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Dead Man Walking

Totgeglaubte leben länger
von

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Willkommen in Nowhere.

How fickle my heart and how woozy my eyes

I struggle to find any truth in your lies

And now my heart stumbles on things I don't know

My weakness I feel I must finally show

 

- Mumford & Sons, "Awake My Soul"

 

 

Als ich das zweite Mal erwache, scheint mein Körper neue Kräfte gesammelt zu haben. Schon als ich die Augen aufschlage, kann ich meine Arme und Beine deutlich spüren, kann Stärke und Ausdauer in ihnen ausmachen. Über mir erstreckt sich ein düsterer, grauer Himmel, die Wolken ziehen in einer immensen Geschwindigkeit an meinen Augen vorbei. Ich verliere mich kurz darin, die frische, kalte Luft tief in meine Lungen zu ziehen und dann langsam auszustoßen, dann höre ich nicht weit von mir flüsternde Stimmen. Der Wind rauscht über mich hinweg, erzeugt ein leise sausendes Geräusch in meinen Ohren. Nun bereitet es mir wenig Probleme, mich in eine sitzende Position aufzurichten und mich langsam umzusehen. Ich lebe, und das sogar ziemlich problemlos. In Anbetracht dessen, das ich dachte nicht mehr erwachen zu können, ist das ein wirklich gutes Zeichen.

 

Tatsächlich befinde ich mich auf einem Friedhof. Alte, verrottende Grabsteine ragen wie Pockennarben aus dem Boden, windschief und hier da umgestoßen. Ich entdecke Kreuze und nicht weit entfernt eine Engelsstatue, die weder Arme noch einen Kopf besitzt. Einzig die Flügel strecken sich imposant zu den Seiten. Ich kann keine Blumen, keine Kerzen erkennen. Wer auch immer hier begraben wurde, muss schon verdammt lange tot sein. Die vielen Gräber scheinen sich endlos hinzuziehen, bis sie in einem grauen Dunst einfach enden, als wäre das das Ende der Welt.

Zu meiner rechten Seite, auf einem kleinen, offenen Platz brennt ein Lagerfeuer, knistert und neigt sich gefährlich im Wind. Daneben, auf der nackten Erde sitzen meine beiden Retter, zu einander geneigt und in ein für mich nicht verständliches Gespräch vertieft. Sie scheinen mein Erwachen noch nicht bemerkt zu haben. Ich musterte die beiden ungleichen Gefährten genau, betrachte das erste Mal mit klarem Verstand ihre Körper und Kleider.

Sie sind in nichts weiter als Lumpen gehüllt. Ich weiß nicht, wie viele Schichten sie über einander tragen, aber es sieht aus, als wären sie für eine Polarexpedition gerüstet, wenn auch für eine reichlich amateurhafte. Der Große, der mich ein weiteres Mal mit seiner Statur und seinen dicken, fleischigen Armen in staunen versetzt, die er dank hochgekrempelter Ärmel gut präsentiert, sitzt schräg mit dem Rücken zu mir. Die Jacke, die er trägt wirkt warm, ist aber an etlichen Stellen gerissen und dreckig. Einzig seine hellblauen, leuchtenden Haare, die er in einer abenteuerlichen Tolle in die Luft gestylt hat, sind sauber und gepflegt.

Der Kleinere macht keinen besseren ersten Eindruck. Er hat die Beine zum Schneidersitz über einander geschlagen und beugt sich weit zu seinem Begleiter, der Schal bewegt sich hektisch vor seinem Mund, als würde er schnell sprechen. Die Mütze, die seine Haare verdeckt, war vermutlich einmal von einem leuchtenden Rot, hat jetzt aber eher einen bräunlichen Ton angenommen. Die dicke Armeejacke in Tarnfarben wirkt, als wäre sie schon durch viele, nicht gerade zärtliche Hände gewandert. Zwei verrückte Obdachlose. Aber mein Verstand flüstert mir, das ich damit ebenso Recht habe wie auf dem Holzweg bin. Meine Neugierde ist geweckt.

