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Weihe des Siegelschwerts (neu)

von

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Kapitel 4

Was ich grade noch für den Boden gehalten habe, schwärmt erschrocken auseinander, als ich das knorrige Geäst vor mir durchtrenne. Ich unterdrücke einen atemlosen Schrei, als der Schlamm unter mir hunderte kleiner, vielbeiniger Kreaturen entblößt, die schnell Schutz suchen vor dem Licht, das mein Schwert in ihr dunkles, morastiges Reich wirft. Mir gefällt es genauso wenig, sie zu stören, wie ihnen, aber was bleibt mir anderes übrig? Wenn ich das hier zu Ende bringen will, muss ich mich ihm stellen. Dem Käferkönig.
 

Er ist nicht weit entfernt, dreht sich herum, als er merkt, wie ich seinen Palast aus verrotteten, rindenvertäfelten Säulen betrete, über denen ein violetter Himmel thront, durchsetzt von Braun- und Grüntönen der aufgedunsenen, nassen Blätter über uns. Die Luft ist eisig. Sein riesiges Gesicht, das fast seinen gesamten grotesken, flachen Körper einnimmt, beäugt mich aus dunklen Höhlen, die umgeben sind von gelblichen Knochen, und die Ranken, die aus den Seiten seines Kopfes sprießen, und die er mehr schlecht als recht als Arme und Beine gebraucht, wabern nervös umher, als er mich erkennt. Doch dann beruhigt er sich wieder ein wenig.
 

"Was willst du hier, Ikaner? Haben wir uns letztes Mal nicht genug unterhalten?"
 

"Ich hab schon genug gehabt, nachdem ich bloß einmal deine grässliche Stimme gehört hab. Obwohl ich damals keine Ahnung hatte, wie abstoßend du wirklich aussiehst," erwidere ich. Ich bin dies mal nicht in Stimmung für seine Spielchen. Das hier ist todernst.
 

"Du bist ziemlich dreist," zischt er, während sich seine Augen zu kleinen, gelben Schlitzen verengen. Mir fällt der dünne, silberne Faden auf, der aus seinem Kopf kommt und bis in die toten Baumkronen reicht. Als er seinen Leib damit aufrichtet, ist er größer als ich. "Ungefragt in mein Heim eindringen... mich so zu beleidigen..."
 

"Ich tu ganz andere Sachen, wenn du Griselda auch nur ein Haar gekrümmt hast."
 

"Du glaubst, sie sei hier? Wieso denn da-" Mir reicht's mit den Lügen dieses Drecksacks! Ohne zu zögern, hebe ich mein Schwert und lasse es tief in eine dieser dürren, knöchern aussehenden Gliedmaßen fahren. Seine Worte gehen nahtlos in einen schrillen, durchdringenden Schrei über, der klingt wie mein Name, als grünes Blut aus der Wunde spritzt.
 

"Wo hältst du sie gefangen?!" schreie ich das Monstrum an, doch es hat ebenso keine Lust, noch weiterzureden. Stattdessen wirft es sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf mich. Dumme Idee, ich verarbeite dich einfach zu Kleinholz! Doch ich unterschätze den Käferkönig. Er ist schneller als ich dachte, prallt gegen mich und wirft mich in den überraschend trockenen und weichen Morast. Mein Schwert wird von Dunkelheit verschluckt, während ich auf meinem Rücken lande und der Käferkönig mich mit all seiner Masse niederdrückt. Verflucht! Ich muss weg von ihm!
 

Doch es ist zwecklos, ich bin wie festgenagelt. Und obwohl er hässlich und feige wie Hölle ist, lässt er sich auch nicht von meinen Händen wegdrücken, krabbelt stattdessen weiter an meiner Brust empor. Die spitzen Beißer am unteren Ende seines Gesichts deuten genau auf meine Augen. Er spottet, "Steh auf! Na los, steh schon auf! Es ist schon hell draußen! Hör auf zu schlafen!" Er hat den Verstand verloren, denke ich, verzweifelt versuchend, meine Augen abzuwenden. Verschwendete Zeit, er kommt noch näher und seine Mundklauen fahren plötzlich unter meine Augenlider, ziehen sie auseinander-
 

"Wirst du wohl endlich aufwachen, du Dickschädel?!" Erschrocken fahre ich aus dem Schlaf hoch, als ich die winzigen Spitzen an meinen Lidern ziehen spüre. Als ich mich aufsetze, bin ich plötzlich nirgends im Sumpf oder dem Reich des Käferkönigs. Stattdessen fällt eine Sira von meiner Stirn hinab in meinen Schoß, während es rund um uns herum Heu zu regnen scheint. E... ein Stall? Oh, ja, der Stall! Stimmt, der Bauernhof und das alles... jetzt erinnere ich mich.
 

"Kins Güte, Sira, erschrick mich nie wieder so! Du willst gar nicht wissen, was ich dachte, was grade passiert."
 

"Dass ich dich faulen Sack aufwecke? Nun steh schon endlich auf! Es ist eine Katastrophe! Griselda und Halsänn sind bereits weg und-"
 

"Was?!" Jetzt bin ich wach und springe auch sogleich von meiner bescheidenen Bettstatt auf, um mir schnell noch die losen Halme aus den Kleidern und meinem Haar zu klopfen. "Verdammt, ich hab sie nicht mal fragen können, ob sie von Doarnb gekommen sind oder jemanden von dort getroffen haben! Schnell, wir müssen hinter ihnen her!" Ich eile, will Porstellions Zügel greifen und hinausrennen – da merke ich, dass etwas nicht stimmt. Wo ist er? Porstellion ist weg! Hat sich der blöde Gaul etwa aus dem Staub gemacht?! "Wie kann das sein?! Ich hab ihn doch hier angebunden!"
 

"Das ist es, was ich dir die ganze Zeit versuche zu sagen, du Strohbirne!" schnaubt Sira, "Er ist gestohlen worden!"
 

"Gestohlen?! Aber von w-" Die Worte bleiben in meinem Hals stecken. Oh nein. Nein, nein, nein, ich hab eine richtig schlimme Vorahnung. "Sag... sag nicht, es waren..."
 

"Gut," meint Sira mit einem Schulterzucken und einer fast komödiantischen, beleidigten Schnute, "Dann werd' ich dir nicht sagen, dass es Griselda und Halsänn waren." Einen Moment lang geben meine Beine nach. Ich klammer mich an den Pfosten, und sobald ich endlich wieder stehen kann, lehne ich mich trotzdem noch an ihn und starre niedergeschlagen zu Boden.
 

