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Weihe des Siegelschwerts (neu)

von

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Kapitel 8

Mit einem lauten Knall fällt die Tür zu Aarons Gemach hinter uns ins Schloss. Ich bin jedoch noch so baff, dass ich erst ein paar Stufen die Wendeltreppe hinauf wirklich realisiere, was gerade passiert ist. Und dass ich mal gehörig Dampf ablassen muss! "Was zur Hölle sollte das denn grade?!"
 

"Wieso hast du dich zu mir umgedreht?!" verlangt Selet indes zu erfahren. Ihre Stimme überschlägt sich geradezu.
 

"Bitte was?"
 

"Ich gedachte, dich nur auf die Wange zu küssen!"
 

"Oh~, dann ist das wohl mein Fehler," entgegne ich zynisch, "Es ist ja nicht so, als wäre ich irgendwie überrascht gewesen, dass die Prinzessin von Cardighna plötzlich sagt 'Übrigens, das ist mein Geliebter'. Nein, ich hab bloß gedacht, ich spiel bei dieser wahnsinnigen Einlage einfach mal mit!"
 

Die Schamesröte auf ihren Wangen verbreitet sich schnell über ihr gesamtes Gesicht. "Was hätte ich sonst tun sollen?! Er hat uns entdeckt! Jetzt weiß jemand, dass wir im Schloss sind. Ich musste uns irgendwie Zeit verschaffen! Wenigstens wird er jetzt erst mal in seinem Kämmerlein bleiben und schmollen, bevor er irgendjemandem davon erzählt. Das war die beste Ablenkung, die mir in den Sinn kam." Ich weiß selbst nicht ganz, wieso, aber dieser letzte Satz trifft mich am härtesten. Eine Ablenkung. Für mich klingt das eher so, als hätte jemand sich gedacht, dass das nebenbei die perfekte Gelegenheit wäre, einen lästigen Freier abzuservieren. Und wenn man schon mal den Trottel vom Land da hat, warum den da nicht mit einspannen?!
 

Sie bemerkt meine grimmige Miene offenbar, denn sie sagt, "Bitte sieh mich nicht so an. Es war doch nur ein Kuss." Wenn das meine Laune heben soll, hilft es nicht.
 

Nachdem ich einmal tief durchgeatmet habe, frage ich, "Also alles nur gespielt, richtig?" Aus ihrem Gesicht spricht Schmerz. Oder erwidert sie nur meine eigene Schnute?
 

"Ja," ächzt sie nach einer unangenehmen Pause, "Wir kennen uns kaum länger als eine Woche." Ihr Mund bleibt offen, als wolle sie noch etwas hinzufügen – dann schüttelt sie ihren Kopf. "Besinnen wir uns aufs Wesentliche. Wir haben kaum noch genug Zeit, die Bibliothek zu durchsuchen. Irgendwann wird Aaron mit der Sprache herausrücken und dann wird es nicht lange dauern, bis meine Tante und, wer auch immer Cheeta beschworen hat, Wind von unserer Anwesenheit kriegen."
 

"Wie gehen wir also vor?"
 

"Ich bring dich zur Bibliothek, damit du anfangen kannst zu suchen. Indes werde ich Hilfe holen. Es gibt noch ein paar wenige Freunde innerhalb dieser Mauern, auf die ich zählen kann. Ich werde sie zu dir schicken und schauen, ob mein Vater hier ist. Während ich weg bin, darfst du auf keinen Fall mit irgendjemandem zusammentreffen. Zieh keine Aufmerksamkeit auf dich, egal wie!"
 

"Ich weiß, dass ich vorsichtig sein soll! Um Kins Willen, Selet, bin ich für dich einfach nur ein begriffsstutziger Laufbursche?!"
 

Sie zuckt zusammen. "N-nein! Es ist bloß... es ist so früh schon etwas schief gegangen. Aber das ist nicht deine Schuld... es... es tut mir leid, dass ich da reingezogen habe!" Da dreht sie sich plötzlich um und rennt weg. Was ist denn jetzt in sie gefahren?!
 

"Selet, warte!" Doch sie hört nicht, sondern stürmt in einen der Gänge davon, mich an der Treppe zurücklassend. Verflixtes Mädchen! Ich will ihr grade hinterher, doch erstarre, als eine ganz bestimmte Stimme aus meiner Tasche spottet, "Meine Güte, euch zweien zuzusehen, ist so schmerzhaft und unterhaltsam zugleich. Es ist, als würden binnen Sekunden ganze Monate vergehen, so schnell wie ihr alle Beziehungsstadien durchlauft." Verflucht, Sira! Ich hab ganz vergessen, dass sie ja auch da ist.
 

"Wovon redest du da?!"
 

"Ihr solltet wirklich an euren Gesprächen arbeiten. Gleich mal den ersten Streit gehabt, nachdem ihr euch gerade das erste Mal geküsst habt." Oh, also hat sie das auch gesehen. Klasse. Jetzt wird sie nie mehr damit aufhören.
 

Ich seufze, "Sira, wir haben das grade geklärt. Das war gespielt. Sie wollte Aaron nur loswerden."
 

"Das heißt, hätte Halsänn da unten mit ihr gestanden, hätte sie dasselbe getan?"
 

"Was?! Nein! Das hätte doch keiner geglaubt!"
 

Das bringt sie zum Kichern, "Aha, also hast du auch gedacht, dass es echt war! Und jetzt bist du sauer, weil die hübsche Prinzessin das Gegenteil behauptet."
 

"Was- Nein, ich- Du legst auch alles aus, wie es dir passt, was?!"
 

"He, du musst mir anrechnen, dass ich schon lang wusste, dass da zwischen dir und Selet was läuft. Dieser Brief war nicht bloß geschäftlich, wie ich jetzt klar sehe." Sie seufzt. "Schade, dass du so ein Tollpatsch darin bist, diese ganzen großartigen Gelegenheiten zu nutzen, die dir vergönnt sind."
 

Mir reicht's langsam. "Sira," zische ich, "Wenn du mir schon irgendeinen beschissenen Rat geben willst, dann sorg wenigstens mal dafür, dass ich auch im Bilde bin, wovon du überhaupt schwafelst!"
 

"Du hast sie wütend und traurig gemacht, du Hohlkopf! Du bist sie so hart angegangen, dass du sie quasi dazu gebracht hast zu sagen, dass alles nur gelogen war. Und dann hast du dich noch mehr aufgeregt. Das Mädel hat versucht, dir ihr Herz zu öffnen, und so vergeltest du's ihr?"
 

"... Ich... ich mag einfach nicht, wenn man mich ausnutzt. Außerdem war das... mein erster Kuss." Ich weiß einfach, dass ich vor Scham erröte. Götter verdammt.
 

"Wirklich? Hätte ich nicht gedacht, so sehr wie es dich aus dem Konzept gebracht hat."
 

"Halt die Klappe, Sira!" blaffe ich sie an, "Das geht dich doch gar nichts an!"
 