 

Als die beklemmden, verängstigten Gedanken an meine fragliche Identität wieder aufkommen wollen, schiebe ich sie energisch bei Seite und beginne mich aus meiner Holzkiste zu bewegen, in der ich immer noch liege. Ein Blick an mir hinunter verrät, das ich selbst nicht gerade besser aussehe als die Beiden vor mir. Meine Beine stecken in abgewetzten, dreckigen Jeans, meine Füße in abgelaufenen Boots. Darüber trage ich einen Filzpullover, vermutlich grün, vielleicht aber auch braun – oder etwas ganz Anderes. So genau kann man das wirklich nicht mehr sagen. Er ist nicht löchrig, aber so verblichen, als hätte ich ihn sehr lange viel zu heiß gewaschen.

Da ich nun in den Stand gekommen bin, ziehe ich auf die Aufmerksamkeit auf mich. Die beiden ungleichen Wilden unterbrechen apprupt ihr Gespräch und spähen mit großen, neugierigen, aber auch durchaus vorsichtigen Blicken zu mir auf. Ich bekomme das Gefühl, eine gewisse Ehrfurcht in ihnen auszulösen, kann mir aber absolut nicht erklären, wieso. Fast schon reflexartig taste ich mit einer Hand fahrig durch mein Gesicht, doch außer ein wenig Dreck kann ich nichts erfühlen, was den unterdrückten Schrecken in den Augen der Anderen erklären würde. Eine Nase, zwei Augen, ein Mund. Vermutlich nicht einmal so wahnsinnig hässlich. Wieso also diese Musterung?

Ich beschließe, der neuen Situation so selbstsicher entgegen zu treten, wie ich in meinem Zustand der völligen Ahnungslosigkeit nur kann, und stapfe mit festem Schritt zum Feuer, um mich dicht davor sinken zu lassen und meine Hände wärmesuchend über die Flammen zu halten. Prickelnde Hitze taut meine kaltgefrorene Haut auf.

Es kehrt eine äußerst seltsame Stille ein. Ich versuche den Anschein absoluter Normalität aufrecht zu erhalten und meine Nebenmänner glotzen, als wäre ich ein seltenes Tier, das gerade aus seinem Zoogehege ausgebrochen ist; als wüssten sie nicht, ob man mich besser einfangen oder doch lieber direkt erschießen sollte. Nach ein paar Minuten wird mir diese Hampelei aber zu blöd.

Mit festem Blick drehe ich den Kopf, der vorher stur zum Lagerfeuer hingerichtet gewesen war, und fixiere erst den Großen, dann den Kleinen. Beide scheinen unmerklich nach hinten zu weichen.

"Danke." Meine Stimme klingt ruhig, allerdings eine ganze Spur zu ernst.

"Ich weiß, ihr hättet mich nicht befreien müssen." Bei diesen Worten wende ich mich ganz bewusst an den Blonden, dessen Blick kurz eine spur trotzig wird, bevor er gen Boden zu blicken beginnt.

"Also – ich danke euch. Vermutlich habt ihr viele Fragen, aber ihr könnt mir glauben – ich habe noch viel mehr." Dennoch mache ich mit der Hand eine einladende Bewegung, ein Zeichen, das ich bereit bin, meinen Rettern den Vortritt zu lassen. Der Blauhaarige räusperte sich unbehaglich.

"Gut. Ja. Richtig." Er ringt die Hände, als würde er nach Worten tasten, bis er scheinbar den Faden gefunden hat.

 

"Du sagtest, du wüsstest nicht, zu wem du gehörst."

"Richtig."

"Ist es dir mittlerweile eventuell wieder eingefallen?"

"Nein."

"Wie heißt du?"

"Ich weiß es nicht."

"Du ... du weißt nicht, wie du heißt?"

"Nein."

"Weißt du überhaupt irgendwas?"

"Nein."

Mein letztes Wort scheint meinen Gesprächspartner nun entgültig zu verblüffen. Er neigt sich ein Stück nach hinten und sieht mich mit weit nach oben gezogenen Augenbrauen an, was ihn fast jugendlich wirken lässt, wäre er nich so unmenschlich groß.

"Krass." Ich nicke verkniffen. Krass ist all das auf jeden Fall.

Nun meldet sich der Blonde zu Wort. Seine Stimme ist wie kaltes Eisen.