"Von allen Göttern verdammt noch mal!" schreie ich, "Das kann doch nicht wahr sein! Sie waren unser einzige Spur... und die verpissen sich mit meinem Pferd! So eine Scheiße!" Mit aller Wucht lasse ich meinen Fuß gegen den Pfosten schnellen, ignoriere den aufflammenden Schmerz. "Das war's! Es ist vorbei! Ich könnte genauso gut wieder zum Orden zurückgehen – oh warte, nein, kann ich nicht! Auf keinen Fall nehmen die einen Versager wie mich wieder auf! Einen schläfrigen, tollpatschigen Idioten, der sich sein Pferd am allerersten Tag klauen lässt, den er mal nicht zuhause ist! Die anderen werden sich totlachen..."
 

"He, du kannst doch jetzt nicht so einfach aufgeben," sagt Sira da. Ich blicke auf und sie ungläubig an. Solche Worte aus ihrem Munde? "Dann haben sie halt dein Pferd geklaut. Na und, wir holen es uns einfach zurück! Und dann werden wir dieses Pack nicht eher ziehen lassen, bis sie uns nicht alles erzählt haben werden, was wir wissen wollen! Alles klar?" Einen Moment lang bin ich wirklich sprachlos. Ausgerechnet Sira... ist so optimistisch?
 

"... Hast wohl Recht," murmle ich schließlich. Dann ergänze ich, "Danke, Sira."
 

"Hätte ich dich geweckt, nur um dir zu sagen, dass du nach Hause gehen kannst?" Irgendwie muss ich jetzt schmunzeln. Da bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie jemand anders die Scheune betritt: ein dickbäuchiger Mann mittleren Alters mit lichtem Haar und einem Bart, welcher seinen Mund genauso gut verbirgt wie seine Laune. Schätze mal, das ist der Besitzer dieses Stalls.
 

"Ähm... g-guten Morgen," grüße ich ungewiss, was mich gleich erwartet.
 

"Morgen," erwidert er gedämpft durch seinen Bart. Unangenehme Stille kehrt ein, bis Sira plötzlich meine Wange kneift. Au! Oh, stimmt, das hätte ich fast vergessen, "Ähem... danke, dass ich die Nacht hier verbringen durfte. W... wieviel schulde ich Euch?"
 

"Nichts, ist alles schon erledigt," entgegnet er. Wie bitte? Bevor ich aber nachfragen kann, reicht er mir auf einmal ein kleines Stück Pergament. "Von dem Mädchen," beantwortet er meine unausgesprochene Frage, während ich ihn verdutzt mustere. Soll das ein Witz sein? Nun, finden wir's raus und lesen, was auf dem Fetzen steht...
 

Hallo, Marin,
 

Tut uns Leid wegen des Pferdes. Wir hatten unsere Gründe. Falls du dies lesen kannst, triff dich mit mir in Keslynth. Ich werde dort alles erklären. Bring Sira mit.
 

Gezeichnet, Griselda
 

Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Am wenigsten, wie mich das beruhigen soll! Wir hatten unsere Gründe am Arsch! Warum würde sie mir das schreiben? Und wieso erfahr ich das nur, wenn ich lesen kann?! Wobei... Gart würde vielleicht Augen machen, wenn ich ihm erzähle, dass ein Mädchen sich mit mir treffen wollte, bloß weil ich lesen kann. Aber vielleicht sollte ich den Teil weglassen, in dem sie vorher mein Pferd klaut. Und eventuell auch den blöden Gaul holen, ehe ich nach Welsdorf zurückkehre, um ihm diese Geschichte zu erzählen. Also zurück zum Wesentlichen.
 

"Hat das Mädchen zufällig irgendwas gesagt, wohin sie und ihr Begleiter unterwegs sind?" fragt Sira indes. Der Bauer überlegt einen Augenblick lang, ehe er sagt, "Ah, ja. Die wollten nach Pilles. Im Süden." Wie, jetzt plötzlich Pilles? Aber wieso hat sie dann geschrieben- Augenblick, ich glaube, ich verstehe, was hier gespielt wird.
 

"So so. Ach ja, was steht denn in der Nachricht, Marin?"
 

Ich ignoriere Sira und frage stattdessen den Bauern, "Fehlt eigentlich irgendetwas in Eurer Stube?"
 

"In meinem Haus?" wiederholt er überrascht. "Nicht, dass ich wüsste."
 

"Seht besser nach. Eure beiden Gäste haben sich mit meinem Pferd aus dem Staub gemacht. Selbst wenn sie Euch bezahlt haben für einen Schlafplatz, würde ich nicht drauf wetten, dass sie nicht auch bei Euch was haben mitgehen lassen."
 

"Bei Daeras Zorn, das will ich ihnen nicht geraten haben! Ich schau gleich nach!" Und so eilt er von dannen. Ich gucke Sira und meine, "Los, wir sehen nach, ob Porstellion Spuren hinterlassen hat. Und dann gehen wir nach Keslynth."
 

"Wieso denn nach Keslynth? Er hat doch gesagt, sie sind unterwegs nach Pilles!"
 

"Ich verrat's dir, sobald ich sicher sein kann, dass uns niemand heimlich zuhört."
 

Ich breche mein Schweigen nicht, ehe ich den Bauernhof nicht mehr sehen kann. Halsänn und Griselda sind nicht lange der Straße gefolgt, wie es aussieht. Porstellions Spuren sind schon nach einem kurzen Stück des Weges zwischen den hohen Halmen der Wiesen und Weiden rundum verschwunden. Währenddessen halte ich mich weiterhin an die Straße, sehr zu Siras Unverständnis. Sie hat mir fast wortwörtlich ein Ohr abgekaut, bis ich ihr endlich von der Nachricht erzähle.
 

"Wirst du mir endlich mitteilen, wieso wir uns nach Keslynth begeben?! Oder wenigstens, was Griselda wollte?"
 

"Sie hat mir geschrieben, wohin sie und Halsänn gehen werden."
 

"Und? Das hat der Bauer doch auch gewusst, und dem hat sie Pil-les gesagt! Oder... warte, meinst du etwa-"
 

"Ganz genau."
 