Endlich begreift sie, dass ich genug hab, und sinkt zurück in meine Tasche. Sie murmelt, "... 'Tschuldigung, ich wollte nur helfen. Egal, lass uns lieber rausfinden, wo sie hingerannt ist."
 

"Das wird nicht nötig sein." Ich krieg einen Riesenschreck, als ich aus dem Nichts die Stimme eines jungen Mannes höre. Als hätte er sein gesamtes Leben in ihnen verbracht, schält ein weiß-blonder Ikaner sich aus den Schatten des Korridors. Mist, schon wieder ertappt! Augenblick... er ist nicht bloß ein Ikaner, das ist ein Vas-Ikaner! Sein Gesicht ist fein geschnitten und läuft zum Kinn spitz zu. Seine Wangenknochen zeichnen sich deutlich unter seiner ebenholzfarbenen Haut ab, doch noch auffälliger an ihm sind die gelben Verfärbungen, die seine Wangen hinabfließen und ihn älter wirken lassen, als er in Wahrheit ist. Eine weitere sitzt auf seiner Stirn, geformt wie eine umgekippte Mondsichel und genauso hell wie seine silbernen Augen, die unabdinglich auf mir lasten.
 

"Du scheinst überrascht," stellt er fest. Wie scharfsinnig. "Wenn ich es so bedenke, ich erinnere mich nicht, dich jemals hier gesehen zu haben."
 

"Ähm, nun..." Mist, was sag ich jetzt? "Ich bin... ein Gesandter des Ordens der Armen Ritterschaft zu Doarnb, und, äh, habe eine Nachricht für Aaron... Rosso." Das war der Nachname seines Onkels, richtig? Vermutlich nicht, so misstrauisch wie mich dieser Kerl beäugt.
 

Dann formen seine Lippen jedoch ein belustigtes Lächeln und er lacht, "Selet hatte Recht, du bist schnell im Denken."
 

"Warte, du kennst Selet?"
 

"Hat sie nicht gesagt, sie würde Hilfe holen? Ich bin Dūs, freut mich, deine Bekanntschaft zu machen." Er hält mir seine Hand entgegen. Erst jetzt merke ich, wie eigenartig seine Kleidung doch ist. Sie besteht fast ausschließlich aus dunklen Lederstücken und eng anliegendem, leichtem Tuch. Selbst seine Stiefel sind mit Leder verstärkt und erinnern mich eher an Socken als an Schuhe. Und dann ist da noch sein grauer Wappenrock, auf dem ein großes, kreisförmiges Symbol prangt: ein zusammengerollter Tausendfüßler mit einem schädelförmigen Kopf, in dessen Stirn ein großes Auge sitzt.
 

"Das ist das Emblem der Schattenlosen!" hauche ich überrascht, als ich es erkenne. Fragend starre ich Dūs an. "Aber Selet hat gesagt... es gäbe euch nicht mehr."
 

Er zieht die Hand, die ich nie geschüttelt habe, zurück und bedenkt mich wieder mit einem kühleren Blick, während er sagt, "Praktisch keine. Doch einige wenige konnten den Klauen des Umgedrehten Königs entgehen... und dienen bis heute gewissenhaft dem Königshaus. Denk von mir als dem letzten Überbleibsel unseres einst stolzen und zahlreichen Ordens."
 

"Tut mir leid. Ich wollte nicht- Ich war bloß überrascht, weil-"
 

Zum Glück schneidet er mir das Wort ab, ehe ich mich noch mehr zum Deppen machen kann. Seine gefühlskalte Stimmlage tränkt mich nichtsdestotrotz mit Schuldgefühlen, "Schon gut. Man kann es schließlich nicht ändern, nicht wahr? Und nun folg mir, ich bin beauftragt, dich zur Königlichen Bibliothek zu bringen und dir auf deiner Suche nach der Klinge von Vas zu helfen."
 

Nach nur wenigen Schritten meldet Sira sich jedoch plötzlich zu Wort, "Kannst du vielleicht auch beweisen, dass du Selets Freund bist?" Dūs hält inne und ich kann sehen, wie sich unter seiner Ausrüstung seine Schultern anspannen. Sira hat schon Recht, ganz unverdächtig kommt er mir nicht vor. Und trotzdem wäre ich wieder direkt in die Falle getappt!
 

Ein hinterhältiges Grinsen ist in seinem Lächeln aufgetaucht, als er sich mir zuwendet. Also doch! Er ist wirklich-
 

"Ich hab gehört, die Botschaft, die du Aaron überbracht hast, hat ihm überhaupt nicht gefallen," sagt Dūs da und hält mich grade noch ab, mein Schwert zu ziehen, "Laut Selet warst du aber auch alles andere als begeistert von dem, was sich in seinem Kämmerlein zugetragen hat." Seine Miene hellt in ehrlicher Belustigung auf. "Reicht das, um eure Zweifel zu zerstreuen?"
 

Oh Vas, der weiß also auch über den Kuss Bescheid! Das ist ja fast noch schlimmer als, wenn er ein Lügner gewesen wäre. Etwas nervös um das Thema herumredend, schnaube ich, "Du... du hast mir da grad echt Angst gemacht."
 

"So sind wir Schattenlosen nun mal," spöttelt er, "Es ist eine willkommene Abwechslung, wenn man sonst immer umherschleicht, um jemandem ein Messer in den Rücken zu jagen." Wie er das immer noch schmunzelnd sagt, jagt mir eine Gänsehaut ein. Ob das auch nur ein Witz war?
 

Sein Lächeln verschwindet dann jedoch, als er mich mit einem Mal am Handgelenk packt und in die Schatten zerrt. Ich hab gar nicht bemerkt, wie hastige Schritte von Weitem nahen und jemand im nächsten Moment an uns vorbei eilt. Das war Aaron! Hat wohl genug vom Schmollen, aber dass er so in Eile ist – er schlägt bestimmt Alarm!
 

"Hinterher!" entscheide ich.
 

"Was ist mit der Bib-"
 

"Ich lass mir doch nicht die Chance entgehen rauszufinden, wer hinter alledem steckt!" Wütenden Blicks scheint er mich anzuflehen, mir das noch mal zu überlegen. Dann nickt er jedoch entschlossen und zieht mich mit, als wir Aaron nachjagen. Unter Dūs' kalkulierendem Vorgehen bewegen wir uns von Versteck zu Versteck, doch das bringt nichts. Aaron entfernt sich immer weiter von uns. Dūs scheint jedoch zu wissen, wohin er will.
 

Unsere Verfolgungsjagd endet jäh, gerade als wir uns hinter einer mannshohen, bemalten Vase neben einer reichlich mit Schnitzereien verzierten, schweren Holzpforte versteckt haben. Währenddessen ist Aaron wortwörtlich mit jemandem zusammengestoßen.
 

"He, pass doch auf, wo du hinläufst, Bursche," hallt die verärgerte Stimme einer Frau mittleren Alters durch den Gang.
 