"Du willst uns also weis machen, du kannst dich nicht daran erinnern wer du bist, wo du hingehörst noch wer dich in diese Kiste gesteckt hat?"

"Korrekt." Ich ernte ein ärgerliches Schnauben, was den Schal vor dem fremden Mund amüsant ausbeult.

"Aber du weißt schon, wo du bist, ja?"

"Keinen Schimmer."

"Du musst doch zumindest wissen, auf welchem Teil des Kontinents du dich befindest!"

"Ich weiß, es wird langweilig, aber – nein."

Offenbar mache ich einen aufrichtigen Eindruck. Der Blick des Kleineren verwandelt sich, seine Augen werden groß. Nun entkommt ihm ein leises "krass".

"Ihr glaubt mir?"

Die Beiden schauen sich einen Moment an, als würden sie stumm über diese Worte beraten, dann zuckt der Hüne mit den Schultern.

"Wir haben noch nie von dir gehört. Solange wir keine anderen Informationen haben ... glauben wir dir."

"Aber denk bloß nicht, damit bist du aus dem Schneider!", warnt der Kleinere mich augenblicklich, wieder so spitzzüngig und taxierend wir zuvor. "Das wir zur Zeit nicht wissen, wer du bist, heißt nicht, das wir das nicht verdammt schnell herausbekommen können."

Mein Gesicht hellt sich auf. Diese Drohung ist die erste wirklich gute Nachricht, seit ich wieder an der frischen Luft bin.

"Meint ihr das ernst? Ihr könnt herausbekommen, wer ich bin?"

Meine Freude scheint eher auf Überraschung zu stoßen.

"Nun ... ja. Können wir."

Ich will schon in überschäumendes Gejubel ausbrechen, da geht mir auf, das mir neben meiner eigenen Identität noch andere, sehr wichtige Informationen fehlen. Und die können wir gleich jetzt bereinigen. Mein Blick wird wieder ernst.

"Gut. Jetzt bin ich dran mit den Fragen."
 

Ich wende mich um, sitze nun direkt im Kreis meiner neuen Begleiter und betrachte aufmerksam ihre unsicheren, abwartenden Blicke.

"Wo bin ich hier?"

"In Nowhere." Mein Blick verfinstert sich.

"Wollt ihr mich verarschen?" Mein sichtbarer Ärger lässt den Riesen zu meiner linken seltsam zusammen sinken, als hätte er ernsthaft Sorge, ich könnte ihn für seine Lüge bestrafen.

"Du bist in Nowhere, Alter. Ohne Scheiß."

"In Nowhere. Na klar." Die lauernde Stimme des Blonden reißt mich kurz aus meiner Wut.

"Was glaubst du denn, wo du bist, hm?" Man scheint mir eine Falle stellen zu wollen, aber ich habe nicht vor, auf dieses Spiel einzugehen. Stattdessen sehe ich mich prüfend um, mustere das Moos auf den Grabsteinen und den langsam aufwallenden Nebel. Die Kreuze, die hier und da hinaufragen, kommen mir entfernt keltisch vor.

"Keine Ahnung. Vielleicht in England?" Kurz erfasst mich eine grenzenlose Erleichterung, als ich feststelle, das offenbar nur die Informationen über meine eigene Identiät abhanden gekommen sind und ich so essentielle Dinge wie grundlegende Geographie noch durchaus beherrsche, dann bemerke ich, wie ungläublich ich angestiert werde.

"Lieg ich so weit daneben?" Ich zucke seufzend mit den Schultern. "Hört mal, das hier ist ein Friedhof, und scheinbar ist er verdammt groß. Noch dazu scheint es weiter entfernt ziemlich neblig zu sein. Was weiß ich, wo ich bin."

Weiterhin Unglauben. Ich runzle die Stirn.

"Was denn, verdammt?"

"... Eng... Eng-wie?" Die wollen mich doch komplett auf den Arm nehmen!

"England!", platzt es nun wirklich verärgert aus mir heraus. "Seit ihr unter einem scheiß Stein aufgewachsen oder was?! England! Die verteufelt große Insel im atlantischen Ozean? Das britische Empire? Lammfleisch mit Minzsoße? Teatime? Klingelts langsam?"