Sira verstummt für einen Augenblick. Dann, ganz plötzlich meint sie, "Du hast es nicht so mit verwegenen Mädchen, was?"
 

"Wa-"
 

"Ich meine, ja, sie hat dein Pferd geklaut, aber wenn sie wirklich den Mut hat, dich dann auf ein kleines Stelldichein einzuladen, klingt das schon ziemlich aufregend für mich! Sag mir, wo genau habt ihr euch treffen wollen? Wäre das nachts gewesen? Komm schon, du kannst diese Gelegenheit doch nicht verstreichen und mir dann nicht wenigstens alles erzählen!"
 

"Was?! Nein! Das ist nicht- So hab ich das nicht gemeint! Ich wollte sagen, dass sie den Bauern angelogen hat! Er konnte nicht lesen, was auf dem Zettel stand, und somit nicht wissen, dass sie eigentlich nach Keslynth unterwegs sind!"
 

Sira lässt sich auf meiner Schulter nieder. Ihre Stirn ist in tiefe Falten gelegt, während sie laut überlegt, "Das heißt, jeder, der mit dem Bauern spricht, wird auf eine falsche Fährte gelockt. Sie wollen nicht, dass jemand sie aufspürt. Nun, unser Glück, dass du lesen kannst." Plötzlich kehrt ihr schelmisches Grinsen wieder zurück. "Und dass sie trotz Allem irgendwas an dir findet, wenn sie dich unbedingt wiedersehen will." Ich muss mich zusammennehmen, diese Nervensäge nicht einfach wegzuschnippen. Ruhig Blut...
 

Doch sie ist noch nicht fertig, "Aber glaubst du, sie meint das ernst? Das könnte nur noch eine weitere List sein, um uns in die Irre zu führen."
 

"Hast du eine bessere Idee?" kontere ich in Ermangelung eines besseren Arguments. "Ich... ich weiß nicht, wieso, aber ich glaube der Nachricht. Warum würde sie uns überhaupt schreiben, wenn sie bloß unser Pferd klauen wollte? Außerdem... glaub ich nicht, dass das ihre Idee war."
 

"Wie ich sehe, schwärmen wir beide gleichermaßen für Halsänn."
 

"Oh, glaub mir, die werden uns hübsch beide Rede und Antwort stehen, was ihnen das Recht gibt, Porstellion mitzunehmen." Und egal wie irrsinnig Siras Sticheleien klingen mögen, ich werde das Gefühl nicht los, dass es wirklich einen ganz bestimmten Grund hat, dass Griselda uns die Nachricht hat zukommen lassen. Aber wieso? Je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger gefallen mir die möglichen Antworten.
 

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Ja, ich glaube, mittlerweile bin ich soweit, dass ich mich nicht weiter darum scheren werde, dass Halsänn gut vier Köpfe größer ist als ich, und ihm einfach mal eine kräftige Ohrfeige verpasse, wenn ich ihn erwische! Zwei Tage lang bin ich jetzt zu Fuß gereist und hab auf dem harten Boden übernachtet. Und wenn da nicht diese grüne Lichtkugel wäre, die mich jeden Tag etwas früher weckt, wäre es ja vielleicht alles gar nicht so schlimm – aber wir sind zurückgekehrt zu Sira, der Meisterin des Kosmos. Na ja... wenigstens hält das gute Wetter an.
 

Um die Mittagszeit herum sehe ich zum ersten Mal seit langem jemand anders auf der Straße. Und nicht bloß irgendjemanden! Ist das ein echter Kolph? Oh man, die würde ich überall erkennen! Nun, nicht schwer, sind Kolphs doch die einzigen zweibeinigen Kreaturen auf Hesproys, die von Kopf bis Fuß in bunte Schuppen gekleidet sind. Und die einen dicken, stachelbesetzten Schweif besitzen, der fast schon an einen Morgenstern erinnert... und rauchende Atemlöcher auf ihren Schultern. Aber dennoch! Ein echter Kolph! Der erste, den ich mit eigenen Augen sehe! Dieser hier hat dunkelblaue Schuppen und ein breites, plattes Gesicht, bewohnt von neugierigen, amethystfarbenen Augen. Sie scheinen innerlich aufzuleuchten, als er mich entdeckt. Er kniet neben einem hölzernen Karren, dessen Hinterrad in einer Kuhle feststeckt.
 

"Sei gegrüßt, Junge!" ruft er in einer dröhnenden Stimme, als er mich sieht, "Die Götter müssen dich geschickt haben! Kannst du mir kurz zur Hand gehen? Mein Karren steckt fest und ich krieg ihn einfach nicht alleine raus!"
 

"Klar, bin schon unterwegs!" Ich eile zu ihm und zerre kurz darauf zusammen mit seinen zwei Pferden, riesigen Biestern, auf denen unmöglich jemand aufsitzen könnte, an dem Karren, sobald er ihn hinten etwas anhebt. Gemeinsam gelingt es uns tatsächlich, das Rad aus dem Loch zu befreien. Puh, ein ganz schöner Brocken der Wagen. Ich kann nicht anders als zu spicken, was er denn geladen hat, das so schwer ist. Wie nicht weiter verwunderlich für einen von Hesproys' angeblich besten Schmieden hat der Kolph einen Haufen metallener Werkzeuge, Waffen, den ein oder anderen Helm und umso mehr Eisenbarren geladen. Doch sie sind alles andere als gewöhnlich... egal, wie schnöde jedes Werkzeug auf den ersten Blick scheinen mag, ihr Stahl schillert in unzähligen Farben, wie ich es noch nirgends sonst gesehen habe.
 

"Ah, wohl das erste Mal, dass du Kolph'sches Handwerk siehst, was?" fragt der Kolph mich da. Während er grinst, entblößt er seine messerscharfen, großen Zähne. "Diesen Blick würde ich an jedem Barrah erkennen!"
 

"Barrah?" wiederhole ich.
 

"Oh, wo sind meine Manieren? Ein Name, den wir all jenen geben, in deren Adern kein Kolph'sches Blut fließt. Ist nicht bös gemeint. Und vielleicht sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist Phentos!"
 

"Oh, kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich bin Marin!"
 