"Ich muss mich für seine Überstürztheit entschuldigen, Daemsel. Er kann manchmal etwas unachtsam dessen sein, was direkt vor seiner Nase ist," entgegnet eine andere Stimme an Aarons Stelle. Sie ist tief und bedacht und gehört zu einem Mann, der so alt wie die Frau zu sein scheint.
 

"Nun, da er und nicht ich auf dem Hosenboden liegt, sollte ich mich wohl nicht beschweren. Lehrt Eurem Neffen aber, sich mehr auf seine Augen zu verlassen."
 

"W-werde ich, Daemsel Ardorakk!" verspricht Aaron, ganz durch den Wind.
 

"Da er offenbar sehr dringend mit Euch reden möchte, Graf Rosso, werde ich die Herren wohl vorerst alleine lassen."
 

"Wir werden unsere Unterredung ein anderes Mal fortführen. Ich wiederhole mich, aber es tut mir wirklich Leid."
 

"Keine Sorge, hab's kaum gemerkt. Die Narben in meinem Gesicht hab ich von ganz anderen Zusammenstößen. Wie auch immer, gehabt Euch wohl."
 

"Ihr ebenso, Daemsel Ardorakk." Eine Weile lang sagt niemand ein Wort und das einzige, was ich höre, ist, wie die Schritte der Frau sich allmählich entfernen. Aarons Onkel... dann muss das Dyonix Rosso sein. Aber wer war die Frau? Daemsel Ardorakk – Selets Mutter? Oder... ihre Tante Petahra.
 

"Darf ich nun wissen," fragt Dyonix indes seinen Neffen mit zunehmend verstimmtem Tonfall, "was in dich gefahren ist?"
 

"Selet... d-die Prinzessin... sie ist hier, Onkel! Im Schloss!"
 

"Was sagst du da?! Aber ich- komm, das besprechen wir besser nicht hier. In mein Arbeitszimmer!" Dūs' Gesicht wird kreidebleich, als er das sagt. Hektisch nickt er zur Tür und, als ich Aarons und Dyonix' Schritte näher kommen höre, verstehe ich endlich, was er hat. Verflucht, die kommen direkt auf uns zu!
 

Dūs schiebt mich geradezu durch die Tür, ehe er selbst leiser als es in unserer Lage möglich sein sollte ins Zimmer schlüpft. Das Arbeitszimmer erweist sich als bloß ein Teil einer gesamten Wohnstube über zwei Stockwerke. Eine steile, hölzerne Treppe führt weiter hinauf, wobei ein wenig des Lichts, das oben durch ein großes Butzenglasfenster hereinfällt, bis in den Eingangsbereich scheint. Ich höre schon, wie die Türklinke hinter uns bereits heruntergedrückt wird, als Dūs mir schnell aufzeigt, mich in der düsteren, kleinen Privatbibliothek hinter dem gewaltigen Schreibtisch zu verstecken. Ich frage mich, ob das jetzt zum Alltag wird für mich.
 

"Heute passiert wirklich alles Schlag auf Schlag," nimmt Dyonix mir die Worte aus dem Mund, als er und Aaron eintreten. Mit einem frustrierten Seufzer lässt er sich auf einen Stuhl fallen, der sich knarzend empört. "Also, wie kommt es, dass du weißt, dass Selet hier ist? Niemand hat mich von ihrer Rückkehr unterrichtet."
 

"Ich kann's mir auch nicht erklären! Sie war plötzlich in meinem Zimmer mit diesem Jungen und-"
 

"Was für ein Junge?"
 

"Er hieß Marin oder so," erzählt Aaron verdrossen, "Ein blonder Ikaner mit 'nem Schwert und angezogen wie ein Landbursche. Sie waren voller Dreck, als ich sie gesehen hab, und die Prinzessin war auch wie eine Reisende angezogen."
 

"Verstehe... sie haben sich irgendwie eingeschlichen. Verdammt! Also, wo sind sie jetzt?"
 

"Äh... Wenn... wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht-"
 

"Was soll das heißen, du weißt es nicht?! Hast du denn nicht versucht, sie irgendwie hinzuhalten, ehe du zu mir gerannt bist?"
 

Man kann geradezu riechen, wie Aaron immer unwohler in seiner Haut wird. Nervös lachend versucht er zu erklären, "N-nun, äh... Ich hab sie... rausgeschmissen und als, äh... als ich wieder mein Zimmer verlassen hab, waren sie... bereits weg."
 

"Bereits?" wiederholt Dyonix skeptisch.
 

"I-ich war ein wenig... weißt du, sie..." Er schnaubt, "Die Prinzessin hat mich abserviert! Sie meinte sogar, sie sei mit diesem... diesem grün-äugigen Mistkerl zusammen!"
 

"Großartig. Und darum hast du sie entwischen lassen, du Dummkopf! Wissen die Götter, wo sie jetzt stecken! Wäre Gustere nicht auf der Jagd, wären wir-" Mitten im Satz bricht Dyonix plötzlich ab, sehr zu Aarons Verwunderung. "W-was ist, Onkel?" fragt er.
 

"Nichts, Aaron. Du bekommst noch eine Chance. Geh und fang diese Turteltäubchen ein. Und vermassel es nicht wieder!"
 

"W-werd ich nicht, Onkel! Ich bin unterwegs!" Er ist jedoch noch nicht ganz durch die Tür. "G-glaubst du, sie sind vielleicht in der Bibliothek? Wegen dieses Buchs, das du erwähnt has-"
 

"Aaron, geh."
 

"Ja, Onkel!" Sobald die Tür ins Schloss fällt, seufzt Dyonix erneut. "Der Nichtsnutz kann alleine ja doch nichts richtig machen." Wieder knirscht der Stuhl. Dyonix scheint ein paar langsame Schritte zu machen. "Nun, da mein unfähiger Neffe nicht mehr hier ist... wie lange gedenkst du noch, dich da zu verstecken, Junge?" Was?! Woher weiß er, dass ich hier bin?! Oder... weiß er es wirklich? Redet er mit Dūs?
 

"Ich weiß, dass du da bist, also zwing mich nicht, dich hinter der Trennwand hervorzuzerren." Aha, also weiß er tatsächlich nichts von meiner Anwesenheit! Oh, aber das wird er bald. Zum richtigen Zeitpunkt.
 

Und der naht. "Dann habt Ihr mich also bemerkt," sagt Dūs, "Pech gehabt."
 

"Warte, du bist nicht-" Ich springe aus meinem Versteck, wobei ich noch schnell ein schweres Buch vom Schreibtisch greife, um es Dyonix über seinen unter braunen Locken verborgenen Hinterkopf zu ziehen. Doch er dreht sich herum und schirmt seinen Kopf mit seinen Armen ab. Während er noch unter dem Schmerz in seinem haarigen Handrücken zusammenzuckt, als er das Buch abfängt, erblicke ich erstmals den vermeintlichen Beschwörer der Untoten: einen bärtigen, gebräunten Mann mit hängenden Schultern und bernsteinfarbenen Augen, die mich aus den Schatten seines hageren, langen Gesichtes anfunkeln. Seine beigen Roben haben etwas Fremdländisches. Ein Illamare womöglich.
 