Die Stimmung zwischen uns kippt spürbar – man hält mich für verrückt. Das sehe ich in ihren Augen, spüre es bei jeder unruhigen Bewegung. Wieder tauschen sie diese Blicke aus.

"Alter ... es tut mir wirklich Leid, aber ...", beginnt der Blauhaarige sichtlich nervös. "... wir haben keine Ahnung, was du da redest."

"Vielleicht kommt er von weit her.", mutmaßt der Blonde nun, als wäre ich gar nicht anwesend.

"Vielleicht kommt er ja von hinter dem Wasser."

"Laber keinen Scheiß, Sanji. Hinter dem Wasser?! Da ist nichts! Das weiß doch jeder!"

"Und was, wenn doch?"

"Hallo!", rufe ich und klopfe mit einer Hand kräftig auf den Boden. Ich habe keinen langen Geduldsfaden, und er ist schon vor ein paar Minuten gerissen.

"Ich bin auch noch hier!" Beide zucken zusammen, als hätte ich ihnen Schläge angedroht. Was stimmt mit diesen beiden exotischen Vögeln nicht?

"Ich will sofort wissen, wo ich hier bin, zum Teufel! Und lasst diesen Schwachsinn mit 'Nowhere', klar? Ich will die Wahrheit!"

Schweigen. Na großartig. Ich verdrehe stöhnend die Augen.

"Okay. Na gut. Meinetwegen. Dann sind wir hier also in ... Nowhere. Schön. Einfach großartig. Wer seit dann ihr? Und was treibt ihr hier? Gehört Grabschändung neuerdings zum guten Ton?"

"Hey!", lässt der Blonde, der offenbar Sanji heißt nun erbost zischend verlauten, doch sein großer Freund beruhigt ihn mit einer herrischen Geste.

"Mein Name ist Franky, Kumpel.", bemüht er sich um einen versöhnlichen Ton. "Und die blonde Zicke neben mir heißt Sanji."

"HEY!" Wieder eine klare, abschneidende Handbewegung.

"Wir gehören zur Strohhutbande. Wir sind keine Plünderer, falls du das denken solltest. Wir sind auf der Suche nach einem unserer Mitglieder. Sein Name ist Brook. Schon mal gehört?"

"Ich weiß ja nicht mal meinen eigenen Namen."

"Gutes Argument."

Franky entkommt ein lautes, erschöpft klingendes Seufzen.

"Strohhutbande.", wiederhole ich langsam. "Komischer Name für ne Straßengang."

"Wir sind keine Gang, Idiot!", faucht Sanji, sichtlich froh, das er endlich seinen Dampf ablassen kann. Mit einem Ruck reißt er sich den Schal vom Mund weg und entblößt zwei schmale, ernste Lippen. "Wir sind eine Gemeinschaft, verstanden? Ein Zusammenschluss der Besten und Stärksten!" Das klingt wie direkt aus einem Jugendroman gemoppst. Ich hebe eine Augenbraue.

"Dein Ernst?"

"Mein voller Ernst! Wag es nicht, dich über uns lustig zu machen! Bisher hat uns noch niemand den Gar ausgemacht, und du wirst ganz bestimmt nicht der Erste sein!"

Das scheint dem Blondschopf ja wirklich verdammt ernst zu sein. Bevor das hier noch in eine handfeste Auseinandersetzung ausartet, hebe ich beschwichtigend meine Hände, auch wenn ich gern selbst ein wenig getobt hätte.

"Also gut. Wir sind in Nowhere und ihr zwei seit Mitglieder der berühmt-berüchtigten Strohhutbande." So ganz kann ich die Ironie dann doch nicht aus meinen Worten vertreiben. Sanji starrt mich an, als hätte ich es gewagt, seine Freundin vor seinen Augen zu küssen. Franky dagegen nickt bekräftigend.

"Ganz genau."

"Kommt schon, Jungs. So langsam ist es echt genug. Der Spaß hat ein Ende, okay? Ich bin in einer echt beschissenen Situation und ich finde es gerade echt nicht lustig, was ihr hier mit mir abzieht."