"Und ich heiße Sira," fügt Sira ein wenig beleidigt an. Was hat sie denn? Da schüttelt mir Phentos die Hand – und bricht sie mir im selben Moment fast noch. Sein lautes Gelächter bringt seinen Bauch zum Erzittern, als er sieht, wie ich mein Gesicht verzerre. Er grölt, "Ach, entschuldige! Hab dich wie einen anderen Kolph begrüßt. Kein guter Handschlag, wenn man den nicht noch am nächsten Tag spürt!"
 

"Ich... fühle mich geehrt," presse ich hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Jetzt muss ich bloß hoffen, in nächster Zeit nicht wieder mein Schwert gebrauchen zu müssen, außer ich will mein Glück mit meiner Linken versuchen. Und was Glück angeht, hatte ich davon in letzter Zeit nicht viel – und gleichzeitig genug, um mich nicht mehr darauf verlassen zu dürfen.
 

Phentos sagt, "Du hast mir wirklich geholfen! Ich hätt den ganzen Karren ausladen oder hier ausharren müssen bis die-Götter-wissen-wann. Bist du aus der Gegend?"
 

"Eigentlich komme ich aus Doarnb. Ich bin unterwegs nach Keslynth."
 

"Nun, dann spring auf und lass mich dich mitnehmen! Ich will auch dorthin und ich lass dich ganz sicher nicht deine Füße blutig latschen. Kannst dir ja meine Ware ansehen während der Reise, und falls irgendwas dein Auge reizt, geb ich dir einen guten Preis. Sei nicht dumm und schlag zu, du redest schließlich mit dem besten Schmied von ganz Cardighna!" Obwohl ich kaum vorhabe, meine Geldbörse von so etwas leerfressen zu lassen, nicke ich zustimmend. Aus Höflichkeit. "Klar, ich schau's mir mal an." Und so klettern wir beide auf den Karren und Phentos gibt den Pferden einen Klaps, ehe es los geht nach Keslynth.
 

Auf dem Weg irgendwann später knetet Phentos schließlich seine Unterlippe zwischen zwei seiner dicken, klauenbesetzten Finger und spricht, "Du trägst 'n Schwert, wie ich sehe, Junge. Sicher, dass das 'ne gute Idee ist?"
 

"Besser als ohne eins rumzulaufen. Wieso?"
 

"Es erweckt Aufmerksamkeit... ungewollte hauptsächlich. Keine gute Zeit grade, offen eine Waffe zu tragen, wenn du mich fragst."
 

Er stellt meine Geduld auf eine harte Probe. "Wovon redest du?"
 

"Oh, bloß was, das ich aufgeschnappt hab als fahrender Händler. Gerüchte, dass sich ein Krieg zusammenbraut. Und wenn er erst mal kommt, werden Burschen wie du schnell in was verwickelt. Und meistens bleibt die erste Schlacht für sie auch die einzige."
 

"Ich kann gut kämpfen!" erwidere ich, "Ich bin ausgebildet worden."
 

"Nicht für einen Krieg, glaube ich. Nicht in diesem Aufzug. Ach, wär ich bei meiner Esse, ich könnte dir die beste Rüstung aller Zeiten schmieden! Leicht wie eine Feder, aber so undurchdringbar wie die Mauern der Hyperionsfest!" Ich lache darüber, "Klar, vielleicht wenn ich den Dreizack von Oreichalkos finde und mir das Geld wünsche, um dich bezahlen zu können."
 

"Über den Dreizack macht man keine Witze," erwidert er plötzlich ganz wütend, "Und über den Krieg der Drei auch nicht. Wer weiß, vielleicht befinden wir uns ganz am Anfang eines neuen Zyklus. Lang genug ist's her, dass einer der Drei seine neuste Fratze gezeigt hat."
 

"Es gab schon seit über hundert Jahren keinen Kampf um den Dreizack mehr, soweit ich weiß," wende ich ein. Phentos schüttelt seinen Kopf. "Noch ein Grund, sich vorzubereiten. Wir mögen zwar den Vierten haben, um uns zu beschützen, aber... die Vierten haben eine Angewohnheit immer nach den Dreien aufzutauchen."
 

"Da fällt mir ein," schiebt Sira sich da in unser Gespräch ein, "Du bist ja ein Händler, Phentos, also kommst du ein wenig herum. Hast du außer Gerüchten von Krieg in letzter Zeit irgendetwas Seltsames mitbekommen?"
 

"Fragst du nach irgendwas Bestimmtem?"
 

"Nun... ja. Um genau zu sein nach Sichtungen von Untoten."
 

"Hm, nein, nicht dass ich wüsste. Ich meine, in jedem zweiten Dorf versucht jemand mir weiszumachen, dass irgendwo ein totes Kind oder zwei aus ihren Gräbern gekrochen seien und jetzt die Bauern belästigen würden. Aber gesehen hab ich sowas noch nie..."
 

"Ja," stimme ich halbherzig zu, "Würde ich auch nicht glauben, bis ich's mit eigenen Augen sähe." Wohl eher: hätte ich nicht geglaubt. Aber hier sind wir nun mal.
 

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Drei weitere Tage sind ins Land gezogen, als wir endlich Keslynth erreichen, ein kleines Städtchen, eingebettet in die beigen Gebirgsausläufer von Ardnas. Phentos deutet auf einen besonders hohen und steilen Berg, der über all den anderen thront. Seine Spitze ist kaum zu sehen in den dicken Rauchwolken, die ihn umgeben. "Seht Ihr das?" fragt Phentos, "Da bin ich zuhause! Auf der Hyperionsfest. Ziemlich beeindruckend, selbst von hier, nicht wahr?"
 

"Kommt der ganze Rauch aus den Schmieden?" frage ich.
 

"Und ob! Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht wenigstens ein Kolph seinen Hammer schwingt. Und meistens sind es gleich Hunderte von uns, die da oben arbeiten. Ah, ich freu mich schon richtig drauf, heimzukehren... zu meiner eigenen Esse." Während er sich in Gedanken an Zuhause verliert, passieren wir gerade das hohe, hölzerne, eisenbesetzte Tor zur Stadt, die überall sonst von einer hohen Palisade umgeben wird.
 

Und kaum haben wir Keslynth betreten und erblicken erstmals den Marktplatz, überschwemmt uns eine Welle von Geräuschen. Heute ist Markttrag, wie's aussieht. Überall Händler und Hausierer, die lauthals feilschen, gackernde Hühner und quiekende Schweinen in kleinen Pferchen, während anderswo, auf dem hölzernen Gerippe eines Hauses eine Reihe Zimmerleute unter dem Gezeter ihres Meisters geschäftig klettern. Man-o-man, ist hier viel los!
 