"Da bist du also," knirscht er hinter geschlossenen Zähnen. Mit Freuden fange ich seinen Faustschlag mit meiner Hand ab.
 

"Liebe Grüße von Cheeta," zische ich und schaue zu, wie sich die Überraschung in seinem Gesicht breitmacht – ehe unter seinem Zwirbelbart plötzlich ein hinterhältiges Grinsen auftaucht. Er fragt mich, "Was für ein Trottel packt die Hand eines Nekromanten?"
 

In meiner Hand explodiert auf einmal der Schmerz. Ich schreie auf und lass ihn los, ehe es noch schlimmer wird. Verflucht, meine Finger spielen verrückt! Sie fühlen sich an, als brechen sie sich jeden Moment selbst! Im nächsten Moment rammtt Dyonix mir seine Schulter in die Brust und raubt mir den Atem. Während ich gegen das Bücherregal geworfen werde, springt Dūs ihn jedoch an, und in einer geübten, flüssigen Bewegung dreht er dem Illamaren den Arm auf den Rücken – und wird zurückgeworfen, ohne dass Dyonix ihn auch nur berührt hat.
 

Er dreht sich wieder zu mir. T-träum ich... oder glühen seine Hände?! Sie sind schwarz geworden und voller Risse, wobei ein pulsierendes, rot-violettes Licht aus ihrem Inneren strahlt. Wie brennende, aufspringende Kohlen. Aber an dem Feuer um seine Hände kann man sicher mehr als sich nur verbrennen!
 

Und ich bin kurz davor, es rauszufinden. Mit einer Rolle seitwärts entkomme ich seinem ersten Faustschlag, doch ein zweiter folgt sogleich, und notgedrungen halte ich das Buch schützend vor mich.
 

Und aus irgendeinem Grund hält Dyonix inne – was mir die Chance gibt, ihm die Füße wegzureißen und Dūs zu Hilfe zu eilen.
 

"Alles in Ordnung?"
 

"Es ist nichts, bloß-"
 

"Passt auf!" ruft Sira, sodass ich gerade noch rechtzeitig Dyonix' flammenumhüllter Faust entgehen kann. Just in diesem Moment öffnet sich die Tür und Dyonix lässt seine Hände blitzschnell zu ihrem normalen Aussehen zurückkehren. Es ist aber bloß Aaron.
 

"Onkel, was ist los?! Ich hab was gehört-" Seine Miene durchwandert verschiedenste Emotionen binnen weniger Atemzüge, ehe sie bei Zorn stehen bleibt, als er mich erkennt. Dūs ist aber längst wieder auf den Beinen und rennt zur Treppe. "Verschwinden wir!" ruft er, während er hinaufhastet. Dyonix will mich festhalten, aber ich schlag ihm mit demm Ellbogen gegens Kinn und folge Dūs.
 

"Was treibt ihr zwei?!" protestiert Sira, "Hier oben sind wir ihnen schutzlos ausgeliefert!"
 

"Sind wir nicht," widerspricht Dūs, auf den Fenstersims steigend und das große Butzenglasfenster öffnend. Eine frische Brise wirbelt durch die Gemächer des Diplomaten. Wo wir bei ihm sind: er und sein Neffe verschwenden keine Zeit, uns zu verfolgen! Ich riskiere einen Blick hinaus. Kin hab Gnade, da geht's viel weiter runter, als ich befürchtet hab!
 

"Dūs," krächze ich, "Du hast hoffentlich nicht vor, was ich denke, dass du vorhast."
 

"Ich muss dich leider enttäuschen."
 

"Das schaffen wir nie!"
 

"Hat der Vierte etwa Höhenangst?"
 

"Ich hab Angst, mir das Genick zu brechen, wenn wir da runterspringen!" Genau da kommen Aaron und Dyonix oben an. Dūs greift mich mit nur einem Arm und hebt mich trotzdem mit Leichtigkeit. "Ich hasse es, wenn ich die halsbrecherischen Einfälle habe," murmelt er und hüpft plötzlich von dem Sims. Kin, Daera, Olphe, Vas, irgendeiner von euch Vier, egal welcher, bitte lass mich jetzt einfach aufwachen! Bring mich zurück zum Orden! Scheißegal, wenn nichts von alledem passiert ist, alles besser als mein sicherer Tod, der immer näher rückt!
 

Während ich bete, die Arme um Dūs geschlungen, spüre ich eine Erschütterung durch seinen Körper gehen und höre die Dachziegel unter seinen Füßen bersten. Doch einer Katze gleich springt er schnell und sicher von Vordach zu Vordach an der Mauer des Bergfrieds hinab. "Gut festhalten, der letzte Sprung ist etwas länger!" schreit er gegen die wütenden Windböen rund um uns an. Eine besonders heftige reißt uns herum und mit einem Mal dreht sich die gesamte Welt, bis ich kaum mehr weiß, wo oben und unten sind. Da sehe ich die gepflasterten Wege des Burgviertels über uns. Scheiße!
 

Doch Dūs berührt ganz kurz die Außenmauer, drückt sich im selben Moment ab und alles, was ich im nächsten Moment noch mitbekomme, ist wie wir perfekt auf unseren Füßen unten aufkommen. Das war jedoch etwas zu viel für mich, denn ich plumpse auf meinen Hosenboden und kralle mich mit zitternden Fingern in die Pflastersteine in der Hoffnung, ich müsse sie nie wieder loslassen. Atemlos schmunzelt Dūs. Obwohl sein rechter Armstulpen und die Haut darunter schlimm zugerichtet sind. Seine Hand ist über und über voll Blut.
 

"Dūs," schnappe ich fassungslos, "deine Hand-"
 

"D-das ist nichts. Mir ging's schon schlechter. Außerdem... ist das bloß ein bisschen Schmerz in meiner Rechten für das Leben des Vierten. Das ist in Ordnung." Er hätte ohne Weiteres seine Hand für mich gelassen. Ich kenn ihn nicht mal eine Stunde und schon würde er sich für mich ins Messer werfen. Nur weil Selet denkt, ich sei der Vierte...
 

Ich stehe auf. "Ist es nicht," sage ich entschieden, "Es ist nicht in Ordnung! Du riskierst dein Leben für jemanden, der selber nicht mal glaubt, der Vierte zu sein. Ich bin bloß Marin, der Stallknecht und Novize aus Doarnb."
 

"Für mich hast du viel eines Vierten. Kämpfst mit einem Nekromanten mit nichts als einem Buch bewaffnet-" Da sieht er, was ich immer noch in den Händen halte. Sira brüllt, "Du hast das Ding behalten?!"
 

"Hab ich wohl," murmle ich, selbst ganz überrascht. "Ach ja! Weil er es nicht verlieren wollte!"
 

"Wie bitte?"
 