Da man mir wieder keine Antwort geben will, lasse ich nochmal den Blick schweifen. Denen muss ich offenbar alles aus der Nase ziehen.

"Na gut. Versuchen wir es mal anders. Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?"

Franky scheint ernsthaft über diese Frage zu grübeln, bis er mit den Schultern zuckt.

"Keine Ahnung. Verdammt weit, würde ich meinen."

"Wie heißt sie? Und in welche Richtung muss ich?"

"Die nächstgelegene Stadt heißt Hundsfeuer.", antwortet mir nun Sanji. "In deinem Zustand brauchst du mit Sicherheit fünf Spannen, wenn nicht sogar mehr."

"Hundsfeuer? Bist du sicher?" Der Hüne runzelt ungläubig die Stirn. "Liegt Seestadt nicht viel näher?"

"Quatsch, Hohlbirne. Seestadt liegt hinter den großen Zehen. Als Vogel würdest du vielleicht zwei Spannen brauchen, aber er müsste durchs Gebirge, oder er muss drum herum. Da braucht er viel länger."

Hundsfeuer? Große Zehen? Seestadt? Spannen? Wo zum Henker bin ich eigentlich gelandet?

"Erleichternd, das es in meiner und in eurer Welt Vögel zu geben scheint.", entkommt es mir leise.

"Bin ich vielleicht beim lesen eingeschlafen und träume von einem verdrehten Tad-Williams-Roman?"

"Du kannst lesen?!" Frankys Gesicht ziert wahre Ehrfurcht, als ich ihn verblüfft ansehe.

"Tja. Ich bin mir nicht sicher.", antworte ich langsam, denn mit Bestimmtheit kann ich das tatsächlich nicht sagen. Ich schließe kurz die Augen, stelle mit Buchstaben und Worte vor.

"Ich denke schon. Du nicht?"

"Keiner von uns.", ist die leise, ehrlich faszinierte Antwort. Dann wendet sich der Blauhaarige aufgeregt zu seinem Gefährten, der noch immer ziemlich unzufrieden aus der Wäsche guckt.

"Alter, wir müssen ihn zu Robin bringen!"

"Ah ja? Müssen wir?"

"Man, sie würde uns köpfen, würde sie erfahren das wir jemanden getroffen haben, der lesen kann, und ihn nicht mitgebracht haben!"

"Sie muss es ja nicht erfahren."

"Sanji! Verdammt nochmal!"

"Was denn?! Sieh ihn dir an, Franky! Er wird uns langsamer machen und unsere Vorräte aufbrauchen! Außerdem haben wir eine Mission, schon vergessen? Erinnerst du dich noch an Brook, hm?"

Genau in diesem Moment ist es mir entgültig genug. Ich habe nicht vor, meine Zeit mit diesen Wahnsinnigen zu verschwenden und dieser Sanji sieht das offenbar nicht anders. In der nächsten Stadt, wie auch immer sie heißen könnte, kann man mir genauso gut mit meinen verlorenen Erinnerungen helfen. Mit einem Ruck erhebe ich mich und starre entschlossen auf die beiden hinab, die irritiert zu mir aufblicken.

"Hört zu, sagt mir nur, in welche Richtung ich muss, okay? Den Rest bekomme ich schon alleine hin." Kurz herrscht wieder dieses unangenehme Schweigen zwischen uns, dann räuspert sich Franky unbehaglich.

"Du wirst es nicht über die großen Zehen schaffen, Alter, und nach Hundsfeuer kommst du nicht ohne eine Empfehlung. Sie werden dich am Tor einfach wieder fortschicken. Du bist schlecht ausgerüstet, hast nichts womit du dich verteidigen könntest und du hast keine Magnetnadel, mit der du dich im Nebel orientieren könntest. Du wirst einfach irgendwo verdursten oder verhungern, oder du rennst den Raiders in die Arme, dann ist es sowieso vorbei."

Ich hebe den Kopf und betrachte aufmerksam den dicken, wabernden Nebel, der sich am Horizont erstreckt und durch den straffen Wind herumgewirbelt wird, als hätte er ein Eigenleben.