Ich hüpfe hinunter von Phentos' Karren. Das muss ich mir näher ansehen! "Danke, dass du uns mitgenommen hast, Phentos. Ich hol mir jetzt was zu futtern und dann muss ich mich um meine Sachen kümmern."
 

"Jederzeit, mein Freund! Falls du jemals den Dreizack findest und dir was wünschst, komm vorbei, damit ich dir beweisen kann, wie gut ich wirklich als Schmied bin. Vielleicht sehen wir uns ja noch auf dem Markt, nachdem ich meinen Stand aufgebaut habe!"
 

"Bis dann!" rufe ich ihm hinterher, obwohl ich nicht sicher bin, dass er das in all dem Trubel überhaupt hört. Es ist wirklich eine Menge los. Sira streckt ihren Kopf aus meiner Tasche und stößt einen tiefen, resignierten Seufzer aus, "Es wird die Hölle sein, überhaupt jemanden in diesem Durcheinander zu finden, ganz zu schweigen, wenn diese Leute nicht gefunden werden wollen. Dein Herzblatt hat dir nicht zufällig einen genauen Ort genannt, oder?"
 

"Sie ist nicht mein Herzblatt," schnaube ich, "Und nein, hat sie nicht. In der Nachricht steht bloß Keslynth. Aber he, unter all den Leuten muss jemand sein, der sie gesehen hat! Los, wir gehen gleich fragen."
 

"Also schön," sagt Sira und schlüpft aus ihrem Domizil, "Ich überlass dir den Marktplatz, wenn du schon so neugierig bist. Ich kümmer mich um die etwas ruhigeren Orte in der Stadt. Wir treffen uns wieder in einer Stunde, alles klar?"
 

"Abgemacht. Keine Sorge, wir haben wieder gut an Zeit aufgeholt dank Phentos. Ich wette, die beiden sind noch hier. Wir finden sie schon!"
 

"Ich hoffe es. Ansonsten müssen wir wirklich zurück nach Welsdorf. Den ganzen Weg zu Fuß dies mal." Oh ja, nur zu, jetzt kannst du mich ja ruhig unter Druck setzen, was? Sie spart sich jedoch jeden weiteren Kommentar und macht sich schnell auf zur nächstbesten Gasse, die vom Marktplatz wegführt. Ich schätze, Víly mögen geschäftige Plätze wirklich nicht allzu sehr. Oder vielleicht hat sie einfach zu viele Jahre mit den Affen verbracht, um sich das antun zu wollen. Jetzt wo ich so drüber nachdenke, hab ich sie nie gefragt, wie lang sie eigentlich bei Welsdorf gelebt hat.
 

Auch egal. Zeit, dass ich was esse und mich umschaue. Vielleicht entdecke ich ja sogar diesen treulosen Gaul Porstellion. Er hätte ja wenigstens irgendeinen Laut von sich geben können, als er geklaut worden ist. Vielleicht wär ich dann rechtzeitig aufgewacht, anstatt mich mit dem Käferkönig herumschlagen zu müssen. Es läuft mir immer noch kalt den Rücken runter, wenn ich nur daran denke.
 

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Leider stellt sich heraus, dass niemand etwas von Halsänn oder Griselda gehört, geschweigedenn gesehen hat – oder von Porstellion. Ich hab den gesamten Markt inzwischen abgeklappert, aber die halbe Zeit waren die Leute mehr interessiert daran, mir ihre Ware zu verkaufen, als mir zu antworten. Einfach großartig. Hoffentlich hat Sira mehr Glück als ich. Die Stunde ist längst um, aber sie lässt sich einfach nicht blicken. Vielleicht hält sie Halsänn ja einen Vortrag über gute Manieren und wie Pferdediebstahl nicht dazugehört.
 

Indes entscheide ich mich, mein Glück noch einmal zu versuchen, mit einer alten Kräuterfrau dies mal. "Guten Tag," grüße ich, "Gute Geschäfte gemacht heute?"
 

"Es gibt immer welche, die ein Mittel gegen die Pocken oder gegen Fieber brauchen... oder für eine gesunde Verdauung," entgegnet die faltige Dame mit feistem Grinsen. "Du schaust mir aber relativ gesund aus. Was willst du wohl von 'nem alten Mädchen wie mir?"
 

"Eigentlich suche ich ein etwas jüngeres Mädchen. So alt wie ich, mit braunem Haar, dass sie um ihren Kopf geflochten hat, und vermutlich in Begleitung eines haarigen Riesen. Und eines großen, schwarzen Pferdes."
 

"Hm, muss ein beliebtes Mädchen sein!" Ich schaue sie verdutzt an und frage, "Wieso das?"
 

"Du bist nicht der Erste, der mich nach ihr fragt. Ist sie jemand Wichtiges?" Ich umgehe ihre Frage mit einer anderen, "Wer war die andere Person, die sie gesucht hat?"
 

"Ein magerer Kerl mit genauso straffer Haut wie ich." Also knittrig wie eine verschrumpelte Pflaume. "Wohl eine Wache, so wie er angezogen war. Aber neu. Hab den noch nie hier gesehen. Er wirkte ganz nett am Anfang, aber diese Stimme... als hätten sie ihm als Kind einen heißen Sud den Rachen runtergespült. Und seine Augen... ich mag seine Augen kein bisschen." Sie beäugt mich kritisch. "Kennst du ihn etwa?" Ich schüttele schnell meinen Kopf, während ich denke: Das ist gar nicht gut. Wenn noch jemand nach Griselda und Halsänn sucht, gehört er mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihren Verfolgern. Verflucht, ich muss Sira finden und ihr davon erzählen.
 

"Jedenfalls," spricht die alte Frau, "werd ich dir sagen, was ich ihm auch gesagt hab: kann mich an kein bestimmtes Mädchen erinnern, das so aussah. Kann nicht mal behaupten, ein wenig Münze würde meinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen. Nicht bei jungen Hüpfern wie dir." Sie lacht herzhaft und ich danke ihr höflich für ihre Hilfe. "Nicht der Rede wert. Und jetzt geh und find das Mädel, bevor's dieser alte Sack tut."
 

