus Eis. Ein Traum auf Eis. Und ihre Augen leuchteten wie ein Polarlicht in der Nacht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ixtli
2016-01-02T16:04:10+00:00 02.01.2016 17:04
Sehr schön! Das Beste aus der Situation machen kann nicht jede/r. Maya ist echt sympathisch, vor allem, dass sie schlussendlich sie selbst ist, auch wenn sie zuerst dem gerecht werden möchte, was man von ihr erwartet.
Und den Hausmeister mag ich auch. Der wusste wohl genauso wenig mit dem (wortwörtlichen) Eispalast anzufangen, wie Maya. Ich hoffe, er schlittert ebenfalls draußen den Berg hinab. xD
Von:  Salix
2015-12-13T22:31:59+00:00 13.12.2015 23:31
Erst dachte ich es würde eine typische Highschool-Romanze werden... ist es auch zu Anfang, aber durch das Blitzeis und Mayas Idee wieder nicht. Ich mag Maya, ihren Ideenreichtum und den Charakter insgesamt sehr gerne.
Solch ein Eispalast ist etwas ganz besonderes, schön, dass deine CHaraktere ihn zu würdigen wissen.

LG


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