Auch, wenn ich weiterhin nicht daran glaube, das es eine Stadt mit dem Namen Hundsfeuer gibt oder ein Gebirge, das sich 'große Zehen' schimpft, hat Franky in einem Punkt Recht – in diesem erschreckend lebendigen Nebel werde ich nichts finden außer meinen vermutlich recht bald eintretenden Tod.Und dem bin ich doch gerade erst entkommen, das kann also nicht das Ziel sein.

"Und ihr könnt euch im Nebel orientieren?"

"Wir haben eine Magnetnadel, ja."

"Einen Kompass meinst du."

"Keine Ahnung, was das ist wovon du sprichst, aber wir haben das hier."

Der Hüne zieht aus seiner riesigen Manteltasche eine kleine metallerne Platte, auf die mit Draht eine Nadel angebracht ist, die bei jeder Bewegung leicht in eine Richtung zuckt. Ich nicke.

"Ziemlich primitiv, aber ja, das sieht nach einem Kompass aus."

"Nenn es, wie du willst. Er bringt uns zurück nach Hause."

"Nein, er bringt euch nach Norden."

"Bullshit.", knurrt Sanji, hörbar wütend darüber, das sich das Blatt gerade gegen ihn wendet.

"Er bringt uns immer zurück nach Hause."

"Dann hat er eine Peilvorrichtung?"

"Nein, er bringt uns einfach nur immer nach Hause!", jault der Blonde und ich zucke schnaufend mit den Schultern.

"Okay, okay, schon gut. Er bringt euch nach Hause. Und wo ist das? Auch in Nowhere?"

"Alles hier ist Nowhere, Alter. Also – ja. Aber wir sind noch nicht lange unterwegs. In einer Spanne sollten wir da sein."

"Und wie lang ist eine Spanne in eurer Welt genau?"

"Wie?"

"Wie viele Stunden hat eine Spanne?"

"Stunden? Eine Spanne ist eine Spanne.", antwortete Franky verständnislos, während der resignierende Sanji mit einer Hand herumwedelt, als wollte er eine Fliege vertreiben.

"Eine Spanne dauert von Lichtbeginn bis Lichtbeginn."

"Also von Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenaufgang. Ein Tag. 24 Stunden."

"Keine Ahnung, man! Es ist einfach eine Spanne und das hier ist einfach eine Magnetnadel und die bringt uns einfach nach Hause, und da gehen wir ja offenbar hin, denn ein dahergelaufener Irrer ist wichtiger als unser Kumpel Brook!"

"Sanji, es reicht." Frankys Stimme ist seltsam dunkel und ernst, eine Regung die man ihm gar nicht so richtig zutraut. Er sieht seinem Begleiter mit festem Blick direkt ins Gesicht, was diesen zu einer verzweifelten Geste hinreißt, bevor er schnaufend die Arme sinken lässt und nickt.

"Ja. Ja, ich gebe auf. Ist gut. Wir gehen zurück. War eben alles umsonst."

Und damit scheint das Thema für den Größeren beendet. Er erhebt sich und schenkt mir plötzlich ein breites Lächeln.

"Gut, dann wäre das also beschlossen. Wir sollten gleich aufbrechen. Du hast ja bestimmt genug geschlafen, was?" Er zwinkert mir schelmisch zu und ich kann nicht anders, als schmal über diesen Witz zu grinsen.

"Allerdings."

 

"Wir sollten dir einen Namen geben, bis er dir wieder einfällt."

Es ist einige Zeit vergangen, seitdem wir aufgebrochen sind, doch da wir nun seit Verlassen des Friedhofs durch wabernde Nebelschwaden stapfen, einzig orientiert dank der sogenannten `Magnetnadel`, die Franky wie eine Reliquie vor sich hält, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit genau. Allerdings haben wir seitdem auch nicht mehr mit einander gesprochen. Jeder scheint seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich für meinen Teil werfe nur mehr und mehr Fragen in meinem Kopf auf, wage es aber nicht, sie zu stellen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob die beiden verrückt sind oder doch eher ich, und je mehr seltsame Ortsnamen oder Zeitangaben mir meine Begleiter machen könnten, desto unwirklicher kommen mir meine eigenen Erinnerungen vor. Überhaupt erscheint mir all das nicht wirklich real. Dieser dicke, undurchdringliche Nebel, der endlos große Friedhof, meine neuen Gefährten – nichts von dem passt zu meiner Welt. Es ist nicht wie im Traum, ich bin mir zwar ziemlich sicher das ich wach und geistig anwesend bin, aber so ganz der Realität entspricht es eben auch nicht.