"Als er mich vorhin schlagen wollte... hat er plötzlich innegehalten, nur weil ich das Buch hochgehalten habe. Er wollte nicht, dass es zu Schaden kommt."
 

"Da fällt mir ein," erinnert Sira sich, "Dieser Aaron hat auch irgendwas gefaselt von einem Buch aus der Bibliothek. Wenn unser dubioser Diplomat also nicht Angst hatte, keine Gute-Nacht-Geschichten mehr lesen zu können, sollten wir definitiv mal einen Blick in diesen Schinken werfen."
 

"Ja-" Ich stutze. "Oh nein. Die Bücherei! Selet! Sie ist noch im Schloss!"
 

Dūs legt mir eine Hand auf die Schulter. "Beruhig dich," spricht er, "Sie kommt klar. Sie kennt sich tausendmal besser auf der Burg aus als ich – und ist um Einiges weniger risikofreudig. Ich hol sie später ab. Doch nun..." Er guckt die Mauern hinauf, auf denen eine Handvoll Wachmänner durcheinanderlaufen. "Lass uns dein Pferd suchen und zum Tempel von Vas eilen. Wir müssen das Schwert wohl ohne irgendwelche Hinweise finden."
 

Ich nicke und wir machen uns auf zur verabredeten Stelle, wo Halsänn mit Porstellion warten dürfte. Kaum dass wir einander erblicken, zieht er eine fragende Grimasse. Ich lasse ihn aber erst gar nicht zu Wort kommen, "Also, das ist Dūs, ein Freund von Selet. Wir wurden getrennt, haben rausgefunden, dass ein Kerl namens Dyonix hinter ihr her war, und müssen jetzt sofort zum Tempel und die Klinge von Vas holen!"
 

"Dyonix?! Verflucht, das heißt dann... gah, egal! Ist jemand euch auf den Fersen?"
 

"Höchstwahrscheinlich," entgegnet Dūs.
 

"Na schön. Ihr zwei schwingt eure Hintern zum Tempel! Ich halt euch den Rücken frei." In jeder anderen Situation hätte ich protestiert, aber ich schätze, wenigstens einmal sollte ich dem alten Mann seinen Willen lassen. Einfach nur, damit er nicht sein Versprechen einhält, mir den Hals umzudrehen, weil ich Ärger nahezu magisch anziehe. Dūs und ich steigen also in den Sattel und reiten so schnell wie Porstellion uns tragen kann davon.
 

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"Da wären wir," eröffnet Dūs feierlich, als wir schließlich das Tempelgelände erreichen. Der eine Schritt unter dem alten, steinernen Torbogen hindurch, der die Stadt von den Tempelgärten trennt, scheint uns in eine andere Welt zu führen. Das Glockengeläute, die lauten, spielenden Kinder, all der Trubel von Ardsted scheint mit einem Mal verschwunden. Stille beherrscht den grünen Garten, abgesehen vom leisen Rauschen der Baumkronen im Wind. Einer der zwei Tempel, die Loquie der Göttinnen, ist nur wenige Schritte entfernt von uns, während das andere Gebäude, der Tempel von Vas, am Ende der niedrigen Treppen zum Osten hin über den mehreren Ebenen des Tempelgeländes aufragt.
 

Auf unserem Weg dorthin passieren wir einige große Marmorblöcke, in welche Verse aus den Disziplinen eingemeißelt worden sind, und mehrere niedrige, rechteckige Zisternen, in denen klares Wasser im Licht der untergehenden Sonne funkelt. Ich fühle mich seltsam geborgen. Als ob ich, wenn ich die Augen schlösse, den Wald von Welsdorf riechen und das Rattern von Garts Mühle und das Klacken hölzerner Übungsschwerter vor dem Orden hören könnte. Liegt das bloß an der Ruhe dieses Ortes? Oder wollten die Götter, dass wir uns wie zuhause fühlen, wenn wir herkommen, um sie zu würdigen?
 

Oder ist es gar ein Privileg, das Vas nur seinem Auserwähltem, dem Vierten, vorbehalten hat? Das erinnert mich an die Geschichten über die bescheidene Ellaea und wie, als ihr die Klinge überreicht wurde, Vas zu ihr gesagt hat, 'Fürchte nicht das Schicksal, mit welchem ich dich geschlagen, meine Auserwählte. Sei dir gewiss, dass ich nichts als gute Pläne für dich habe und dich nicht hungern oder Durst verspüren lasse auf all den Straßen, die ich dir bereitet. Weder Krankheit noch Schmerz soll über dich kommen, kein Biest nagen an deinem Fleisch, so ich über dich wachen werde, wo auch immer du deine Schritte setzt oder dein Lager für die Nacht bereitest. Diebe sollen dich meiden, die Drei sich fürchten vor dir, habe ich dich doch als meine Erwählte gezeichnet. Du bist die Vierte.'
 

Kaum, dass ich die Worte aus den Disziplinen im Geiste aufgesagt habe, erreichen wir den Eingang zum Tempel, ein großes Portal aus Holz und Bronze. Die graubraune Fassade ist verziert mit meisterhaft gemeißelten Lisenen, welche die Namen und Antlitze zahlreicher Vierter tragen. Fast augenblicklich halte ich Ausschau nach einem ganz bestimmten.
 

"Suchst du Skender Maresa?" frägt Dūs, als er meine suchenden Blicke bemerkt.
 

"Ja," entgegne ich etwas verwundert, "Woher wusstest du das?"
 

"Er kam auch aus Doarnb, oder?" Er schenkt mir ein warmes Lächeln. "Obwohl es so aussieht, als wäre er nicht mehr der einzige Vierte aus diesem Eck der Welt."
 

Mir gefällt sein Blick nicht. Ich erwidere, "Noch steht nichts fest. Ich hab Selet nur versprochen, mitzuspielen, bis wir einen finden, der besser für die Rolle des Prophezeiten herhalten kann." Dūs zuckt mit den Achseln. Mit spöttischem Unterton sagt er, "Dann tritt ein, du Ersatz-Vierter. Die Klinge von Vas wird zu lange auf einen neuen Besitzer gewartet haben, um großartige Ansprüche zu stellen."
 

"Warum nimmst du das Schwert dann nicht, wenn das so unwichtig ist?" blaffe ich ihn an. Er zuckt tatsächlich zusammen.
 

"Glaub mir," knurrt er, "Du würdest nicht wollen, dass ich die Klinge ergreife. Nun geh. Ich werde Selet herbringen, während du suchst." Ein Wermutstropfen scheint in seine Augen gefallen zu sein, als er anfügt, "Viel Glück." Er geht ab.
 