"Wieso das?" fragt da jemand hinter mir mit einem Hauch Belustigung. Die Kräuterfrau schluckt einen Fluch herunter, während ich mich umdrehe, um von der Brust eines edel aussehenden, gepolsterten Wamses begrüßt zu werden, das einem sauber rasierten Mann von vierzig Jahren gehört. Obgleich das Visier seines Helmes sein Gesicht in tiefe Schatten taucht, kann ich seine ausmachen, wie seine Augen argwöhnisch auf mich hinunterstarren. "Ich glaub, wir müssen reden, Junge," meint die Wache. Hämischen Grinsens sagt sie noch, "Bevor der Kommandant noch hört, wie freundlich über ihn gesprochen wird."
 

"Also eigentlich würde ich diesem alten Sack das doch gerne ins Gesicht sagen," erwidere ich. Wie geplant erstarrt der Wachmann vor Erstaunen über meine Worte lang genug, dass ich aus seiner Reichweite flüchten und Reißaus nehmen kann, weg vom Markt, hinein in die eigentliche Stadt. Ich hör ihn Flüche und Befehle schreien, ich solle stehen bleiben, aber glaubt er ernsthaft, ich sei so dumm, mich jetzt zu stellen?!
 

Die Straßen sind ganz schön vollgestellt, hauptsächlich mit dem Baumaterial der Zimmerleute und ein paar Fässern neben einer totenstillen Taverne. So knapp wie nur möglich renne ich auf schnellstem Wege an ihnen vorbei und hoffe, dass mein Verfolger wenigstens in eins der Hindernisse prallt. Nicht, dass es irgendetwas anderes zur Folge hat, als dass meine Brust gleich in Flammen steht, wenn ich diese Tempo beibehalte. Denn es sieht so aus als schiebe ich meine Gefangennahme nur auf. Der Kerl ist viel schneller als ich und geschickt in jedem seiner Schritte, sodass ich schon wieder fast nur noch einen Arm weit von ihm entfernt bin. Verflucht, nur weil er längere Beine hat als ich! Aber halt, was ist das?
 

Gerade, als er mich schon am Schlafittchen packen will, schlüpfe ich in den schmalen Spalt zwischen zwei Häusern. Die rauen Steinwände reiben an meiner Kleidung und meiner Haut, aber ich scher mich einen Dreck um ein paar Schrammen. Ich muss weiter! Ich schnappe erschrocken nach Luft, als die Wache mich plötzlich am Arm packt und versucht, mich zurück zu zerren.
 

"Oh nein! Hiergeblieben," knurrt der Mann.
 

"Das will ich sehen!" zische ich und reiße meine Hand schnell genug zurück, dass ich sie einen Atemzug lang freibekomme. Aber das reicht, um mich vollends zwischen die Häuser zu quetschen, wo er mich nicht mehr kriegen kann, egal, wie sehr er es versuchen wird. Endlich einmal zahlt es sich aus, noch so klein und schmächtig zu sein. Der Wachmann brüllt seinen Frust heraus wie ein Wolf, dem man die Beute versagt hat, und hastet von dannen. Schon aufgegeben? Ein toller Jäger bist du.
 

Oh man, wenn ich könnte, würde ich mir selber dafür jetzt gegen die Stirn hauen. Der hat nicht aufgegeben! Er will mich auf der anderen Seite abfangen. Aber nicht mit mir! Ich rücke schneller vorwärts, bis ich mich endlich aus der anderen Seite hinauszwängen kann. Puh, endlich drücken mir nicht mehr zwei Häuser die Luft aus den Lungen. Hm, sieht so aus, als sei ich in einem kleinen Vorhof gelandet. Der des Zimmermeisters, so wie's aussieht. Nun, von dem will ich ganz bestimmt auch nicht erwischt werden. Also ab dafür!
 

Kaum bin ich jedoch über die kleine Mauer des Hofes geklettert und auf die Straße davor gesprungen, taucht ein Reiter auf, hoch gewachsen, fünfzig bis sechzig Jahre, so wie seine knittrige, pergamentbleiche Haut aussieht... und in demselben Aufzug wie der Wächter vorhin, wenn auch reicher verziert und mit einem kupfernen Kranz auf seinem Helm. Er mustert mich mit einer hochgezogenen, weißblonden Braue, wobei er seine lange, dürre Nase rümpft. Ein schmales Lächeln teilt seine farblosen Lippen, entblößt gelbliche Zähne mit weit zurückgegangenem, blutrotem Zahnfleisch.
 

Und dann sagt er, in einer Stimme, die rasselt wie die eines Greises, der zwei mal verstorben und wiederauferstanden ist, "Was für ein Zufall. Genau dich hab ich gerade gesucht."
 

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Dem Sommer zum Trotz fühlt sich mein Körper kalt wie Eis an, als ich wenig später im Arbeitszimmer des Kommandanten Platz nehme. Es ist stickig und dunkel darin. Über seinen Schreibtisch hinweg beäugt er mich, während ich mich zögerlich niederlasse, wobei kaum mehr als die Umrisse seiner geraden, breiten Schultern erhellt werden von dem winzigen Fenster in seinem Rücken. Seine Mundwinkel zeigen die ganze Zeit nach oben. Ich habe mit Zorn gerechnet, irgendeinem Zeichen von Groll, dass noch jemand Griselda nachstiehlt, aber der Mann sieht stattdessen ungewöhnlich zufrieden aus, mich aufgegabelt zu haben – und das macht mir nur noch mehr Angst.
 

"Wie ich hörte, hattest du es vorhin ganz schön eilig," stellt er gelassen fest, die Finger verschränkt haltend. "Einer meiner Leute hat dich gejagt. Das tut mir Leid. Ich bin mir sicher, das hätten wir ein wenig feinfühliger handhaben können." Was soll ich darauf antworten? Dass ich ihm kein Wort glaube? Dass ich selbst schuld war, dass der Kerl mich verfolgt hat? Dass es nicht schlimm ist?
 

Er erspart mir, irgendetwas Dummes zu erwidern, "Ich hab nicht vor, dich lang aufzuhalten. Nur ein paar Fragen, dann kannst du auch schon wieder gehen und machen, was auch immer Jungspünde wie du treiben."
 