Während Sanji mit energischen Schritten hinter uns her marschiert sodass man ihn nur als dunkeln Schatten ausmachen kann, hat sich Franky an meine Seite gesellt und sieht mich mit seinen dunklen, ruhigen Augen aufmerksam an. Ein freundliches Schmunzeln liegt auf seinen Zügen. Er scheint sich wirklich mit mir gut stellen zu wollen, aber ich erkenne keine Falschheit in seiner Art. Vielmehr wirkt er einfach von Natur aus gutmütig. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund.

"Einen Namen?", echoe ich nachdenklich. "Keine schlechte Idee. Irgendwie müsst ihr mich ja rufen, sollte ich die Spur verlieren."

"Genau." Einen Augenblick grübeln wir beide, dann streckt Franky den Zeigefinger seiner freien Hand in die Luft und macht ein triumphierendes Geräusch.

"Egonar."

"... Das ist doch kein Name."

"Natürlich ist er das. Ist sogar ziemlich verbreitet ... hier bei uns."

"Mhm. Gefällt mir nicht." Der Riese lässt die Schultern hängen.

"Na schön. Welche Namen sind denn verbreitet, da wo du herkommst?" Da muss ich nicht allzu lange überlegen.

"John. Jack. Jacob. Noah. David. Nur, um ein paar zu nennen."

"Klingt exotisch."

"In meinen Ohren klingt 'Sanji' exotisch." Ich höre den Angesprochenen hinter mir laut schnauben.

"Ja, Sanji ist auch hier bei uns nicht sehr häufig. Es setzt sich aus 'San' zusammen, das bedeutet so viel wie 'Scharfsinn', und 'ji', das steht im Kern für 'Leichtigkeit'.", erklärt Franky bereitwillig.

Ich drehe mit gehässigem Blick den Kopf und musterte die Gestalt des Blonden, der näher gekommen ist, um uns zuhören zu können, mich aber ansieht, als würde er mich viel lieber unangespitzt in den Bodenr rammen.

"Leichtigkeit, hm?"

"Ach, halt die Schnauze, Milchgesicht."

"Milchgesicht?!"

"Sobald wir zu Hause sind, bekommst du einen Spiegel von mir. Dann siehst du, was ich meine."

"Davon hast du mit Sicherheit eine ganze Menge, was?"

Sanji will gerade zornesfunkelnd zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, da unterbricht der Blauhaarige uns mit einem lauten, bellenden Lachen, bei dem er sich sogar mit seiner freien Hand den Bauch hält.

"Ihr zwei seid ja niedlich.", entkommt es ihm, und während Sanji das nur zu einem neuen Schnauben verleitet, bringt es mich zum grinsen. Es kehrt kurz Stille ein, bevor ich beschließe, mich ein wenig weiter in die Materie vorzuwagen.

"Also .. gibt es eine zweite Sprache hier bei euch. Eine, die nicht dieselbe ist wie die, die wir sprechen."

"Ja. Also, ursprünglich gab es viele Sprachen, das behauptet zumindest Robin. Aber die Meisten sind in Vergessenheit geraten und es kamen Neue hinzu. Die Worte, aus denen sich Sanjis Name zusammen setzt, kommen aus dem kordalischen. Das ist eine neue Sprache, die weiter oben im Norden gesprochen wird."

"Und du hast sie gelernt?"

"Ich komme ursprünglich aus dem Norden, aber meine Eltern haben mir das 'Alturische', wie wir die Sprache nennen, mit der wir uns auch mit anderen Gruppierungen austauschen, als Kind beigebracht. Sie wollten, das ich unser Dorf verlasse und in einer der Städte im Süden mein Glück finde. Hat nicht so ganz geklappt, aber hey, man kann ja nicht alles haben, richtig?"