Ein komischer Kerl. Oder ist das bloß eine weitere Eigenheit der Schattenlosen? Ich verschwende keine weiteren Gedanken darüber und trete in den Tempel ein. Es ist seltsam leer im Inneren. Meine Schritte hallen laut durch die große Halle, in deren Höhen verschnörkelte Bögen aus den massiven Steinpfeilern sprießen wie Baumkronen. Die Emporen sind in bunte Farben getränkt von dem Licht, das durch die großen, spitz zulaufenden Buntglasfenster fällt, die allerhand Momente aus der langen Geschichte des Kriegs der Drei abbilden. Zum Beispiel die Invasion Sakons, des Dreisten, während der Ersten Dämmerung. Die Flutkatastrophe am Eris-See durch Rokesh, den Glutfürsten. Der Tod des letzten ikanischen Kaisers durch den Umgedrehten König.
 

Erst, als Sira zu mir spricht, merke ich, wie lange ich die Fenster angestarrt habe, "He, kehr mal ins Hier und Jetzt zurück! Wir müssen die Klinge finden! Übers Führen machen wir uns Gedanken, wenn's soweit ist, ja?"
 

"Hast ja Recht. Ich bin bloß... ein bisschen überwältigt von alledem. Selet will, dass ich mich ans Ende dieser Reihe von Königen und Rittern und Helden stelle. Dabei bin ich bloß ein Novize."
 

"Eh, du wärst nicht der erste weniger imposante Vierte." Meint sie das jetzt ermutigend oder herabsetzend? Achselzuckend wende ich mich wieder der Suche zu, doch wenig im Tempel erweckt den Eindruck eines Verstecks. Zeit, Dyonix' Buch zu befragen.
 

"Von den... heimischen Blumen und Kräutern Cardighnas," lese ich verwirrt den Titel vor. "Ist das 'n Scherz?!" Hab ich mir womöglich nur eingebildet, dass Dyonix sich selbst davon abgehalten hat, das Buch zu beschädigen? Oder hab ich das richtige gar verloren und aus Versehen ein anderes mitgenommen? "Das... das kann doch nicht sein. Das sind bloß Blumen! Dutzende und Aberdutzende, Zeichnungen, Wirkung, Namen, wo man sie findet!" Wütend blättere ich das gesamte Buch durch.
 

Da erspürt mein Daumen plötzlich eine ganz bestimmte Seite. Sie ist irgendwie gar nicht richtig in den Buchblock eingefügt, ragt minimal hervor – doch es fällt mir dennoch auf. Die Handschrift sieht auch ein wenig anders aus. Der Eintrag trägt den Titel Ensys Des Rubikundys und zeigt eine stilisierte Darstellung eines hohen, roten Strauchs, dessen Blätter zum Himmel zeigen wie... wie Klingen!
 

"Sira, kannst du zufällig etwas Cironesisch?"
 

"Hm? Nun, ich hab ein bisschen aufgeschnappt hier und da."
 

"Was heißt Ensys Des Rubikundys?"
 

"Wir suchen nach der Klinge und könnten jeden Moment von Dyonix' Schergen eingeholt werden und du fragst mich nach dem Namen irgendeines Gewächs?!"
 

"Bitte, Sira, sag mir einfach, was es heißt! Das könnte ein Hinweis sein."
 

"Nun... Ensys bedeutet Schwert und Des- warte! Des roten Gottes Schwert! Die Klinge von Vas!" Damit bestätigt sich mein Verdacht: "Die Seite ist nachträglich in das Buch eingefügt worden und wurde so gestaltet, dass sie zum Rest passt. Und da alle Einträge eine genaue Beschreibung des Fundortes beinhalten, muss das genau der Hinweis sein, den wir gesucht haben! Schauen wir mal... Natürlicher Fundort."
 

Ich runzle die Stirn. "Diese Blume ist dergestalt rar, dass sie nur gefunden werden kann, wenn man ihrer Schönheit ansichtig ist im Antlitz Vas' aufgehenden Blickes im Westen. Glück auf dem, der wagt, sie aus ihrem geborgenen Hain zu pflücken."
 

"Die wollen wirklich nicht, dass jemand dieses Schwert findet, der nicht dazu bestimmt ist, was?" Sira ächzt, "Das macht doch keinen Sinn! Vas' aufgehender Blick im Westen... die Sonne geht doch im Osten auf!"
 

"Vermutlich ist was anderes gemeint... oder vielleicht ist da eine versteckte Bedeutung in den Worten." Wenn ich nur etwas besser sehen könnte, doch mit dem Zwielicht der einbrechenden Dämmerung wird das immer schwieriger. Und diese blöden Buntglasfenster und das bunte Licht, das durch sie auf die Seiten fällt, hilft auch nicht weiter!
 

"Moment. Zwielicht... die Sonne... die Fenster!" War da nicht eines über die Erste Dämmerung, den ersten der Zwielichtskriege? Aber natürlich! Sakon, der Dreiste, wie er aus Ta'Mih im Osten einreitet, und das Sonnenlicht von seinem kahlen Hinterkopf reflektiert wird. Und das Fenster zeigt aber nach Westen. "Das muss Vas' aufgehender Blick im Westen sein!"
 

"Wie? He, stimmt, das könnte sein!"
 

"Jetzt muss ich nur noch... der Blume Schönheit darin ansichtig werden. Was auch immer das heißt."
 

"Nun, sie haben ja auch nicht die echte Sonne gemeint, also vielleicht reden sie auch nicht vom echten Schwert, wenn sie über seine Schönheit schreiben?" überlegt Sira. "Halt mal die Seite mit dem Bild der Schwertblume so, dass das Licht sie trifft!" Getan wie gedacht – und sie hat den richtigen Riecher! Im Inneren des Papiers ist ein zweites Bild versteckt! Und es ähnelt dem Fenster.
 

Ich erlaube mir ein zufriedenes Lächeln, als ich die Seite und das Fenster richtig zueinander anordne und mit dem letzten Hinweis belohnt werde: Sakon hält nicht länger seine Waffe gen Himmel, sondern eine schwere Steinplatte... so wie die in den Tempelwänden! Ich verschwende keine Zeit und eile hinauf auf die Empore und falle vor dem Fenster auf die Knie. Die Platte darunter trägt genau dasselbe Muster wie in der versteckten Zeichnung. Mal sehen, ob ich sie herausnehmen kann.
 

Es braucht etwas Rütteln und ich klemm mir fast die Finger in den engen Schlitzen zwischen den Platten ein, aber schließlich gelingt es mir, einen dunklen Hohlraum in der Wand freizulegen. Boah, ist das aufregend! Vorsichtig greife ich in die Dunkelheit. Sobald ich das kalte Metall eines Hefts spüre, greife ich zu und ziehe meinen Fund heraus.
 

Zum Vorschein kommt ein eingestaubtes Bastardschwert. Doch ganz ungeachtet der Zeit, die es in diesem Versteck zugebracht haben muss, ist die Klinge nach wie vor strahlend blau, als sei sie gerade erst gefertigt worden. Der silberne Griff ist in dünne, rote Lederstreifen eingewickelt, während die Parierstange mit Gold ummantelt ist und an eine strahlende Sonne erinnert, von der die Klinge herabragt wie die Vergeltung des Himmels. Ich kann nicht glauben, dass ich es in den Händen halte! Das Schwert des Vierten. Die Klinge von Vas. Der Drei Verderben, die einzige Waffe, die sie mit Sicherheit töten kann.
 