"Klingt gut," bringe ich brüchig heraus. Das Arbeitszimmer kommt mir kaum größer vor als eine Besenkammer im Moment. Der schwere Eichentisch, an dem wir sitzen, erstreckt sich fast über die gesamte Breite des Raumes, während eine der Wände ganz und gar versteckt ist hinter einem riesigen Regal, das überladen ist mit Dingen aller Art, die ich nicht bei einem Stadtwächter erwarten würde: alte, in Leder gebundene Schmöker, gebräunte Schriftrollen, rote Tontafeln mit tiefen Kerben, bemalte Figürchen und eine Menge anderer Kram, der besser in Simmias' Refugium passen würde als hierher.
 

Die krächzende Stimme des Kommandanten holt mich zurück ins Geschehen, "Also. Ich hab in der Stadt gehört, dass du auf der Suche nach einem bestimmten Mädchen warst. Zufälligerweise such ich genau dasselbe. Ich frage mich, was du mit ihr zu schaffen hast."
 

"Ich... wollte sie nur sehen, das ist alles." Ich kann ihm unmöglich die Wahrheit erzählen. Selbst, wenn er nicht mit dem Untoten unter einer Decke steckt – was mir nach und nach unwahrscheinlicher erscheint – könnte er gut Griselda oder Halsänn eine Hand abschneiden, wenn ich erwähne, dass sie mich bestohlen haben. Und dann wird wohl nichts aus den versprochenen Antworten.
 

"Aha. Dann kennt ihr euch also?"
 

"Nein. Nicht gut zumindest... hab sie nur einmal getroffen."
 

Da hebt er eine Braue. "Wo war das?"
 

"Auf einem Bauernhof, nicht weit weg." Weit für den Jungen, der zum ersten Mal von zuhause weg ist. Kann sein, dass es für jeden anderen nichts weiter als ein Katzensprung ist.
 

"Und obwohl du sie nur einmal gesehen hast, wolltest du sie noch einmal treffen und bist nur deswegen hergekommen?"
 

Bitte, ihr Götter, lasst mich nur dieses eine Mal meinen Gesichtsausdruck im Griff haben... und mich die beste Schamesröte mimen, die einem jungen Kerl ins Gesicht schießen kann. Ich murmle, "Nun... sie war... ziemlich hübsch und... nett, also... na ja, Ihr wisst schon..." Aus dem Augwinkel kann ich sehen, wie der Kommandant scharf die Luft einzieht, sein Gesicht entnervt in den Händen vergraben. Leise zischt er, "Die Götter müssen auf mich spucken... junge Liebe." Mich von der Seite anstarrend, fragt er, "Wie alt bist du? Vierzehn vielleicht? Und jetzt willst du dich schon irgendwo anketten lassen, bloß weil du mal irgendwas mit einem dahergelaufenen Mädel hattest?" Er kauft mir die Geschichte ab! Er glaubt mir!
 

"... hat das noch was mit ihrem Aufenthaltsort zu tun?" erlaube ich mir eine Gegenfrage. Oh-oh, wenn Blicke töten könnten. Vielleicht hab ich da doch zu dick aufgetragen. Sobald seine Augen es aufgeben, Löcher in meinen Schädel zu brennen, wandern sie zu meinem Schwert. Nein, nicht dieser Blick schon wieder! Doch ganz zu meiner Verblüffung fragt er nach etwas ganz anderem, "Also bist du wegen ihr hier. Das heißt, sie ist in der Stadt?"
 

Ich zucke mit den Schultern. "N-nehm ich an. Klang für mich am wahrscheinlichsten, aber vielleicht ist sie auch nach Pilles."
 

"Nach Pilles?!" brüllt er und springt von seinem Stuhl auf. Er lässt seine Pranken auf den Tisch krachen und ragt über mir auf wie ein einstürzender Turm. "Hältst du mich für einen Vollidioten?! Wo genau war dieser Bauernhof?! Wie weit von hier?"
 

"Ei... ein paar Tagesreisen zu Pferd," entgegne ich zittrig. Ich wage nicht, ihn gleich noch mal anzulügen. Vielleicht heißt so viele Bücher gelesen zu haben nicht gleich, dass ich ebenso gut im Geschichten-erfinden bin. Die Brauen des Kommandanten stehen fast senkrecht, während er mich durchdringend anstarrt. Er wartet ein wenig länger bis zu seiner nächsten Frage, "Ich hab gesehen, dass du ein Schwert trägst. Reist du allein? Du bist doch nicht etwa ein Dieb oder sowas?"
 

"Was?! N-nein! Ich... ich bin ein Botenjunge." Nicht mal so fernab der Wahrheit. "Ich... soll jemandem hier in der Gegend Bücher bringen." Bücher, die zufälligerweise grade bei Porstellion sind. Noch ein Grund, das Pferd wiederzufinden.
 

"Mit einem Schwert," stelltt der Kommandant indes voller Skepsis fest.
 

"Man weiß nie, wem man so auf dem Weg begegnet," erwähne ich. Meine Güte, klingt das gestellt. Doch es scheint den Kommandanten tatsächlich wieder etwas weniger misstrauisch zu stimmen. Dann lächelt er wieder. "So, so... ein Botenjunge mit einem Schwert, der Bücher liefert... und trotzdem jagst du Röcken hinterher?"
 

"Ich lieg gut in der Zeit... Ich muss eh hier durch, also hab ich gedacht, das wird schon klappen."
 

Spöttisch schnaubt der Kommandant, "Da nimmt jemand seine Arbeit aber ernst." Nur zu gern würde ich ihm jetzt sagen, dass ich tatsächlich sehr gewissenhaft meine Arbeit erledige, indem ich ihm grade nicht meine einzige Spur ans Messer liefere. Er seufzt, "Gut, belassen wir's bei einer letzten Frage: Ich nehme an, du hast deinen Sonnenschein noch nicht gefunden, oder?"
 

"N... nein," sage ich, wieder versuchend zu erröten.
 

"Also schön. Ich hab heute gute Laune, also kannst du jetzt gehen. Ich will nicht noch mehr deiner wertvollen Zeit verschwenden." Ich kann beinahe das Gift aus seinen Worten triefen sehen.
 

Ich überhöre es und sage, "Ach was, das ist nicht schlim-"
 

"Aber ich würde dir raten, dir eine andere Gespielin zu suchen. Außer du willst einen Vogelfreien zum Stiefvater." Ich starre ihn aus großen Augen an.
 

"Wie bitte?! Einen Vogelfreien?!"
 