Schon jetzt schwirrt mir nach all diesen abenteuerlichen Bezeichnungen der Kopf, aber meine Neugierde ist viel zu groß, als das ich es dabei belassen könnte, jetzt, wo ich Blut geleckt habe.

"Und dort, wo du herkommst – ist das auch Nowhere?"

"Ich sagte doch, alles hier ist Nowhere."

"Wie groß ist euer Nowhere denn?"

"Oh Himmel, keine Ahnung. He, Sanji! Was meinst du, wie groß ist Nowhere?"

"Beschissen groß." Franky nickt überzeugt.

"Beschissen groß.", wiederholt er und grinst erheitert.

"Und ... wenn ihr sagt, alles hier ist Nowhere .. gibt es auch irgendwo Orte, wo NICHT Nowhere ist?" Ich komme mir vor, als würde ich mit Kleinkindern sprechen und sie nach ihrer Fantasiewelt ausfragen.

"Klar, Alter. Hinter der nördlichen Grenze findest du das große Weiß. Eine Eislandschaft, nicht mehr und nicht weniger. In alten Erzählungen wird von Stämmen berichtet, die dort leben und sich von Tieren ernähren, die unter dem Eis leben .. aber ich halte das für Ammenmärchen. Niemand kann dort leben. Es ist einfach nur verflucht kalt dort." Franky ist offenbar voll in seinem Element und führt die Geschichts- und Geographiestunde fleißig fort.

"Im Westen gibt es die Ebenen. Ziemlich flaches Land, wenn man den Berichten Glauben schenken darf. Hinter den Ebenen beginnt das Wasser. Weit im Süden beginnt die Wüste, und im Osten ... im Osten ist der Krater. Was hinter der Wüste oder dem Krater liegt, weiß niemand so genau."

"Und hinter dem großen Weiß?"

"Ebenfalls. Niemand ist bisher so weit gewandert. Die Ebenen sind fruchtbar, man findet viel Nahrung und Wasser, es gibt Dörfer und vereinzelte Städte. Aber die anderen Gebiete sind nicht passierbar."

Ich versuche mir ein Land, einen Kontinent vorzustellen, der nach Frankys Erzählungen aufgebaut ist, und scheitere kläglich.

"Was möchtest du noch wissen?"

"Nichts mehr. Danke."

"Bist du sicher?"

"Ja. Tut mir Leid, aber .. das ist, als würdest du mir eine Abenteuergeschichte erzählen."

"Dir kommt also nichts davon bekannt vor?"

"Nein."
 

Plötzlich meldet sich Sanji hinter uns zu Wort, der während Frankys Erzählung überraschend still geblieben ist.

"Zoro.", entkommt es ihm. Während ich nur die Stirn runzle, hellt sich Frankys Gesicht auf.

"Ja! Der ist gut!"

"... Zoro?"

"Dein neuer Name. Er passt perfekt."

"Was bedeutet er?"

"'Zo' steht in der Sprache meiner Heimat für Leben. 'Ro' dagegen für den Tod. Zoro. Ein passenderer Name wird uns auf die Schnelle nicht einfallen, denke ich."

Zoro. Ich lasse mir die Buchstaben durch den Kopf gehen, erinnere mich an eine alte Geschichte – Zorro, der Rächer der Entrechteten – und fühle mich auf seltsame Weise mit meiner Wahrheit, mit meinen Erinnerungen verbunden. Ich nicke.

"Ja. Der gefällt mir."

"Sehr gut, Zoro. Komm, wenn wir uns beeilen, machen wir ein wenig Boden gut und schaffen es vielleicht vor Lichtende nach Hause. Das wäre ein Grund zum feiern, was meint ihr?"

Ich nicke, und als Franky sich frohen Mutes wieder an die Spitze gesetzt hat, drehe ich mich halb um und werfe Sanji einen prüfenden Blick zu.

Sein Gesicht bleibt regungslos, als er mir ins Gesicht starrt, doch als ich mich wieder umwenden will, kann ich den Hauch eines Lächelns auf seinen Zügen erkennen.

Den Rest des Weges bleibt das mulmige Gefühl, das diese Regung hinterlassen hat.



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