"Damit hätten wir endlich eine Chance gegen den Umgedrehten König, sollte er es wirklich wagen, wieder aufzutauchen," frohlocke ich, indem ich aufstehe und nach unten gehe. "Warte nur, bis Selet das sieht!"
 

"Das werden wir ja sehen, du Drecksack." Da betritt Aaron den Tempel. Seine Schritte sind langsam und bedrohlich, seine Hände fest zu Fäusten geballt. Irgendetwas an seiner Ausstrahlung ist anders als vorhin. "Du wirst sie nicht mehr beeindrucken, wenn ich mit dir fertig bin," zischt er, wobei wütende Zuckungen über sein Gesicht flackern.
 

"Was machst du hier?! Halsänn wollte doch-"
 

"Dieser fette Söldner, der sich mir in den Weg gestellt hat? Oh, um den hab ich mich gekümmert."
 

"Was hast du mit ihm gemacht?!"
 

"Ich hab ihm gezeigt, wie verdammt angepisst ich heute bin. Mein Onkel ist so wütend auf mich nur wegen dir... und dann hast du auch noch Selet gegen mich aufgebracht! Dafür wirst du bezahlen!"
 

Ich kann diesen Idioten nicht ernst nehmen: "Ich weiß nicht, ob du's weißt, aber ich hab die verdammte Klinge von Vas in der Hand und du kommst hier mit bloßen Fäusten an. Willst du die Abreibung wirklich so sehr, nur weil Selet dich nicht mag?"
 

Ich hätte meine Worte vielleicht überdenken sollen, doch jetzt ist es zu spät. Wie ein wütender Affe springt er mich an und schlägt mir ins Gesicht. Ich bekomme mein eigenes Blut zu schmecken, weil irgendetwas in meinem Mund platzt, als ich benommen zurücktorkele. Soll mich Olphe holen, wenn ich mich davon beeindrucken lasse! Aaron ist nicht wie Cheeta! Er ist nichts weiter als ein anderer Korogra – und mit denen kann ich gut genug umgehen!
 

Ich fange seinen zweiten Schlag mit meiner Hand ab, doch Aaron springt weg, ehe ich es ihm mit meinen Fäusten heimzahlen kann. Dumm nur, dass ich auch noch ein Schwert habe mit einer wesentlich höheren Reichweite als seine Angriffe. Und dem entkommt er nicht! Tränen steigen in seine Augen, winzige, glitzernde Tröpfchen, die bis zum Anschlag mit dem Schmerz gefüllt sind, den er spüren muss, als die Klinge ihm den Bauch aufschlitzt.
 

Ein Auge fest verschlossen, das andere weit aufgerissen starrt er mich an, als er zu Boden geht. Mit den Händen versucht er krampfhaft, die klaffende, blutende Wunde in seiner Körpermitte zuzuhalten. Mit einem Mal kann ich meine Finger nicht mehr spüren und das Blut in meinem Mund verwandelt sich in bittere Galle. W... was zur Hölle ist in mich gefahren?! Ich hab ihn einfach so aufgeschnitten. Kin verdammt, dieses Arschloch ist doch kaum älter als ich! Er verblutet jeden Moment!
 

"Scheiße, scheiße, scheiße," fluche ich und lasse mich auf den Boden fallen, um Aaron an den Schultern zu packen und zu sehen, wie bald ich einsehen muss, gerade jemandes Tod verantwortet zu haben. Ich muss ihm helfen-
 

Da drücken sich seine Fingerknöchel hart in mein Kinn und befördern mich zu Boden. Er steht derweilen auf, als sei nicht das Geringste geschehen. Und es stimmt! I-ich hätte schwören können, dass ihm grad eben noch fast die Gedärme rausgerutscht wären, aber jetzt ist da unter der blutgetränkten, zerrissenen Seide nicht mehr als eine leichte Rötung!
 

"Scheiße, tat das weh!" bellt er wütend, "Das wirst du büßen!"
 

Ich kämpfe mich wieder hoch und frage, "Was für eine Ausgeburt bist du?! Ein weiterer Untoter?!" Er antwortet mir mit dem bösartigsten Lächeln, das ich jemals im Gesicht eines Burschen seines Alters gesehen habe. "Nei~n," spricht er schadenfroh, "Ich bin niemandes Marionette." Die Adern auf seinen Handrücken beginnen allmählich zu leuchten. Oh nein. Blaue Funken erscheinen rund um seine Finger, die langsam so dunkel werden wie Kohlestücke. "Ich bin wenn dann der Strippenzieher!"
 

Meine Beine reagieren schneller als ich selbst realisiere, dass er längst wieder angreift. Eine Peitsche aus blauem Feuer regnet dort nieder, wo ich gerade noch gestanden habe. Also ist er ein Nekromant, genau wie sein Onkel. Und genauso versessen drauf, mir den Garaus zu machen. Mist, er greift wieder an!
 

"Das Schwert, Marin!" ruft Sira mir zu, "Parier mit der Klinge!" Mir bleibt kaum etwas anderes übrig, also halte ich das Schwert über mich, wo der brennende Strang gerade hinabsaust. Kaum berühren die Flammen die Schneide auch nur, verschwinden sie jedoch. Aaron und ich sind gleichermaßen verdutzt.
 

Ein Lächeln gleitet über meine Züge. "Es stimmt also," wird mir klar, "Das ist wirklich ein heiliges Schwert. Und so werde ich ganz bestimmt nicht gegen dich verlieren!"
 

"Versuch doch, mich zu fällen!" spottet Aaron, aber sein Gesicht straft seine Überheblichkeit Lügen. Er ist lang nicht mehr so selbstsicher.
 

"Aber er hat Recht," murmle ich zu mir selbst, "Selbst wenn ich ihn treffe, macht es ihm kaum etwas aus."
 

Sira hat mich gehört und erklärt, "Das sind seine Nekromantenkräfte. Er heilt sich, wann immer du ihn erwischst. Aber wenn- Vorsicht!" Mit einem schnellen Sprung zur Seite weiche ich aus, als Aaron sich mir entgegenwirft, doch keinen Sekundenbruchteil später hat er seine Peitsche wieder zur Hand und schwingt sie nach mir. Ich hechte unter ihr hinweg, hinaus aus dem Tempel. Die Luft draußen ist so schwül, dass meine hastigen Atemzüge mich nur noch mehr anstrengen. Ich rapple mich auf und sehe zu, dass ich Land gewinne.
 

Sira fragt mich währenddessen, "Hast du schon mal von Seelensteinen gehört?"
 

"Seelensteine? Sira, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt-"
 

"Das ist, was er benutzt, um seine Zauber zu wirken! Nekromanten brauchen bestimmte Juwelen für ihre Magie. Nimm ihm den Stein ab und er ist nichts weiter als ein kleiner Rüpel!"
 