"Richtig. Der Vater des Mädchens – bestimmt hast du den auch gesehen – ist ein berüchtigtes Mitglied der Königsbraut, eines Haufens von Raubrittern und Vergewaltigern in der Gegend. Wir sind hier, um ihn einzufangen, bevor er nochein Dorf in Brand steckt oder Schlimmeres." Schreck lass nach, meint er das ernst? Aber... dann bedeutet das ja, dass ich die ganze Zeit auf der falschen Fährte war. Warum würde Abschaum wie dieser von einem Untoten gejagt werden? Oder ist das genau die Art Leute, von der man das erwarten muss?
 

Da macht mir der Kommandant plötzlich einen Vorschlag, "Wenn du dich wirklich um das Mädel scherst, sieh zu, dass sie weg kommt von diesem Mann." Sich übers Kinn fahrend überlegt er. "Da du meintest, du lägest gut in der Zeit, könntest du dich doch uns anschließen. Vielleicht springt sogar ein wenig bare Münze für dich raus, wenn wir den Kerl erwischen." Plötzlich tut es mir schrecklich Leid, den Kerl so angelogen zu haben. Hätte ich gewusst, dass er bloß hinter einem Verbrecher her ist... verflucht, ich hätte ihm von Porstellion erzählen müssen! Jetzt bringt mir das am Ende nur selbst einen Strick ein, wenn er erst mal durchblickt, dass ich geschwindelt hab.
 

Obwohl, er ist bloß hinter Halsänn her... vielleicht beantwortet Griselda mir dann trotzdem meine Fragen wie versprochen. Und während die Wachen Halsänn dingfest machen, schnapp ich mir Porstellion und hoffe, dass meine Suche mich nie wieder nach Keslynth führt. Somit schlage ich also ein.
 

"Abgemacht! Ich werd helfen wie ich kann! Äh... ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Marin!"
 

"Cheeta Catilina mein Name. Schön, dass du uns hilfst," entgegnet der Kommandant mit schiefem Lächeln. Dann wechselt er ganz aus dem Blauen heraus das Thema, "Und da du die ganze Zeit meine Sammlung so neugierig betrachtet hast, willst du sicher wissen, was der ganze Krempel da eigentlich ist."
 

"Ich kann nicht abstreiten, mich gewundert zu haben."
 

"Du scheinst mir ein heller Kopf zu sein," sagt Cheeta, während er an das Regal tritt und etwas daraus hervorholt. Es ist eine Münze, schwarz wie die Nacht und nur so etwas ähnliches wie rund. "Ich hab ein kleines Rätsel für dich. Schau dir mal die Prägung an und sag mir, unter welchem König diese Münze hergestellt worden ist." Ich nehme die Münze in die Hand, um sie sorgfältig von allen Seiten zu begutachten. Kaum erkennbar sehe ich die hervorstehenden Linien eines Kopfes im Profil, seltsam kantig gezeichnet und ohne Bart. Roknecht vielleicht? Nein, das Gesicht ist viel zu sanft für einen Mann, der mit Links die Harpyienplage der Phellachai beendet hat. Dann erspähe ich die Ohren. Sie sind spitz wie meine. Seltsam.
 

"Sicher, dass das eine Münze von hier ist? Ich hab noch nie von einem Ikaner auf dem Thron gehört."
 

Cheeta gackert geradezu, "Ich hatte also Recht, du bist ein schlauer Bursche! Ganz recht, in diesen Landen gab's nie einen König, der von reinem Ikanerblut war. Ist auch nicht die Prägung eines Königs... sondern die eines Kaisers. Diese Münze da ist über dreihundert Jahre alt, hergestellt während der Herrschaft von Kaiser Rivius Crispinius Callis." Stolz ausschweifend zeigt er auf das Regal. "Alles, was du hier siehst, meine ganze Sammlung, ist aus einer Zeit lange bevor die Ardorakks den Thron bestiegen und sich Könige von Cardighna genannt haben. Das sind Erinnerungsstücke an das stolze Trecenta Terra, welches die gesamte Küste des Nereidis umfasst hat und sogar Teile der des Okeans."
 

"Das ist ja unglaublich! Ich hab ein wenig über die Trecentiner gelesen. Aber nie hätt ich mir träumen lassen, eine Münze von damals zu sehen."
 

"War auch nicht so leicht, da ranzukommen," erzählt Cheeta, nicht ohne zufrieden zu klingen. Mit breitem Grinseln erklärt er, "Deswegen bin ich heute gut aufgelegt, obwohl ich diesen räudigen Hundesohn Halsänn immer noch nicht geschnappt habe. Ich hab grade erst ein neues Stück meiner Sammlung einverleibt und vermutlich das seltenste von allen bisher. Sag mal... kannst du dir vorstellen, wie die Trecentiner es fertig gebracht haben, ein Reich solchen Ausmaßes zu halten?"
 

Ich zucke unsicher mit den Achseln. "Ich... ich weiß nicht."
 

"Komm schon, benutz deine Fantasie!"
 

"Nun... soweit ich weiß, hilft es, keine Rebellion wüten zu haben. Ich bin zu jung, um mich zu erinnern, aber zuhause erzählen die Alten oft vom Adelsaufstand vor elf Jahren und wie es fast das Ende der Ardorakkfamilie bedeutet hätte."
 

"Ah, ja, dieses ganze... Ding," murmelt Cheeta mit seltsamen Unterton, als ob er jetzt plötzlich nicht ganz wüsste, was er sagen soll. Da fällt ihm wieder ein, worüber wir gerade sprechen, und er spricht, "Ja, das ist ziemlich wichtig. Aber nicht so einfach, auf all seine Untertanen ein Auge zu werfen, ohne dass sie es spitz kriegen... nicht ohne ein paar Spione. Winzige Spione, denen man kaum mehr Beachtung schenkt als Fliegen um einen Kuhfladen." Er kichert fröhlich, wobei er etwas von ganz hinten, ganz oben auf dem Regal holt, das hinter ein paar Schriftrollen und kleinen Gewichten versteckt war. Es ist eine klare Flasche aus grünstichigem Glas.
 

Er hält sie mir vors Gesicht. Daeras Zorn! Plötzlich ist es, als stünde ich in einem Schneesturm, der mir alles Blut aus dem Gesicht zieht, als mir klar wird, dass es nicht die Flasche ist, die grün ist – sondern ihr Inhalt, der mich flehend aus roten Augen anschaut.
 

"Das," röhrt Cheeta triumphal, "ist eine lebendige Víla!"



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