"Als ob ich das zuließe!" brüllt Aaron da. Mit einer raschen Armbewegung wirft er eine Sichel blauen Feuers nach mir, durch die die Klinge von Vas jedoch ohne Weiteres schneidet. Lediglich zwei Querschläger graben sich hinter mir in die Erde. Wo sie aufkommen, verdorrt das Gras fast augenblicklich. Doch in der Zeit, während der ich das beobachtet habe, rennt Aaron wieder auf mich zu. Nur noch eine Armlänge trennt uns. Ehe er mich angreifen kann, steche ich mit meinem Schwert in seine Schulter und mit einem ohrenbetäubenden Schrei springt er zurück. Die Wunde schließt sich jedoch bereits wieder.
 

Nun, wenigstens weiß ich, dass er trotz Allem noch den Schmerz spürt. Hoffentlich wird er ohnmächtig davon, ehe mir die Puste ausgeht. Nein, das ist zu riskant. Ich muss aufhören wegzulaufen und angreifen, solange er sich heilt! Während er sich noch die lädierte Schulter hält, stürze ich mich auf ihn, doch der Mistkerl hat sich schneller erholt als erhofft und heißt mich mit einem weiteren Peitschenschlag willkommen. Nichts, was die Klinge nicht aufhalten kann!
 

Sein Fuß, der sich in meinen Magen bohrt, ist da eine ganz andere Sache. Ich kämpfe die aufkommende Übelkeit nieder, während sich mein Rücken unter Schmerzen krümmt und ich atemlos versuche, aus Aarons Reichweite zu gelangen. Donnerhall begleitet die plötzliche Kälte, die über meine Wange streichelt, als seine Attacke um Haaresbreite an mir vorbeischlägt. Verzweifelt schwinge ich mein Schwert mit meiner Rechten und mit aller Kraft auf ihn zu. Da fängt er mich am Handgelenk ab und im nächsten Augenblick scheint mein Arm von innen heraus aufgefressen zu werden. Als fege ein Feuerschwall durch meine Adern, während Tausende kleiner Hände mir die Haut abziehen.
 

Ich muss das Schwert loslassen! Und Aaron lässt mich. Er lacht so laut, dass halb Ardsted es hören muss. "Ha! Du Volltrottel hast es mir einfach überlassen! Du bist tot!" grölt er, zu seinem letzten Schlag ausholend. Seine Faust gräbt sich hart in meine Handfläche. Ansonsten ist da jedoch kein Schmerz. Kein blaues Feuer. Seine Hand ist wieder völlig normal.
 

Erschrocken starrt Aaron auf meine Linke, in der ich sein Amulet mit dem violetten Edelstein halte. Ich kann nicht anders, als ihn schief anzulächeln. "Sicher, dass ich hier der Volltrottel bin? Ich hab dir gar nichts überlassen – sondern nur getauscht." Er ist so überrascht, dass er nichts dagegen tut, als ich seine Hand beiseite werfe und ihm mit all meiner Kraft meinen Ellbogen ins Gesicht ramme. Ich verspüre eine gewisse Genugtuung, als ich merke, wie seine Nase nachgibt. Ein Blitz zuckt über Ardsted herab, als Aaron das Bewusstsein verliert und umkippt. Das hast du Drecksack dir verdient, denke ich während ich das Amulett wegschmeiße und die Klinge von Vas zurückhole.
 

Da flitzt Sira schon um mich herum, mich scheltend, "Bei Olphe, Marin! Ich krieg noch einen Herzinfarkt von deinen überstürzten Aktionen! Kannst du von Glück reden, dass das in seinem Anhänger wirklich sein Seelenstein war!"
 

"Orson sagt immer: manchmal im Kampf kommt es eben auf Instinkt an. Und mein Instinkt hat mir gesagt, dass Aaron zu der Art Idiot gehört, die ihren Seelenstein am offensichtlichsten Ort überhaupt aufbewahrt."
 

"Nun, da hat dein Instinkt wohl ausnahmsweise Recht behalten." Da wird ihr Gesicht anzüglich. "Nu~n, so langsam versteh ich, dass Selet eher auf dich steht als auf ihn. Bestimmt gibt's noch ein Küsschen, wenn sie rausfindet, dass wir die Klinge haben."
 

"Fängst du schon wieder damit an...?" seufze ich. "Komm, hauen wir ab und finden raus, wo sie und Dūs bleiben."
 

"Äh, und was ist mit deinem Nebenbuhler?" Mein Magen dreht sich fast um, als ich mich umdrehe und Aarons blutiges, regungsloses Gesicht sehe. "Soll er meinetwegen zur Hölle fahren," erkläre ich Sira, "Aber ich werde ihn nicht töten. Wenn ich wirklich der Vierte bin... dann sind die Drei die einzigen, denen ich das Leben nehmen sollte." Und bei den Göttern, ich hoffe, selbst darum herumzukommen.
 

Als ich gehen möchte, packt irgendetwas meine Beine und zieht meine Füße weg, sodass ich der Länge nach ins Gras falle. Mist, der ist schon wieder wach und wohlauf?! Nicht ganz, so wie sich Aarons angestrengte, stöhnende Stimme anhört, "Urgh... du wirst... nicht alles ruinieren... wofür mein Onkel gearbeitet hat. Das lass ich nicht zu!"
 

Das wollen wir ja sehen, wenn ich ihm gegen den Kopf trete! Doch mein Fuß tritt ins Leere, denn Aaron ist bereits auf den Beinen. Ich kann mich bloß auf den Rücken drehe, ehe er sich auf mich wirft. Ich zähle gar nicht, wie oft er versucht, mir ins Gesicht zu schlagen, und wie oft ich es ihm heimzahlen will, während wir miteinander ringend über das Tempelgelände kullern, bis wir an einen der großen Marmorblöcke prallen. Plötzlich lässt Aaron mich los.
 

Als mir klar wird, wieso, ist es längst zu spät. Mit der Klinge von Vas in den Händen steht er über mir, das Schwert nach unten gerichtet für einen einzigen, letzten Stich, der mein Ende bedeuten wird. Inmitten all des Bluts und der Schwellungen in seinem Gesicht sehe ich Tränen über seine Wangen laufen.
 

"Versuch mal, ein Held zu sein," schreit er, das Schwert plötzlich hochhebend, "ohne das!" Es donnert wieder, doch selbst das übertönt nicht das durchdringende Klirren von berstendem Stahl, als Aaron die Klinge mit voller Wucht auf den Stein niedersausen lässt. Alles geschieht plötzlich so langsam, dass ich die Umdrehungen der abgebrochenen Klinge in der Luft zählen kann, während das Metall die letzten Sonnenstrahlen, welche die schwarze Wolkendecke durchdringen, einfängt. Eins. Zwei. Drei. Vier. Dann bohrt sich die Klinge neben mir ins Erdreich und Aaron wirft das Heft mit dem abgebrochenen Klingensockel beiseite und läuft davon.
 

Dann prasselt der Regen auf mich nieder.



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